Subtile Jagden - Ernst Jünger - E-Book

Subtile Jagden E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Ernst Jüngers berühmtes Käferbuch präsentiert eine faszinierende Mischung aus Reisebericht, Tagebuch, naturwissenschaftlichen Betrachtungen und autobiographischen Rückblicken. Jünger verbindet darin seine beiden größten Leidenschaften, die Käferjagd und die Literatur. Mit Farbstiftzeichnungen von Walter Linsenmaier. Schon als Kind ist Ernst Jünger von Insekten fasziniert. Mit einer zunächst noch bescheidenen Ausrüstung, die ihm sein Vater schenkt, begibt er sich in Rehburg am Steinhuder Meer auf die Suche. Diese Erinnerung an die erste Käferjagd wird ihn ein Leben lang begleiten. Von Rehburg führt Jünger den Leser rückwärts blickend und sinnend zu den Stätten seines Lebens. Ausflüge und Reisen aus mehreren Jahrzehnten an die exotischsten Orte verbinden sich so zu einem kaleidoskopischen Erinnerungsbuch. Sogar in beiden Weltkriegen nutzt Jünger die Gefechtspausen, um seine Sammlung zu erweitern. Dabei bleibt Jünger bei seinen "Subtilen Jagden" stets Entomologe und Schriftsteller zugleich.

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Seitenzahl: 459

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Ernst Jünger

Subtile Jagden

Mit einem Essay von Uwe Tellkamp und Illustrationen von Walter Linsenmaier

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96127-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10868-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Subtile Jagden

Rehburger Reminiszenzen

Carabus

Antaeus

Mylabris

Typhoeus

Cicindela

Abermals Cicindela

Strandgänge

Rückblick

Sammler und Systematiker

Johore

Ortungen

Khartum

Mangroven

Cicindela und kein Ende

Collyris

Steglitz

Naturalisten und Antiquare

Goslar am Harz

Abgrenzungen

Der Moosgrüne

Am Isolotto

Die Trachytkammer

Zwischenfälle

Im Gewitter

Pilze

Pilze und Pilzgäste

Ferdinand und Jaköbli

Schwalben

Am Fensterbrett

Bunter Staub

Uwe Tellkamp: Der Rote Cucujus

SUBTILE JAGDEN

ERSTAUSGABE 1967

REHBURGER REMINISZENZEN

Die Jagd konnte beginnen: der Vater hatte uns zu Weihnachten die Ausrüstung geschenkt. Die Alten sahen es gern, wenn die Söhne Steine, Pflanzen und Tiere eintrugen, wie es seit Generationen Brauch gewesen war. Der Großvater hatte viele Stunden auf sein Herbarium verwandt. Das gehörte zum Bildungsgang der Seminare und wurde manchem der jungen Lehrer zur Gewohnheit, der er bis an sein Ende treu blieb und die auch für die Schüler fruchtete.

Die große Zeit für solche Neigungen war schon vorbei. Die eigentliche Naturkunde, das liebevolle Betrachten, Vergleichen, Ordnen und Beschreiben von Objekten, galt kaum noch als Wissenschaft. Dem Behagen an der Anschauung war der Genuß an der exakten, gezielten und messenden Beobachtung gefolgt.

Der Vater war noch ein guter Botaniker gewesen; die gewichtige, mit Tausenden von Holzschnitten gezierte »Synopsis der drei Naturreiche« des Hildesheimer Professors Johannes Leunis hatte zu seinen Schulbüchern gehört. Aber er war nicht der Bezauberung erlegen, mit der seit Linné die scientia amabilis über hundert Jahr lang die Geister in einen Bann geschlagen hatte, der uns unvorstellbar geworden ist. Obwohl mich auf unseren Gängen oft die Sicherheit erstaunte, mit der er ein unscheinbares Kraut ansprach, war er weniger mit den Tugenden der Pflanzen als mit ihrem Chemismus vertraut. Als Assistent von Victor Meyer, dessen Bild seine Bibliothek zierte, hatte er aus dem Waldmeister das Cumarin isoliert, einen Stoff, der inzwischen in der Parfümerie zur Erzeugung von Heu- und Lavendeldüften unentbehrlich geworden ist.

Als Schüler schon hatte er sich unter dem Dach des elterlichen Hauses in der Hannoverschen Weinstraße ein kleines Laboratorium eingerichtet, in dem er nachts arbeitete. Auch abgesehen davon, daß dabei einmal etwas in die Luft geflogen war, behagte diese Vorliebe dem Großvater wenig, denn die Chemie galt damals noch als brotlose Kunst. Er legte dem Sohn daher auf, zugleich die Apothekerei zu betreiben und die dazu nötigen Examina zu bestehen. Das sollte sich übrigens als segensreich erweisen, denn als durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg die Gelder rapid zusammenschmolzen, langten sie gerade noch, um in Sachsen eine gute Apotheke zu erstehen.

Zur Zeit, als wir die Ausrüstung bekamen, lebten wir auf dem Lande; der Vater hatte sich schon vor dem fünfundvierzigsten Jahr zur Ruhe gesetzt. Nach diesem Datum sollte eigentlich niemand mehr arbeiten und jeder sich seinen Neigungen widmen – das war einer seiner vernünftigen Gedanken, dem ich von Herzen beistimmte, ja den ich im geheimen noch übertrumpfte: besser finge man mit dem Arbeiten gar nicht erst an.

Der Vater machte seinem Sternzeichen, dem Widder, Ehre als Mensch von schnellen, zugreifenden und meist erfolgreichen Bewegungen. Das galt auch für seine Neigungen, die ihn nach kurzer Inkubationszeit heftig ergriffen und ein Jahrzehnt lang Tag und Nacht beschäftigten, bis er sie wechselte. Sie schwanden dann nicht ganz aus seinem Leben, doch verlor er die Leidenschaft dafür. Es schien, daß ihn, wenn er ein Feld beherrschte, die Lust daran verließ. So hörte er mit dem Geldverdienen auf, als es ihm leicht geworden war, und mit dem Autofahren gerade dann, als die Wagen zuverlässig und die Straßen bequem wurden. Offenbar ging es ihm eher um das Ergreifen als um den Besitz.

Damals begann das Schachspiel im Haus zu dominieren; es wurde nach dem Frühstück begonnen und getrieben, bis der Mittag die Partie unterbrach. Auch nach dem Abendessen wurde oft noch bis über Mitternacht hinaus gespielt. Die großen Bretter mit den Stauntonfiguren durften nicht abgestaubt werden, weil Hängepartien auf ihnen eingefroren waren oder ein Problem konserviert wurde. Außerdem führte der Vater bei Tag und Nacht ein Steckschach in Form einer Brieftasche mit, um sich im Bett oder auf Reisen mit dem Spiel der Spiele zu beschäftigen.

Die Ankunft von Bücherpaketen gehörte zu den ersten Anzeichen einer neuen Manie. In diesem Falle kam zunächst der »Kleine Dufresne« und dann der »Große Bilguer«; dem folgten alte Werke bis zurück zu Philidors Zeiten, Biographien berühmter Spieler, Reihen von Zeitschriftenjahrgängen. Damals erfuhr ich zum ersten Mal, daß man selbst auf so beschränktem Felde die Hoffnung, »vollständig zu werden«, bald aufgeben muß. Immerhin kam ein Grundstock zusammen, der sich auch Kennern vorzeigen ließ.

Die Mutter, die andere Anschaffungen für wichtiger hielt, schüttelte oft den Kopf, wenn der Postbote kam. Aber in solchen Fragen können die Hausfrauen wenig ausrichten, denn im Rüstzeug sieht der Mann sich ungern beschränkt. Bedenklich wurde es nach dem Ersten Weltkrieg, als den Vater die Leidenschaft für Astronomie und Fernrohre ergriff. Da sollte ein neues Dach aufs Haus.

Auf dem Lande sind die Schachspieler spärlich gesät. Ich glaube, es war Steinitz, der, um sich mit einem ebenbürtigen Gegner zu messen, einige Male in der Woche einen weiten Fußmarsch zurücklegte. Der Vater fuhr nach Hannover, wo sich in einem Café am Raschplatz die Schachfreunde versammelten. Auch lud er Gäste ein, die für Wochen oder Monate im Haus weilten – Liebhaber gleich ihm wie Leonhard, den Vorsitzenden des Leipziger Schachklubs Augustea, oder den jungen Lasker, einen Neffen des Weltmeisters, der auch schon auf Turnieren geglänzt hatte. Ein beliebter Hausgast war ein Berliner Student namens Pahl, der trotz seiner Jugend zu den Matadoren gezählt wurde. Schon als Gymnasiast hatte er Preise eingeheimst.

Wenig erbaut war die Mutter über den Aufenthalt von Berufsspielern wie etwa des Herrn von Wurtensleben, der in seiner Jugend als Anwärter auf die Weltmeisterschaft gegolten hatte, nun aber recht hinfällig geworden war. Bei Tisch mußte man ihm das Fleisch vorschneiden. Nur am Schachbrett zeigte sich der alte Löwe noch. Der Vater spielte mit ihm turniermäßig; eine Doppeluhr stand zwischen beiden auf dem Tisch.

Rotlevi kam aus Lodz als einer von der jungen Garde, die dort, kaum daß sie lesen gelernt hat, in den Cafés den Meistern über die Schulter blickt und schon vor dem zwanzigsten Jahr eine enorme Spielstärke gewinnt. Der Vater hatte ihn im Romanischen Café kennengelernt, wo er mit Amateuren spielte, die Partie um fünfzig Pfennig oder, wenn es hoch kam, um eine Mark. Beim Schachspiel geht es wie in der Lyrik oder anderen Schönen Künsten: der erste Rang ist nur von Einzelnen besetzt oder gar ledig, dicht hinter ihm wird die Konkurrenz gleich sehr stark.

Rotlevi war lang, hager, kränklich; die Nase ragte wie ein Papageienschnabel aus dem olivgrünen Gesicht. Bei uns war er zum ersten Mal auf dem Lande; der Garten, dann Feld und Wiesen waren ihm eine neue Welt. Den Wald vermied er; der schien ihm unheimlich. Bald merkte er, daß die Gänge ihm gut taten, ihn auf eine Weise belebten, die er nie gekannt hatte. Er streifte lieber mit uns Kindern durch die Gegend, als daß er mit dem Vater spielte, und wurde zum unermüdlichen Wanderer, doch ging er ungern allein. Noch spät am Abend kam er und forderte mich zu einem Gang in die Heide auf, von dem wir erst gegen Mitternacht zurückkehrten.

Ich begleitete ihn gern. Sein Aufenthalt muß für mich in jenes Alter gefallen sein, in dem uns die Gesellschaft der Erwachsenen, der wir kurz vorher noch auswichen, zum Erlebnis und selbst zum Abenteuer wird. Die neue Welt wird zwar noch nicht gesehen und noch weniger begriffen, obwohl sie sich im Umriß wie am Ende einer Seefahrt ankündet. Wir wissen nicht, ob es Wolken oder Berge sind.

So kommt es, daß ich fast vergessen habe, was wir in der Nacht verhandelten, wenngleich die Stimmung sich gut erhalten hat. Für meinen Begleiter war bislang der Alltag das Caféhaus gewesen, der Festtag das Turnier. Einmal war er zum Wettkampf mit anderen bei einem Großfürsten zu Gast gewesen; inmitten des Aufwandes hatte ihn der Gedanke an das Trinkgeld bedrückt. Wenn man im Hotel vergeblich auf Geld hoffte, mußte man sinnen, am Portier vorbeizukommen; man wartete draußen vor der Glastür auf den Augenblick, in dem er beschäftigt war, und drückte sich dann die Treppe hinauf.

Offenbar brauchte er einen Vertrauten und nahm mit mir vorlieb. Wohl hätte er einen verständigeren Zuhörer finden können, doch keinen begierigeren. So pflegt der erste Roman auf uns zu wirken, weniger durch seinen Inhalt als durch den Einblick in eine neue Welt. Eines konnte mir nicht verborgen bleiben: die schwere Melancholie, die diesen Erwachsenen bedrückte, der im Grunde nur wenig älter war als ich. Doch wiegen in diesem Alter die Jahre schwer.

Zum ersten Mal im Leben begegnete ich hier einem Typus, der mit der Differenzierung der Gesellschaft immer häufiger auftritt: frühreifer Begabung auf einem Feld der Schönen Künste, die den Kenner überrascht und entzückt. Soll nun die Existenz darauf gegründet werden, so ergeben sich Probleme besonderer Art. Das Spiel ruht in sich selbst als Frucht der Muße; wo es zum Mittel wird, können böse Erfahrungen nicht ausbleiben.

Von solchen Sorgen hatte ich nur eine unklare Vorstellung. Aber was sind Sorgen anders als sichtbare und veränderliche Schatten, die auf ein unsichtbares und unveränderliches Leid deuten? Die Sorgen wechseln, die Sorge bleibt. Das teilte sich mir mit und bedrückte mich schwer, als wir durch die Nacht schritten. Es ergriff mich wie ein Alb, wie eine bleierne Wolke, die über dem Haupt des Gastes lastete.

»Bad« Rehburg, auch »der Brunnen« genannt, war ein Kurort, der den Besuchen des Hannoverschen Hofes sein Ansehen verdankte und der sich wenig verändert hatte, seitdem der Blinde König gegangen war. In Menckes Hotel hatte man ihn noch gut gekannt, auch im »Herzog von Cumberland«. »Stadt« Rehburg war kaum mehr als ein entlegenes Heidedorf. Dort gab es noch Häuser ohne Schornstein, bei denen der Rauch durch die Dielentür nach draußen zog. Es roch nach Torf, nach Kühen, nach den Schinken und Speckseiten, die über der Tenne hingen, nach dem moorigen Bach, der das Wasser des Steinhuder Meeres zur Weser hinabführte. Es durchfloß die Schwimmenden Wiesen, an deren Rändern Kranich und Reiher fischten, dann ausgedehnte Brüche, auf denen im April der Kiebitz brütete. Um diese Zeit sahen wir auch schon die Störche die Stichgräben abschreiten.

Die Bauern pflügten mit Kühen; Roggen, Hafer, Kartoffeln, Buchweizen wurden gebaut, auch Lupinen seit kurzer Zeit. Viel anders konnte es hier nie ausgesehen haben, nach Mardorf, nach Leese, nach Nienburg hin. Das Moor ist geschichtslos; da ist mehr Wesendes als Werdendes, graues und braunes Nornengespinst. Die Römer waren kaum hier gewesen; Germanicus hatte das Land nur gestreift und ganz in der Nähe, »einen Fluß in der Front und einen See im Rücken«, erfolglos operiert. Zuvor waren sie durch den Teutoburger Wald gezogen und hatten dort an den Bäumen bemooste Schädel von Menschen und Pferden gesehen, Relikte der Varusschlacht. Karl der Große hatte das Weihwasser gebracht, allerdings, wenn man den Pastoren glauben wollte, mit nicht viel größerem Erfolg. Immerhin war das Kloster Loccum in der Nähe; die Zisterzienser bauten sich wie die Biber gern in solchen Sümpfen an. Jahrhundertelang hatten die Münchhausens hier eine Burg besessen; sie war in der Hildesheimer Stiftsfehde so gründlich zerstört worden, daß keine Spur mehr geblieben war. Beim Pflügen kamen zuweilen Ziegel und steinerne Kugeln hoch.

Rotlevi ging schnell, als ob er eine Pflicht oder eine heilsame Übung verrichtete. Selbst im Krug war es schon dunkel, nur beim Pastor brannte noch Licht. Wir sahen ihn vor der Haustür stehen; er litt an Atemnot, die ihn in schwülen Nächten wie dieser ins Freie zwang. Er ging dann vor der Kirche auf und ab und legte sich Gedanken für den Sonntag zurecht. In der Predigt suchte er die Bauern beim alten zu halten und bekämpfte die neuen Moden, wie etwa die der Gardinen, die um diese Zeit aufkamen. In ihm war viel Unruhe; eines Tages war er verschwunden und blieb trotz allen Nachforschungen verschollen; nach Jahren wollte ein Soldat ihm während des Krieges in Polen begegnet sein. Andere meinten, daß ihn die Freimaurer »ausgelost« hätten, und wieder andere, daß er bei einem seiner nächtlichen Gänge in ein Moorloch gefallen sei, wie es seltsamerweise einem seiner Vorgänger zugestoßen war, von dem man auch nie wieder gehört hatte.

Wir ließen den Ort im Rücken und gingen noch ein Stück die Nienburger Landstraße entlang, bis wir am Waldrand umkehrten. Zur Rechten lag der Friedhof; wir hatten unlängst ein Brüderchen dort begraben, das in der Wiege gestorben war. »Ich wußte schon, warum ich dich Felix genannt habe«, sagte die Mutter, als sie von ihm Abschied nahm.

Den kleinen Judenfriedhof auf der anderen Seite umringte ein niedriger Wall von Findlingen. Es mußte vieler Jahre bedurft haben, um den Heidesand mit all den Gräbern zu beschicken, denn es lebten immer nur eine oder zwei jüdische Familien im Ort, Schlachter und Lederhändler – Hammerschlag, Hamlet, Löwenstein. Der Urgroßvater Hamlet war im Walde von einem Handwerksburschen erschlagen und seiner Barschaft von acht Pfennigen beraubt worden. Chamisso hat die Untat und ihre späte Sühne in einem Gedicht geschildert, das damals in keinem Lesebuch fehlte: »Die Sonne bringt es an den Tag«.

An der Abzweigung nach Mardorf oder nach Maderup, wie es auf Platt genannt wurde, stand eine Gruppe sehr alter Scheunen, die nach dem Weltkrieg abbrannten. Vermutlich hatten Stromer dort genächtigt und geraucht. Der Zugang war nicht schwierig, denn es gab Lücken, an denen der Lehm aus dem Fachwerk gefallen war. Unten wurden Feldfrüchte, oben Heu und Stroh verwahrt. Auf unseren Streifzügen pflegten wir uns dort einzuschleichen, um uns mit Kartoffeln zu bewerfen und anderen Unfug zu treiben, wenn niemand in der Nähe war. Einmal hätte uns fast der Bauer erwischt; wir konnten eben noch die Leiter hinaufklettern und uns im Heu verstecken, als er schon die Tür aufschloß. Als er die Unordnung bemerkte, begann er gräßlich zu fluchen, während uns oben der Atem stockte, aber offenbar hatte er uns nicht gehört. Seitdem mieden wir den Ort. Das Erlebnis ging mir nach, und zwar mit einer Stärke, die seinen episodischen Charakter bei weitem übertraf. Es wiederholte sich in Träumen, in denen es sich auf mannigfache, doch stets bedrückende Weise spiegelte.

Der Schachfreund ging noch schneller, um sich zu ermüden; er hatte die Erschöpfung durch körperliche Anstrengung als eine ihm bisher unbekannte Wohltat entdeckt. Ich konnte mit ihm leicht Schritt halten, denn wir legten, wie wir es im »Lederstrumpf« gelesen hatten, oft lange Strecken in einer Art von Hundetrab zurück. Wir sprachen dabei über dieses und jenes, und immer hing seine Schwermut bleiern über dem Gespräch.

Als wir die Friedhöfe wieder passiert hatten, hielten wir bei den Scheunen ein wenig an. Im Mondlicht sah ich das bleiche Gesicht; es war immer, und nicht nur, wenn es sich beim Spiel konzentrierte, Bewegung darin, als ob feine Spiralen sich krümmten und wieder ausstreckten. Zu meinem Erstaunen hörte ich mich sagen, und ich erschrak, als ich es gesagt hatte:

»Herr Rotlevi, ich halte das nicht länger aus. Ich kann nicht begreifen, warum Sie so traurig sind.«

War es eine Frage, eine Klage, eine Anklage? Ein Wagnis auf jeden Fall. Noch mehr erstaunte mich, daß ich auch eine Antwort erhielt – einer der Großen vertraute mir sein Geheimnis an. Ich sah ihn im Schatten des Strohdachs die Hände emporheben wie einen der alten Propheten, der während einer langen Dürre um Regen fleht:

»Was ist ein Leben ohne Liebesglanz?«

War es ein Anruf, eine Gegenfrage? Ich ahnte es nicht; eine Klage war es gewiß. Ich kannte auch den Dichter nicht, der hier zitiert wurde. Aber ich fühlte, daß dem nichts hinzuzusetzen war. Wir gingen still durch den Ort zurück.

Auch dieses Gespräch blieb, ähnlich wie die Erinnerung an den Einbruch in die Scheune, mit großer Stärke in mir haften; zum ersten Mal kam eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Auch das ist eine der Marken, die das Ende der Kindheit ankünden.

Rotlevi entschwand dann bald aus unserm Gesichtskreis; er muß in den Wirbeln des Ersten Weltkrieges untergegangen sein. Auch im »Milieu« wußte man nichts mehr von ihm. Seine Spur ist verschwunden bis auf einige schöne Partien in den Jahrgängen der Schachblätter.

Dieses Verschwinden hat mich immer beunruhigt, auch wenn ich auf schon halb bemoosten Gräbern Namen entzifferte. Schnell hinter Booten und Schiffen glättet sich die Bahn. Oft sind wir die einzigen, die den flüchtigen Gast noch im Gedächtnis haben; mit uns stirbt er noch einmal, zerbricht die letzte Stele, in die sein Name eingegraben war. Daher kommen die Toten auch immer wieder, selbst alte Feinde, und klopfen bei uns an.

Die Mutter hörte mich spät die Treppe hinaufgehen; ihr waren diese Gänge suspekt. Sie vermutete, daß ich da wenig Gutes lernte; außerdem erschien ihr die Art, mit der bei uns im Hause das Schachspiel zelebriert wurde, immer bedenklicher. Es gab eine Spanne, in der Morphy fast mit derselben Begeisterung wie Napoleon genannt wurde, und das wollte viel sagen. Wir begannen, uns mit Eröffnungen, Problemen, Endspielen lieber zu beschäftigen als mit Dingen, die die Mutter für wichtiger hielt, und auch eine gewisse Überheblichkeit zu entwickeln – »Der weiß nicht einmal, wie man en passant schlägt«, oder »kann nicht mit Pferd und Läufer matt setzen«. Oft mußten wir als Partner einspringen. Der Vater gab uns erst einen Turm vor, dann einen leichten Offizier und den Anzug, aber es kam immer häufiger dazu, daß er sagte: »Donnerwetter, da hab ich nicht aufgepaßt« oder »Den will ich nochmal zurücknehmen«.

Ich spielte lieber mit dem Bruder oder mit den Gästen, denn »den Vater schlagen« hat selbst im Spiel keinen guten Klang. Leonhard spielte »blind« gegen den Bruder, die Schwester und mich gleichzeitig drei Partien und wußte es manchmal so einzurichten, daß er uns gewinnen ließ.

Das Schachspiel hat den Vorzug, daß geistige Macht so unwiderleglich bezeugt wird wie auf keinem anderen Feld, und zwar durch eine Reihe von Vorweisungen, die nur durch andere Vorweisungen bestritten werden können – so hält es die Mitte zwischen dem Disput und der strategischen Aktion. Vom Disput unterscheidet es sich dadurch, daß jedem Zug eine unbezweifelbare Realität innewohnt. Es gibt, auch wenn sie nicht gefunden wird, die beste Erwiderung, die, wie ein Richtspruch, nicht der Zustimmung des Gegners bedarf. Diese Realität ist andererseits den materiellen Schwierigkeiten und Zufällen entzogen, mit denen der Stratege zu rechnen hat. Man möchte meinen, daß die Ersinnung eines solchen Spieles das menschliche Vermögen überschreite und daß es Zeiten entstamme, in denen Götter mit uns Umgang hielten und bei uns einkehrten. Irgendwo im Universum könnte um Reiche und Länder oder um Sterne gespielt werden, die Figuren könnten Heere bedeuten – doch bliebe nur das Bedeutende, der Schicksalszug in seinem schwerelosen, unerschütterlichen Wandel, gleichviel ob es um Nüsse oder Königreiche geht. Das Spiel gibt eine Ahnung von dem, was an ganz anderen Orten, was unter Geistern, ja was in fremden Welten möglich ist.

So war die Leidenschaft verständlich, mit der es den Vater ergriff. Noch viele Jahre später, als ich selbst sein Alter erreicht hatte, fand ich ihn mit seinem Taschenschach beschäftigt, wenn ich in sein Schlafzimmer trat. Er saß in die Kissen gelehnt und schob die Elfenbeinplättchen hin und her. Da war Macht um ihn. Ich fragte mich dann, wie das mit einem Geist, der alle Urteile und Vorurteile seines Jahrhunderts so klar und oft so schneidend zum Ausdruck brachte, vereinbar sei. Immer gab es noch eine andere Seite, eine Welt des Spieles und der Spiele, der reinen, absichtslosen Neigung, die dieser Klarheit widersprach und doch zuweilen sich mit ihr vereinte und sie erwärmte wie ein Licht. Mozart, die »Zauberflöte«, Alexander und die Diadochen, Cortez und die Konquistadoren, »Tausendundeine Nacht«, Champollion und die Entzifferung der Hieroglyphen – das alles mußte einen gemeinsamen Nenner haben, und wenn man tief genug ansetzte, gehörten auch die exakten Naturwissenschaften und der Atheismus, gehörte der Gegensatz dazu.

Die Mutter sah weniger das Schachspiel als die Spieler, von denen die einen, wie Pahl und Leonhard, sich beim Spiel erholten, während die anderen es zum Beruf machten. Die einen waren ihr angenehm, die anderen unheimlich. Sie brachten ein fremdes Element ins Haus. Die jungen Matadore waren nervös, abwesend, hatten Caféhausallüren und sprachen kein gutes Deutsch. Die Alten waren bis zur Hilflosigkeit abgenutzt. Ihr Gehirn hatte in ähnlicher Weise an Kontur verloren wie das Gesicht betagter Mimen – die einen hatten sich in Kombinationen, die anderen in Charakteren erschöpft. Wurtensleben gab sich zu allerhand Geschäften her, so für die Anpreisung von Patentmedizinen – aus keinem anderen Grund als dem, daß er denselben Namen trug wie ein berühmter Internist, ein entfernter Verwandter von ihm. Auch adoptierte er für Geld.

Außerdem vermutete die Mutter nicht ganz zu Unrecht, daß die Besucher meist en panne wären, wenn sie ankamen, und daß sie flottgemacht werden müßten, wenn sie abreisten. Das sprach sich dann herum. So war Giacomo Isis, der kurz zuvor noch das Prager Turnier gewonnen hatte, eine Weltkapazität, und doch mußte, als er zusammen mit Wurtensleben in einer Provinzstadt spielte, beiden das Geld ausgegangen sein, denn es kam ein Telegramm mit der Bitte um Auslösung. Leonhard, der gerade im Haus war, nahm sich der Sache an. Er sandte das Lösegeld zusammen mit einem Gedicht, dessen Anfang mir in Erinnerung geblieben ist:

Der Wurtensleben und der Isis

Sind beide in sehr großer Krisis:

Der Isis und der C. v. W.

Haben nichts im Portemonnaie.

In solche Händel hätte die Mutter uns ungern verstrickt gesehen. Einmal fragte sie mich, ob ich es nicht mit dem Malen versuchen wolle; das sprach ihre Anschauung an. Das Feuer schien ihr da nicht gänzlich in Rauch aufzugehen, denn ein Bild, selbst wenn es keinen Anklang findet, blieb doch etwas anderes als eine gewonnene Partie. Aus diesem Grunde begrüßte sie auch, daß der Vater uns die Ausrüstung schenkte; das würde uns von der Schachspielerei ablenken.

Da hatte sie recht vermutet, obwohl nicht mehr geschah, als daß die Passion sich auf ein anderes Ziel richtete. Es fragt sich immer, ob man sie im Zaum behält. Selbst der unvergleichliche Morphy, der schon als Zehnjähriger den Europameister Löwenthal besiegt hatte, führte in New Orleans ein Anwaltsbüro und verlor mit der Zeit die Lust am Spiel, ähnlich wie Rimbaud die am Gedicht.

Die Gefahr liegt in der Person, nicht in der Sache, und daher kann jede Neigung Formen der Sucht annehmen. Freilich gibt es Zeitvertreibe, die der Manie entgegenkommen; zu ihnen gehört, wie man seit altersher weiß, die Jagd als Muster unermüdlicher und ergötzlicher Nachstellung.

Fischefangen und Vogelstellen

Verderben manchen Junggesellen.

Die Ausrüstung war vorerst bescheiden – Netz, Nadeln, Fangflasche, ein Kasten, dessen Boden mit Torf gefüttert und mit Glanzpapier bezogen war. Damit beginnen alle Entomologen, und die meisten in früher Jugend – Subtile Jäger, die den Kerfen, den Entoma, nachstellen. Dazu ein Buch mit vielen Bildern: Fleischer, »Der Käferfreund«.

Damit war bereits eine erste Weiche gestellt. Die bunten Bilder waren Köder; bald saß ich an der Angel fest. Was den Zeitverlust angeht, so lief es fast auf dasselbe hinaus wie beim Schachspiel, doch war die Lockung stärker, denn die Partie erschöpfte sich nicht in reinen Kombinationen, sondern eröffnete zugleich ein unerschöpfliches Feld der Anschauung.

Zum Glück kamen die Anfälle schubweis; die kleinen Objekte gewannen dann magischen Glanz. In solchen Phasen fehlte es mir nie an Zeit für sie; wunderlich war eher, daß noch Zeit für anderes blieb.

CARABUS

Es war Dezember; das Steinhuder Meer war zugefroren, Schnee lag auf dem Land, soweit der Blick reichte. Das versprach kaum Ausbeute. Uns waren die »feinen Methoden« der Kenner noch unvertraut. Wir wußten nicht, daß es Schlupfwinkel gibt, die der scharfe Frost erst zugänglich macht. Zu ihnen zählen, um ein Beispiel zu nennen, die Schilfgürtel der großen Seen, an denen das Eis besonders lang brüchig bleibt. Wenn es zugänglich wird, kann man von dort einen Vorrat von dürrem Rohr eintragen. Zu Hause blättert man die gebräunten Stengel wie Papyri auf und wird dann durch den Anblick bunter Coccinellen und anderer Raritäten nicht minder erfreut als ein enragierter Ägyptologe durch den Hieroglyphentext.

Man tut überhaupt gut, an eigene Schwächen zu denken, wenn man von solchen Vorlieben hört. Der eine gerät über eine vom Grünspan zerfressene Münze in Entzücken, der andere über einen Urnenscherben, der dritte über einen Heuschreck aus Sansibar. Jeder nimmt eine winzige Facette am Stein der Weisen wahr. Doch allen gemeinsam ist das Licht, das aufglänzt, und die Lust, mit der es wahrgenommen wird. Der Anblick erinnert an eine groteske Gruppe von Astronomen, die wenig voneinander wissen, obwohl die Perspektive auf denselben Stern gerichtet sind.

Die Finessen des Winterfanges also waren uns noch unbekannt. Später lernte ich deren eine Menge kennen, vor allem durch die Anleitung des Lehrers Fehse aus Thale am Harz, der darin Meister war. Damals, bei unseren ersten Ausflügen, beschränkten wir uns darauf, durch den verschneiten Wald zu streifen, um alte Baumstümpfe aufzuspüren, die wir mit der Handaxt anschlugen. Sie trugen grüne Kappen aus vereistem Moos, die mit Kränzen von verdorrten Pilzen garniert waren. An andere hatten Baumschwämme sichelförmige Konsolen angesetzt. Das Holz im Inneren war entweder zu weißem Faserstoff vergoren, oder es war rotbraun, trocken, bröckelig.

Hier hatten sich die großen Caraben eingebettet und hielten Winterschlaf – frisch aus der Puppe geschlüpfte Tiere, die noch kein Licht berührt hatte. Sie glänzten in der kargen Januarsonne, einige braun oder schwarz, die meisten metallisch, von dunklen Erz- oder Bronzetönen bis zum bestürzenden Feuerrotgold. Von manchen kannten wir schon den Namen, so von der Goldleiste, einem schwarzen Ritter, dessen Rüstung ein schmaler Amethystsaum einfaßte. Das Tier gefiel mir trotz seiner Bescheidenheit. Sein Schimmer war wie das Augenzwinkern eines großen Herrn, ein Blitz des Einverständnisses durch das Visier. Wir fingen es häufig und hatten an ihm ein erstes Beispiel der Mannigfaltigkeit, die nicht nur die Familien und Geschlechter, sondern auch die Arten auszeichnet. Linné führt es in seinem »Natursystem« von 1758 als »violaceus« auf; er muß also ein Exemplar mit violettem Rand vor Augen gehabt haben. Wir fanden auch grün-, rosa- und goldgerandete.

Ähnliche Unterschiede entdeckten wir beim Goldschmied oder Feuerstehler, der Körnerwarze, dem Garten-, dem Hain- und dem Waldläufer. Kopfzerbrechen machte auch die Farbe der Beine, die bei derselben Art vom Antimonschwarz bis zum Korallenrot eine Reihe von Übergängen durchlief. Hinzu kam, daß es bei den Kettenläufern wie bei den Kupferstichen mehr oder minder scharfe Prägungen gab. Ich bemühte mich, diese Fülle nach bestem Gewissen zu ordnen, denn von Wissen konnte noch nicht die Rede sein. Als besonders kostbar hegte ich die Tiere, die wir nur ein oder zwei Mal aus dem Holz geholt hatten, wie etwa den Goldglanzläufer, einen nordischen Zwerg innerhalb der Gattung, doch auch eins ihrer Prunkstücke.

Bereits im Februar mußte ich den Vater um einen neuen Kasten bitten, denn der erste, der zur Ausrüstung gehört hatte, war schon gefüllt. Das ist ein Kreuz, das den Sammler sein Leben lang begleitet und mit den Jahren nicht leichter wird. Ein Kasten, ein Schrank, ein Zimmer folgt dem anderen, bis endlich der Besitzer selbst in Wohnungsnot gerät. Dabei ist noch nicht einmal der nötigsten Bücher gedacht, die auf die Flure verbannt werden, bis auch dort kaum ein Durchkommen mehr ist. Die Ausschließlichkeit, mit der solche Passionen den Mann ergreifen und ausfüllen, spiegelt sich in seinem Hauswesen.

Auch Mörike, als großer Sammler von Versteinerungen und anderen Raritäten, muß diese Nöte gekannt haben, obwohl es damals den schwäbischen Pfarrhäusern an Raum und ihren Hausfrauen an liebevoller Einsicht nicht mangelte. Seine »Häusliche Szene« mit der Regieanweisung: »Schlafzimmer. Präzeptor Ziborius und seine junge Frau. Das Licht ist gelöscht.« schildert den Übelstand.

Zu den Chimären, in deren Bannkreis der Sammler gerät, gehört die Vollständigkeit. Vergebens eilt er mit Mühen und Opfern hinter ihr her; sie behält ihren Vorsprung vor ihm. Man möchte meinen, daß sich dem abhelfen ließe, indem man das Gebiet verkleinert, dem man sich zuwendet – so etwa nicht mehr griechischen Münzen nachspürt, sondern nur sizilischen. Vergebens, denn diese Zuwendung verkleinert zwar das Jagdfeld, aber sie schleift auch neue und feinere Facetten an. Mit dem wachsenden Fingerspitzengefühl treten Unterschiede hervor, die dem Auge bislang fremd waren.

Man könnte, um bei den Läufern zu bleiben, aus dem unübersehbaren Heer der Käfer nur diese Familie, Carabidae, auswählen. Aber auch sie repräsentiert sich durch die stattliche Menge von fünfundzwanzigtausend Arten, die sich ständig durch neue Beschreibungen vermehrt. Beschränken wir uns also auf eine einzige ihrer Gattungen, das Genus Carabus. Selbst zu seiner Erfassung würde unser Leben, auch wenn wir hundert Jahr alt würden, nicht ausreichen.

Das Abenteuer, auf das wir uns einlassen, gleicht Aladins Einstieg in die Schatzhöhle. In der Vorhalle findet er mit Goldstücken gefüllte Krüge, doch während er sie betrachtet, fällt sein Blick auf den Garten mit den Bäumen, die statt der Früchte Juwelen tragen, »deren Glanz die Strahlen der Sonne im Vormittagsschein verblassen läßt«. Indem er sich am Smaragdbaum die Taschen füllt, verschlingt er mit den Augen bereits den, der Opale trägt, und dann immer weitere bis an die Grenzen der Sicht. Doch das sind nur Vorgärten zum Festsaal, in dem die Wunderlampe hängt.

Das Märchen trifft eine Wirklichkeit, die sich in jedem Begehren wiederholt. So auch in diesem Falle, wie ich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte erfuhr. Es war nur ein Handgeld gewesen, was uns da im Winterwald durch eine Reihe von frischgeprägten Stücken entzückt hatte. Jedes war nur ein Muster, eine Probe unschätzbarer Reichtümer. Wir wußten nicht, daß der Lederläufer, der uns als Koloß unter seiner Sippschaft erstaunte, schon in den Bergwäldern der Südsteiermark einen doppelt so schweren Verwandten namens Gigas besitzt. Nicht minder stattliche, zum Teil auch farbige, Arten schließen sich nach Südosten an – über Kärnten, den Balkan, die Krim bis nach Transkaspien und Syrien. Wir waren auf den Vorposten einer Heerschar gestoßen, die die feuchten Bergwälder der Transsylvanischen Alpen, des Parnaß, des Kaukasus, der kolchischen und kilikischen Gebirgszüge auf der Jagd nach Würmern und Schnecken durchstreift. In Anatolien, am Bulghar Dagh und auf anderen Höhen, stellten ihnen unter Assistenz von einheimischen Fängern die Bodemeyers nach, passionierte Entomophilen, deren Leidenschaft sich durch drei Generationen forterbte. Wenn man die anatolische Fauna studiert, wimmelt es dort von Arten wie bodoi, bodoana, bodemeyeri, bodemeyerorum, die ihnen zu Ehren benannt wurden. Der Frühling kommt dort mit Gewalt, aber man kann ihn verlängern, indem man ihm auf die Höhen nachfolgt und inmitten beständiger Blüte den Gipfel gewinnt. Dabei trifft man stets neue Gäste, und auf diese Weise hat besonders Bodo von Bodemeyer kleinasiatische Cetoniden zu einer prächtigen Palette vereint.

Der kleine Goldglanzläufer, den wir für selten hielten, war wiederum der Fixpunkt für Projektionen in ganz anderer Richtung: nach beiden Hängen der Pyrenäen, auf denen die eigentlichen Goldcaraben ansässig sind. Auch von diesem Reichtum gewann ich nur allmählich, quasi in Raten, eine Vorstellung. Im Rückblick gleicht das der Entfaltung vielfarbiger Raketen in der Lustfeuerwerkerei.

Um die Goldcaraben in ihrer schönsten Prägung über das Moos eilen zu sehen, muß man sich also die Mühe nicht verdrießen lassen, an den Berghängen Südfrankreichs und Nordiberiens Steine zu wälzen und hinter die Baumrinden zu spähen. Da wird es an Beute nicht fehlen; selbst das kleine Andorra beherbergt eine eigene Rasse: perignitus, die »durchaus feurige«.

Weilt man nur wenige Tage an einem Ort, so wird man Fallen stellen, um zu sehen, was ein Waldstück, ein Bergrand, ein Hochmoor an Schätzen zu bieten hat. Auf diese Weise hat Carl-Ludwig Blumenthal, Major der Bundeswehr und Revierförster honoris causa, noch vor kurzem im Piemont den Carabus Olympiae wiedergefunden, den man für ausgestorben hielt.

ANTAEUS

Die Schönheit der Goldcaraben wird noch übertroffen durch eine Edelsteinkohorte, die den Namen Coptolabrus trägt. In China, Korea, am Amur liegen ihre Residenzen; verwandte Stämme zweigen sich auf die japanischen Inseln ab. Der Erlanger Professor Hauser widmete ihnen eine Monographie. Schon die Lektüre des Registers läßt Außerordentliches vermuten, denn Namen wie smaragdinus, mandarinus, tyrannus, coelestis, dux, principalis, giganteus, augustus, gemmifer verleiht man nicht umsonst.

Die Arten geben eine Ahnung von der Urkraft fernöstlicher Gebirge, von der despotischen Pracht eines Räubergeschlechts, das mit dem Kaiserhaus wetteifert. Ich entsinne mich noch der Bestürzung, mit der ich zum ersten Mal einen dieser Recken betrachtete. Er war mit der Sendung eines chinesischen Händlers gekommen; ein Zettelchen wies ihn als den Antaeus aus. Es mußte das Tier sein, das Oberst Hauser, Bruder des Professors, in Kwantung, einer der südlichsten Provinzen Chinas, entdeckt hatte. Um dieselbe Zeit und ganz in der Nähe hatte der Doktor Mell, ein liebevoller Kenner der chinesischen Fauna, den gleichen Fund gemacht. Der Oberst hatte seine Ausbeute dem Bruder gesandt, der Doktor die seine dem Berliner Museum, wo Kolbe sie bearbeitete. Beide Entomologen hatten das Tier beschrieben – der Erlanger Professor als Antaeus, der Berliner Zoologe als Mellianus, wobei ihm allerdings der Antaeus in der »Stettiner Entomologischen Zeitung« von 1914 um einige Wochen zuvorgekommen war.

Nach dem von Linné aufgestellten Gesetz der Priorität löschte damit der Antaeus den Mellianus aus. Wie jedes Gesetz zugleich ein Recht verleiht und eine Fessel bildet, so kann auch dieses sich zur Plage auswachsen. Ein Generationen von Liebhabern vertrauter Name hat zu weichen, wenn ein entomologischer Bücherwurm aus einer längst verschollenen Scharteke eine »Priorität« ausgräbt.

Der Antaeus erfreut sich also dem Mellianus gegenüber der Legitimität. Allerdings erscheint mir eine zarte, der subtilen Materie angemessene Aufmerksamkeit des Erlanger Professors gegenüber dem konkurrierenden Gevatter der Erwähnung wert. Nachdem er nämlich in seiner 1921 erschienenen Monographie die Daten und damit die Rechtslage geklärt hat, stellt er fest, daß zwischen der Beschreibung des Antaeus und der des Mellianus eine geringe, doch wahrnehmbare Differenz besteht, denn Kolbe führt einen Blaustich der Flügeldecken an, der bei dem typischen Antaeus fehlt. Offenbar lag ihm eine Variante vor, die als »Coptolabrus Antaeus varietas Mellianus« Erhaltung verdient.

Nur Eingeweihte, Kenner der Eifersucht, mit der zünftige Entomologen ihre Arten und Abarten verteidigen, wissen solche Züge zu würdigen. Der Umfang der Händel, die so entsprangen, erscheint noch unglaublicher, wenn man die Objekte betrachtet, derentwegen sie entbrannten: etwa ein Tierchen von der Größe eines Reiskorns, dessen letztes Fühlerglied der eine Partner als konkav, der andere als konvex bezeichnete. In dieser Hinsicht hatte der oben erwähnte Kustos Kolbe durch die Angriffe des streitbaren Doktor Kraatz Erhebliches auszustehen. Es brach da ein Krieg aus, der den Trojanischen an Dauer übertraf. Den beiden Streitern eilten nicht nur befreundete Koryphäen zu Hilfe, sondern ihre Zwiste dehnten sich auch auf Vereine, Zeitschriften, Museen aus und erbten sich auf die Epigonen fort.

Es scheint ein Rätsel, warum gerade in dieser entlegenen Zelle unsres Babylonischen Turmes jede Quisquilie so leicht zum Erisapfel wird. Die Antwort liegt schon in der Frage: der Umgang mit feinsten und allerfeinsten Objekten birgt die Gefahr, daß die Differenzen überbetont werden.

Auch die Beschreibung gehört zur Jagd. Sie krönt sich in der Benennung, die einer Handauflegung gleicht. Ein neuer Name wird in Linnés großes Jagdbuch eingetragen und mit dem eigenen verknüpft. Er bleibt dort als Trophäe, solange das System besteht. Das Wild wurde mit einem Tabu belegt. Der Triumph ist geistig, ist ein Lohn des Scharfblicks, wie der Sieg im Schachspiel, und höher als die physische Besitzergreifung, denn wer die Beute erkennt, dem zinst sie länger als dem, der sie erlegt. Amerika heißt nicht nach dem, der es entdeckte, sondern nach dem, der es zuerst erkannte und beschrieb.

Höchst ungern läßt der Subtile Jäger sich die Autorschaft bestreiten; die Verleihung von Namen ist sein Regal, sein Waidrecht, um das er, ohne es zu merken, auf absonderliche und oft auch unduldsame Weise kämpft. Außer Dienst ist er großzügig, friedlich, mitteilsam wie Tristram Shandys zugleich kriegerischer und herzensguter Onkel Toby oder auch unser Doktor Kraatz, ein Gönner, der ganzen Generationen das Tor zum Heiligtum der Isis öffnete. Was er, der Stifter des Dahlemer Museums, als blinder Greis getan hat: die im Laufe eines langen Lebens gehorteten Schätze frei verschenken – das ist in unserer Zunft eher die Regel als die Ausnahme.

Die Jagd als Urform großer Spiele, »Kriegen und Verstecken«, ist eine ernste Sache; sie duldet nichts anderes. Argus hat hundert Augen und ein Ziel. Der Mythos stellt ihn halb wachend, halb schlafend dar, nicht nur weil seine Augen sich erholen müssen, sondern auch weil sie nur einen Ausschnitt der Welt wahrnehmen. Der Sinn des Jägers ist zu stark auf den Mittelpunkt geheftet, als daß er nicht an der Peripherie zerstreut wäre. Das gilt nicht nur für seine Spielart des zerstreuten Professors, sondern es geht durch den Kosmos hindurch. Der Jäger ist immer auch der Gejagte, wie der Krieger auch der Bekriegte ist. Auf der Jagd, im Kriege, während der Balz, in unserer dynamischen Welt auch beim Überholen, wächst das Risiko.

Wenn wir zwischen dem Castel Vecchio und der Laguna gebadet hatten und am Mittag durch die Hügel zurückkehrten, war es oft glühend heiß. Die Täler waren sich recht ähnlich; verfehlten wir den Einstieg, so gab es weite Umwege. Manchmal wußten wir nicht, ob wir den rechten Pfad getroffen hatten, wenn wir uns zwischen den Brombeer- und Opuntienhecken entlangwanden. Es gab dann eine freudige Überraschung, sobald am Ortsrand von Villasimius die Arkaden des reichen Signor Todi auftauchten. So nannten wir eine zierliche Säulenreihe in dem sonst öden sardischen Nest. Sie gehörte zum verfallenen Gutshof eines alten Feudalen, der nach den Cavourschen Reformen aus dem Land gegangen war. Wie alles dort schnell verwittert und in den Mythos absinkt, hatten wir nur Sagenhaftes über ihn gehört, über seine Herden, seine Hirten, seine Festmähler.

Einmal, es war während meines siebten oder achten Aufenthaltes am Capo Carbonaro, als ich hinter dem Bruder herschlich, wendete er sich um und rief mich an: er hatte die Arkaden gesehen. Er hatte aber nicht auf den Weg geachtet, auf dem uns sonst wenig zu entgehen pflegte, und nicht die Schlange bemerkt, die er fast gestreift hätte. Ich wies ihn darauf hin. Gefahr war nicht dabei, denn schon die Römer erwähnten als eine der wenigen Annehmlichkeiten der Insel, daß sie keine Giftschlangen kennt. Wir blieben stehen und betrachteten das Wesen: eine Eidechsennatter von stattlicher Größe; an einer Mannslänge fehlte nicht viel. Nur am Capo Rosso sollte mir eine mächtigere vorkommen. Keine andere Natter wirkt so metallisch; der Bronzepanzer mit seinen gelben und grünen Schuppen gleicht einer Prunkrüstung. Erst als ich das Tier mit dem Stock am Rücken berührte, schoß es in das Brombeergebüsch davon.

Im Weitergehen unterhielten wir uns über die Achtlosigkeit, mit der sich das sonst so scheue Wesen exponiert hatte. Sie war nur dadurch zu erklären, daß es im Anstand auf eine Beute gewesen war – vermutlich auf eine der kleinen, grün und schwarz gescheckten Eidechsen, die sich dort tummelten. Das war ein Beispiel für die hypnotische Starre, die der Anblick des Wildes erzeugt. Halb hatte Argus geschlafen, halb gewacht.

Wer jagt, wird selbst gejagt, und wer beobachtet, wird selbst beobachtet. Je seltsamer, je wertloser, je fremdartiger die Beute, desto mehr drängt sich die Frage nach dem Sinn der Suche auf. Ein Gleichnis bleibt alles, bleibt jede Erdberührung, im bunten Insekt wie auch im Edelstein. Was fesselte mich hier, was machte mich zugleich blind und sehend – wo steckt der Sinn des Spieles, und wo ist der, der mich dabei beobachtet? So fragte ich mich oft und fragte ich auch damals, als ich mich vom Staunen über den Antaeus erholt hatte.

Damals dauerte es lange, bis eine Sendung aus dem Fernen Osten eintraf; heute folgt sie dicht auf die Bestellung, und auch das Drum und Dran hat Fortschritte gemacht. Leichte und buntfrankierte Schächtelchen kommen wie auf Fliegenden Teppichen. Die Objekte sind in Hüllen verwahrt, in denen sich die Biegsamkeit des Seidenpapiers mit der Durchsichtigkeit des Kristallglases vereint. Sie bieten sich unmittelbar dem Auge; ihr Glanz wird eher erhöht als geschwächt. Ich bewunderte ihn erst in diesen Tagen, als ich eine Sendung des Kollegen Hayasaka aus Tokyo musterte: ein Los von Cetoniden aus Formosa, dargeboten mit einer Eleganz, die in Europa nicht erreicht oder gar übertroffen werden kann.

Beim Enthüllen der Tiere unterlag ich nicht zum ersten Male einer Augentäuschung – dem Eindruck, daß ich es nicht mit Kunstwerken der Natur, sondern des Menschen zu tun hätte. Manche dieser Gebilde schienen wie chinesische Miniaturen, von Meisterhand aus Horn, Jade oder Elfenbein geschnitzt und mit Ideogrammen geschmückt.

Ein solcher Eindruck ist nicht zufällig. Die Kraft der Territorien bestimmt aus großen Tiefen nicht nur die Harmonie der Lebewesen zueinander, sondern auch zur unbelebten Natur. Entfernte Dinge gewinnen Anklang, wie Wörter von ganz verschiedener Bedeutung Anklang gewinnen durch den Reim. Die Welt wird dichter, wird Gedicht.

Es gibt ein Schriftbild der Natur; das in der Betrachtung seiner feinsten Züge geübte Auge erkennt in ihnen die Charaktere eines Weltteils, einer Insel, einer Alpenkette, so wie der Kundige die Eigenart des Menschen aus seiner Handschrift zu deuten weiß.

Von einem der schönen Schmetterlingsgeschlechter, den Ornithopteren oder Vogelflüglern, beschrieb Staudinger 1893 die Art paradisea, die diesen Namen verdient. Außer den prächtigen Farben trägt sie als besonderen Schmuck einen Wimpel, zu dem sich der Hinterflügel durch eine Spange verlängert hat. Sieht man das Tier inmitten einer Sammlung, so drängt sich auf den ersten Blick die Ähnlichkeit mit einem Paradiesvogel auf. Der Eindruck wird bestätigt durch den Fundort: Neuguinea, dessen Urwälder sowohl den Vogel wie den Schmetterling bergen – den einen vielleicht als Verfolger des anderen, doch beide auf den gleichen Schlüssel gestimmt. Merkwürdig ist auch, daß ganz verschiedene anatomische Elemente ein so ähnliches Habit ausbilden. Darin verrät sich der Vorrang der geistigen vor den Blutsverwandtschaften.

Das Lesen solcher Bilder setzt freilich, wie das von Partituren, lange Übung voraus. Es zielt auf Einheit, auf die Harmonie der Welt. Das Mannigfaltige hingegen wirkt wie der Vorstoß dieser Einheit; die Darbietung trifft das Bewußtsein überraschend und mit großer Macht. Hier wirkt der Eros stärker als der Nomos der Welt.

Auch Wallace, der große Forscher, hat die Archipele besucht, denen sowohl die Paradiesvögel wie die Ornithopteren eigentümlich sind, und es ist kein Zufall, daß die Leidenschaft des weitgereisten Mannes, dem Darwin viel zu verdanken hat, sich gerade auf diese beiden Gattungen richtete. Er kannte, ja fürchtete beinahe den Eros, der den Geist verwundet, wenn die Große Mutter ihm eines ihrer Geheimnisse offenbart. Das wird an vielen Stellen seiner Tagebücher deutlich, wie auch an jener, an der er die Begegnung mit einer besonders schönen Ornithoptere schildert, die er »den Stolz der östlichen Tropen« nennt.

Bereits auf seinem ersten Gang durch den Wald der Molukkeninsel Batchian hatte er einen »ungeheuer großen« Schmetterling beobachtet. Der sammetdunkle, mit weißen und gelben Flecken gezierte Falter ruhte auf einem Blütenstrauch außerhalb der Reichweite seines Netzes; bevor er abflog, hatte der geübte Blick in ihm das Weibchen einer neuen Ornithoptera erkannt. Wallace richtete daraufhin den Wechsel, den er, wie jeder Entomophile, in der Nähe seines Standortes ausgemacht hatte und täglich zu begehen pflegte, so ein, daß er an jenem Busch vorbeiführte. Wirklich gelang es ihm, im Januar 1859 ein Weibchen zu erbeuten, und den Tag darauf ging ihm auch das Männchen, einer der herrlichsten Schmetterlinge der Erde, mit sammetschwarz und feurig orangeroten Schwingen, ins Garn.

»Als ich es aus dem Netz nahm und die prachtvollen Flügel entfaltete, begann mein Herz heftig zu schlagen, das Blut stieg mir zu Kopfe, und ich fühlte mich einer Ohnmacht näher, als hätte ich dem Tode ins Auge geschaut. Ich hatte den Rest des Tages Kopfschmerzen, so groß war die Erregung – von einer Ursache hervorgerufen, die den meisten Menschen als sehr unzureichend erscheinen wird.«

Nicht nur sah Wallace damals dieses Tropenwunder zum ersten Male, sondern er war auch der erste Abendländer und Linnéist, der seine Pracht erfuhr. Er ließ sich nicht nehmen, es zu beschreiben und zu benennen: als Ornithoptera Croesus, den Krösus-Schmetterling.

Den Schmetterlingen, insonderheit den großen, schöngefärbten Arten, wendet sich eine Neigung zu, die fast jeder einmal empfunden hat. Hier ist die Darbietung besonders zwingend; das Aufschlagen der Flügel, vor allem, wenn sie »Augen« tragen, hat etwas Umwerfendes. Geschieht es in Intervallen, so fühlt der Betrachter ein lustvolles Behagen: ihm teilt sich der Rhythmus des Lebens mit, dem auch sein Herzschlag folgt. Ich entsinne mich eines fürstlichen Morphos, der mich in einem Waldstück bei Santos auf diese Weise entzückte: wenn die Flügel sich schlossen, leuchteten sie wie Goldbrokat, geöffnet wie Silberspiegel mit azurenem Grund, der ihnen den Namen der celestes, der Himmlischen, eingetragen hat. Es war still, und die Sonne schien glühend; der Bann wurde stärker und stärker, wie der Blick eines Auges, der von Lidschlag zu Lidschlag immer mächtiger, immer zwingender einschläfert. Da wächst mit der Lust auch die Furcht, die Ahnung von drohender Gefahr. Die Schönheit will uns des Eigenen berauben; wird sie zu stark, so würde sie uns der Zeit entrücken wie den Mönch von Heisterbach.

Der Schmetterling erinnert an den Vogel, den er an Leichtigkeit noch übertrifft. Daher erweckt er Vorstellungen von feinster Verstofflichung. »Psyche« heißt eine seiner Gattungen, »spiritu« nennen die Hirten die weißen Falter auf Sardinien.

Die Käfer bieten sich dem Auge nicht mit solcher Grazie dar. Sie sind stoffhafter, härter und als Schmuck der Erde eher den Früchten als den Blüten, eher den Muscheln und Kristallen als den Vögeln verwandt. Sie offenbaren ihre Schönheit nicht mit einem Schlage, und so kommt es, daß ihre Liebhaber meist beständiger als die der Schmetterlinge sind.

Die Leidenschaft freilich ist hier wie dort die gleiche; sie wird entzündet, doch nicht befriedigt durch die flüchtigen Modifikationen der Substanz. Wenn Oken den Käfer als die höhere Potenz des Wurms bezeichnet, so hat die romantische Zoologie damit einen ihrer guten Treffer gemacht. Aber es gilt auch für den Schmetterling. Die ganze Pracht ist eben auf den Wurm gegründet – auf die Larve des Käfers, die Raupe des Falters, und was sich in die Potenz erhebt, ist Ausprägung der grauen, unscheinbaren, über jeden Begriff erhabenen Substanz. So funkelt der Gedanke in der grauen Rinde, schimmert die Perle, wenn sie ans Licht gehoben wird. Sie kommt aus dunkler Tiefe, und die Leidenschaft, die sie im Menschen erweckt, reicht auf den Grund seines Wesens hinab.

MYLABRIS

Zum Kapitel des Coptolabrus fällt mir Oskar Vogt ein, der berühmte Neurologe, den ich vor dem Zweiten Weltkrieg im Schwarzwald aufsuchte. Bei der Begegnung mit ihm, wie überhaupt bei der mit alten und sehr alten »aficionados«, die sich auch auf anderen Gebieten einen Namen erworben hatten, fragte ich mich zuweilen, wie ihnen das nebenher möglich gewesen sei – ich meine natürlich den Erfolg im Beruf.

Vogts Adlatus, der Doktor Backhaus, ein junger Arzt, der bald darauf in Nordafrika fallen sollte, hatte mich im Verlauf unserer Korrespondenz darauf aufmerksam gemacht, daß sein Chef da oben eine Schatzgrotte hüte, der so leicht keine andere gleichkäme. Die Coptolabren sollten beinah vollständig sein.

Ich ließ mich also anmelden, setzte mich in Überlingen auf die Bahn und kam in Neustadt gerade zum Tee zurecht, bei dem ich den Professor, seine Gattin und Mitarbeiterin Cécile, Doktor Backhaus und Madame Forel, die Witwe des Zürcher Psychologen und großen Kenners der Ameisen, versammelt fand.

Nicht jede Blume hat, wie die Rose und die Dahlie, eine eigene Gesellschaft, und nicht jedes Organ des menschlichen Körpers, wie das Herz, ein eigenes Institut. Ich weiß nicht, wie viele in der Welt dem Hirn gewidmet sind – jedenfalls leitete der Professor hier in den Bergen das von ihm gegründete »Institut für Hirnforschung«.

Obwohl das stattliche Haus inmitten des von Koniferen bestandenen Parkes Vorstellungen von Sicherheit und Komfort erweckte, war es eher eine Fluchtburg, ein Hort zusammengeraffter Schätze inmitten beginnender Flutungen. Dem Professor war in hohen Jahren und seines Weltrufs ungeachtet gleich manchem anderen ein Mißgeschick begegnet, wie es Klimastürzen folgt. Der Stein des Anstoßes war Lenins Gehirn gewesen, das er im Auftrag der russischen Regierung nach allen Regeln der Kunst untersucht hatte. Sein Gutachten hatte die besondere Wohlgestalt der Pyramidenzellen betont. Hatte er nun auch gesagt, daß man dort den Sitz der Genialität vermutet, oder war das implicite zu verstehen gewesen? – gleichviel, es hatte zur Proskription genügt. Die Hirnforschung war nun zur privaten Beschäftigung des abgesetzten Professors geworden; sein Institut wurde durch mächtige Freunde, vor allem von Krupp, unterstützt.

Diese Dinge bildeten zunächst das betrübliche Thema unserer Unterhaltung, die der Professor mit den Worten abschloß: »Mit denen habe ich nichts zu schaffen, die haben mich abgesetzt.« Noch bis vor kurzem hatte er die große Irrenanstalt Buch geleitet; dort waren seltene Gehirne angefallen wie die Walnüsse im Herbst. Darin, daß sein Sektionsbefund nur für Idioten ein Politikum darstelle, konnte ich ihm nicht ganz beipflichten. Wäre es andersherum gekommen, so würde den Professor der entsprechende Beifall kaum erstaunt haben. In dieser Hinsicht war er naiv wie die meisten Gelehrten; auch Hugo Fischer, der Magister, hatte Lenins wegen Unannehmlichkeiten gehabt. Er war gemaßregelt worden, weil er ein Werk über ihn publiziert hatte. Sein ohnehin bescheidenes Gehalt war um die Hälfte gekürzt worden. Als ich ihm im Leipziger »Merkur« deswegen kondolierte, sagte er: »Kann man denn nicht mal mehr ein Buch über einen toten Russen schreiben?« Das war doch wohl auf eine zu einfache Formel gebracht.

Nachdem diese und ähnliche Ärgernisse abgehandelt waren, belebte unser Gespräch sich freudig, als es auf die »Entoma« überging. Wieder fand ich den Satz bestätigt, mit dem Otto Schmiedeknecht, Kustos des Rudolstädter Naturalienkabinetts, sein den Hymenopteren Mitteleuropas gewidmetes Hauptwerk einleitet – daß nämlich dieses Studium sich stets »als eine Quelle ungetrübten Genusses und als ein Zufluchtsort in den Wechselfällen des Lebens erweist«.

Ein Rundgang durch das Gebäude schloß sich an. Auf den Böden war es still, ein wenig unheimlich. Ein Anflug des Makabren kam hinzu. Der Titel von Benns Novelle fiel mir ein: »Gehirne« – hier waren sie gespeichert, gleich nach dem letzten Atemzuge der Besitzer sorgfältig fixiert. Der Tod, fast schon das Sterben, verändert das Organ.

In Paraffin gebettet, harrten die Gehirne darauf, daß der Professor oder einer der Eingeweihten sie studieren würde, wie er einst das von Lenin studiert hatte. Er kannte die feinsten Hügel, Schluchten, Brücken, Kammern und Zellen dieser Landschaft, auch sehr entlegene Orte, so wie ein Astronom die fernsten Nebelflecke kennt. Der Adlatus gab mir einen durchsichtigen Block in die Hand. Das darin eingezwingerte Gehirn war das eines Dichters: es hatte Sudermann gehört. Ich hielt es wie eine Bienenwabe – wo waren die Bilder und Gedanken, die darin gewohnt hatten? Und hatten sie, wie die Bienen, sich dereinst dieses Nest gebaut? Ein Ketzereinfall in dieser Mumienkammer – ich ließ ihn nicht laut werden. Etwas von Kopfjägerstimmung war dabei.

Wir gingen dann zu den Insekten, denen, abgesehen von der Bibliothek, ein Raum von der Größe eines Tanzsaales zugewiesen war. Schon Stichproben zeigten, daß hier die Beute eines großen Kapitäns gespeichert war, dem es an Mitteln und Hilfskräften nicht gefehlt hatte. Der Kundige erkennt das weniger an der Pracht und Menge der Einzelstücke als an der Lückenlosigkeit der Lieblingsgattungen und an der Entlegenheit der Fundorte. Hier summierte sich beides, das verwies auf außerordentliche Anstrengungen.

Bepelzte Hummeln drängten sich zu Legionen, vorwiegend Arten, die man nicht an begangenen Wegen trifft. Mongolische und chinesische Fänger hatten nach ihnen Tal um Tal entlegener Gebirgszüge durchstreift. Caraben wurden zu Tausenden verwahrt. Vor kurzem hatte ihr großer Monograph, der Doktor Breuning, die Sammlung revidiert. Daneben offenbarte sich die Neigung des Professors für die plumpen, dunklen Pimelien und die buntgefleckten Arten der Gattung Mylabris. Die Pimelien bewohnen die Länder am Mittelmeer; sie strahlen von dort nach Nubien und Indien, zum Senegal, zu den Kanaren aus. Fast jede Insel, jeder Küstenstreifen beherbergt eine eigene Art. Noch weiter dehnt sich das Gebiet der Mylabriden aus. Hier fiel mir der Reichtum an asiatischen Stücken auf. Sie waren aus Transkaspien, dem Kaukasus, Turkmenien, der Dsungarei, der Mongolei, Sibirien, Tibet, der Wüste Gobi zusammengetragen, ersichtlich nicht als Raffbeute von Reisenden, sondern als ausgesuchte Strecke Subtiler Jäger, die man eigens in jene Länder entsandt hatte. Das berühmte Gehirn hatte also auch Vorteile gebracht.

Trotz ihrer Mannigfaltigkeit hatte die riesenhafte Aufsammlung einen Generalnenner. Ihr Besitzer schien Gruppen zu bevorzugen, die sich durch Streifung auszeichnen. Bei den Pimelien und Caraben waren die Streifen plastisch und der Länge nach geordnet, bei Hummeln und Mylabriden traten sie als quere Bänder und Diademe der bunten Haartracht oder des Pigments hervor. Die Auswahl war nicht zufällig; der Professor brachte diese Form- und Farbenspiele mit dem Bau der Hirne und ihrer Schichtung in Zusammenhang. Er wollte einen gemeinsamen Strukturplan nachweisen. Ich konnte das nicht beurteilen, obwohl ich wußte, daß er um die Jahrhundertwende ein Atlaswerk über die Markstreifung des Kindergehirns publiziert hatte. Schließlich steht alles mit allem in Zusammenhang. Das gilt besonders für unsere Neigungen.

Nachdem er mich in die Sammlung eingewiesen, auch hin und wieder einen Schrank geöffnet hatte, ließ der Professor mich allein. Er lud mich ein, seine Schätze nicht nur nach Herzenslust zu betrachten, sondern auch von den Dubletten auszusuchen, was mir gefiele – allerdings mit der Einschränkung: »Nur von den Coptolabren kann ich nichts abgeben.« Nun, die sollten mich nicht in Versuchung führen, denn ich kam über die Mylabriden nicht hinaus. Ich saß am Fenster vor einer Auswahl der gebänderten Idole; ihr Anblick brachte mich ins Träumen, bis die Farben ineinanderflossen – die Dämmerung brach ein. Die Stunden waren im Flug vergangen wie über den Seiten eines Buches, das man schon oft gelesen hat und dessen man trotzdem, ja gerade deshalb, nicht müde wird. Die bunten Mumien feierten Auferstehung, und wieder einmal bekam ich die Macht zu spüren, die sich in einem Stückchen belebter Substanz verbirgt.

Ich hegte eine frühe Neigung für diese Wesen, nahe Verwandte der Spanischen Fliege, die bei uns kaum vorkommen. In der Provence und Dalmatien, auf Rhodos und den Balearen, auch in Nordafrika war ich ihren Vorposten begegnet, oft lustvoll überrascht, wenn ich sie wie schwere Blutstropfen an den Kräutern hängen sah. Sie erinnern dann an die Schmetterlinge, die man Widderchen nennt, und halten auch deren Muster und Farbenspiele ein. Zu ihren Eigentümlichkeiten gehört, daß sie eines schönen Tages in Massen auftreten und am nächsten verschwunden sind.

Ich sah dort am Fenster die Arten wieder, die ich vom Mittelmeer mitgebracht hatte. Ein warmer Anhauch, ein sanftes Glühen ging von ihnen aus. Es war ein ganz bestimmtes Klima, ein jäher Frühling, dessen Erinnerung sie hervorriefen. Da war die Heiterkeit starker Verwandlungen.

Wenn wir zu früh über die Alpen fahren, kann es uns begegnen, daß wir im Süden stärker frieren als zu Haus. In Neapel bläst noch im März eine Tramontana, die uns die Zähne klappern läßt. Regentage bei kaltem Wind, in ungeheizten alberghi verbracht, die paradiesische Namen führen, sind doppelt unangenehm.

Wenn aber der Wind umschlägt und von den Hesperiden kommt, kündet sich das schon in den Träumen an. Wir erwachen heiter und frühstücken auf der Terrasse, von der aus wir auf das Meer hinausblicken. Über Nacht hat sich alles verändert; der Frühling erwartet uns jenseits der mit hohen Mauern verwahrten Gärten, am Strand, in den Bergen, in der Macchia mit ihren Ginstern und Zistrosen.

Das Besondere am südlichen und am morgenländischen Frühling ist die Verbindung von Kargheit und Überfluß. Der Reichtum wächst auf der Armut, wirft Polster und Teppiche über die Wüste, er quillt aus den Fugen hervor. Der Geist erschrickt fast vor der jähen Fülle – was mag da noch im Hintergrund sein?