Gehirn & Wahrnehmung - Karl R. Gegenfurtner - E-Book

Gehirn & Wahrnehmung E-Book

Karl R. Gegenfurtner

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

FISCHER KOMPAKT. Verlässliches Wissen kompetent, übersichtlich und bündig dargestellt. - Wahrnehmung - Neuron - Hautsinn - Bewegungssehen - Lärm - Geniculatum - Neuropsychologie - Rezeptor - Gehirn - Adaptation - Reiz - Kortex - Wahrnehmungsprozeß - Nervensystem - Ganglienzelle - Neurowissenschaft - Netzhaut - Gesichtsfeld - Schallreiz - Gedächtnis (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 153

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karl R. Gegenfurtner

Gehirn & Wahrnehmung

FISCHER E-Books

Inhalt

GrundrissDas Fenster zur WeltWie ›wahr‹ ist die Wahrnehmung?Das GehirnAnatomischer Aufbau des GehirnsÜbertragung von Information im GehirnWichtige Fakten zum GehirnMethoden der GehirnforschungDie Stadien der WahrnehmungSinnesorganeTransduktion und TransformationKortikale VerarbeitungVisuelle WahrnehmungDie Landkarte im AugeKonvergenz und EffizienzDie Fovea im KortexDer primäre visuelle Kortex – V1Verarbeitung von MerkmalenObjekterkennungDie Geschwindigkeit der SichtHörenHautsinneChemische SinneDie Gesetze der WahrnehmungSpezifische SinnesenergienDetektierbarkeit (adäquate Reize)Unterscheidbarkeit (Weber’sches Gesetz)AdaptationPlastizität und SelbstorganisationOrdnungTuning (Fovea)ModularitätAufmerksamkeitVorannahmenVertiefungenUnbewusste WahrnehmungSplit-BrainNeuropsychologieVom Neuron zum BewegungssehenDie Gene für das FarbensehenVisuelles GedächtnisLärmWahrnehmung und KunstAnhangGlossarLiteraturhinweiseDanksagung[Bildteil]

Grundriss

Das Fenster zur Welt

Die Wahrnehmung spielt eine zentrale Rolle nicht nur für das Erleben der Welt, sondern auch für das Überleben in der Welt. Genauso wie unsere sämtlichen Handlungen auf den Kontraktionen von Muskeln beruhen – ob wir einen Baum fällen oder ein Gedicht schreiben –, genauso beruht all unser Erleben auf der Aktivität der uns zur Verfügung stehenden Sinnesrezeptoren – ob wir nun mit Genuss eine Symphonie von Beethoven (oder den neuesten Hit von Robbie Williams) hören, oder uns schmerzhaft an einer Nadel stechen. Welche Information wir letztlich aufnehmen und wahrnehmen, hängt auch davon ab, für welche Information wir Rezeptoren haben. So können wir sehen, weil es in unserer Umwelt Licht gibt und weil unsere Augen lichtempfindliche Rezeptoren besitzen. Licht bezeichnet nur den kleinen Teilbereich der elektromagnetischen Strahlung mit Wellenlängen zwischen 400 und 700 Nanometer (nm). Elektromagnetische Strahlung gibt es aber in vielen anderen Wellenlängenbereichen, wie in Abbildung 1 dargestellt. Während Menschen z.B. ultraviolette Strahlung nicht sehen, gibt es einige Tierarten – wie z.B. die Bienen –, die für diesen Wellenlängenbereich (ca. 340 nm) sehr empfindlich sind.

Hier stellen sich sofort zwei Fragen: Warum hat der Mensch ausgerechnet Rezeptoren für diesen Bereich von Wellenlängen entwickelt? Wie würde die Welt aussehen, wenn wir Rezeptoren für mehr und andere Informationen unserer Umwelt entwickelt hätten?

Beide Fragen hängen eng zusammen. Betrachtet man die Sinnesorgane verschiedener Tierarten, stellt man fest, dass sich die Tiere sehr eng an ihre Umweltbedingungen angepasst haben. Für Fledermäuse z.B., die den größten Teil ihrer Zeit im Dunkeln verbringen, würde das menschliche Sehsystem wenig Sinn machen. Wo kein Licht ist, kann auch keines verarbeitet werden. Wenn wir uns bei Dunkelheit im Freien zurechtfinden wollen, benutzen wir eine Taschenlampe, die einen Lichtstrahl erzeugt. Fällt der Lichtstrahl der Taschenlampe auf ein Objekt, wird von der Objektoberfläche ein Teil des Lichtes in unsere Augen reflektiert und das Objekt wird sichtbar. Da die Fledermaus keine Taschenlampe hat, muss sie sich »Licht« auf eine andere Art erzeugen. In ihrem Fall sind das Schallwellen in einem sehr hohen Frequenzbereich, der für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbar ist. Dieser Schall wird von den Objekten aber ebenfalls reflektiert und von den Ohren der Fledermäuse registriert. Aus den Laufzeiten des Echos kann das Gehör der Fledermaus die Distanz und die Form der Objekte berechnen. Es liefert auf diese Art ein »Bild« der Umgebung. Die Fledermäuse »sehen« also mit den Ohren, auch im Dunkeln.

Im Gegensatz zur Fledermaus sind wir Menschen Tagtiere. Die Lichtstrahlen, die tagsüber in unsere Augen fallen, stammen in erster Linie von der Sonne. Die Sonne wirft ihre Strahlen auf die Objekte in unserer Umgebung und von dort werden sie in das Auge reflektiert. Es ist daher sinnvoll, wenn unsere Augen für den Wellenlängenbereich empfindlich sind, in dem die Sonne Strahlung emittiert. Messungen der Sonnenstrahlung an sonnigen und bewölkten Tagen haben ergeben, dass diese im kurzwelligen Spektralbereich, dem Ultravioletten bei ca. 300 nm beginnt. Allerdings wird die Ultraviolettstrahlung von der Erdatmosphäre massiv abgeschwächt. Wie bereits erwähnt, ist der Energiegehalt der kurzwelligen Strahlung sehr hoch und würde im Auge (und nicht nur dort) zu Schädigungen führen. Es bleibt also zu hoffen, dass die atmosphärische Schutzschicht noch lange Zeit erhalten bleibt! In dem Bereich über 700 nm weist die elektromagnetische Strahlung immer weniger Energie auf, so dass die Absorption von Lichtteilchen (Photonen) im Langwellenlängenbereich physikalisch zunehmend unmöglich wird. In Bodennähe hat die Sonnenstrahlung ihr Energiemaximum in einem mittleren Wellenlängenbereich bei ca. 500 nm und fällt zum kurz- und langwelligen Bereich langsam aber stetig ab. Daher ist es für die Nutzung der Sonnenenergie als Informationsquelle optimal, die Empfindlichkeit auf den Bereich zwischen 400 und 700 nm zu konzentrieren. Genau dies ist der Arbeitsbereich des menschlichen Sehsystems, und auch der von fast allen tagaktiven, an Land lebenden Wirbeltieren. Ganz generell lässt sich sagen, dass Sinnessysteme daraufhin optimiert sind, die in der Umwelt verfügbare und relevante Information aufzunehmen.

Abb. 1: Das sichtbare Spektrum. Aus dem gesamten Bereich elektromagnetischer Strahlung ist lediglich ein kleiner Bereich wahrnehmbar.

Was wäre aber, wenn wir uns über eventuelle physikalische Grenzen hinwegsetzen könnten und ungleich mehr an Informationen unserer Umwelt wahrnehmen würden? Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Informationserweiterung sehr schnell im Chaos enden würde. Die Anzahl der Sinneszellen, die wir Menschen besitzen, ist bereits ohne solche zusätzliche »Antennen« riesengroß. In jedem Auge befinden sich weit über 100 Millionen Photorezeptoren. Jedes Ohr besitzt ca. 15000 Hörzellen. Unsere Hautoberfläche (1–2 m²) enthält an den empfindlichsten Stellen mehrere Hundert Rezeptoren pro cm² für Berührung, Temperatur und Schmerz. Und schließlich liefern mehrere Millionen Rezeptoren in den chemischen Sinnen der Zunge und der Nase Information über Geschmack und Geruch. Jeder dieser Rezeptoren liefert Information im Bereich von 0 bis 1000 Impulsen pro Sekunde. Das sind, informationstheoretisch ausgedrückt, 10 Bits pro Sekunde. Geht man von 100 Millionen Rezeptoren aus, dann ergibt dies eine Datenmenge von einem Gigabyte pro Sekunde! Den Rezeptoren, die uns Information über einen kleinen Ausschnitt unserer Umwelt liefern, stehen 1010 Neuronen im Gehirn gegenüber, die die Signale der Sinneszellen nicht nur aufnehmen, sondern auch verarbeiten sollen, um schließlich eine adäquate Reaktion zu bestimmen und deren Ausführung zu kontrollieren. Zur Bewältigung der Datenflut muss das Gehirn die Datenmenge zunächst einmal mit einer ganzen Reihe von »Tricks« reduzieren. Diese Reduktion hat für unsere Wahrnehmung einige sehr interessante Folgen.

Wie ›wahr‹ ist die Wahrnehmung?

Wegen dieser immensen Reduktion der Datenmenge können wir immer nur einen Bruchteil der uns umgebenden physikalisch messbaren Reize wahrnehmen. Es ist allerdings nicht so, dass unser Wahrnehmungsapparat uns einfach physikalische Messwerte ins Gehirn übermittelt. Vielmehr weicht unsere Wahrnehmung manchmal etwas mehr und manchmal etwas weniger von jenen Gegebenheiten ab, wie sie uns Messungen – etwa mit einem Thermometer für die Temperatur oder mit einer Kamera für das Licht – als objektive Gegebenheiten vor Augen führen. Hin und wieder kommt es auch zu ganz dramatischen Abweichungen. Diese Wahrnehmungstäuschungen wurden in der Vergangenheit oftmals als Beleg für das Scheitern unseres Wahrnehmungssystems aufgefasst, unsere Umwelt getreu abzubilden. Inzwischen weiß man aber, dass unsere Sinnessysteme sehr intelligent arbeiten, d.h. die wahrscheinlichste und sinnvollste Konstruktion aus den ihnen zur Verfügung stehenden Daten anstreben. Fehler kommen durch die Reduktion der immensen Datenmenge zustande oder sind durch die Struktur unserer Sinnessysteme bedingt. So wird in unserem Auge die drei-dimensionale Welt auf der zwei-dimensionalen Oberfläche der Netzhaut abgebildet. In vielen Fällen ist es daher rein mathematisch unmöglich, die »wahre« räumliche Welt zu errechnen, die dieser zwei-dimensionalen Abbildung zu Grunde liegt. Unser Sehsystem muss zwischen unendlich vielen, möglichen Interpretationen auswählen. Neuere Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass das visuelle System dabei auf sehr geschickte Weise diejenige Interpretation auswählt, die am wahrscheinlichsten ist. Wenn nun sehr unwahrscheinliche Rahmenbedingungen gewählt werden, wie z.B. das Ames-Zimmer mit schiefen Wänden (Abb. 2), dann kann es zu Sinnestäuschungen kommen.

Illusionen solcher Art sind zahlreich. Künstler wie M. C. Escher benutzten sie gerne. In manchen Fällen können sogar alle möglichen Hinweisreize über die tatsächliche Tiefe vorhanden sein. Falls das Netzhautbild ausreichend unwahrscheinlich ist, wird die »falsche« Interpretation bevorzugt. Ein solcher Fall tritt beim Betrachten von Hohlmasken von Gesichtern auf. Falls diese Masken von hinten betrachtet werden – in diesem Fall zeigt die Nase vom Betrachter weg –, scheint das Gesicht der Maske trotzdem mit der Nase nach vorne zu treten, vermutlich, weil Gesichter nun mal die Nase vorne haben und wir Gesichter nicht von innen sehen!

Die Liste der Sinnestäuschungen ist schier unendlich lang, und sie können auf allen Verarbeitungsstufen entstehen. Fast alle diese Täuschungen haben aber gemeinsam, dass sie aufzeigen können, welche Algorithmen das Sehsystem benutzt, um Rückschlüsse über die Reizsituation zu gewinnen, die zu dem zwei-dimensionalen Bild auf der Netzhaut geführt haben. Das Gehirn hat die Aufgabe, mit Hilfe einer Fülle von intelligenten Prozessen diese Mehrdeutigkeiten sinnvoll aufzulösen.

Es sollte auf Grund der obigen Ausführungen klar geworden sein, dass unsere Wahrnehmung nicht eindimensional wie ein physikalisches Messgerät – z.B. ein Thermometer oder ein Beleuchtungsmesser – arbeitet. Auch der Vergleich mit einer Kamera trifft nicht zu, da sowohl die Eingangsdaten drastisch reduziert werden als auch andere Daten hinzugefügt werden. Am Anfang der Reizverarbeitung finden in den Sinnesorganen verschiedene Prozesse statt, die durchaus Ähnlichkeit mit physikalischen Messvorgängen haben und daher objektiv vergleichbar sind. Unsere Sinnesorgane reagieren auf physikalische Reize auf ihre durch Struktur und Vernetzung spezifische festgelegte Weise. Nach der Reaktion der Rezeptoren besteht die weitere Verarbeitung zunächst in der Umwandlung der physikalischen Reize in die vom Gehirn verstandene »Sprache«, nämlich elektrische Impulse. Diese Impulse werden vom Sinnesorgan über Nervenbahnen in das Gehirn geschickt, wo es für jede Modalität einen speziellen Bereich gibt, der die Nervenimpulse des jeweiligen Sinnesorgans empfängt und auswertet. So meldet die Netzhaut immer »Licht«, egal ob die Erregung durch Photonen oder Druck z.B. durch einen Schlag auf das Auge – die so genannten Sternchen – verursacht wurden. Höhere Gehirnareale integrieren dann die Information aus den verschiedenen Modalitäten zu einem kohärenten Ganzen – unserer Sicht der Welt.

Das Gehirn

Das Gehirn ist Teil des Nervensystems. Wie alle anderen Organe des Körpers besteht es aus Zellen. Viele dieser Zellen haben jedoch die Fähigkeit, elektrische Signale aufzubauen und weiterzuleiten. Zellen dieser Art werden Nervenzellen oder einfach nur Neurone genannt. Das Nervensystem unterteilt sich in ein zentrales Nervensystem und ein peripheres Nervensystem. Das Gehirn und das Rückenmark stellen das zentrale Nervensystem dar. Vom Rückenmark aus ziehen Verbindungen zu den meisten Muskeln. Diese Nervenfasern werden als efferent bezeichnet. Die Verbindungen von den meisten Sinnesorganen ziehen ebenfalls über das Rückenmark zum Gehirn und werden afferent genannt. Nur einige wenige Verbindungen, in erster Linie zu den Gesichtsmuskeln und von den dortigen Sinnesorganen, wie dem Auge oder dem Ohr, gehen direkt vom Gehirn aus. Diese Verbindungen werden Gesichtsnerven genannt. Neben all diesen Verbindungen, die als somatisches Nervensystem bezeichnet werden, gibt es noch zahlreiche Verbindungen zu und von den inneren Organen, wie z.B. dem Herz oder der Lunge, die als autonomes Nervensystem bezeichnet werden. Der Begriff »autonom« ist dabei eigentlich irreführend, weil auch dieses System unter Kontrolle des Gehirns steht und keineswegs vollkommen unabhängig arbeitet.

Abb. 2: Der schiefe Raum von Ames: Die beiden Frauen im Bild oben sind in Wirklichkeit gleich groß, aber der Abstand vom Beobachter und die Höhe der Decke sind unterschiedlich.

Es ist instruktiv, sich kurz vor Augen zu halten, welche Vorgänge sich in unserem Nervensystem abspielen, wenn sich etwa eine Fliege auf den Unterarm setzt. Wenn die Fliege die Haare auf der Haut streift, werden Sinnesrezeptoren in unserer Haut aktiviert und geben elektrische Impulse ab. Diese werden ins Rückenmark geschickt und gelangen von dort in das Gehirn. Das Gehirn muss diese Nervenimpulse nun verarbeiten und hält sich dabei in der Regel an die Anbahnung von Reaktionen für den wahrscheinlichsten Sachverhalt: Eine leichte, lokale Erregung der Hautrezeptoren ist oft auf kleinere Tiere wie Fliegen, Mücken oder Spinnen zurückzuführen. Je nach früheren Erfahrungen wird dies bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Reaktionen auslösen. Menschen mit panischer Angst vor Spinnen oder Personen mit Allergien gegen Bienenstiche werden sehr schnell reagieren, um die drohende Gefahr sofort zu beseitigen. Das motorische System kann dazu fertige, reflexhafte Programme benutzen, z.B. den Arm kurz schütteln. Andere Personen werden vielleicht erst ihren Unterarm in Augenschein nehmen. Dazu müssen aber auch erst wieder Signale an die Augenmuskeln geschickt werden. Die visuellen Erregungsmuster gelangen dann vom Auge in andere Bereiche des Gehirns. Die sensorischen Informationen von Haut und Auge werden schließlich wiederum in anderen Gehirnregionen integriert. In den meisten Fällen erfolgt darauf ein Motorkommando, durch welches gezielt mit der anderen Hand nach der Fliege geschlagen wird. Erstaunlich an diesem Vorgang ist zweierlei: Erstens spielt sich die ganze Reaktion innerhalb von einem Bruchteil einer Sekunde ab. Die rasante Geschwindigkeit ist nur durch die extrem schnelle Weiterleitung der Information im Nervensystem möglich. Zweitens kommen wir auf Grund der eingegangenen Information nicht nur zu dem Schluss, dass es sich tatsächlich um eine Fliege handelt, welche am Arm störend kitzelt, wir haben auch noch Handlungsstrategien in weniger als einem Zehntel einer Sekunde parat. Vielleicht werden Sie sich jetzt aber auch noch fragen, warum wir trotz dieser schnellen Informationsverarbeitung die Fliege nur in den seltensten Fällen erwischen können. Dies liegt vor allem daran, dass das visuelle System der Fliege wesentlich schnellere zeitliche Veränderungen registrieren kann als unser visuelles Wahrnehmungssystem. Die Fliege sieht unsere Hand praktisch in Zeitlupe »heranschnellen«.

Anatomischer Aufbau des Gehirns

Das Gehirn besteht aus dem Hirnstamm und der stark gefalteten walnussartigen Hirnrinde. Der Hirnstamm schließt sich an das Rückenmark an, während die Hirnrinde, die (abgeleitet aus dem Lateinischen) als Kortex bezeichnet wird, den Hirnstamm umschließt. Die Abbildung auf der hinteren Umschlagklappe zeigt einen Längsschnitt durch ein menschliches Gehirn zusammen mit einer Einteilung in die verschiedenen Bereiche. Direkt an das Rückenmark schließt sich die Medulla oblongata, das verlängerte Mark, an. Dort befinden sich hauptsächlich Faserzüge, die vom Gehirn in das Rückenmark ziehen, sowie einige Kerne (Ansammlungen von Zellkörpern), die zur Retikulärformation gehören. Letztere steuern den Wechsel von Schlaf und Wachzustand, regeln die Körpertemperatur und kontrollieren die Motorik. Herzfrequenz und Atmung werden auch von der Medulla kontrolliert. Über der Medulla liegt die Brücke (Pons), die weitere Kerne der Retikulärformation enthält. Das feinstrukturierte Kleinhirn (Cerebellum) ist eine Art Anhängsel der Brücke und ist für die Motorik, vor allem für das Erlernen neuer Bewegungen, zuständig. Über der Brücke befindet sich das Mittelhirn, das aus Tektum und Tegmentum besteht. Das Tektum (Dach) ist eine Schaltstelle für die Sinnessysteme. Die darin befindlichen oberen zwei Hügel (Colliculi superiores) erhalten visuelle Eingangssignale, die unteren zwei Hügel (Colliculi inferiores) erhalten auditorische Eingangssignale. Zentren für die motorische Kontrolle befinden sich auch im Mittelhirn. Die schwarze Substanz (Substantia nigra) enthält Zellen, die den Botenstoff Dopamin freisetzen. Die Schüttellähmung (Parkinson’sche Krankheit) ist auf Störungen in diesem Bereich zurückzuführen. Der rote Kern (Nucleus ruber) ist wichtig für die Kommunikation mit motorischen Neuronen im Rückenmark. Das Tegmentum spielt auch bei der Schmerzwahrnehmung eine große Rolle. Die Aktivierung einer bestimmten Region im Tegmentum, das periaquäduktale Grau, kann zur nahezu vollständigen Unterdrückung von Schmerzen führen.

Über dem Mittelhirn sitzt das Zwischenhirn (Dienzephalon), das aus dem Thalamus und dem Hypothalamus besteht. Die beiden Strukturen haben gänzlich unterschiedliche Funktionen. Der Thalamus ist die wichtigste Zwischenstation fast aller Sinnesinformationen (eine Ausnahme bildet nur das Riechen) auf dem Weg in den Kortex. Der Hypothalamus liegt direkt unter dem Thalamus. Er stellt die Schnittstelle zwischen dem Nervensystem und dem Hormonsystem dar. Viele grundlegende Funktionen wie der Energie- und der Flüssigkeitshaushalt oder auch die sexuelle Reproduktion werden über die Ausschüttung von Hormonen gesteuert. Die kleine Hirnanhangdrüse (Hypophyse) ist die zentrale Regelstation für die Ausschüttung von Hormonen, die andere Drüsen steuern, welche Hormone abgeben, die schließlich körperliche Änderungen an den Zielorganen hervorrufen. Das Hormonsystem selbst wird in letzter Instanz aber vom zentralen Nervensystem gesteuert. Im Hypothalamus liegen Nervenzellen, die die Ausschüttung von Hormonen in der Hypophyse kontrollieren.

Während sich die Strukturen des Hirnstamms beim Menschen nicht wesentlich von den Tieren unterscheiden, ist der Kortex der Teil des Gehirns, der sich beim Menschen am stärksten relativ zu den anderen Gehirnteilen entwickelt hat. Selbst ein Vergleich zwischen den Primatengehirnen von Schimpansen und Menschen zeigt, dass sich das menschliche Gehirn entsprechend neu sich entwickelnder Fähigkeiten, wie etwa dem Sprachvermögen, verändert hat. Alle unsere bewussten Erfahrungen und geplanten Handlungen werden letztendlich vom Kortex gesteuert. Der größte Teil des Kortex, der Neokortex, besteht aus sechs Schichten von Neuronen. Interessanterweise haben die Neuronen der einzelnen Schichten ähnliche Verschaltungen. Neurone der mittleren Schicht erhalten Eingangssignale aus subkortikalen Strukturen wie z.B. dem Thalamus. Neurone der unteren Schichten senden Signale zurück an subkortikale Regionen. Neurone der oberen Schichten leiten die Information weiter an andere Kortexgebiete.

Die gefaltete Struktur des Neokortex ist auf den ersten Blick durch besonders tiefe Falten, den Furchen, in verschiedene Bereiche untergliedert. In Abbildung 3 ist die Aufteilung der Großhirnrinde in die vier Hirnlappen: dem Hinterhauptslappen (Okzipitalkortex), Scheitellappen (Parietalkortex), Schläfenlappen (Temporalkortex) und Vorderlappen (Frontalkortex) gezeigt. Zugleich sind dort die wichtigsten Regionen eingezeichnet, deren Funktionen bereits bekannt sind. Der Okzipitalkortex enthält die primäre Sehrinde, auch als V1 bezeichnet, in der nahezu alle vom Auge kommenden Signale eintreffen. Da sich die primäre Sehrinde von Primaten durch den nach seinem Entdecker Francesco Gennari (1750–1797) benannten breiten weißen Streifen unterscheidet, wird sie auch Area striata genannt. Die sich an die primäre Sehrinde anschließenden Kortexbereiche des Okzipitallappens dienen vornehmlich der weiteren visuellen Informationsverarbeitung und werden als extrastriäre Areale bezeichnet. Im Parietallappen befindet sich das primäre somatosensorische Areal, Si genannt. Im Parietal-Kortex werden auch Informationen über die Stellung des Körpers im Raum von verschiedenen Sinnessystemen miteinander integriert. Im Temporallappen befindet sich das primäre auditorische Areal, A1, in dem die vom Ohr kommende Information verarbeitet wird. Im Temporalkortex liegen aber auch verschiedene Areale, die für die Objekterkennung wichtig sind. Dies gilt sowohl für das Erkennen visueller Reize als auch für auditive Reize. Der Frontallappen umfasst den größten Teil des Kortex. Dort werden alle Informationen integriert und mit den schon vorhandenen Handlungsplänen und Zielen abgeglichen. Im Frontallappen werden auch alle willentlichen Handlungen geplant. Über den primären motorischen Kortex des Frontallappens gelangen die Informationen wieder in niedrigere Hirnregionen und ins Rückenmark, von wo aus die entsprechenden Muskelgruppen aktiviert werden.

Abbildung 3