GegenStandpunkt 2-22 -  - E-Book

GegenStandpunkt 2-22 E-Book

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Beschreibung

Vier Monate Krieg in der Ukraine – beweisen, dass allen drei beteiligten Seiten ihre Gründe, ihn zu führen, so wichtig sind, dass sie sich von einer Fortsetzung bisher auch dadurch nicht haben abbringen lassen, dass sie sich wechselseitig den Preis für einen Sieg immer weiter in die Höhe treiben. „Die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“, „Frieden und Freiheit für Europa“, „Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität für die Ukraine“: Für diese drei offensichtlich unverträglichen Güter wird seit vier Monaten in der Ukraine zerstört, getötet, gestorben. Dass sie es wert sind, verkünden die russischen, ukrainischen und westlichen Führer ihren Völkern am laufenden Band. Worin sie bestehen und warum sie diesen Krieg notwendig machen, das erklärt der Artikel „Die drei Gründe des Ukraine-Kriegs“. – führen nicht nur vor, dass die regel- und rechtsbasierte Weltordnung, auf die sich alle Gegner berufen und deren Verletzung sie sich gegenseitig vorwerfen, eine Brutstätte für die Gegensätze ist, die nun im Krieg ausgekämpft werden – wo sonst als im Frieden sollten die Gründe für Krieg auch entstehen? Vielmehr zeigt der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland, der nach dem Urteil seiner Dirigenten erfreulich effektiv, einseitig und überlegen verläuft, auch noch dies: Die Ergebnisse des vielgepriesenen zivilen Staatenverkehrs – also der globalisierten Konkurrenz um Geld, Kapital und Kredit – statten die kapitalistischen Führungsmächte, die sich als ‚Freier Westen‘ feiern und mit ihrem NATO-‚Friedensbündnis‘ zum ‚Schutzherrn einer friedlichen Staatenordnung‘ gegen den ‚Aggressor‘ Russland erklären, mit ökonomischen Machtmitteln aus, die sie jetzt als Waffen einsetzen, um Russlands zivile Basis zu zerstören. Worin diese Waffen bestehen und wie die Umwidmung von zivilen Abhängigkeitsverhältnissen in Mittel einer Kriegsführung funktioniert, erklärt der Artikel „Wirtschaftskrieg – die zweite Front, die die USA und ihre Verbündeten zur Zerstörung Russlands aufmachen“. – sind zugleich eine vier Monate andauernde Orgie der Moral; auch in Deutschland, das sich einstweilen zwar in berechnender Zurückhaltung, aber permanent eskalierend mit immer mehr Sanktionen gegen Russland und mit immer mehr und schweren Waffen für die Ukraine am Stellvertreterkrieg gegen Russland beteiligt, den niemand so nennt. Umso mehr sollen die Deutschen, und zwar jede und jeder Einzelne von ihnen, sich zu dieser zwischenstaatlichen Gewaltgroßtat als Herausforderung ans eigene Gewissen stellen, als ob die kriegerische Auseinandersetzung der Staaten unbedingte persönliche Anteil- und Parteinahme verlangen und als ob das mehr entscheiden würde, als dass man sich dafür entscheidet, der eigenen Seite den Sieg, der anderen die Niederlage zu wünschen. Nach welcher Logik die politisch vorgegebenen, öffentlich nachgebeteten und verbindlich gemachten moralischen Urteile – Ukraine gut!, Putin böse!, „Wir!“ müssen helfen – konstruiert sind und wie sie sich an jedem berichteten Fakt und jedem Bild beliebig reproduzieren lassen, das erklärt die Artikelsammlung „Deutsche Kriegsmoral: Einschwörung des Volks auf den Kurs seiner Führung“.

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Inhalt
Deutsche Kriegsmoral: Einschwörung des Volks auf den Kurs seiner FührungDer Krieg und Du
Zur Konstruktion von Zerrbildern über Feind und Freund
Vom „Angriffskrieg“ zum „Despoten“
Das absolute Unrecht im „Faktencheck“
Die Personalisierung des Kriegs zum Psychogramm des Bösen
Zwei Anmerkungen zu ‚Butscha!‘
I. Von den Bildern des Kriegs
II. Von dem Krieg der Bilder
Unsere Ukrainer
Unsere Flüchtlinge
Putins Trolle und Europas Gegenwehr: Die Meinungsfreiheit als Waffe
Die Leistung der deutschen Gewerkschaft in KriegszeitenFriedensstiftung an der Heimatfront
Der DGB verkündet das proletarische Einverständnis mit der Zeitenwende
Chemie und Stahl – zwei Tarifrunden, eine Leistung: Sicherheit fürs Geschäft
Interessenvertretung in Zeiten des Wirtschaftskriegs: Sanktionieren, aber richtig
Grüne A. Baerbock und R. Habeck: Die glaubwürdigsten Repräsentanten deutscher Stellvertreterkriegsmoral
Die drei Gründe des Ukraine-Kriegs1. Russland2. Der Westen3. Die Ukraine
Unpassende Klarstellungen zum Mythos des einig-geschlossen-heldenhaft-kämpfenden ukrainischen Volks
Umgang mit Deserteuren
Umgang mit Leuten, die einer mangelnden patriotischen Gesinnung oder der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt werden
Wie erkennt man Verdächtige?
Die Ukraine – eine lebendige Demokratie
Wirtschaftskrieg –die zweite Front, die die USA und ihre Verbündeten zur Zerstörung Russlands aufmachen
Klare Ansagen
Nord Stream 2
Finanzsanktionen
Handelsbeschränkungen
„Wir müssen sicherstellen, dass uns nach drei Monaten nicht die Puste ausgeht.“
Die Waffe wird scharf gemacht: Ersatz für russische Energielieferungen
Wirtschaftlicher Zermürbungskrieg
Kohle- und Ölembargo
Rückzug der Unternehmen: die Konkurrenzmacht des Kapitals als Waffe im Wirtschaftskrieg
Die Sanktionen brauchen eine geschlossene Front, also den Kampf gegen „Schlupflöcher“ und nicht zuletzt gegen diejenigen, die sie eröffnen
„Energieinfrastrukturen nicht willkürlichen Entscheidungen des Kremls aussetzen“
Putins Konter
Neuaufstellung der Staatsgewalt für Aufsicht und Zugriff im Wirtschaftskrieg
Hunger und KriegDer Kampf um die „europäische Kornkammer“
„Sondervermögen Bundeswehr“Anmerkungen zur politischen Ökonomie von Deutschlands „Zeitenwende“
1.
2.
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4.
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5.
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KorrespondenzZu den Gretchenfragen im Ukraine-Krieg

Deutsche Kriegsmoral: Einschwörung des Volks auf den Kurs seiner Führung

Der Krieg und Du

Am 24. Februar, dem Morgen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, tritt die deutsche Außenministerin mit folgenden Worten vor die Kameras:

„Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger, wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht... Wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht. Wir können und wir wollen ihr nicht aus dem Weg gehen. Die Europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte ist die Grundlage für das Leben in Wohlstand und Frieden. Wenn wir jetzt nicht entschlossen dafür eintreten, werden wir einen noch höheren Preis zahlen.“

Frau Baerbock berichtet vom Beschluss des Kabinetts, sich in diesem Krieg zu engagieren und dem russischen Machtanspruch in Osteuropa entgegenzutreten. Das kollektive „Wir“, in dessen Namen sie spricht, ist zunächst das der Regierung. Für die souveräne Instanz, die die für alle verbindlichen Entscheidungen im Land trifft, nimmt sie in Anspruch, dass sie eine Freiheit der Entscheidung gar nicht gehabt habe. Sie fingiert staatliche Ohnmacht, um die Macht unwidersprechlich zu machen, mit der sie handelt: Die Welt, die Lage, die Russland hergestellt hat, lässt ihr keine Wahl; alles, was das heutige Deutschland ausmacht – Europa, Wohlstand, Frieden – steht auf dem Spiel; „Wir“ sind angegriffen, „wir“ müssen dagegenhalten. Die Herausforderung anzunehmen und mit der Förderung der ukrainischen Kriegsfähigkeit zu beantworten, ist eine Notwendigkeit: Dieser Krieg ist unser Krieg. Mit dieser Botschaft wendet sich die Ministerin an das weitere „Wir“, die „lieben Mitbürger“, die vom osteuropäischen Krieg selbst nicht, dafür aber vom Beschluss ihrer Regierung, sich einzumischen, betroffen sind. Für sie gibt es tatsächlich keine Freiheit der Entscheidung, denn über sie ist entschieden worden. An sie ergeht die Aufforderung, genau dieses Verhältnis zu dementieren: Sie sollen so tun, als hätten sie etwas zu entscheiden und als hätten sie sich entschieden. Jeder Einzelne soll „unseren Krieg“ als seine Sache begreifen und Stellung beziehen; soll sich von der „militärischen Sonderoperation“ Russlands herausgefordert fühlen, Putin für seinen Feind halten und sich überlegen, wie er handeln würde, wenn er Kanzler oder eben Außenministerin wäre. Natürlich fällt alles Praktische und Wirkliche, was „die Deutschen“ aus dem Krieg in der Ukraine folgen lassen, in die Kompetenz, die Zwecke und Zweckmäßigkeitserwägungen der Regierung. Aber das darf die Bürger nicht hindern, sich als Mitbetroffene von dem Krieg und Mit-Subjekte der deutschen Antwort auf ihn zu imaginieren; auch wenn die Stellung, die sie dann beziehen, völlig belanglos ist und – sieht man einmal von den Verrückten ab, die selbst zum Mitkämpfen nach Kiew reisen – praktisch in gar nichts anderem bestehen kann als in der mehr oder weniger entschiedenen Billigung der Einmischung des deutschen Staates ins blutige Geschehen und im Aushalten ihrer Konsequenzen. Dazu müssen die vielen fiktiven Mit-Subjekte einer deutschen Stellung die Kriegskalkulationen der Bundesregierung überhaupt nicht kennen. Es reicht, dass sie sich als das große, vom Krieg betroffene „Wir“ ansprechen und die längst entschiedene Frage nach „unserer“ korrekten Stellung dazu vorlegen lassen. So werden die von ihrem Staat in eine Kriegslage hineingezogenen Bürger mit ihrem Staat identifiziert und identifizieren sich mit ihm, wenn der „zwei Flugstunden von Berlin entfernt“ die eine Kriegspartei aufrüstet, um der anderen ihren Krieg kaputtzumachen. Das ist die erste unwahre Gleichsetzung, auf der der öffentliche Kriegsdiskurs beruht.

Kanzler Scholz fügt dem einen leitenden Gesichtspunkt hinzu:

„Für all das gibt es keine Rechtfertigung. Das ist Putins Krieg. Putin bringt damit Leid und Zerstörung über seine direkten Nachbarn. Wir stehen an der Seite der angegriffenen Ukraine. Ihr mit Waffenlieferungen zu ihrer legitimen Selbstverteidigung zu verhelfen, ist keine Kriegsbeteiligung und keine Eskalation.“ (Kanzler Scholz bei verschiedenen Gelegenheiten)

Für den russischen Angriff wie für die ukrainische Gegenwehr kennt Scholz keine Gründe und Zwecke der involvierten Staaten, sondern nur Rechtfertigungen bzw. deren Fehlen, die Übereinstimmung oder die Verletzung von Normen, als deren Hüter er sich präsentiert. So konsequent ersetzt er – und wird in der deutschen Debatte die Frage nach Gründen durch die nach Schuld und Unschuld ersetzt, dass allein die Erwähnung, dass auch die russische Seite mit ihrem Krieg einer staatlichen Logik folgt, als Entschuldigung und Relativierung ihrer Verbrechen verstanden und verworfen wird. Ebenso konsequent vermeidet man es, die ukrainischen nationalen Ambitionen, geschweige denn die eigenen oder die strategischen Interessen der westlichen Wertegemeinschaft anzusprechen; die würden die saubere Scheidung von Gut und Böse in diesem Kampf nur verwässern. Wenn Scholz in einem ersten Schritt die Frage nach den Kriegsgründen durch die der Kriegsschuld ersetzt, dann stellt er in einem zweiten die Untat bzw. den Willen zu ihr als Grund des verurteilten Handelns hin. So wird aus dem russischen Feldzug „Putins Krieg der Wahl“, ein „grundloser Überfall auf einen friedlichen Nachbarn“. Die Identifikation von Schuld und Grund ist die zweite für die nationale Meinungsbildung konstitutive falsche Gleichung.

Aus der folgt der kategorische Imperativ, die Ukraine mit Waffen auszurüsten. Diese Selbstverpflichtung geht freilich einher mit einer Distanzierung: Kriegspartei wird Deutschland damit nicht. Die Regierung hilft dem Angegriffenen. Aber dass kein Staat ganz ohne eigenen Zweck und eigene Berechnung einem andern kriegerisch gegen einen dritten hilft, nur weil der sich retten will, das geht in alle Hilfszusagen schon mit ein: Der Kanzler behält sich vor, wie weit sein Land sich engagiert; Eskalation soll nicht sein. Er verbürgt sich dafür, dass Putin den Krieg nicht gewinnen und der Ukraine nicht seinen Frieden diktieren darf; doch ohne den Sieg über die russische Großmacht zum deutschen Kriegsziel auszurufen; aber auch ohne einen Zweifel an dem unbedingten Schulterschluss mit Putins Opfer zuzulassen. Das ist die dritte Gleichung, nach der die Regierung zu handeln verspricht.

Zu der passt die Botschaft, die die Regierung in Sachen Parteilichkeit ans große nationale „Wir“ richtet; mit der Betonung: Betroffene Partei sind wir zwar nicht, umso mehr aber zu unbedingter Parteinahme bereit, ja verpflichtet. Der anständige Deutsche identifiziert sich, seine politisch aufgeweckte Privatpersönlichkeit, mit dem Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Staats, das seine Regierung durchzusetzen hilft. Weil es nämlich – sagt die Außenministerin, die es qua Amt ja wissen muss – gar nicht um etwas Politisches geht, sondern um die reine Menschlichkeit:

„Putin mordet Kinder und unschuldige Zivilisten. Das darf niemanden ungerührt lassen. Wer da neutral bleibt, steht auf der Seite des Unterdrückers!“ (Baerbock bei verschiedenen Gelegenheiten)

Die Fiktion, der regierte Bürger in seiner Machtlosigkeit hätte in Sachen Krieg und machtvolle Einflussnahme darauf irgendetwas zu entscheiden, bekommt den passenden Inhalt: Zu entscheiden hat ein jeder – sonst nichts, aber umso mehr – sich. Und zwar in einer Frage, in der es eine zulässige Alternative schlechterdings nicht gibt: Wie stehst du dazu, dass Putin Kinder umbringt? Wer da Bedenkzeit braucht – womöglich für eine Überlegung der Art, dass im Krieg Staaten nach eigens geschaffenem Recht und Gesetz für sich und ihre Zwecke eigene und fremde Untertanen verheizen –, outet sich als Helfershelfer, mindestens als ideeller, eines Massenmörders; wer Kinder mag, muss dafür sein, dass der Krieg für Russland verloren geht. Der Krieg ist damit perfekt in ein Moraltheater verwandelt, nämlich an beiden Enden vermenschlicht: Hie der böse Mensch Putin, dort die guten Kinder von Butscha und anderswo. Der ukrainische Staat, dessen Ambitionen Russland nicht duldet und dessen Kriegserfolg Deutschland aus seinen Gründen will, ist – die unwahre vierte Gleichung – identifiziert mit unschuldigen ukrainischen Menschen, die in der Realität russischen Waffen ebenso zum Opfer fallen wie der kämpferischen Selbstbehauptung ihrer Obrigkeit. Und das ausländische Interesse an der Ukraine ist identifiziert mit der menschlichen Empathie von Privatpersonen, denen das Leiden und Sterben so sehr ans Herz geht, dass daraus unmittelbar der Ruf nach mehr Waffen und mehr Gewalt auf der richtigen Seite und mehr Opfern auf der falschen folgt. Wer da womöglich schon wieder zögert – solche Zauderer gibt es ja sogar in höheren Positionen –, wird vor die inquisitorische Frage gestellt: „Willst du der Ukraine das Existenzrecht absprechen?“ Der Umweg über die unschuldigen Kinder darf da auch mal entfallen. Aber wenn die gelieferten Waffen für den nationalen Gesinnungs-Militarismus zu klein sind, dann geht im öffentlichen Kriegsdiskurs jeder tote Ukrainer gleich wieder aufs Konto noch nicht gelieferter Haubitzen aus deutschen Beständen, ohne die sich der Russe nicht am Vergewaltigen hindern lässt.

*

Es ist offenbar unbeachtlich, dass in der Wirklichkeit überhaupt nichts davon abhängt und nichts daraus folgt, dass Herr und Frau Niemand einem fremden Staat irgendein Recht zu- oder absprechen. Es gehört sich in der Meinungsbildung zum Krieg einfach, dass jedes Individuum ganz persönlich für den Krieg eine fiktive Verantwortung übernimmt und so tut, als hinge sein Verlauf und Ergebnis von seiner Stellungnahme ab: Der Krieg ist meine Sache, eine Herausforderung an mich als Mensch, an meinen Gerechtigkeitssinn, meine Gefühle, meine Sympathien. Niemand bringt die verlogene Identifikation mit dem ukrainischen Staat und die daraus folgende Gleichung von Leiden und Kriegstreiberei so glaubwürdig und betroffen rüber wie ein Journalist der Bildzeitung:

„Was soll man als Vater, als Mutter, als Mensch, dazu noch sagen?! Niemand ist mehr sicher vor diesem Terrorherrscher. Wir müssen Putins Regime vernichten. Bevor es uns vernichtet. Ich geh jetzt mal kurz heulen.“ (Tweet von Bild-Reporter Julian Roepcke, 24.2.22)

Dieses fiktive Subjekt-Sein in einem Gewaltgeschehen, von dem der Normalmensch nur passiv und hilflos betroffen ist – in der Ukraine praktisch, hier im Wesentlichen nur ideell –, ist die Prämisse der öffentlichen Debatte über den Krieg und die deutsche Beteiligung an ihm. Diese Prämisse stellt sicher, dass kein wahres Wort über Grund und Zweck des Zusammenpralls von Weltmächten auf dem osteuropäischen Schauplatz mehr fällt. Darüber fällt nämlich gar kein Wort. Die Staaten und ihre Machtansprüche sind durch die komplette Vermenschlichung ihrer Konfrontation aus dem Spiel: Russland kommt als strategisch kalkulierende Staatsmacht nicht vor, die antirussische Allianz als Subjekt strategischer Kalkulationen genauso wenig. Mit der totalen Entpolitisierung des Kriegsgeschehens ist dessen wirklicher Urheber, das auf allen Seiten tätige Subjekt, das als einziges zu Krieg überhaupt fähig ist: die Staatsmacht mit ihrem Gewaltmonopol und ihrem jeweiligen Ehrgeiz – freigesprochen.

© 2022 GegenStandpunkt Verlag

Zur Konstruktion von Zerrbildern über Feind und Freund

In aller Freiheit – wir sind schließlich nicht in Russland – übernimmt die ‚vierte Gewalt‘ die Perspektive des regierungsamtlichen Kriegskurses. Nach dem Motto, endlich die offizielle Bestätigung für ihre Sicht auf Russland zu erhalten, sieht sie sich zu der Mission herausgefordert, ihren Lesern und Zuschauern das Bild von Freund und Feind vor Augen zu stellen, das ihnen klarmacht, wer unsere Feindschaft verdient und wer unsere Solidarität.

Vom „Angriffskrieg“ zum „Despoten“

Kaum kommt die militärische Auseinandersetzung zwischen dem russischen und ukrainischen Staat in die Gänge, wirft die Presse sich geschlossen in die Pose eines Anklägers und Richters für Fragen gerechter Gewalt:

„Nun ist der Krieg zurück, der Angriffskrieg, der Krieg der Wahl, ein Überfall, ein Landraub, ein schreiendes, nie zu entschuldigendes Unrecht.“ (SZ, 25.2.22)

Ihr Urteilsspruch qualifiziert die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Russland, dem Westen und der Ukraine als völlig einseitiges Verbrechen, aus dem die staatlichen Opponenten Russlands, die mit ihrer Gegenwehr aus der russischen Invasion überhaupt erst einen Krieg im eigentlichen Sinne machen, gänzlich herausgekürzt werden. Der Verweis auf die getroffene „Wahl“ erklärt den Krieg zum Resultat eines freien und berechnenden Willens zu einer grundlosen und unverzeihlichen Schandtat, bei der die Seite des Angegriffenen von vornherein entfällt und die rechtlich-moralische Verurteilung sich voll auf den Angreifer konzentriert. Von der Verurteilung des Kriegs schreitet die Öffentlichkeit zum Kriegsherrn und der Ungeheuerlichkeit seiner Schuld voran:

„Wladimir Putin wird in die Geschichte eingehen, als jener Despot, der Europa zu den Abgründen treibt, die der Kontinent ein für alle Mal hinter sich zu lassen gehofft hatte. Wladimir Putin ist ein Besessener, ein außer Kontrolle agierender Diktator.“ (Ebd.)

Im Gestus der rückblickenden Einordnung von Putins Krieg wird dessen moralische Disqualifizierung zu einer geschichtsträchtigen Angelegenheit aufgeblasen. Wie einschneidend der Ukraine-Krieg für den europäischen Kontinent wirklich sein wird, zu welchen Eskalationen die am Krieg beteiligten Weltmächte sich noch herausgefordert sehen werden – es geht sowieso um etwas anderes, wenn der SZ-Historiker mit den Schlagworten ‚Geschichte‘ und ‚Abgründe‘ aufwartet, nämlich um die schlichte Beschwörung der Monstrosität des einseitigen Verbrechens und des völlig unzurechnungsfähigen Verbrechers. Von da aus landet das Schwadronieren über „die Geschichte“ in aller Regel bei einer Analogie zum historischen Bösewicht schlechthin:

„Der letzte Angriffskrieg auf europäischem Kontinent ging 1939 von deutschem Boden aus. Seit heute Morgen folgt Putin jenem infamen Sündenfall der Geschichte.“ (tagesschau.de, 24.2.22)

„Europa hat diesen Augenblick seit dem Naziterror vor 80 Jahren zu fürchten und zu vermeiden gelernt.“ (SZ, 25.2.22)

„Der russische Präsident hat getan, was im Westen als undenkbar galt. Das darf auch Deutschland nie mehr vergessen... Putin hat einen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen die Ukraine geplant, propagandistisch vorbereitet und begonnen, der Europa erschüttert und verändert wie kein anderer Gewaltakt seit Hitlers Überfällen.“ (FAZ, 25.2.22)

Aufgerufen wird der Konsens, auf den sich die Sieger- und Verlierermächte nach dem Zweiten Weltkrieg geeinigt haben: Die nationalsozialistische Staatsräson und das politische Vernichtungsprogramm der damaligen Regierung sind vom Standpunkt des westlichen Wertehimmels aus betrachtet ein nicht zu überbietendes Un-Recht bar jeder politischen Qualität, das insbesondere die Figur Hitler als der Goldstandard des einseitigen Verbrechens und absolut Bösen verkörpert. Dieses fertig abgreifbare Verdikt soll der verständige Mensch nun auf Putin und den Ukraine-Krieg übertragen. Moralisch ist es kein Problem, gänzlich unterschiedliche Kriege, Staaten und Führer einfach gleichzusetzen, schließlich sind solche sachlichen Unterschiede zugunsten derselben Deutung getilgt, auf die es bei beiden einzig ankommt: Die Regierungschefs sind Exemplare „infamer Sündenfälle“. Um das zu untermalen, sind sich die Geschichtskenner auch nicht zu schade, ein eigentümliches Bild vom Europa des letzten Jahrhunderts zu zeichnen: Nicht ganz unbekannt dürfte ihnen das unter dem Namen ‚Kalter Krieg‘ figurierende Patt in einer atomkriegsträchtigen Auseinandersetzung oder der NATO-Krieg in Jugoslawien zwecks gerechter Sortierung von Völkern und Staatsgebieten sein. Aber egal – jedenfalls für eine Geschichtsklitterung aus moralisch einwandfreien Motiven, die das mit dem Stichwort „undenkbar“ längst abgeräumt hat, um den Idealismus vom guten und friedlichen Europa dem „Naziterror“ und „Putins Angriffskrieg“ als Kontrastfolie gegenüberzustellen. „Europa“, das abstrakte Gegenteil des abstrakten Bösen, wird „erschüttert“.

Wenn dann Putin sich haargenau derselben Dämonisierung des Feindes zur Rechtfertigung seines Krieges bedient, in der Ukraine „Nazis“ bekämpft und einen „Genozid“ an ukrainischen Russen verhindert, zeigt er nur, dass er sich nicht scheut, seine „Sünden“ auch noch mit „Lügen“ zu bemänteln.

Das absolute Unrecht im „Faktencheck“

Die „Lügen“ sind einerseits hinreichend dadurch entlarvt, dass man sie einer Befassung und Widerlegung ausdrücklich nicht wert befindet:

„Der schrillen, jeder Fakten baren Rechtfertigung Putins darf man nicht zu viel Beachtung schenken, sie ist es kaum wert, dass man sie zu widerlegen versucht. Sie ist Teil eines Gespinsts, das der Kreml-Herrscher über Europa legt und zu dessen Lähmung nutzt. Nein, die Ukraine ist nicht faschistisch, es gibt dort keinen Genozid, die NATO bedroht Russland nicht, und das Recht auf Staatlichkeit für die Ukraine ist historisch unumstößlich.“ (SZ, 25.2.22)

Andererseits beweist die Presse ihre hohen Standards und ihre Objektivität, indem sie die „Lügen“ dann doch nicht einfach übergeht, sondern einem „Faktencheck“ unterzieht:

„Putins Kriegsgründe im Faktencheck. Während seine Truppen die Ukraine angreifen, versucht Wladimir Putin die Invasion zu begründen: Russland müsse sich ‚verteidigen‘, einen ‚Genozid‘ stoppen und die Ukraine ‚entnazifizieren‘. Vieles davon ist falsch... Kurz vor dem Angriff wendete sich Präsident Wladimir Putin mit einer TV-Ansprache an sein Volk und nannte seine Gründe für den Angriff – der in seinen Augen ein Akt der Verteidigung ist. Wir haben einige zentrale Begründungen Putins für die Invasion überprüft.

Behauptung: Putin spricht von der ‚Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands‘. Die NATO habe sich ‚immer weiter ausgedehnt. Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung, und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen.‘ DW Faktencheck: Irreführend. Richtig an dieser Aussage ist: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden 14 osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen. Vier von ihnen grenzen an Russland. Auch der Ukraine wurde 2008 eine NATO-Beitrittsperspektive gegeben, allerdings liegt der NATO-Beitritt des Landes seither auf Eis. Und wie unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Moskau Mitte Februar betonte, steht dieser Schritt auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung. Richtig ist auch: Die NATO hat in ihren osteuropäischen Mitgliedsstaaten logistische Vorbereitungen getroffen und auch Flugplätze vorbereitet für die schnelle Verstärkung von Truppen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Sie hat das nach 2014 getan, als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Die NATO respektiert weiter die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Die untersagt die zusätzliche dauerhafte Stationierung von substantiellen Kampftruppen in den NATO-Beitrittsstaaten. In Reaktion auf die Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen begann die NATO zwar 2016 damit, vier Bataillonskampfgruppen in den baltischen Staaten und Polen zu rotieren. Diese Kampfgruppen mit einer Stärke von insgesamt 5000 Soldaten sind allerdings viel zu klein, um eine realistische Bedrohung für Russland mit geschätzt 850 000 aktiven Soldaten zu sein. Außerhalb des Nordatlantik-Bündnisses arbeiten einzelne NATO-Mitgliedsländer auch bilateral zusammen. Mit großem Misstrauen verfolgte Moskau die Stationierung von Raketenabwehrsystemen des Typs Aegis Ashore. In Rumänien ist sie bereits erfolgt; in Polen steht sie bevor. Diese Systeme sind ursprünglich für Kriegsschiffe entwickelt. Und sie können auch Marschflugkörper abschießen, die in kurzer Zeit Russland erreichen könnten, wie der ehemalige Bundeswehroberst Wolfgang Richter im DW-Interview erläutert. Das wäre allerdings kein unlösbares Problem, so Richter, der inzwischen für den Berliner Think-Tank Stiftung Wissenschaft Politik (SWP) arbeitet: ‚Das könnte man über konkrete Verifikation lösen.‘ Soll heißen: Russland könnte die Möglichkeit erhalten, zu überprüfen, dass in den Aegis Ashore Silos eben keine Marschflugkörper auf ihren Abschuss warten. Das Angebot aber in einen Dialog zur Rüstungskontrolle einzutreten, habe Moskau zurückgewiesen, sagt Richter: ‚Moskau hat stattdessen den Krieg gewählt und die Aussichten auf eine Verhandlungslösung zerstört.‘ Russische Verbände auf dem Vormarsch – die Gründe für den Krieg sind nicht plausibel.“ (DW, 25.2.22)

Man kann Putin ruhig in allen angesprochenen Punkten zustimmen, sogar an die Fakten erinnern, die darin implizit enthalten sind, aber als Begründung seines Einmarschs wollen die professionellen „Faktenchecker“ ihm die nicht durchgehen lassen. Sie bestreiten ihm nicht die Tatsachen, sondern deren Deutung – mit dem schlagenden ‚Argument‘, dass sie dieselben Fakten anders deuten: Man sollte nämlich bei deren Auflistung an der richtigen Stelle möglichst im Hinterkopf behalten, dass die Aufrüstung der NATO an Russlands Grenze „als Reaktion“ auf längst verurteilte Militäraktionen Russlands einzustufen, also berechtigt ist. In dem Sinne ‚Fakt‘ sind auch Einschätzungen all der ideellen Strategen, die einfach besser als die russische Staatsführung selbst einschätzen können, wann Russland wirklich „realistisch“ bedroht ist. Sie haben schließlich Zahlen verglichen. Deren Differenz bezeugt ebenso wie „Marschflugkörper ... die in kurzer Zeit Russland erreichen könnten“, was aus ihnen nie und nimmer folgt: wo Anwälte gerechter Gewalt keine „realistische Bedrohung“ und „kein unlösbares Problem“ vorliegen sehen, liegt auf der Hand, dass Putin uns in die Irre führt und nur auf Krieg und sonst nichts aus ist.

Das Nützliche am „Faktencheck“ als Instrument der schein-sachlichen Verurteilung, dass Putin in absolut keiner Hinsicht irgendein von vernünftigen Menschen nachvollziehbarer Grund für den Einmarsch zuzugestehen ist, besteht in der Funktion der herbeizitierten Tatsachen. Deren unbestreitbare Objektivität untermauert die Gültigkeit ihrer parteilichen und als Fakt ausgegebenen Interpretation – freilich, weil und solange die auf der richtigen Seite zum ‚Argument‘ gemacht wird. Wegen der Botschaft, auf die es einzig und von vornherein ankommt, finden auch „Faktenchecker“ ohne Probleme zum Ausgangspunkt zurück, dass Putins Begründungen des Kriegs ein einziger Anschlag auf den ‚gesunden Menschenverstand‘ sind. Sich weiter ausgiebig und derart ‚sachlich‘ mit ‚pathologischem Wahnsinn‘ zu befassen, das geht einerseits dann doch zu weit, stachelt andererseits die nächste Abteilung Expertentum an, das Bild von Putin weiter auszupinseln.

Die Personalisierung des Kriegs zum Psychogramm des Bösen

Die entschiedene Verurteilung von „Putins Krieg“ als die einzig vernünftige Weise, sich die Konfrontation zwischen Russland und ‚dem Westen‘ anzuschauen, kommt gut ohne, aber auch problemlos mit Zitaten von der russischen Regierung aus, in denen die ihre Position begründet. Zugleich ist die seriöse Öffentlichkeit sich nicht zu blöd, zu wiederholen, man wisse ja nicht, was in Putins Kopf vorgehe, um das als Steilvorlage zu nutzen, aller Welt mitzuteilen, was in seinem Kopf vorgeht.

„Putins Krieg – ein zwanghafter Irrglaube... Putins Kriegserklärung sagt – wie schon die Reden der vergangenen Tage – viel über ihn aus; über seine fast wahnhaften Verschwörungstheorien, seine notorischen Umzingelungsängste, seinen zynischen Umgang mit der Geschichte, die tiefe Verachtung für die Kultur der Ukrainer und vor allem seine manische Angst vor einem Volk, das vor allem seine Unabhängigkeit wollte und weiter will. Nichts wäre dem früheren KGB-Agenten fremder... Putin weiß sehr wohl, dass seine Macht nur geliehen und sein Herrschaftsmodell auf wackeligen Füßen steht – und wie schnell selbst große Imperien in sich zusammensacken können, hat er 1989 als einsame Stallwache in Dresden selbst erlebt. Dieses Trauma und diese gefühlte Demütigung stecken Wladimir Putin bis heute in den Knochen. Warum es zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion kam, hat Putin bis heute nicht verstanden. Stattdessen will er die post-sowjetische Ordnung zerstören... Bis dahin wird die Bevölkerung der Ukraine den Preis für Putins Zwangsvorstellungen zahlen.“ (tagesschau.de, 24.2.22)

„Psychologen und Historiker haben die Welt schon vor Kriegsbeginn gewarnt: Wladimir Putin zeigt Anzeichen eines Realitätsverlusts. Dies sei nicht ungewöhnlich bei einer so langen Kombination aus extremer Einsamkeit und extremer Macht, sagen Experten. Wer zu Wladimir Putin will, muss erst mal durch einen zischenden High-Tech-Tunnel. Händewaschen, Impfung und negativer Test genügen nicht. Der russische Präsident besteht zusätzlich auf einer maschinellen Desinfektion der Köpfe... Cäsarenwahn: So beschrieben Historiker und Psychologen schon immer die in hohen Machtpositionen drohenden Deformationen.“ (rnd.de, 24.2.22)

„Wladimir Putin – ein ‚wahnsinnig gewordener Zar‘. Wladimir Putin galt immer als kühler und berechnender Stratege. Doch im Ukraine-Konflikt scheint der russische Präsident völlig verändert. Immer mehr Fachleute treibt deshalb die Frage um, wie es eigentlich um Putins psychische Verfassung bestellt ist.“ (FR.de, 2.3.22)

„Psychologen und Historiker“, aber auch die CIA, Merkel, Macron, westliche Diplomaten und europäische Parlamentarier – von „uns“ anerkannte Figuren können kraft ihrer wissenschaftlichen oder politischen Autorität ausdrücklich bezeugen, dass es völlig in Ordnung geht, dem Konflikt zwischen dem russischen Staat, der NATO und der Ukraine an der geistigen Verfassung des russischen Regierungschefs auf den Grund zu gehen, nämlich deren Gegensatz in die Probleme aufzulösen, die Putin mit sich selber hat. Die Verurteilung Russlands als einen „Angriffskrieg“ führenden „Aggressor“ wird psychologisch betrachtet: Innere „Deformationen“ determinieren „Wesensveränderungen“, die wiederum „untypische Verhaltensweisen“ hervorbringen, die „wir“ als „realitätsuntüchtig“ und damit „gefährlich“ identifiziert haben. Von dem Standpunkt aus wird frei und doch recht stereotyp zu den Indizien und Gründen von Putins psychischer „Deformation“ assoziiert: Glasklar, wer aus seiner eigenen Thermoskanne trinkt, an langen Tischen sitzt und Vorsichtsmaßnahmen gegen Infektionskrankheiten ergreift, die „wir“ völlig übertrieben finden, der muss einfach „paranoid“ sein und unter „Verfolgungswahn“ leiden. Wer in der Ukraine Krieg führt und sein Land mit den Mitteln staatlicher Gewalt auf Linie bringt, der macht das aus „manischer Angst“ vor ukrainischen Lebensverhältnissen – bzw. dem Bild, das die Presse in ihrer Begeisterung für die Ideale einer freiheitlich-demokratischen Konkurrenzgesellschaft von Putins angeblichem Angstgegner zeichnet. Das trübt seine „geistige Verfassung“ ein. Er will die „post-sowjetische Ordnung zerstören“, die „wir“ als „unsere“ europäische Friedensordnung kennengelernt und lieb gewonnen haben, und ganz im Ernst die „Zeit zurückdrehen“. Dass der Mann an „Zwangsvorstellungen“ leidet, sieht man daran, dass er mit seinen „Großmachtphantasien“ einfach keinen Erfolg hat; Realität ist nämlich die durchgesetzte europäische Staatenordnung, an der Putin sich vergreift, „irre“ also derjenige, der das einfach nicht versteht.

© 2022 GegenStandpunkt Verlag

Zwei Anmerkungen zu ‚Butscha!‘

Aus der Kleinstadt Butscha gibt es schlimme Bilder zu sehen. Also sieht Bild hin:

„Es sind furchtbare Aufnahmen. Man möchte weggucken. Aber es ist wichtig, dass wir hingucken. Dass SIE, liebe Leserinnen und Leser, Bescheid wissen, was Putin tut... Langsam fährt die Kamera durch Butscha, die lange Straße entlang... Links und rechts filmt die Kamera Leichen. Eine hat auf dem Rücken gefesselte Arme. Ein Mann liegt auf seinem Fahrrad, seine Einkäufe neben ihm. Die Kamera muss Kurven machen um die Leichen. Ein Bildausschnitt weist einen Kreisverkehr aus, links ist ein Wohnblock, zwei nebeneinanderliegende Leichen. Freunde. Wer die Bilder der Toten von Butscha sieht, dem schießen die Tränen in die Augen. Offensichtlich wehrlose Menschen, Bürger, Zivilisten, unbewaffnet, ermordet von russischen Soldaten. Frauen und Mädchen wurden mehrfach gefangen gehalten, immer und immer wieder vergewaltigt... Menschen, die in Kellern gehalten, gefoltert, getötet wurden. Vergewaltigte Mädchen und Frauen... Andere Fotos zeigen Frauenleichen, nackt und verbrannt zwischen Autoreifen, offenbar geschändet mitten auf der Landstraße. Diese Hand gehört einer liebenden Mutter. Ihr Name ist Irina. Eine Hand, die unserer Nachbarin, unserer Tante, unserer Mutter gehören könnte. Diese Frauenhand, die symbolisch für das Grauen von Butscha steht. Für ein furchtbares Kriegsverbrechen, das Putins Mörder-Truppen in der Stadt bei Kiew begingen.“ (Bild, 6.4.22)

I. Von den Bildern des Kriegs

Was auf den Bildern aus Butscha zu sehen ist: das Grauen des Kriegs; das, was ‚die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘ anrichtet; und auch, dass beim groß- und kleinkalibrigen Töten und Zerstören die ach so zivilisatorische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten mal wieder nicht eingehalten worden ist. Was auf den Bildern definitiv nicht zu sehen ist: ungefähr alles, was die deutsche Öffentlichkeit – offenbar auch stilbildend für ihr Publikum – darin entdeckt und daraus folgen lässt.

Sie sieht die Schwelle zur „Barbarei“ überschritten, „das Gegenteil der Zivilisation“, weil nicht-uniformierte und unbewaffnete Opfer zu Schaden gekommen sind, für die in der zivilisierten Staatenwelt das Attribut ‚unschuldig‘ reserviert ist. Und zwar – nach fachkundigem westlichem Urteil – nicht bloß als bedauerlicher, aber wenigstens nichtbarbarischer ‚Kollateralschaden‘, sondern gezielt. Dass Journalisten beim Anblick der Bilder und beim Rückgriff auf solche Prädikate ihrer moralischen Empörung freien Lauf lassen, ist offensichtlich und so weit auch normal. Auffällig ist freilich auch, was und wer hier für die Normalität moralischer Gefühle die Maßstäbe setzt: Ziemlich feinfühlig folgt die Empörung den Unterscheidungen, auf die die staatlichen Gewalttäter selbst in ihrem internationalen Kriegsrecht sich geeinigt haben – offenbar in der Gewissheit, wozu sie bei der Austragung ihrer Gegensätze im Prinzip und im Detail fähig und willens sind. Das „Gegenteil der Zivilisation“ ist derlei Gewalt also schon deswegen nicht, weil im besagten Kriegsrecht mit seiner supranationalen Strafinstanz – Gipfel des zivilisationsverbürgenden Völkerrechts – immerhin ein ganzer, fein abgestufter Katalog von Kriegshandlungen festgehalten wird, mit denen sie fest rechnen und bei denen sie sich offensichtlich nicht gerade von moralischen Empfindsamkeiten leiten lassen.

Genauso wenig geben die Bilder für das Urteil her, das gewiss nicht erst seit ‚Butscha‘, seitdem aber so fest steht, dass der Ortsname selbst schon alles sagt: Ein „enthemmter, totaler Krieg eines totalitären Regimes“ wird da geführt, in dem „Putins Mörder-Truppen“ zu Werke gehen, eine „russische Soldateska“, die „zerstört, brandschatzt und mordet nach Gusto“ (SZ, 4.4.22). Das Prinzip dieses Urteils ist so schlicht wie verkehrt: Wenn solche Taten im Kriegsverlauf begangen werden, die nicht nur grausam, sondern so was von verboten sind, dann – so wird da gedacht – geht es auch um sie; dann besteht der Kriegszweck selbst in nichts anderem, als dass bar jeden Grundes über Leichen gegangen wird, vorzugsweise über jene von Leuten, die niemandem etwas zuleide getan haben. So wird ausgerechnet im härtesten Gegensatz von Staaten, die ihr Volk zu den Waffen rufen oder zur Heimatfront erklären, die politische Qualität des Gemetzels ignoriert. Fatal ist diese verkehrte Vorstellung nicht deswegen, weil Putin und seine Armee mehr Verständnis, zumindest ein milderes Urteil verdient hätten; auch nicht, weil ihre Kriegsziele eigentlich viel nobler wären als die Taten, die man deswegen als bedauerliche Ausreißer zu verbuchen und unter dem Strich zu verzeihen hätte. Es ist eher umgekehrt: Krieg wird so zum Beutezug herabgestuft, zum persönlichen Ausraster von Soldaten und/oder ihres Befehlshabers. Letzterer wird damit zwar übelst beschimpft, aber gar nicht als das, was er ist: politischer Führer einer Nation im Krieg; mit der berufsbedingten Autorität, die Reichweite des Existenzrechts der Nation zu bestimmen; Spitze eines ganzen Machtapparats und Oberbefehlshaber einer Zerstörungsmaschinerie, die für viel mehr ausgelegt, auf viel mehr vorbereitet und mit viel mehr befasst ist als bloß mit der Wunscherfüllung eines bösen Menschen. Verurteilt wird eine moralische Karikatur und sonst nichts. Die SZ bestätigt das auf ihre Weise, wenn sie ein „totalitäres Regime“ für einen derart „enthemmten totalen Krieg“