Späte Rache - Ernst Jünger - E-Book

Späte Rache E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Dieser Band versammelt die weniger bekannten Erzählungen von Ernst Jünger. Die Titelgeschichte erscheint hier zum ersten Mal außerhalb der Werkausgabe. Wolfram ist ein sensibler Junge, der leicht ins Träumen verfällt. Die drei Schulwege, die er nacheinander zu gehen hat, führen ihn zur Vorschule, zu einer private Knabenpresse und zum Gymnasium. Er geht sie nicht wegen, sondern trotz der Schule, die für ihn kein Ort der Förderung, sondern des Martyriums ist. Genauso ist der jugendliche Richard zunächst enttäuscht von der Erwachsenenwelt, weil er noch kein eigenes Gewehr besitzen darf. Bei der Eberjagd auf einer Lichtung verändert ein Erlebnis jedoch seinen Blick auf Mensch und Natur. Und auch die Gäste, die der Forscher und Philosoph Schwarzenberg auf der fiktiven skandinavischen Insel Godenholm empfängt, erleben surreale und beängstigende Dinge auf der Suche nach Annäherung und Rausch.

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Seitenzahl: 165

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Ernst Jünger

Späte Rache Erzählungen

Sp. R. Drei Schulwege Die Eberjagd Besuch auf Godenholm

Mit einem Essay von Thomas Hettche

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96074-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10867-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Sp. R. Drei Schulwege

Die Eberjagd

Besuch auf Godenholm

Thomas Hettche: Gullin Bursti

SP. R. DREI SCHULWEGE

Sp. R. ist die Abkürzung für »Späte Rache«.

Ernst Jünger hat die Niederschrift des Textes am 10. Juli 1991 beendet. In der zweiten Hälfte der Handschrift sind zu eingeklebten Blumen gehörige Daten eingestreut, alle zwischen April und Juni des gleichen Jahres laufend. Ob der Anfang der Erzählung in die Zeit unmittelbar davor fällt, ist ungewiß, aber wahrscheinlich, da Handschrift, Papier und Schreibmaterial nicht auf längeren zeitlichen Abstand schließen lassen. Eine Arbeitspause, während derer die ersten Seiten mit der Maschine abgeschrieben und durchgesehen wurden, ist dennoch zu vermuten, da Überlappungen im Text vorkommen. Der letzte Absatz dürfte später hinzugefügt worden sein.

ERSTDRUCK in: »Sämtliche Werke«, Band 22, Stuttgart 2003

ERSTER TEIL

DER ERSTE SCHULWEG

Das Schönste an der Schule war der Schulweg, daher hätte Wolfram ihn gern so lang wie möglich gedehnt. Aber dann wäre er zu spät gekommen, und Zuspätkommen war schlimm.

In der Aufregung fand er nicht die richtige Türe; er verirrte sich sogar in den Stockwerken und störte in anderen Klassen den Unterricht. Die Lehrer, von denen die meisten Stehkragen und Kneifer trugen, fixierten ihn grimmig, und die Schüler waren über die Unterbrechung erfreut. Fast eine Viertelstunde war versäumt, ehe er die Entschuldigung vorstottern konnte – doch da gab es keine Entschuldigung. Bevor er sich setzen durfte, kam die Ermahnung: »An dir kann man nur tadeln« und die Eintragung ins Klassenbuch. Zudem war er unordentlich angezogen; die Hauptsache am Schulweg waren die Gebüsche und das sumpfige Ufer am See.

*

Schön wäre es gewiß, wenn es nur den Weg gäbe, aber die Schule warf schon den Schatten auf ihn. Die Schatten waren dunkler geworden, denn Wolfram war ein Versager; er befand sich bereits auf dem dritten Schulwege. Der erste hatte zur Vorschule, der zweite zu Tegtmayers Institut, der dritte zum Gymnasium geführt. Alle drei durchquerten den Park, der das Haus der Eltern von der Stadt trennte.

Da die Schulen voneinander getrennt lagen, war jedes Mal ein neuer Weg zu lernen: der erste über eine Brücke, die beiden anderen am Stadtsee entlang. Da konnte man sich leicht verirren, besonders da er weniger auf den See als auf die Vögel achtete, die dort schwammen oder sich am Ufer in der Morgensonne ausruhten. Das Ufer war im Frühling von gelben Schwertlilien, im Herbst von Schilfkolben, den »Zylinderputzern«, gesäumt. Von der Brücke aus waren fette Karpfen, die träge ihre Flossen regten, zu beobachten.

*

Der Weg zur Vorschule war Wolfram am leichtesten gefallen – schon deshalb, weil er den Großvater begleitete, der dort unterrichtete. Man hätte auch sagen können, daß der Großvater die Begleitperson war oder der Leibwächter. Es kam vor, daß er des Enkels wegen eine oder selbst zwei Stunden früher aufbrach, als es sein Dienst erforderte.

Für Wolfram hatte dieses Miteinander den Vorteil, daß er nicht zu spät kam, denn der Großvater war pünktlich wie die Uhr, aber es war ein Freiheitsentzug voll pädagogischer Mahnungen, die erfreuliche Mitteilungen milderten. Der Großvater wußte viel. Er kannte die Namen der verschiedenen Enten, die auf dem See schwammen; es war sogar eine japanische dabei. Die Stadtgärtner setzten jeden Monat neue Blumen in die Rabatten; wie sie hießen, erfuhr Wolfram nebenbei. Es gab auch seltene Bäume wie die Kornelkirsche und die Araukaria, aber selbst von den Eichen so viel Sorten, daß man damit einen Wald bestellen könnte, und es wäre keine wie die anderen. »Und wenn du von diesem Walde jedes Blatt unter die Lupe nähmest, so würdest du doch nicht zwei davon finden, die sich glichen«, sagte der Großvater.

*

Der Großvater rauchte unterwegs eine halblange und zu Haus eine lange Pfeife; er trug einen Bart wie die vom Siebziger Krieg. Damals war er nicht dabei gewesen, und zuvor waren die Schulmeister vom Militärdienst befreit. Dafür war ihr Salär auch kümmerlich genug. Trotzdem meinte er, daß gerade sie es bei Königgrätz geschafft hätten. Auch von Krieg und fernen Ländern wußte der Großvater viel – von den Düppeler Schanzen bis zum Kanonenboot »Iltis«, den Aufständen der Sepoys in Indien und des Mahdi im Sudan, der gelben Chinesen und der schwarzen Herero. Wenn er von ihnen sprach, stieß er mit dem Spazierstock auf.

Wolfram konnte davon nicht genug hören. Nur war es lästig, daß er sich nicht bewegen durfte, wie er wollte, vor allem nicht stehn bleiben. Der Großvater war nicht streng, doch genau. Das ging bis ins Kleinste – wie man die Füße zu setzen und wie man zu atmen hatte: die Luft durch die Nase einziehen und langsam durch den Mund ausblasen. Die Haare wurden kurz gehalten, das ersparte die Frisur, obwohl die Mutter anderer Meinung war. Aber was half es – der Vater wurde oft versetzt. Auch das Sprechen war nicht so einfach, wie es schien. Der Großvater rügte, daß Wolfram die Vokale nicht scharf genug von einander absetzte. Er »nuschelte«. »Es heißt nicht ›der Unkel‹ sondern ›der Onkel‹ und nicht ›die Kersche‹ sondern ›die Kirsche‹.« – Derartiges hörte Wolfram öfter, als es ihm lieb war und nötig schien. Aber der Großvater hatte ein feines Ohr. Er war im Vorstand des Lehrer-Gesangvereins. Er ließ nichts durchgehen. Wenn er den Enkel beim Schreiben beobachtete, legte er Wert darauf, daß das kleine lateinische e nicht einfach durchgezogen würde, sondern im Aufstrich noch einen Haken bekam. Auch das schien Wolfram überflüssig, doch mußte er zugeben, daß der Buchstabe nun einen stattlicheren Bauch bekam.

*

Wie all- und jedes im Tag des Großvaters war auch die Zeit für den Schulgang reichlich bemessen, doch sah er es ungern, wenn der Enkel von sich aus stehen blieb. Dazu fühlte Wolfram sich besonders versucht, wenn sie an der Schotterbank, die den See säumte, entlang gingen. Das hatte mit seiner Steinsammlung zu tun.

Hier ist einzufügen, daß Wolfram bald für kurze, bald für längere Zeit bei den Großeltern wohnte, wenn die Eltern nicht in der Stadt weilten. Dafür gab es sowohl private wie dienstliche Anlässe. Die Großeltern wohnten zur Miete, die Eltern im eigenen Haus. Nur dort konnte Wolfram sein Panorama ausbreiten; die Terrasse bot genügend Platz dafür. Da die Eltern Emilie als bewährte Haushälterin zurückließen, konnte Wolfram auch während ihrer Abwesenheit hin und wieder einen Gang zum Panorama abzweigen. Gern wäre er überhaupt dort geblieben, doch wollte und konnte man ihn Emilie nicht anvertrauen – nicht einmal für Tage, nachdem sich die Absencen gezeigt hatten.

*

Das Panorama war eigentlich nicht mehr als der Stadtpark im Kleinen, doch sollte es größer und schöner sein. Wolfram hatte dafür seine eigenen Maßstäbe. Als die Mutter es komisch gefunden hatte, daß in seiner Landschaft die Enten größer wären als die Schafe, hatte er geantwortet: »Die Enten sind größer, weil ich sie lieber hab.« Auch hatte sie bemängelt, daß der Goldfisch die Flanke zeigte, wenn er schwamm. Aber Wolfram hatte ihn aus einem Katalog geschnitten und fand ihn stattlicher im Profil. Man sah auch die Flossen deutlicher. Er schwamm auf dem Bruchstück eines Spiegels, das den See darstellte.

Die Mutter rügte auch, daß das Panorama, das ihr auf der Terrasse viel Platz raubte, der reine Schutthaufen sei. Das stimmte insofern, als zur Ausstattung hauptsächlich Fundstücke und Abfall beitrugen. Aus einem Badeschwamm war der Sumpfrand am Wasser zurechtgebastelt, und die Fetzen eines Jägerhutes stellten waagrecht die Wiesen und senkrecht die Hecken dar. Es traf sich, daß die Hutschnalle sie unterbrach und einen Eingang öffnete. Es gab Glücksfunde, aber es war auch viel zu schneiden und zu kleben dabei. Der Vater sagte: »Wenn du in der Schule nur halb so eifrig wärest, würdest du der Erste sein.« Doch verbieten mochte er es nicht.

Bei gutem Wetter häuften sich die Glücksfunde. Das galt besonders für die Steine, wenn in der Nacht Regen gefallen war. Wenn von den Blättern keines dem anderen gleichen sollte, so übertrafen die Steine sie darin bei weitem noch. Der Großvater hatte gesagt, daß sie von weit her gekommen seien – als Geröll von den Alpen zur Zeit, in der es noch Mammute gab. Es war nicht leicht, sie zu ordnen – Wolfram hatte es nach Farben, Formen und Mustern versucht. Eines der Steinchen war schwarzweiß gestreift wie das Ordensband, das der Vater im Knopfloch trug, ein anderes war wie ein Kiebitzei gefleckt, in ein drittes war eine winzige Muschel eingeprägt. Wolfram verwahrte sie in einem Kasten und legte die Wege des Panoramas mit ihnen aus. Obwohl ein jeder seine Schönheit für sich bewahrte, konnte der Schotter am Seerand zur Juwelenkette werden, wenn die Morgensonne auf ihn fiel. Dann mußte Wolfram sich von der Hand des Alten losreißen.

*

Trotz allem erinnerte Wolfram sich an diesen Schulweg als an den besten von den dreien. Es war ihm schon früh aufgefallen, daß die Drei eine besondere Rolle spielt. Gut, besser, am besten – das war ein Stück Torte, auf dem über der Sahne noch eine grüne Engelwurz oder eine rote Kirsche liegt. Aber es gab auch das Gegenteil: schlecht, schlimmer, am schlimmsten – eben diese drei Schulwege, oder vielmehr den Schatten, der von der Schule aus darauf fiel.

Die Vorschule war nicht so schlimm gewesen nach allem, was er von ihr gehört hatte. »Warte, bis du erst zur Schule kommst« – so der Vater, wenn Wolfram vom Spiel, etwa vom Eislauf, erhitzt, die Tischzeit versäumt hatte.

Da die Vorschule zum Gymnasium gehörte, unterrichteten in ihr nicht, wie in der Volksschule, einfach Lehrer, sondern »Gymnasiallehrer«. Mit diesem Titel fiel etwas von humanistischer Würde auf sie ab. Das soll nicht heißen, daß ihnen Würde gefehlt hätte. Sie waren sich ihrer Bedeutung nicht minder und sogar problemloser als ihre promovierten Kollegen bewußt.

Bei allem Respekt hatte Wolfram zu ihnen recht bald eine familiäre Neigung schon deshalb empfunden, weil sie dem Großvater ähnlich sahen. Auch sie trugen halblange Bärte wie die Soldaten im Siebziger Krieg. Solche Bärte waren gut; sie flößten Vertrauen und Achtung ein. Man konnte sich schwer vorstellen, daß ein Offizier solch einen Bärtigen anschnauzen könnte wie einen Bartlosen.

Sie rauchten auch lange Pfeifen wie der Großvater – wie es sich versteht, nur daheim. Auf der Straße und in Lokalen rauchten sie Zigarren. An Vereinsabenden und auf Spaziergängen außerhalb der Stadt hielten sie halblange Pfeifen in Brand.

Zum Anzug trugen sie auch im Sommer dunkle Stoffe – so gern Jacketts aus braunem Sammet, schwarz paspeliert. Dazu keinen Schlips, sondern Foulards, entweder geknotet oder gekreuzt. Sie standen im Alter, in dem man Brillen schwerlich entbehren kann.

Die Studierten, meist erheblich jünger, hoben sich schon durch ihre Haltung von ihnen ab. Sie hatten am Krieg nicht teilgenommen, doch manche von ihnen waren Reserveoffiziere und erschienen »zu Sedan« und an Kaisers Geburtstag in Uniform. Sie hatten auch wie der Monarch einen Schnurrbart mit steilen Spitzen, trugen Schlips, helle Manschetten und einen Kneifer am Band.

Eine der frühen Erinnerungen Wolframs war das Bild des Vaters am Waschtisch in Hemdsärmeln und mit Bartbinde. Der Vater rauchte Zigaretten und wählte, wenn er in Zivil war, flotte Anzüge. Von den Großeltern sprach er als von »den Alten«, und in der Tat war, obwohl auch sie kaum noch zur Kirche gingen, der Abstand groß. Wenn die beiden Frauen im Frühling auf der Terrasse beieinander saßen, begegnete sich ein Tag- mit einem Nachtfalter. Auch die Ansichten differierten – nicht nur hinsichtlich der Kleidung, sondern in allem, »was sich gehört«.

*

Die Vorschullehrer hatten auf den Seminaren eine solide Ausbildung gehabt. Darauf beruhten ihr Selbstbewußtsein und ihre Autorität. Handfestes Wissen zu vermitteln, war ihr Anliegen und ihre Aufgabe. Sie folgten dem Grundsatz, daß Wiederholung die Mutter der Studien sei. Es versteht sich, daß intelligente Schüler sich dabei langweilen und daß ihnen speziell das Auswendiglernen und Aufsagen zuwider ist.

Dennoch ist es auf Schulen wichtiger, ein gutes Gedächtnis zu haben als intelligent zu sein. Es gibt Naturen mit lexikalischen Gehirnen, die beliebige Texte speichern und <wie> von der Wand ablesen, wenn sie danach gefragt werden. Für sie wird jedes Examen zum Genuß.

Wichtig ist ferner die Beflissenheit, mit welcher der Schüler dem Lehrer aufwartet. Wenn er zum Beispiel dessen Geburtstag kennt (er hat sich bemüht, ihn zu erfahren), ihm gratuliert, vielleicht sogar eine Blume aufs Pult legt, dann ist der Tag schon halb gewonnen und eine Aufwertung gewiß. Sein Lehrer sieht ihn mit anderen Augen an. Der Großvater hatte solche Schüler, von denen manche sogar ins Haus kamen. Er gab Privatstunden.

Obwohl diesen Tugenden ein Macchiavell fehlt, sind sie vorhanden und werden praktiziert. Insofern war Wolfram ein schlechter und fast ein hoffnungsloser Schüler, trotz aller Ermahnungen des Vaters und des Großvaters. Allerdings verfügte er sowohl über Intelligenz wie über Gedächtnis, doch war es, wenn man so will, das eines Feinschmeckers. Er behielt nur das, was ihm mundete – das aber gut. Es prägte sich ihm ein – so Pflanzen, Tiere und Steine, auch ungewöhnliche Ereignisse im täglichen Leben und in der Natur. Sein Denken heftete sich weniger Systemen als Personen und Gegenständen an. Er ordnete sie wie in seinem Panorama aus Scherben und Fundstücken. Es war nicht die Welt der Erwachsenen, doch es war seine Welt. Sie fügte sich zusammen wie Strandgut aus gescheiterten Schiffen für einen Robinson. Sie war seine Insel; hier war er neugierig.

*

Wolfram las viel und leidenschaftlich; auch das war der Schule abträglich. Wie für so viele war der »Robinson« sein erstes Buch gewesen: er hatte es weniger gelesen als buchstabiert, indem er mit dem Finger dem Text folgte.

Ein solches Werk ruft Staunen und dann Erwartungen hervor. Es könnte etwas eintreten. So war Freitag zu Robinson gekommen – doch Wolfram erwartete keinen Freitag, sondern Robinson selbst.

Andererseits erwartete er nicht Old Shatterhand, sondern Winnetou, als der Vater ihm den ersten Karl May geschenkt hatte. Der Großvater hatte es nicht gern gesehen; er gab ihm Schwabs »Sagen des Klassischen Altertums« als Gegengewicht. Für Wolfram war das kein Unterschied – ebenso wenig wie zwischen der Fahrt der Argonauten nach Kolchis und jener Stanleys den Kongo hinab. Hier oder dort, er war immer dabei – ganz dicht auf dem Schulweg, und in der Schule noch im Traum. Er las in den Nächten und war bei den Lehrern als Schlafmütze bekannt. Zuweilen billigten sie ihm auch lichte Momente zu. Er konnte sogar überraschen, wenn seine Welt mit der ihren in Berührung kam.

*

Die Vorschule war, wie gesagt, nicht so schlimm. Die Lehrer genossen einen Respekt, den sie in väterlicher Art verwalteten. Die Stadt war auch noch nicht so groß, als daß die Familien des gehobenen Bürgertums sich nicht untereinander gekannt hätten. Es kam vor, daß ein Lehrer sagen konnte: »Du Dämelack – mit deinem Vater habe ich mehr Freude gehabt als mit dir.«

Zudem war der Unterricht wie im Turnen und Singen noch nicht weit vom Spiel entfernt und in den Hauptfächern, so in Deutsch und Religion, zum großen Teil erzählender Art. Ein Gang durch das tägliche Leben vertiefte die vertraute Umgebung im Stil des guten Onkels, der seinem Neffen die Uhr ans Ohr hält und ihm ihr Ticken erklärt. Wenn man wissen wollte, woher der Wind kommt, mußte man den Finger in den Mund stecken und dann in die Luft halten. Dabei lernte man die vier Himmelsrichtungen kennen; wo Ost und West war, konnte man von der bemoosten Seite der Bäume ablesen. Im Stadtwald hatten einst Räuber gehaust – das war während eines Krieges gewesen, der dreißig Jahr lang gewährt hatte. Und auf dem Töpfermarkt hatte man Hexen verbrannt.

Das alles wußten die Lehrer und noch viel mehr. Immer wieder machte es ihnen Freude, es mitzuteilen – fast als ob es ihnen selbst neu wäre und sie es eben erst entdeckt hätten.

Die Stimmung war familiär und fast wie zu Hause, obwohl zwei Katholiken und ein Jude dabei waren. Wer zu ihnen »katholischer Bock« oder »Moses« sagte, wurde bestraft.

Die Lehrer zogen manchmal an den Ohren oder schimpften: »Dummkopf«, »Schlafmütze«, »Dämelack«. Sie hielten die Fenster selbst im Sommer geschlossen, denn sie fürchteten die Zugluft wie die Pest. Eine Ausnahme gab es, wenn einer den Finger hob und meldete:

»Herr Wiermann – hier hat sich einer unanständig aufgeführt.« Dann wurden die Fenster aufgerissen, der Schuldige ermittelt und vor die Tür geschickt.

*

So wurde die Vorschule schlecht und recht absolviert. Die Zeugnisse ließen zu wünschen übrig – im Rechnen ungenügend, in Deutsch und Naturkunde gut. Am Verhalten wurde das Betragen gelobt, der Fleiß bemängelt, die Aufmerksamkeit noch mehr.

Damit hätte der Aufnahme ins Gymnasium nichts im Wege gestanden – ohne den Zwischenfall, der Eltern und Großeltern ungemein bestürzte, als der Polizist Wolfram ins Haus brachte. Was war geschehen?

Der Junge war, wie der Polizist meldete, fast am Ende des Schulweges mitten auf der Straße stehen geblieben, gerade als die Pferdebahn im Trab heranfuhr und der Fahrer wie ein Besessener klingelte.

Wolfram, vom Vater nach dem Wieso und Warum befragt, wußte sich an nichts zu erinnern – wohl aber daran, daß er vom Kondukteur am Kragen gepackt und geschüttelt worden war.

»Du Lümmel willst wohl, daß ich deinetwegen ins Loch komme – das hast du mit Absicht getan.«

Wäre er nicht so gut angezogen gewesen, würde der Kondukteur ihn wohl geohrfeigt haben – so aber übergab er ihn dem Polizisten, der auf seiner Runde vorüberkam.

*

Der Junge neigte zu Träumereien – vielleicht konnten sie so stark werden, daß er unversehens in eine Art von Starrkrampf oder Tiefschlaf verfiel. Das war ungewöhnlich, aber wohl passager. Damit tröstete der Vater sich. Leider blieb der Vorfall nicht auf dieses eine Mal beschränkt; er wiederholte sich in Anfällen. Sie wurden gefährlich, wenn sie den Sohn auf der Treppe überfielen, auch waren Linien der Straßenbahn schon elektrifiziert.

Zunächst mußte der Schulgang unterbrochen werden; zum Glück standen die Osterferien bevor. Dann war ein Arzt ins Vertrauen zu ziehen. Es wäre nicht gut, wenn die Sache sich herumspräche.

Von Wolfram war nicht viel herauszuholen – er hatte sich an die Absencen gewöhnt. Fast sehnte er sie herbei, denn es schien ihm, daß er dabei sehr leicht würde und, über sich hinausschwebend, sich von oben betrachtete. Lästig war nur, wenn er zurückkam – das gab, als ob einer im Zug die Notbremse zöge, einen Ruck, der durch die Knochen fuhr. Wolfram konnte das nur unklar ausdrücken. Der Vater hörte es nicht gern.

*

Doktor Edelstein war auf Hausbesuch gekommen; die Untersuchung war gründlich – ein langes Gespräch mit dem Vater schloß sich ihr an. Es fand im Salon statt; Wolfram belauschte es von der Terrasse aus, auf der er am Panorama gespielt hatte. Er behielt den Wortlaut, obwohl er ihn nicht verstand, doch er reifte ihm im Gedächtnis heran. Das war eine Eigentümlichkeit seiner Begabung: Worte konnten in sein Bewußtsein gesät werden wie Samenkörner, die erst nach Jahren oder Jahrzehnten aufkeimten.

*

»Herr Major«, hörte Wolfram den Doktor sagen: »Epilepsie haben wir nicht zu befürchten – obwohl es Anklänge gibt, dürfen wir sie ausscheiden. Es handelt sich bei Ihrem Sohn um reine Absencen – diese sind allerdings ungewöhnlich stark. Ich vermute, daß sie mit einer ebenso ungewöhnlich starken geistigen Entwicklung in Verbindung stehen. Insofern könnten sie sogar als günstiges Zeichen zu werten, wenngleich mit Vorsicht zu behandeln sein. In dieser Hinsicht jedenfalls, Herr Major, darf ich Sie, wenn auch nicht gänzlich, beruhigen: Wir haben es mit einem Übergang zu schaffen, der hoffentlich einen günstigen Abschluß finden wird.«