Geheime Feste - Ernst Jünger - E-Book

Geheime Feste E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

"Am meisten beeindruckten mich seine präzisen Schilderungen der Natur. Mit wenigen Blicken konnte er Bilder oder Geschehnisse erfassen und das Geschaute mit einzigartiger Sprachgewalt schildern." Josef Reichholf Im Leben Ernst Jüngers gab es keinen Tag, den der Autor nicht der Betrachtung der Natur und ihrer Phänomene widmete – er studierte das Wetter, die Pflanzen, die Tiere, die Gesteinsformationen, den Mikrokosmos. Ob auf den Fluren des heimischen Wilflingen, auf einer seiner ausgedehnten Exkursionen in die Macchia des Mittelmeers, in die undurchdringlichen Regenwälder der Tropen oder in die kargen Stein- und Gletschergefilde des hohen Nordens: Jüngers Auge erfasste Naturereignisse mit großer Präzision und beschrieb sie mit hypnotischer Anschaulichkeit. Diese Anthologie, die die schönsten Stücke aus dem Gesamtwerk in thematischer Ordnung präsentiert, lädt ein zu einer Weltreise an der Seite Ernst Jüngers. Seine Texte sind eine Schule der Kontemplation. Sie öffnen unsere Augen und lehren uns etwas, was im digitalen Zeitalter zunehmend verloren zu gehen scheint – vor der Natur zu verweilen, wahrhaft zu sehen und zu träumen.

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Seitenzahl: 326

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Ernst Jünger

Geheime Feste

Naturbetrachtungen

Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Alexander Pschera

KLETT-COTTA

Ernst Jünger, geboren 1895 in Heidelberg, gilt als einer der wichtigsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Mit seinen Werken »In Stahlgewittern« und »Auf den Marmorklippen« erlangte er Weltruhm. 1982 erhielt er den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Jünger starb 1998. Sein Gesamtwerk erscheint bei Klett-Cotta.

Alexander Pschera, geboren 1964. Promotion in Germanistik, Heidelberg. Zahlreiche journalistische Arbeiten sowie Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Léon Bloy, Charles Péguy und Ernst Jünger. Erster Vorsitzender der Ernst- und Friedrich Georg Jünger-Gesellschaft e. V. und Mitherausgeber des Jahrbuchs »Jünger-Debatte«.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von © iStock: Para-Graph

Alle Grafiken im Inhalt ©Tom Chalky

Gestaltung und Seitenlayout: Marion Köster Typografik, Stuttgart

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96472-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11633-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Einleitung

Der grüne Jünger

Heimatorte, Spaziergänge

Am Mittelmeer

Inseln

Stillleben

In den Tropen

Im Norden

In Gärten

Anmerkungen

Siglenverzeichnis

Danksagung

Ruskin verdanke ich die Maxime: das Ziel der Kunst sei, Gott in der Natur zu sehen. Sie trifft das Fundament der Anschauung und wäre noch stärker unausgesprochen – als Musik oder Meditation.

Ernst Jünger - Siebzig verweht III

Alexander Pschera

EinleitungDer grüne Jünger

Ernst Jünger gilt gemeinhin als »Kriegsschriftsteller«. Doch sein Lebenselement war nicht der Krieg, sondern die Natur. Die beiden Kriege, an denen er teilnahm, waren Ereignisse, denen er nicht ausweichen konnte, die Natur hingegen war ein Raum, den er von früher Jugend an sehnsüchtig aufsuchte. Es gibt kaum eine Seite in Jüngers Werk, in der nicht von Pflanzen, Tieren, Steinen, Fossilien und Landschaften die Rede ist. So war Jüngers Leben ein kontinuierlicher Dialog mit der Schöpfung. Sein Werk ist in großen Teilen ein Niederschlag dieses Zwiegesprächs. Das macht Jünger zu einem der wichtigsten modernen deutschsprachigen Vertreter dessen, was heute als »nature writing« bezeichnet wird. Darüber hinaus übertreibt man nicht, wenn man in Jünger – und auch in seinem Bruder Friedrich Georg – einen Vorreiter ökologischen Denkens sieht. Sehr früh haben beide vor dem Artenrückgang, den negativen Auswirkungen der Technisierung und Globalisierung und vor dem schwindenden Bewusstsein des Menschen für den Wert der Natur gewarnt. Nicht nur, aber auch deswegen ist Ernst Jünger einer der Lieblingsautoren des Grünen-Politikers Joschka Fischer.[1] So führt die Auseinandersetzung mit dem grünen Jünger ins Innere seines Werks und verdeutlicht die Vielschichtigkeit seines Schreibens und Lebens. Jünger wird auf diese Weise als ein Autor ins Spiel gebracht, der nicht nur eine literarische Tradition fortsetzte, die bis auf Goethe und Humboldt zurückgeht, sondern auch seismographisch jene Veränderungen der Umwelt und der Natur registrierte, die heute in aller Munde sind und die das Schicksal des Planeten bestimmen.

~

Ernst Jüngers Schriftsteller-Bruder Friedrich Georg – im Unterschied zu Ernst, der sich der Entomologie verschrieb, ein leidenschaftlicher Ornithologe – begleitete ihn häufig bei seinen Naturerkundungen. In Grüne Zweige berichtet Friedrich Georg von den wilden Exkursionen, die die beiden im Steinhuder Meer unternahmen und die keinem Kind heute so mehr erlaubt wären. Zum einen, weil die rechtlichen Bestimmungen ein freies Schweifen durch die Natur schwierig machen, zum anderen, weil heute vielen Eltern die Haare zu Berge stünden, würden ihre Kinder tagaus, tagein nackt und mit selbst gebastelten Flößen gefährliche Gewässer befahren und dabei Schlangen ködern. Später kamen dann die ausgiebigen Fahrten mit dem »Wandervogel« dazu. Ausgedehnte Urlaube an den verschiedenen Mittelmeerküsten von Dalmatien bis in die Türkei, Aufenthalte auf zahlreichen Inseln, Expeditionen in den südamerikanischen Urwald, in den indonesischen Archipel, nach Japan und ins Innere Afrikas, aber auch in den hohen Norden bildeten den Rahmen für Jüngers »subtile Jagden«, ebendie Exkursionen, bei denen er Käfer der Paläarktis sammelte. Ergebnis dieser Reisen ist eine große Privatsammlung, die viele Forschungsimpulse gab und sogar dazu führte, dass mehrere Insekten nach Jünger benannt wurden. Die Sammlung kann heute im ersten Stock des Jünger-Hauses im oberschwäbischen Wilflingen bestaunt werden. Jünger war neugierig auf alles, was die Natur ihm darbrachte. Auf ausgedehnten Spaziergängen in der oberschwäbischen Feld- und Waldflur, die zu seinen Alltagsritualen gehörten, verhielt er sich nicht anders als im brasilianischen Dschungel. Er beobachtete mit großer Hingabe, ja Zärtlichkeit, das Verhalten der Tiere, studierte den Wechsel der Jahreszeiten und war sich sicher, jeden Tag eine neue Überraschung zu erleben. Er war ein Mensch, dem das Staunen angesichts der Vielfalt der Schöpfung und ihrer geheimen Zusammenhänge zur zweiten Natur geworden war. Jünger war ein staunend Liebender. Der Natur – und auch den Menschen, wenn man genau liest – nähert er sich mit großer Behutsamkeit. Es ist ein liebender Blick, mit dem er die Geschöpfe erfasst. Das äußert sich in leidenschaftlicher Gartenarbeit ebenso wie im sinnlichen Kontakt mit seinen vielen Haustieren: Katzen, Schildkröten, Chamäleons, Wandelnden Blättern, Gottesanbeterinnen, von denen er eine fürsorglich »Klein-Zaches« nannte. Allen gibt er Kosenamen, alle bezieht er in seinen Lebensalltag ein. Selbst die Ameisenkolonien im Garten, denen so mancher Gärtner mit Insektenvertilgungsmittel zu Leibe rücken würde, werden eingemeindet. Liebevoll spricht der Autor von »seinen Ameisen«. Die Liebe zum Konkreten und Lebendigen ist allenthalben zu beobachten: im Dialog mit den Vögeln vor dem winterlichen Fenster, mit dem Meisenpaar, das in seinem Briefkasten nistet, den Jünger daraufhin mit einem Zettel als Warnung für den Briefträger versieht, mit seinen Pflanzen, ja selbst mit den winzigen Staubmilben, die über den Teppich kriechen. Nichts ist unwesentlich. Alles steht miteinander in Verbindung. Jünger ist eine schöne Bestätigung für die »Biophilie«-These von Edward O. Wilson,[2] der zufolge sich der Mensch seiner Natur nach zu allem Lebendigen hingezogen fühlt.

~

Jünger war ausgebildeter Entomologe. Doch seine Perspektive war nicht auf den Mikrokosmos beschränkt. Es waren nicht nur die Insekten, die Jünger interessierten. Reptilien, Fische, Säugetiere, die Flora des jeweiligen Standorts, Wetterphänomene und Gesteinsformationen – sein Blick erfasste die Mannigfaltigkeit der Natur. Selbst im Chaos des Ersten Weltkriegs setzte dieser Blick nicht aus, wenn Jünger beispielsweise mitten in der Schlacht die fossilen Aufschlüsse der Stollenwand betrachtet. Von Anfang an verband sich bei Jünger die Natur mit dem Moment des Abenteuers, das ihm als Kind in den Schriften Stanleys und anderer Expeditionsreisender eingeimpft worden war. Naturkundliches Reiseschrifttum gehörte immer zu seinen bevorzugten Lektüren. Die Wilflinger Bibliothek gibt davon Zeugnis. Der reine Abenteurer erobert die Natur, er nimmt sie in Besitz, danach lässt er sie hinter sich zurück. Das war nicht Jüngers Stil. Der abenteuerliche Impuls kam nie zum Erliegen, darin blieb er immer ein »großes Kind«, doch einmal eingetaucht in die Natur, wurde er sich schnell der Grenzen des Menschen, ja der Grenzen der Individuation bewusst. Ob in der grünen Hölle des Urwalds, in der flirrenden Hitze der Macchia Sardiniens oder Griechenlands oder in den abweisenden Gletscherwelten Islands: Stets war Jünger auf der Suche nach den Säumen, die das menschliche Leben von der Natur trennen, dem geheimen Ursprung der Schöpfung, dem Punkt, an dem das Individuum und die Natur, die es umgibt, konvergieren. Jünger war eben auch immer ein Natur-Mystiker. In diesem Zusammenhang sind auch seine Drogen-Experimente zu betrachten.

~

Zudem war Jünger auch ein ernsthafter Naturwissenschaftler. Sein genauer Blick wurde durch das Studium der Zoologie in Leipzig und Neapel zu einem wissenschaftlichen Betrachten geschärft. Fundierte botanische Kenntnisse eignete sich Jünger im Selbststudium an. Er verfügte über das wissenschaftliche Kategoriensystem, um die Flora, Fauna und Geographie eines konkreten Ortes einordnen zu können. Dazu kam ein profundes Wissen über die Geschichte der Naturphilosophie. Diese intellektuelle Disziplin bildet das Gerüst, das Tragwerk, das Jüngers Naturbetrachtungen selbst dann, wenn sie naturphilosophisch werden, nicht ins Esoterische abgleiten lassen. Ernst Jüngers Verhältnis zur Natur muss also unter einem dreifachen Blickwinkel gesehen werden: In seinen Texten überlagern sich subjektive Wahrnehmung, historische Einordnung und wissenschaftliche Beschreibung der beobachteten Naturphänomene. Sein Vorbild waren die Naturbeschreibungen Goethes, deren Spuren sich in seinem Werk allenthalben finden. Dieser Einfluss verdichtet sich ganz besonders in den Passagen über Natur und Naturphänomene und lässt sich hier mitunter bis in stilistische Eigenheiten nachweisen. Das verbindende Element dieser beiden Autoren ist die Suche nach dem Ausgleich, nach einer Mitte der Existenz, die radikalen Perspektiven nicht zugänglich ist. Mit Goethe, zumal dem späten, verbindet Jünger auch die Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Sprache, die niemals in der Lage ist, das Gesehene so zum Ausdruck zu bringen, wie es im Bewusstsein des Betrachters ankommt. Sprache ist Annäherung, aber in dieser hat es Jünger, wie Goethe vor ihm, weit gebracht.

~

Gott in der Schöpfung zu sehen – diese Idee taucht deutlich erst in den Alterstagebüchern »Siebzig verweht« auf, obwohl es Spuren christlichen Gedankenguts im gesamten Œuvre Jüngers gibt. Aber auch die antike und nordische Mythologie, in denen Jünger bewandert war, liefern ihm Deutungsmuster für das Woher und Wohin des Menschen in der Schöpfung. Letztlich ist es das erlebende Ich des Hier und Jetzt, dem Jüngers Vertrauen gilt, obwohl er metaphysische Zusammenhänge ahnt, die das Ich mit Zeit und Raum verbinden. Allerdings mischen sich im Wandel der Jahreszeiten immer wieder stark melancholische Betrachtungen ein, in denen sich Jünger der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens bewusst wird. Der November war sein besonderer Leidensmonat. »Im November sterben die Lebensmüden, im Februar jene, die dem Leben nicht mehr gewachsen sind«,[3] schreibt er 1979 in sein Tagebuch. Immer dann, wenn sich solche Einbrüche ereignen, dienen Naturbilder als Pforten der Hoffnung, die, ausgehend von der zyklischen Erneuerung alles Geschaffenen, den Blick auf das Überirdische lenken und Jünger die Rückkehr des Menschen in einen Zustand vor der Körperlichkeit in Aussicht stellen. Jünger konvertierte wenige Jahre vor seinem Tod zum katholischen Glauben. Skeptiker sagen, das sei vor allem eine Geste der Zugehörigkeit zur Wilflinger Dorfgemeinschaft gewesen. Wer Jünger genauer liest, sieht, dass dieser Einwurf zu kurz greift. Jünger kam sicherlich nicht über den Katechismus zum Christentum. Aber es ist gut möglich, dass seine allumfassende, mehr als einhundertjährige Naturliebe ihm einen Weg aufzeigte, den Ursprung all dessen zu bekräftigen, dem er sein Leben lang staunend gegenübergestanden war.

~

Die Auswahl der nachfolgenden Texte ist thematisch geordnet. Die Anordnung will den Leser dazu einladen, sich mit Jünger auf Reisen zu begeben und die Natur zu erkunden: erst in kurzen Gängen durch Wald und Feld, dann an die europäischen Küsten, schließlich in ferne Länder, um am Ende im hortus conclusus des liebevoll gepflegten Wilflinger Gartens zur Ruhe zu kommen. Damit wird der Lebensweg Jüngers auf doppelte Weise nachgezeichnet: zum einen sein bis ins hohe Alter nie nachlassendes Ausgreifen in fremde Räume, zum anderen aber auch seine zyklische Struktur, die nach langer Abwesenheit immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt.

Heimatorte, Spaziergänge

Seit 1951 lebte Ernst Jünger im oberschwäbischen Wilflingen in der Oberförsterei, dem früheren Forstamt der Stauffenberg’schen Forstverwaltungen, einem Barockbau aus dem Jahre 1728. Sein Leben folgte dort von Anfang an einem eigenen, streng eingehaltenen Rhythmus. Von dort brach er zu ausgedehnten Reisen auf, die ihn ans Mittelmeer und noch südlichere Gefilde führten. Doch diese Reisen in die entferntesten Ecken der Welt bedeuteten keine Abkehr von den heimischen Landschaften und ihrer Natur. Im Gegenteil: Die Erfahrung der Ferne erschloss ihm die Phänomene, die vor seiner Haustür lagen, und umgekehrt. Noch bis ins hohe Alter ging Jünger täglich ausgiebig auf der Feldflur und im Wald spazieren. Seine Alterstagebücher »Siebzig verweht« berichten ausführlich davon. Er folgte dabei immer wieder denselben Pfaden und hatte Fixpunkte in der Landschaft, die er regelmäßig aufsuchte. Schon in der Rehburger Jugend war dies so. Diese Konstanz der Orte war wohl eine der Voraussetzungen für die Genauigkeit der Anschauung. Damit die Natur sich ihm öffnete, bedurfte es der Regelmäßigkeit äußerer Umstände. Umgekehrt gilt aber auch: An jedem Ort, an dem er verweilte, unternahm Jünger Spaziergänge, die ihm die nähere Umgebung erschlossen, die das Fremde zum Eigenen machten.

Das »Weben« ist die allgemeine Bewegung beim Gehen, Schwimmen, Rudern, Lieben, solange Herzschlag und Atmung bestehen.[1] Bei den Organismen beginnt es mit einem einfachen Pulsieren, das sich zum Vibrieren bis zu Konvulsionen steigern kann.

Das Weben könnte auf die erste Spaltung zurückgehen. Sie hat ein Wesen in zwei Qualitäten getrennt. Unmittelbar darauf spüren sie Heimweh nach dem Ursprung, sie suchen sich wieder zu nähern, doch das kann in der Zeit nur als Gleichnis, nur in Andeutungen geschehen. Es wiederholt sich in Licht und Schatten, in Freude und Leid.

Beim Jüngsten Gericht nur eine Frage: »Hast du gewebt?«

Das muß jeder bejahen, und jeder wird absolviert.[2]

~

Als wir von Hannover nach Schwarzenberg[3] gezogen waren – es muß in meinem ersten Schuljahr gewesen sein, ich war noch ein Stadtkind – führte mich die Mutter auf einen nahen Berg, den Roggelmann [sic].[4] Dort war eine Wiese mit vielen Blumen; ich kroch zwischen ihnen im Grase umher. Die Mutter nannte mir die Namen, von denen ich nur einen behalten habe: das Stiefmütterchen. Es hatte mich angeblickt.[5]

~

Nahe dem Rehburger Hause[6] lag der Mühlberg, einer der Plätze, die wir am liebsten heimsuchten. Er trug seinen Namen nach einer Mühle, die vor Jahren einem Brand zum Opfer gefallen war. Ihre Ruine hatte sich erhalten, sie diente uns zu gewagten Besteigungen. Ein freier Platz umgab sie; er war von Dickichten umrahmt.

Dieser nahe und doch entlegene Ort war das erste Stück freier Natur, mit dem wir, aus der Großstadt kommend, vertraut wurden. Es war ein Revier, wie Brehm es der Zauneidechse zuschreibt, denn nach ihm werden »Abhänge sonniger Hügel, namentlich solcher, welche mit krüppelhaftem Buschwerk bestanden sind«, von diesem Tier bevorzugt, und in der Tat begegnete ich ihm dort bereits auf meinem ersten Gang. Es war ein schönes, sattgrünes Männchen, das auf der braunen Rinde eines Kiefernstammes saß. Zuerst glaubte ich, daß ich mich getäuscht hätte. Solche Geschöpfe gehörten wie die Papageien zu den Schaustücken der Zoologischen Gärten; es konnte nicht sein, daß man ihnen hier und am Alltag begegnete. Doch blieb kein Zweifel an der Gegenwart des wunderbaren Wesens, das wie eine Agraffe an den Stamm geheftet war. Wenn es den Kopf bewegte, fächerten sich die Schuppen an seinem Hals. Es hielt sich flach ausgedehnt, um die Sonne besser zu genießen, die Flanken hoben und senkten sich: es atmete.[7]

~

Wir waren wie gewöhnlich spät aus der Schule gekommen und standen auf dem oberen Rand der Grube; zu unseren Füßen flogen die Schwalben aus und ein. Die Nester mußten dicht unter dem Rasen liegen; wir hörten durch das Gras ein sanftes Zirren, und wenn wir auf die Erde stampften, flogen die Pärchen heraus.

Vom Grund der Grube aus war das Treiben entfernter, dafür sahen wir die weißen Brüste aufleuchten. Noch schien die Sonne; ich mußte öfters, um die Augen von der Blendung zu erholen, zu Boden schauen. Dort lagen Kiesel, auf denen sich moosartige Muster ausgesintert hatten, zwischen Flächen aus festgetretenem Sand.

Einmal, als ich wieder hinunterblickte, schien es mir, als ob etwas schnell anflöge und verschwände – es mochte aber auch ein Nachbild der Schwalben gewesen sein, das sich abzeichnete. Indessen wiederholte sich das Phänomen. Da war etwas Neues, schwer zu Erkennendes, ein Schattenspiel, vielleicht ein Augentrug. Das Wesen, das sich dort über den Grund bewegte, schien schwerelos zu sein. Es kam wie ein Pfeil, huschte zwei, drei Armlängen weit über den Boden und schoß wieder davon. Nun waren es mehrere, ein ganzer Schwarm. Ich sah etwas Blitzendes, eine Ahnung von Purpur und Gold, und auch etwas anderes, das mit dem hellbraunen Sandgrund verschmolz. Aber sowie ich mich rührte, löste es sich auf wie ein Hauch in der Luft. Offenbar bewirkte schon die Bewegung meines Schattens diese Flucht.

Vielleicht war das Ganze auch nur eine Täuschung, ein Blendwerk nach einem von Bildern erfüllten Tag. Das war mir öfters begegnet; erst neulich war ich einem Schwarm von Goldammern gefolgt, bis er sich in eine Handvoll dürrer Blätter verwandelt hatte, die der Wind vorübertrieb. Und mit der Ermüdung nahmen solche Verwandlungen zu.

Ohne ein wenig Glück würde ich das Vexierbild kaum gelöst haben. Aber indem ich auf dem Fleck verharrte und das Belebte vom Unbelebten zu sondern suchte, landete einer dieser Schatten in meinem Blickfeld – zwar nur für einen Augenblick, doch der genügte, um zu erkennen, daß hier ein reales Wesen seine Spiele trieb. War es eine prächtige Fliege, war es eine bunte Wespe oder gar ein Käfer – dann mußte er sich von allen seinesgleichen unterscheiden, die ich bislang erblickt hatte. Ich muß zugeben, daß diese letzte Möglichkeit mich vor allem ergötzte – das änderte gewiß nichts an dem Tier und seiner Schönheit, wohl aber war es das Zeichen einer Neigung, die bereits gewählt und damit auch sich beschränkt hatte.

Wie gesagt, währte die Begegnung nur einen Augenblick, allein der Funke zündete. Ebenso überraschend, wie das Inbild erschienen war, verschwand es; in beiden Bewegungen verbanden sich Leichtigkeit und Kraft: zunächst ein Davonschießen auf ebener Erde, fast unsichtbar schwebend, und dann mit einer zarten Explosion von bunten Metallen die Ablösung.

Ein Gast aus dem Wunderland; ich mußte seiner habhaft werden, mußte ihm nacheilen. Er schien sich in gerader Richtung zu bewegen, denn wenn ich ihr folgte, spürte ich ihn wieder auf – freilich vergeblich, denn er erhob sich wieder, ehe ich ihn erreicht hatte. Im Rennlauf wäre es mir gelungen, doch in den Flugstrecken schlug er mich mühelos. Zwar merkte ich, daß die Sprünge allmählich kürzer wurden, doch erlahmte in gleichem Maße meine Ausdauer. So eilte ich hinter dem Wild her wie Achilles hinter der Schildkröte. Dann ging die Sonne unter, und die Tiere verschwanden mit dem letzten Strahl. Das Spiel war aus. Doch setzte es sich in den Träumen fort, als ein vergebliches Haschen nach etwas Köstlichem.

Kaum konnte ich erwarten, daß der Tag anbrach. Daß es ein Werktag war, kümmerte mich wenig; die Schule mußte ausfallen. Gewöhnlich standen wir kurz vor sechs auf und kamen kurz vor vier Uhr nachmittags wieder; wir fuhren mit der Bahn nach Wunstorf hin und zurück. Das war eine lange Zeit, und daher hatte sich als Lizenz herausgebildet, daß wir hin und wieder den Zug verpassen durften; es galt als Entschuldigung. Nur durften wir nicht zu oft davon Gebrauch machen, sonst nahm uns der Direktor ins Gebet. Meist hatten wir auch einen besonderen Anlaß: im Walde waren die Beeren oder die Pilze gut geraten, oder wir planten eine Expedition. Expeditionen waren im Gegensatz zu den kurzen Gängen Ausflüge nach Punkten, die uns nur von der Karte oder gerüchtweise bekannt waren. Wir suchten uns dann im Dickicht oder im Schilf zu bewegen, wie wir es bei Stanley gelesen hatten, dessen »Durch den dunklen Erdteil« zu den Büchern gehörte, die wir wieder von vorn begannen, wenn die letzte Seite gewendet war.

Der Zug durfte nicht einfach versäumt, er mußte haarscharf verpaßt werden. Die Bezeugung des guten Willens durch einen vergeblichen Dauerlauf gehörte zu den Spielregeln. Es kam freilich vor, daß ich schon statt der Bücher das Angelzeug dabei hatte und gleich vom Bahnhof aus einen der Feldwege zum Meerbach einschlug.

Eines Morgens entsinne ich mich besonders; das Wetter war schwül und grau. Ich hatte mich auf die geländerlose Brücke gesetzt, die damals dieses träge Gewässer überquerte, das den Überfluß des Steinhuder Meeres zur Weser führt. Das Wasser war schwer wie Blei; es schien, als ob die Schilfstengel aus Löchern emporwüchsen, die durch seinen Spiegel gebohrt waren. Bleiche Eintagsfliegen schwebten darüber hin. Ich fing eine davon und zog sie an die Angel – noch hatte ich nicht eingetaucht, als ein silberner Fisch an ihr zappelte. Das wiederholte sich mit jedem Wurfe; es kamen breite Weißfische, stachlige Barsche und Zander aus der Tiefe hervor.

Bald hätte ich die Last nicht mehr tragen können; endlich warf ich nicht nur die Überzahl, sondern den ganzen Fang ins Wasser zurück. Hier ging es nicht mehr um Beute, sondern um ein webendes Hin und Her mit den Eintagsfliegen und den silbernen Fischen, die ich aus dem Wasser wie aus einer dunklen Truhe hob – das muß ich gefühlt haben. Es war kein Zufall, auch kein Glück mehr, und kaum noch Wahrnehmung. Es war, als hätte mich ein Maler mit derselben Farbe, mit der gleichen grauen Paste ins Bild gemalt. Das Schilf am flachen Ufer, das stille Wasser, die moorige Luft, der Reiher, der am Meere fischte – wir waren alle in dieses Bild gebannt.

Doch ich will in die Sandgrube zurückkehren. Am nächsten Vormittag war ich wieder dort mit einem Netz aus grüner Gaze und meiner mit Papierschnitzeln gefüllten Fangflasche. Der an ihren Kork geheftete Wattebausch war »geladen« – das heißt, mit Äther betropft.

Meine Erwartung sollte nicht enttäuscht werden; das wunderliche Treiben war eher noch lebhafter als am Vorabend. Wolken von bunten Funken sprühten auf. Jetzt war ich ihnen überlegen und hatte bald die Art erfaßt, auf die ihnen beizukommen war. Eines der Tiere im Auge behaltend, folgte ich ihm so, daß mein Schatten hinter mir blieb. Es wiederzufinden, war schwierig, da der Umriß mit dem Boden verschmolz. Doch meist verriet es sich durch kurze, ruckhafte Bewegungen und war gefangen, falls es nicht aufflog, während das Netz noch in der Luft schwebte. So hatte ich bald eine kleine Strecke im Glas.

Zu Haus kam dann die gründliche Betrachtung, deren Genuß sich dadurch noch erhöhte, daß mir wirklich ein Käfer ins Garn gegangen war, wie ich schon draußen, während ich die Beute aus dem Netz nahm, erkannt hatte. Die Schönheit des Tieres war bestürzend; ich konnte mich nicht satt an ihm sehen.

Als wir abends am Tisch beisammen saßen, rühmte ich mich in meiner Entdeckerfreude, daß ich ein neues Tier, eine unbekannte Spezies, erhascht hätte. Da würde eine Beschreibung fällig sein.

Es war wohl nicht sehr pädagogisch vom Vater, daß er solche Überheblichkeiten gern hörte. Indessen wiegte er doch den Kopf und meinte: »Da sollte man vorher die Literatur zu Rate ziehen.«

Das war nicht schwierig, denn damals war gerade der erste der fünf Bände der Reitterschen »Fauna Germanica«[8] erschienen, eines Werkes, das ich noch heut benutze und schon mehrere Male neu angeschafft habe, wenn es völlig zerfledert war. Mich in Bestimmungstabellen zurechtzufinden, hatte ich schon in der Botanik gelernt und auch den Genuß erfaßt, der mit dieser Form der Enträtselung verbunden ist.

So konnte ich nach einigem Kopfzerbrechen ermitteln, daß ich ein wohlbekanntes Tier erbeutet hatte: die bereits in Linne’s Natursystem von 1758 aufgeführte Cicindela hybrida. Der Kaiserliche Rat Reitter bemerkt dazu: »Im ganzen Faunengebiet, sowohl in der Ebene als auch im Vorgebirge, besonders auch an den steinigen Ufern der Flüsse, oft sehr zahlreich.«

Das war meine erste Begegnung mit der Gattung Cicindela.[9] Sie führte zu einer Enttäuschung: schon viele Augen hatten das Wunder geschaut, das ich für einzig gehalten hatte, es war überall und alltäglich zu sehen. Ich hatte vorschnell geurteilt und war belehrt worden. Immerhin war mein Anspruch nicht ganz unbegründet: mein Eigentum war das Tier geworden, bevor ich den Namen gekannt hatte. Ich hatte es mit Lust herausgehoben aus der Lichtwelt, in deren Schimmer es verflochten war.[10]

Abends nahm ich den Spazierstock aus der Ecke und wanderte die schmalen Feldwege entlang, die ihre Bogen durch die hügelige Landschaft schlangen. Die verrotteten Felder trugen Blumen von heißerem und wilderem Geruch. Zuweilen standen einzelne Bäume am Weg, unter denen im Frieden der Landmann gerastet haben mochte, weiß, rosa oder dunkelrot überblüht, zauberhafte Erscheinungen inmitten der Einsamkeit. Der Krieg hatte dem Bilde dieser Landschaft, ohne seine Lieblichkeit zu zerstören, heroische und schwermütige Lichter aufgesetzt; der blühende Überfluß wirkte betäubender und strahlender als sonst.[11]

~

Abgesehen von einer Woche Barfrost[12] war der Winter bislang mild, noch fiel kein Schnee. Als ich heut im Betzenhart[13] meine Ameisen besuchte, schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel auf einen Wildrosenstrauch am Waldrande. Die Hagebutten leuchteten. Ein Schwarm von Goldammern flog sie an.[14]

~

Scharfer Frost bei klarem Himmel; die Sonne scheint warm. Erstes Sonnenbad in der Kiesgrube. Ich ziele mit Steinen gegen die Steilwand, deren Gefüge der Frost lockerte und das die Sonne auftaut; Lawinen stürzen herab.

Bald nahen die Februartage; sie haben es in sich – der Saft steigt in den Bäumen, auch unter dem Boden geschieht mancherlei. Anders im November; da keimt es noch in der Erde vorm Winterschlaf.

Im November sterben die Lebensmüden, im Februar jene, die dem Leben nicht mehr gewachsen sind. Die Flamme verglimmt oder versprüht.[15]

~

Sonntag Invocavit. (Et ego exaudiam eum?)[16]

Frost. Wenn die Sonne scheint, und sei es auch nur durch einen Schleier von Hochnebel, wähle ich den Gang durch die Feldflur, der um das Hofwäldle führt. Ein junger Fichtenbestand ist an den Rändern verkrautet und von einigen Überhaltern[17] durchsetzt. Trotz seiner geringen Fläche beherbergt er Pilze, Pflanzen und Tiere verschiedenster Art.

Ein Vögelchen bewegte sich munter zwischen dem dürren Gras und den Zweigen, die fast den Boden berührten; ich hielt es für einen Grünfinken. Als es mir aber gelang, das Tierchen für einen Augenblick mit dem Glas zu erfassen, erkannte ich es an seinem safrangelben Scheitel als das Winter-Goldhähnchen. Ein alter und lieber Bekannter, obwohl ich ihm selten begegnet bin. Besonders erinnert es mich an einen Wald oberhalb von Brixen, wo ein Schwarm die kahlen Lärchenzweige abkleibte. Damals hörte ich auch seine Stimme, ein Gewisper – Heinrich Seidel, der Dichter des »Leberecht Hühnchen«,[18] fand sie »zierlich wie gesponnenes Glas«.[19]

Rundgang bei guter Sonne. Der Weiher ist noch gefroren, der Friedhof unter Schnee, der Garten hingegen zum großen Teil davon befreit. Ein Pulk von Winterlingen steht in voller Blüte als einziger weit und breit. Er sprießt am Fuß einer Himbeerstaude, als ob sie ihn gewärmt hätte. Handbreite Flächen sind von grünen Härchen beflaumt. Das ist Krokus – nicht aus Zwiebel, sondern versamt.

Als Morgengast vorm Fenster ein Star im Hochzeitskleid; ich habe es zum ersten Mal in solcher Nähe gesehen. Die Federn bewegten sich und blitzten wie eine Brünne, der durch einen Hauch von Öl Hochglanz verliehen worden war.

Häufig kommt jetzt der Dompfaff; er fällt in Gesellschaften ein. Der Schnee steht ihm besonders gut. Der Zeisig bevölkert Stauffenbergs Linde[20] – vielleicht schon auf dem Rückzug in nördliche Gegenden.[21]

~

Immer noch ungewöhnlich kalt. Ich fuhr in die Stadt, um Liselotte[22] abzuholen, die aus Salzburg von den Musikwochen kommt. Bei Windstille markiert sich der Frost sehr deutlich – so waren die Bäume des Teutschbuchs[23] nur an den Gipfeln bereift. Die thermische Grenze war wie mit dem Lineal gezogen – darüber die Häupter, leicht schamponiert.

Der Bodensee ist überfroren: die Schwimmvögel schwärmen ins Umland, eisfreien Gewässern zu. Auch von der Riedlinger Donaubrücke sah ich die Enten rudern und die Bleßhühner gründeln, zwischen ihnen als heraldischen Gast einen Schwan.[24]

~

Mehr noch als der Winter ist der Frühling zu überwinden – der Saft steigt aus den Wurzeln in die Zweige, und in die alten Schläuche der Arterien der neue Wein.[25]

~

In den Nächten ist es noch kühl, trotzdem läuten die Unken in den Waldteichen. Aus den Erlenbüschen schnurrt das jähe, automatische Kollern der Fasanenhähne, und in den Schilfgürteln ertönt das Flattern der Enten und das hörnerne Quäken der Teichhühner. Auch fischen graue Reiher auf den Sandbänken. Ganz nahe meiner Hütte hält eine Häsin zwei Junge im Nest, die sie bei rauhem Winde unter Blättern verscharrt.[26]

~

Ein wenig wärmer. Der Winter war lang, mit Rückfällen. An den Lehmrändern der Feldwege strahlt in Gruppen der Huflattich – in jedem Frühling der Erste, der erwacht. Am Holzbach entlang. Stare im Hochzeitskleid, die Goldammer noch lebhafter als vor kurzem leuchtend, Elstern fliegen zum Nestbau in die Wipfel, aus dem Schilf streicht ein Erpel auf.[27]

~

Vorfrühling. Im Garten regt es sich nur allmählich, noch nicht einmal die Hasel wallte auf.

Aber die Ameisen haben bemerkt, daß sich heut etwas gewendet hat. Ich besuchte ihre Burgen am Betzenhart. Aus zweien quollen sie heraus – nicht etwa in Fäden, sondern in Masse, als ob ein unter dem braunen Hügel verborgenes Tier sein dunkles, wallendes Fell zeigte. Auf einem dritten hatten sie sich bereits zu einem Umhang verteilt. Das rote Halsschild der Einzelwesen ist im Gewimmel nicht zu erkennen, doch wirkt es wie eine Infusion auf dessen Tönung ein.[28]

~

Wenn nach einem der ersten warmen Tage ein Märzabend heraufdämmert, entsteigt den Furchen eines vor einigen Wochen gedüngten Ackerfeldes ein Brodem von ungeheuerlicher Kraft. Die Elemente setzen sich zusammen aus einem höchst verdichteten tierischen Dunst, den die Verwesung unterstreicht, sodann aber aus dem heraufgärenden Leben in seiner Legionen von Keimen regenden Fruchtbarkeit. Das ist eine Witterung, in der Melancholie und Übermut verschmelzen und die schwach in den Kniekehlen macht. Es ist die radikale Brunst der Erde und ihres Schoßes, der terra cruda nuda,[29] der jeder Blumenduft entstammt. In ihm wohnt auch Gesundheit, Lebenskraft unmittelbar, und nicht zu Unrecht empfahlen die alten Ärzte bei zehrenden Leiden das Schlafen in Kuhställen.[30]

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Der Winter war lang gewesen; wir hatten bis tief in den März hinein Frost gehabt. Nun, Anfang April, wurde es über Nacht sommerlich warm. Das sind dann wahre Auferstehungstage für das im Boden schlummernde Leben; es steigt in Wolken aus der Erde empor. Wir sahen die Schwärme über den gepflügten Feldern, den Weihern und Heidewegen; Myriaden von zarten Flügeln blinkten in der Luft. Auch Falter waren schon erwacht – ein gelber Buttervogel, ein rotbrauner Fuchs. Wir kannten sie seit der frühesten Kindheit als erste Frühlingsboten, doch heute sahen wir mehr, als die Augen bewältigten.

Der Feldweg, dem wir folgten, war mit Moos bewachsen; nur in einer Doppelspur, die das Fuhrwerk eingeschnitten hatte, leuchtete der Heidesand. Sie wirkte als Falle, als Fanggraben für die dem Boden entsteigenden oder aus der Luft wieder landenden Scharen und für uns als Fundgrube. Mit wachsendem Staunen sah ich die Farben, sah die Formen der Geschöpfe, die sich dort im Staube mühten und die ich noch nie beachtet, nie wahrgenommen hatte – jedes war neu für mich, nicht nur als Einzelwesen, sondern neu in seiner Art. Sie suchten dort den Hang aus weißem Sand zu zwingen, von dem sie sich scharf abzeichneten – Tiere in allen Größen, denn auch mein Urteil über das, was groß und was klein war, veränderte sich nun auf wunderliche Art. Es war fast, als ob ich diesen Weg mit der Lupe betrachtete.[31]

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Immer noch grau, feucht und kühl. Nicht einmal Aprilwetter. Auf dem täglichen Gang um die Kiesgrube besuchte ich wieder einmal meine Lasius-Kolonie,[32] die sich dort unter einem flachen Ziegel eingerichtet hat. Wenn ich ihn abhebe, beginnt darunter ein gelbes Gewimmel, als ob Chinesen den Markusplatz bevölkerten. Besorgte Ammen schleppen bleiche Säuglinge davon.

Darunter vereinzelt der Keulenkäfer: Claviger.[33] Ich erkenne ihn am bedächtigen Schritt, mit dem er sich im Getümmel bewegt, als ob es ihn nichts anginge. Er ist es gerade, dem ich nachstelle.[34]

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Einsamer Wald- und Wasserrundgang bei dichtem Nebel und milder Luft. Am Ufer von Suresnes verweilte ich an einer Stelle, an der ein Ausguß die Seine trübte und an der ich ein halbes Dutzend Angler versammelt fand. Sie zogen rote Maden auf ihre Haken und schnellten silbrige Fischlein von Sardinengröße mit stahlblau geschupptem Rücken aus der Flut.[35]

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Bei schrägerer Sonne machte ich einen Gang durch die Felder – wir sind hier im alten Herzogtum Berry, das mir sehr gefällt. Die Bebauung ist merkwürdig: große Weiden, spärliche Felder – alle durch hohe Hecken eingefaßt, aus denen starke Eichen, Apfelbäume, Pappeln und Edelkastanien mit ihren weißen Blütenschnüren aufragen. Die Wege ziehen sich schattig als dichte Laubengänge hin, doch auf den Hügeln gewinnt man Übersicht. So bietet das Land zugleich eine offene und eine labyrinthische Seite dar.[36]

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Vorm Essen tat ich einen kurzen Gang durch die Felder, während dessen ich vor einer verlassenen Scheune zwei Haubenlerchen betrachtete.

Gedanke: Man müßte auf Reisen warm abgedichtet sein wie diese Vögel durch ihr Federkleid. Wie oft beneidete ich sie schon, wenn ich sie im verschneiten Walde einsam, doch nicht verlassen auf ihrem Zweige sitzen sah. Wie ihnen das Gefieder, so ist uns die seelische Aura verliehen, die uns vor dem Verlust der Wärme schützt. Sie festigt und erhält der Mensch sich durch Gebete, die schon aus diesem Grunde unschätzbar für ihn sind.[37]

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Nachmittags im Moor. Ganz nah, aus einem schmalen Graben, flatterte ein Entenpärchen auf und schlug einen Kreis um mich. Der Erpel im Hochzeitsstaat, mit der Locke am Bürzel, die ihm etwas vom verwegenen Burschen gibt, und dem seidig metallgrün schillernden Hals. Sehr schön die Stellen, an denen diese Farbe in ein üppiges und ganz weiches Schwarz hinüberspielt; dieses Schwarz ist ein Grün in höchster Potenz. Ich stelle es mir als ein Tintenpulver vor, das in der Lösung große Mengen einer herrlich grünen Tinktur ergibt.[38]

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Im Moor. Ich hörte den Kuckuck, den mantischen Rufer, zum ersten Male, während ich Geld im Überfluß bei mir trug. Der Schinken aber ist nicht nur angeschnitten, sondern schon fast verzehrt. Das zeigt ganz gut die Lage der Dinge in diesem Jahr.

Ich nahm an einem Torfstich ein Sonnenbad. Die Farbe der alten, durch den Spaten ausgeschnittenen Wände steigt vom fetten Schwarz zu einem mürben Goldbraun auf. Dicht über dem Wasserspiegel zieht sich ein moosiges Band entlang, darauf der Sonnentau als rote Stickerei. Schön und notwendig ordnet sich das zu. Gedanke: Dies ist nur einer der unzähligen Aspekte, nur einer der Schnitte durch die Harmonie der Welt. Wir müssen durch die Gebilde schauen auf die Gestaltungskraft.

Wie festlich schreitet es sich auf dem feuchten, rötlich durchstrahlten Torf. Man wandelt auf Schichten von reinem Lebensstoff, kostbarer als Gold. Das Moor ist Urlandschaft und birgt damit sowohl Gesundheit als Freiheit; wie herrlich spürte ich das in den nordischen Einöden.[39]

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Am Moordamm sah ich eine Schlange im Ried verschwinden, die sich bei der Verfolgung am Fuß einer Birke zusammenrollte und ein Stöckchen, das ich ihr vorhielt, anzischte. Es war eine sammetbraune Kreuzotter von so zauberhafter Regung, daß vor dem geistigen Eindruck ihres Gleitens der körperliche ganz verschwand. Der Anblick eines solchen lebendigen Geschmeides schließt einen starken Angriff auf das Bewußtsein ein.[40]

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Im Wald bei der Winkelwiese auf Exkursion. Obwohl es wolkenlos und warm war, fand ich die Luft noch unbelebt. Der Ostwind trug Schuld daran. Im Sonnenglanz zeigten die noch kahlen Bäume etwas Erwartungsvolles; sie standen feierlich wie die glatten Säulen eines Domes, in dem man auf eine Stimme wartet, die »Auferstanden« sprechen wird. Es konnte kein Zweifel daran sein.

Gedanke dort: Die Unzahl der Welten, und die Unzahl der Erscheinungen in jeder, leben auf Kosten der Substanz, doch zehren sie kaum daran. Das Sein bleibt stets das gleiche, wie viel Erscheinung sich auch davon abzweige. Es könnten noch Billionen Welten zu den bestehenden hinzu treten; das würde nicht mehr bedeuten, als würden neue Spiegel aufgestellt.[41]

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Wenn ich mich morgens rasiere und den Schaum durch den Ausguß fließen sehe, muß ich an meine Mitschuld an der Verschmutzung der Gewässer denken: so beginnt der Tag.[42]

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Nachmittags gegraben: die frühen Früchte räumen schon das Beet. Dann mit dem Rad in die einsamen Wälder um Oldhorst. Die alten Wacholder regen besonders zum Träumen an. Dort liegen die Jagdgründe von Hermann Löns.[43] Heut hätte er sich gewiß an der Haubenmeise ergötzt, die in einer Kieferndickung auf höchst zierliche Weise die Zweige abkleibte. Das Tierchen wird auch, des kronenförmigen Schopfes wegen, der Meisenkönig genannt. Es ist etwas vom lieblichen Übermut des Schwachen in seiner hochgefiederten Frisur.[44]

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Nachmittags im Wald. Der Wechsel vom rauhen Wetter zur sommerlichen Wärme war berauschend – Gedanken flogen an wie die Vögel, die sich in den Lichtungen tummelten. Ich machte mir auf einem Baumstumpf und auch im Gehen einige Notizen, während ich das meiste ohne Zoll passieren ließ.[45]

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Gestern Geburtstag, heute Osterspaziergang bei rauhem Wind. Ich glaubte die erste Schwalbe zu sehen.

Die Haselkätzchen sind seit einigen Tagen wollig, in gelbem Pastell. Gerade bei Windstille scheinen diese Raupen mit einer sanften, die Bestäubung verkündenden Kraft geladen – ein Hauch, und eine gelbe Wolke hebt sich ab.

Die Buschwindröschen sind noch ohne Blüten, doch sie kräuseln sich in lebendigem Grün aus Herbstlaub hervor.[46]

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Osterspaziergang. Die braunen, noch unbestellten Äcker scheinen kahl, doch überwebt sie an manchen Stellen ein feiner niedriger Nesselflor, fast unsichtbar, das Ultraviolette streifend, auf dem man die Hummeln wie über Traumgespinsten weiden sieht.

Die kleinen, ausgefahrenen Feldwege. Auch sie besitzen Nord- und Südhang, auf denen die Pflanzen nicht nur im Wachstum, sondern auch in den Arten verschieden sind.[47]

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Der Maiglöckchengang wird zum Ritus; gestern waren wir im Wald. Die Zeit ist vorgeschritten, der Boden trocken, daher war die Ausbeute gering. Wo früher die Nester im Halbschatten geperlt hatten, war das Laub zu dicht geworden; andere Pflanzen siedelten dort. Dennoch hat es zu einem Strauß und einem Sträußchen gelangt.

Die Maiglöckchen unter der Blutbuche im Garten sind stattlicher, großperlig, doch fehlt ihnen die verborgene Schönheit jener vom Wald. Auch ist der Duft der wilden kräftiger.[48]

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Nachmittags in Lohne[49] und Neuwarmbüchen bei kühlem, wolkigem Wetter, das leichte Sommerregen durchschauerten. An solchen frühen Sommertagen steht die Flur in vollem Saft. Den hohen Wiesen und Roggenfeldern entragen in feuchter Frische Hecken und kleine Wälder, als dunkle Inseln, aus denen der Kuckucksruf ertönt. Die Dörfer sind vom Grün der Hofeichen verhüllt; kaum schimmert ein roter Giebel durch. In diesem Element spürt man die Heimat wie der Fisch die Flut.[50]

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Nachmittags Gewitter, dabei einer der schönsten Regenbogen: doppelt, doch die beiden Limben anschließend, nicht getrennt. Ich kann Trost brauchen. Pfingstmontag; war gestern in Überlingen beim kranken Bruder Friedrich Georg.[51]

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Wenn die Sonne durchbricht, klettert die dunkle Eidechse im Lohner Forst[52] aus dem Versteck zu ihrem Lieblingsplatz, der Astgabel einer winzigen Fichte, empor. Dort sonnt sie sich, den Leib gebogen, während sie den Schwanz als Schleppe fallen läßt. Sie ist von der Länge eines Streichhölzchens oder einer Agraffe, schwarzbraun mit perligem Glanz. Wie ist es möglich, daß soviel Anmut in einem so kleinen Körper wohnt?[53]

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Die Gebetshaltung ist ursprünglich, nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei Tieren und Pflanzen; man könnte sie auch in der Materie suchen – in ihrem Weben, ihren Schwingungen. Warum kehrt der Kreis in seinen Anfang zurück, warum dehnt eine bestrahlte Fläche sich aus? Vielleicht will sie noch mehr von der Sonne genießen, wie die Eidechse, die sich abplattet. Es gibt Pflanzen mit Sonnen-, andere mit Mondkulten.[54]

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Zwischen zwei Gewittern zu den Billafingern Drei Kreuzen,[55] die 1939 errichtet und jetzt erneuert worden sind. Der Mais hat Kolben angesetzt. Sie sind noch milchig, während die Staubfäden zu einem rotbraunen Gespinst vertrocknet sind. Die Pflanze ist stattlich, doch laugt sie den Boden aus. Mit Recht wurde der Mais in vorkulumbianischen Zeiten als göttlich verehrt. Es heißt, daß er nächst dem Reis die größte Anzahl von Menschen ernährt. Ich weiß nicht, ob die Verwendung als Viehfutter in die Rechnung einbezogen ist. Dabei nimmt der Anbau noch weltweit zu.[56]

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Der Mais. Die männlichen Blüten, gipfelständige Ähren, vibrieren, ohne daß ein Hauch sie berührt. Der Samenstaub rieselt auf die fadenförmigen weiblichen Narben, befruchtet sie. Das ist bei Windstille wie das Wallen der Fische im ruhigen Wasser, ein reines Wirken der Zeugungskraft.[57]

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Nachmittags bei guter Sonne im Moor und dort im Wassermoos nach kleinen Hydrophilusarten[58] gejagt. Bei dieser Arbeit glitt eine große Wasserspinne aus den Binsen auf den dunklen Spiegel des Torfstichs vor, an dem ich kauerte – tief sammetbraun mit filzig weiß gesäumtem Leib. In diesen Frühlingstagen flimmern die Birkenreiser und die Stengel des Heidekrautes rundum im harten Licht, so daß der Eindruck des Frischgewaschenseins entsteht. Das Ungewöhnliche beruht wohl auf dem Gegensatz der noch winterlichen Vegetation zum schon fast sommerlichen Licht.[59]

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