Geister der Dunkelheit - Hildegard E. Merkes - E-Book

Geister der Dunkelheit E-Book

Hildegard E. Merkes

4,6

Beschreibung

In dieser Geschichte gibt es keine Drachen (und auch keine Spinnen, nebenbei bemerkt). Wer also der Ansicht ist, dass dies unbedingt zu einer Fantasy-Geschichte dazugehört, der sollte hier aufhören zu lesen … Sie sind noch da? Wunderbar! Dann kommen Sie mit in das ›Goldene Tal‹. Ein schöner Name für diesen finsteren Ort, an dem Dheyrion so unvermittelt gestrandet ist. Doch was ist hier geschehen, dass die Bewohner vor Angst kaum noch zu atmen wagen? – Mit einer gehörigen Portion Optimismus und Wagemut im Gepäck und begleitet von einem liebenswerten, aber etwas schusseligen Bewohner des Ortes, der es wundersamerweise geschafft hat, sich dem Einfluss der Finsternis zu entziehen, macht sich Dheyrion auf die Suche nach einer Möglichkeit, diesen armen, geknechteten Wesen zu helfen – nicht wissend, dass diese Reise über nicht weniger als das Schicksal ihrer ganzen Welt bestimmen wird …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 475

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
11
7
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



... Der Macht der Phantasie

sind keine Grenzen gegeben.

Sie its die Magie,

der Zauber im Leben ...

Auszug aus der Prophezeiung der Magier

Prolog

Die drei zogen über das Land, bis sie endlich einen Landstrich gefunden hatten, in dem sie sich niederlassen wollten - weit genug entfernt von dem Ort, an dem sie auf diese Welt gekommen waren.

Sie waren boshaft.

Sie waren grausam.

Sie brachten die Finsternis und den Schrecken mit sich.

Obwohl sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten, blieben sie zunächst zusammen, um ihre Macht nicht zu schwächen.

Sie eroberten das von ihnen auserwählte Gebiet und teilten es unter sich auf. Nun hatte jeder von ihnen die Herrschaft über ein eigenes kleines Reich.

Doch das genügte ihnen nicht.

Sie wollten mehr ... viel mehr ...

Inhaltsverzeichnis

Aufbruch

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Gefangen

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Auf der Suche

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Im Reich der Magier

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel VI

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Erkenntnisse

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Erwartungen

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Neue Hoffnung

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Geheimnisse

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Entscheidungen

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Tapfere Streiter

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kampf um die Freiheit

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Abschied und Neubeginn

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Epilog

Wie es weiterging

Quellenangaben Zitate und Sprichwörter

Aufbruch

Wohin du auch gehst,

gen mit deinem ganzen Herzen

Konfuzius 551 – 479 v. Chr.

I

Es war ein schöner Sommertag. Die Sonne strahlte vom Himmel, Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und Bienen summten leise vor sich hin, während sie geschäftig ihrer Arbeit nachgingen.

Aus einem kleinen Wäldchen kommend, bog Dheyrion gerade um die letzte Kurve, als sich ihm unverhofft ein atemberaubender Blick in das nächste Tal bot: Auf einer weiten grünen Wiese gaben sich Dutzende Schmetterlinge in allen Farben des Regenbogens scheinbar gerade ein Stelldichein.

Dheyrion ging in das Tal hinein, setzte sich auf einen Felsen und bewunderte eine Weile die bunte Farbenpracht. Die Schmetterlinge ließen sich durch seine Anwesenheit nicht stören, sondern umflatterten ihn mit ihren zarten Flügeln, als sei er Teil ihres Spiels.

Von seiner Gestalt her könnte man Dheyrion wegen seines hellen Fells am ehesten mit einem kleinen, aufrecht gehenden Eisbären vergleichen.

Durch den schönen Tag angespornt, hatte er sich heute Morgen aufgemacht, um wieder einmal eine Reise zu machen, wobei reisen für ihn bedeutete, einfach seinen Rucksack auf den Rücken zu schnallen, den Wanderstock zu nehmen und draufloszuwandern.

Nach einigem Hin und Her hatte er sich letztlich dazu entschlossen, in Richtung Süden zu gehen, eine Gegend, die er sich bisher noch gar nicht angeschaut hatte.

Er wanderte einige Tage dahin, sah tosende Wasserfälle, weite Ebenen voller Sommerblumen und dichte grüne Wälder. Die Nächte waren warm und wie dafür gemacht, draußen unter dem Sternenzelt zu lagern.

Am vierten Tag zur Mittagszeit gelangte er an eine riesengroße Eiche. Zumindest erschien sie ihm riesengroß, was aber auch damit zusammenhängen konnte, dass er im Verhältnis zu anderen Lebewesen dieser Welt recht klein war.

Der Tag war heiß, und der Weg hatte in den letzten Stunden nur noch bergauf geführt. Da erschien Dheyrion der Schatten des Baumes doch zu einladend, als dass er einfach hätte daran vorbeigehen können. Er lehnte sich an den mächtigen Stamm und beobachtete fasziniert das Spiel von Licht und Schatten in der Baumkrone, während ihn das Gesumme und Gebrumme um ihn herum angenehm einlullte.

Er blinzelte schläfrig.

Da hörte er plötzlich eine

Stimme. »Sei gegrüßt, Reisender«, sagte sie.

Dheyrion riss überrascht die Augen wieder auf und sah sich um.

Niemand zu sehen.

»Hier bin ich«, ertönte die Stimme erneut, ganz nahe an seinem linken Ohr.

Dheyrion fuhr herum und hatte plötzlich ein großes Auge vor sich. Er sprang auf die Füße und entfernte sich rückwärts einige Meter.

Aus dem Stamm der Eiche schauten ihn zwei grüne Augen an, und ein breiter Mund lächelte freundlich dazu.

Dheyrion sah nach rechts, dann nach links und schließlich nach hinten, denn er war überzeugt davon, dass ihm da jemand einen Streich spielen wollte.

»Niemand hier außer uns«, informierte ihn die Eiche.

»Aber ...« Dheyrion wusste nicht, was er davon halten sollte.

»Darf ich dir nun sagen, was mir aufgetragen wurde?«, fragte die Eiche.

»Äh ...ja ... natürlich ...«, stotterte Dheyrion.

»Also«, begann die Eiche, ohne seine Verwirrung zu bemerken. »Ich bin ein Grenzbaum, und meine Aufgabe besteht darin, jedem Vorbeiziehenden eindringlich zu vermitteln, den Landstrich hinter dem nächsten Hügel unter keinen Umständen zu betreten.

Durch meine Anwesenheit hier sollen Reisende vor dem Schicksal bewahrt werden, das alle jenseits dieser Grenze getroffen hat.«

»Schicksal?«, fragte Dheyrion. »Welches Schicksal?«

»Geduld!«, ermahnte ihn die Eiche. »Es geht ja noch weiter.«

Sie sah ihn tadelnd an, bevor sie fortfuhr: »Hinter dem Hügel gelangt man nämlich in die Welt der Geister.«

Da Dheyrion schon wieder den Mund öffnete, um etwas zu fragen, sprach sie schnell weiter und ratterte die folgenden Worte im Eiltempo herunter: »Sie tyrannisieren und versklaven die armen Seelen dort, und bisher konnte noch kein Mittel gefunden werden, ihren Machteinfluss zu beenden.«

»Was?« Dheyrion hatte nur die Hälfte mitgekriegt.

Die Eiche seufzte. Manchmal hatte sie es wirklich nicht leicht.

Dann holte sie tief Luft und wiederholte die Worte noch einmal ganz besonders langsam.

»Jetzt verstanden?«, fragte sie anschließend. Sie hatte schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.

»Das ist ja furchtbar!« Dheyrion war entsetzt.

»Ja«, antwortete die Eiche unbeeindruckt, denn sie war noch immer nicht ganz fertig mit ihrer Ansprache. »Wer erst einmal unter dem Bann der Geister steht, ist verloren! Also halte ein und geh nicht weiter! Kehr um!«

Sie sah ihn beschwörend an.

»Aber ...«, setzte Dheyrion ein weiteres Mal an, doch bevor er dazu kam, der Eiche die nächste Frage zu stellen, verstärkte sich das Rauschen ihrer Blätter auf einmal, als unvermittelt ein Sturm aufkam und ihre Krone erfasste.

Wütend zerrte der Wind an den Ästen, und abgerissenes Laub rieselte wie Schnee auf Dheyrion herunter, der mit heftig klopfendem Herzen gebannt in den sich jäh verdunkelnden Himmel starrte.

Wolkenberge türmten sich über der Eiche auf, und ohne Vorwarnung hallte ein krachender Donnerschlag über das Land.

Dheyrion verspürte plötzlich das merkwürdige Gefühl, als versuche irgendetwas, ihn von dort wegzuzerren.

Schwindel erfasste ihn und ließ die Welt zu einem wirbelnden Bild grauer und schwarzer Flecken verblassen ...

II

Dheyrion fuhr erschrocken hoch und sah sich verwirrt um.

Er lag unter der Eiche im Gras. Und doch musste eine gewisse Zeit vergangen sein, denn der Schatten des Baumes war inzwischen weitergewandert, und die Sonne brannte ihm erneut auf sein Gesicht. Der Himmel war strahlend blau und nur mit ein paar weißen Wölkchen bedeckt.

Irritiert blinzelte Dheyrion in das helle Licht, richtete sich etwas weiter auf und musterte lange und argwöhnisch den Stamm der Eiche. Doch selbst bei näherer Betrachtung konnte er nichts Besonderes daran entdecken. Vor allem weder Augen noch einen Mund!

Als Dheyrion nach einer Weile bewusst wurde, was er da tat, musste er über sich selbst lachen. Hatte er wirklich geglaubt, eine Eiche habe zu ihm gesprochen? Das war doch lächerlich! Wahrscheinlich war er einfach nur eingeschlafen und hatte einen schlechten Traum gehabt.

Ja, so musste es gewesen sein.

Kopfschüttelnd stand er auf, klopfte sich den Schmutz aus dem Fell und machte sich wieder auf den Weg. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es irgendwann am späten Nachmittag. Da blieb ihm noch genug Zeit, um ein paar Stunden weiterzuwandern, bevor die Nacht hereinbrechen würde.

Während er an der Eiche vorbeiging, konnte er aber dennoch nicht verhindern, dass sein Blick erneut aufmerksam über deren Stamm schweifte. So achtete er für eine Weile nicht auf den Weg und - schwups - lag er auch schon auf der Nase. Also, irgendwie schien heute wirklich nicht sein Tag zu sein!

Zu allem Überfluss war ihm bei seinem Sturz auch noch der Rucksack über den Kopf gerutscht, und so rappelte er sich etwas umständlich wieder hoch und klopfte sich ein weiteres Mal den Schmutz ab.

Aber als er sich auf dem Weg umschaute, um festzustellen, worüber er denn da gestolpert war, konnte er nicht die winzigste Unebenheit erkennen.

›Jetzt stolpere ich sogar schon über meine eigenen Füße‹, dachte er, trotz allem noch guter Laune. ›Vielleicht sollte ich es für heute doch gut sein lassen und mir bald einen Platz für ein Nachtlager suchen.‹

Auf die Idee, wegen seines ›Traumes‹ tatsächlich umzukehren, kam er hingegen nicht.

Die Eiche sah Dheyrion noch eine Weile hinterher.

Sie hatte alles getan, um ihn aufzuhalten. Hatte sogar eine ihrer Wurzeln kurz aus der Erde gehoben und ihn damit zu Fall gebracht. Doch nachdem auch das nicht den gewünschten Erfolg brachte, gab die Eiche ihre Bemühungen auf.

Wenn der Kleine trotz allem, was er nun wusste, unbedingt in die falsche Richtung gehen wollte, konnte sie es schließlich auch nicht ändern, oder?

Überzeugt davon, ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt zu haben, widmete sie sich daher wieder ihren eigenen, sehr viel spannenderen Interessen, wie mit den Eichhörnchen zu spielen oder die Ameisen zu zählen, die kitzelnd über ihre Äste liefen. Aber noch besser war es, die unverschämten Borkenkäfer vergraulen zu können, indem sie sie einfach kurzerhand aus ihrer Rinde hinausschnippte und dann zusah, wie weit sie flogen. Da kräuselten sich ihr glatt die Blätter vor lauter Lachen.

War doch viel lustiger, als sich mit solch unbelehrbaren Wanderern herumärgern zu müssen!

III

Die Nacht brach ganz plötzlich über Dheyrion herein, fast so, als hätte jemand einen Vorhang vor der Sonne zugezogen. Es wurde dunkel, kalt und ungemütlich windig.

So war er froh, als am Ende einer langgezogenen Rechtskurve auf einmal weit entfernt einige kleine Lichter in der Finsternis vor ihm auftauchten.

Beim Näherkommen konnte er erkennen, dass es sich bei den Lichtern um Laternen handelte, welche in einem kleinen Ort standen. Er war eingeschlossen von gigantischen Bergriesen, und es gab nur einen schmalen Zugang, um hineinzugelangen.

Auf einem der Bergrücken bemerkte Dheyrion ein Schloss. Schwarz ragten die Türme in die Nacht, und Windböen zerrten an einer Fahne, die zerrissen an einer der Turmspitzen hing.

Dheyrion sehnte sich inzwischen nach einem warmen Zimmer mit einem kuscheligen Bett.

Als er den Zugang zu dem Ort erreicht hatte, entdeckte er am rechten Wegesrand ein Schild aus verwittertem Holz, das an einem Pfahl befestigt war. Im von Wolken bedeckten Mondlicht entzifferte er mühsam den Ortsnamen: Gol-de-nes Tal.

Na, das hörte sich doch ganz gut an!

Endlich hatte er die ersten Häuser erreicht und klopfte auch gleich an die erstbeste Tür. Er musste etliche Male anklopfen, bevor sie ihm zaghaft geöffnet wurde. Argwöhnisch betrachteten ihn ein paar kleine Äuglein, doch dann wurde die Tür ganz geöffnet und er durfte eintreten.

An einem Tisch in der Mitte eines größeren Wohnraumes saß eine Mäusefamilie und löffelte ihren Maisbrei. Mehr gab es nicht.

Dheyrion wurde eingeladen mitzuessen, und das ließ er sich nicht zweimal sagen, denn er hatte seinen Proviant aufgebraucht und noch keine Gelegenheit gefunden, seine Bestände wieder aufzufüllen. Und da er auch nicht besonders wählerisch war und eigentlich immer das aß, was es eben gerade so gab, löffelte er sechs, selbst für seine Verhältnisse recht kleine Teller Maisbrei in sich hinein und ließ sich dann zufrieden in seinen Stuhl zurücksinken.

Die Familie selbst hatte nicht sehr viel gegessen, und alle saßen während der Mahlzeit mit hängenden Köpfen und wortlos am Tisch.

Erst jetzt, nachdem sein Hunger gestillt war, fiel Dheyrion die bedrückende Atmosphäre auf, die in diesem Haus herrschte.

Er richtete sich in seinem Stuhl auf und fragte behutsam: »Geht es euch nicht gut?«

Der Mäusevater seufzte tief und sah ihn mit trostlosem Blick an. »Nein«, sagte er zögernd mit leiser Stimme. »Ihr seid hier an einem verfluchten Ort gestrandet, Fremder.«

In Dheyrion breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Er sah den Mäusevater fragend an. »Wollt Ihr mir das etwas näher erläutern?«

Und so erzählte dieser ihm zögernd die ganze unglückselige Geschichte des Ortes.

»Wir führten hier zwar etwas abgeschieden von der Welt, doch stets zufrieden und glücklich unser Leben, bis eines Tages die Dunkelheit über unseren wundervollen Ort hereinbrach in Gestalt von drei Geistern«, begann er.

»Der Luftgeist beherrscht die Lüfte und alles was sich darin bewegt. Der Wassergeist ist Herr des Meeres und seiner Bewohner. Der Weltgeist schließlich besitzt die Macht über alles, was sich auf festem Grund bewegt. Er hat sich in dem Schloss auf dem Berg niedergelassen. Vielleicht ist es Euch aufgefallen, als Ihr hergekommen seid?«

Er wartete eine Antwort jedoch nicht ab, sondern fuhr fort: »Seit dem Tage ihrer Ankunft haben wir die Sonne nicht mehr gesehen, und auch die beiden Monde verstecken sich meist hinter dichten Wolken. Die Nächte sind seither finster, und am Tage herrscht stets ein düsteres Zwielicht.«

Er machte eine Pause und starrte eine Weile auf die Tischplatte vor sich, bevor er mit einem weiteren tiefen Seufzer weitersprach: »Die Geister sind böse und hinterhältig und machen allen hier das Leben zur Hölle. Sie zwingen uns mit ihren magischen Kräften ihren Willen auf und zeigen uns in unserem Geist Bilder von Folter und Tod, sollten wir ihnen nicht gehorchen. Tag für Tag werden wir gezwungen, in den Steinbrüchen nach Gold und Edelsteinen für sie zu suchen, denn unsere Steinbrüche sind dafür bekannt, dass man dort mit ein wenig Glück derartiges finden kann. - Daher auch der Name unseres kleinen Ortes.

Früher war das nie ein Problem, denn das Streben nach solcherlei Dingen war in unserem Landstrich nicht sehr verbreitet, und jeder, der aus Spaß sein Glück versuchen wollte, war uns herzlich willkommen.

Aber die Gier dieser Geister ist unermesslich und lässt niemals nach. Kaum dass wir Zeit genug haben, uns um unsere Felder und Gärten zu kümmern. Dort wächst wegen des fehlenden Sonnenlichts sowieso schon nicht mehr viel, und wenn das so weitergeht, werden wir wohl irgendwann gar nichts mehr zu essen haben und verhungern ...«

Dheyrion sah ihn schuldbewusst an, hatte er sich doch noch kurz zuvor gedankenlos den Magen mit ihren knappen Vorräten vollgeschlagen.

Der Mäusevater erzählte jedoch bereits weiter: »Es bereitet den Geistern Freude, andere zu quälen und sie leiden zu sehen, denn daraus beziehen sie ihre Kraft.

Soweit ich gehört habe, ist ihre Macht aber räumlich begrenzt, wobei eines der Grenzmale auf dem Weg zu unserem Ort eine große Eiche sein soll. Es wird erzählt, dass sie Reisende davon abhält, in diese Richtung weiterzugehen. - Seid Ihr denn nicht an ihr vorbeigekommen?«

Dheyrion nickte, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Damit war nun endgültig klar, dass sein Erlebnis mit der Eiche kein Traum gewesen war.

Er sann eine Weile darüber nach, ob er sich mit diesem Wissen wirklich dafür entschieden hätte, einem anderen Weg zu folgen oder gar umzukehren, wie die Eiche es ihm geraten hatte.

Vermutlich nicht.

Während er in Gedanken versunken dasaß, sah ihn der Mäusevater nur still an. Doch schließlich sprach er leise und bedächtig weiter: »Es gibt kein Entkommen von hier. Am Anfang schien es noch so, als ob einige immun gegen die Bannkräfte der Geister wären. Sie versuchten zu fliehen und Hilfe für uns herbeizuholen, sind aber wohl gescheitert.

Wir vermuten, dass sie entweder außerhalb des Machtbereiches des Weltgeistes von einem der anderen Geister gefangen genommen wurden oder es dem Weltgeist vorher doch noch gelang, ihrer wieder habhaft zu werden.

Wahrscheinlich sind sie alle unter furchtbaren Qualen gestorben, da wir keinen von ihnen je wiedergesehen haben. Auch was aus der Königsfamilie und ihrem Gefolge geworden ist, haben wir nie erfahren ...

Letztlich kann also niemand etwas gegen die Geister ausrichten!«

Das Licht der Kerzen flackerte unheimlich über das Gesicht des Mäusevaters, der Dheyrion nun wie gebannt anstarrte. Seine Stimme hatte sich bei seinen letzten Worten verändert und beinahe höhnisch geklungen, und Dheyrion hätte schwören können, dass seine Augen einen kurzen Moment lang rot aufgeleuchtet hatten.

Doch dann wandte der Mäusevater den Blick wieder ab und schüttelte mehrfach betrübt den Kopf. Der grausige Eindruck verflüchtigte sich endgültig, als er Dheyrion einen Augenblick später mit Tränen in den Augen ansah.

›Es muss wohl an dem unruhigen Geflacker des Kerzenscheins und der schaurigen Geschichte gelegen haben‹, dachte Dheyrion, um sich selbst zu beruhigen. Aber wirklich überzeugt davon war er nicht.

»Und so werden wir wohl bis ans Ende unseres verdammten, erbärmlichen Lebens unterdrückt und ausgebeutet werden«, beendete der Mäusevater seine Erzählung und rieb sich über die Augen, weil er nicht wollte, dass seine Familie ihn weinen sah.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus, bis der Mäusevater sich räusperte und seiner Familie auftrug, ins Bett zu gehen.

»Schließlich haben wir auch morgen wieder einen harten Tag vor uns«, bemerkte er beim Aufstehen von seinem Stuhl schicksalsergeben und mit hängenden Schultern.

Dheyrion war von dem Elend dieser armen Wesen sehr betroffen, und auf dem Weg zu dem Zimmer, das ihm der Mäusevater für die Nacht zugewiesen hatte, beschloss er ihnen zu helfen, soweit es irgendwie in seiner Macht stand.

Aber zunächst ließ er sich todmüde in das viel zu kleine Bett fallen - was er allerdings nur noch flüchtig zur Kenntnis nahm, denn ihm fielen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührt hatte, die Augen zu.

IV

Am nächsten Morgen wachte Dheyrion ausgeruht und voller Tatendrang auf. Es war noch still im Haus, als er die Wohnstube betrat, weshalb er annahm, dass außer ihm noch niemand auf den Beinen war.

Um niemanden zu stören, nahm er seinen Stock in die Hand, ging leise hinaus, zog die Haustür hinter sich zu und machte sich auf zu einem Rundgang durch das Goldene Tal.

Das Licht war düster, so als ob der Tag noch gar nicht richtig angebrochen wäre, und nachdem er eine Weile im Ort hierhin und dorthin gewandert war, stellte er fest, dass nirgendwo irgendjemand zu sehen war. Im ganzen Ort herrschte eine Totenstille wie auf einem Friedhof!

Daher erschrak er auch erst einmal gehörig, als er plötzlich eine fröhliche, laute Stimme hinter sich hörte, die ihn rief.

Nach einigem Suchen bemerkte er einen Vogel, der ihm aus einer Gasse zwischen zwei Häusern entgegengestelzt kam; ein hübscher Farbfleck in diesem grauen Einerlei und ein wenig größer als Dheyrion, rief er über die Straße: »Hey ... hallo ... Weißfellchen ...!«

Der Kontrast zwischen der unbelebten Stille vorher und dem unverhofften Auftauchen dieses Energiebündels hätte nicht größer sein können, und so konnte Dheyrion ihn nur verblüfft anschauen und dachte bei sich: ›Weißfellchen?‹

Der Vogel kam näher heran und deutete eine Verbeugung an. »Darf ich mich vorstellen: Fheondri«, sagte er mit einem breiten Grinsen.

»Bist du neu hier?«, fragte er dann und legte neugierig den Kopf schief.

Obwohl Dheyrion sonst nicht um Worte verlegen war, hatte er sich wohl dieses Mal so erschreckt, dass es ihm vorübergehend die Sprache verschlagen hatte, daher blinzelte er nur einmal mit den Augen.

»Bist wohl nicht gerade einer von der sehr redseligen Sorte, was?«

Fheondri versuchte es erneut mit seinem gewinnendsten Lächeln, wartete aber auch jetzt vergeblich auf eine Reaktion seines Gegenübers.

Endlich öffnete Dheyrion den Mund, um zumindest ein »Äh« von sich zu geben, als Fheondri scheinbar endgültig die Geduld mit ihm verlor und mit einem enttäuschten »Na gut, dann eben nicht!« von dannen flatterte.

Dheyrion hatte nun doch seine Sprache wiedergefunden und rief ihm noch hinterher. »Bitte, warte doch!«

Aber Fheondri war schon nicht mehr zu sehen, und Dheyrion dachte betrübt: ›Schade, dass er so schnell wieder verschwunden ist.‹

Auf dem Weg zurück zum Haus der Mäusefamilie bemerkte er jedoch in dem diffusen Licht des Tages einen leichten Schatten auf dem Boden, der ihm beständig folgte. Er fand sein Lächeln wieder und hoffte, dass er nun doch noch die Gelegenheit bekommen würde, diesen drolligen Vogel mit dem langen, spitzen Schnabel und dem Federbusch auf dem Kopf kennenzulernen.

Schließlich war Dheyrion wieder am Haus angekommen und klopfte wie schon am Abend zuvor an die Haustür, doch niemand öffnete ihm. Nach einer Weile verließ er den Platz vor dem Haus und setzte sich auf eine Bank in der Nähe.

Da hörte er auf einmal über sich die nun schon vertraute Stimme Fheondris. Dieser hatte sich auf die hinter der Bank stehende Laterne gesetzt und betrachtete Dheyrion von oben.

»Na, hat dich niemand reingelassen?«, fragte er und fügte an: »Tja, die sind alle schon seit Tagesanbruch im Steinbruch.«

Da fiel Dheyrion wieder ein, was der Mäusevater ihm am Vortag erzählt hatte. Er sah zu Fheondri hoch und fragte: »Und warum bist du dann noch hier?« Wie selbstverständlich ging auch er sofort zum ›du‹ über.

Fheondri kam von der Laterne heruntergeflattert, und nachdem Dheyrion eine einladende Geste hin zu dem Platz neben sich machte, gesellte er sich zu ihm auf die Bank.

»Ich habe nicht den leisesten Hauch eines Schimmers einer Ahnung«, meinte er schelmisch. »Aber allem Anschein nach bin ich immun gegen die Bannkräfte der Geister.«

»Der Weltgeist schickt gelegentlich einige seiner riesigen Deppen mit den komischen Augen hierher, die von Haus zu Haus gehen und die Bewohner auf dem Gemeindeplatz zusammentreiben«, erzählte Fheondri weiter.

»Dann erneuert der Weltgeist vom Schloss aus seinen Bann, obwohl das inzwischen wohl gar nicht mehr nötig wäre. Denn die wehren sich sowieso nicht und kommen schon von sich aus immer schön gehorsam angetrottet und machen eh alles genau so, wie er es von ihnen erwartet«, fügte er leicht verärgert hinzu.

»Wenn ich dann zufällig auch im Dorf bin, versucht er natürlich auch mir wie allen anderen seinen Willen aufzuzwingen ... aber mein Verstand ist wohl etwas zu flatterhaft für ihn.« Fheondri grinste breit.

»Und so stehe ich ihm als Sklave nicht zur Verfügung«, erklärte er anschließend bestimmt, wobei sich sein Gefieder in alle Himmelsrichtungen sträubte.

Er sah Dheyrion an und meinte: »Als du mir vorhin nicht geantwortet und mich nur angestarrt hast, dachte ich schon, der Geist hätte dich ebenfalls bereits unter seiner Knute.«

»Nein«, antwortete Dheyrion, und seine Wangen röteten sich etwas vor Verlegenheit. »Ich war nur so überrascht, als du aufgetaucht bist.«

»Ja, ziemlich ausgestorben hier«, gab Fheondri ihm recht. »Mir wurde auch klar, dass das nicht sein konnte, als du nicht zum Steinbruch, sondern in die andere Richtung gegangen bist. Darum bin ich dir auch hinterhergeflogen.«

»Ist mir aufgefallen«, meinte Dheyrion lächelnd.

»Weißt du, die Kinder hier sind bis zu einem bestimmten Alter immun gegen die Bannkräfte«, fuhr Fheondri fort. »Aber sie gehorchen aus Angst um ihre Eltern, die ihnen von Folter und Tod erzählen.

Sobald die Kinder älter werden - schwuppdiwupp - hat der Geist sie dann meist schnell unter seiner Kontrolle. Komische Sache, das«, meinte er sinnend.

›Hm‹, dachte Dheyrion. ›Das ist ja interessant. Was haben Kinder, aber die meisten Erwachsenen nicht?‹

Fheondri war mittlerweile ganz traurig geworden. »Leider gibt es hier außer den Kindern inzwischen niemand anderen mehr, der ebenfalls immun wäre. Und so kann ich eigentlich mit niemandem mehr wirklich reden.«

Er ließ bedrückt den Kopf hängen. »Ich bin ganz alleine und ohne Freunde. Und deshalb kann ich auch gar nichts gegen die Geister unternehmen.«

Dheyrion sah ihn lange an.

»Nun, ab jetzt hast du einen Freund und bist nicht mehr alleine«, sagte er dann ernst. »Und ich werde dir auch helfen einen Weg zu finden, wie wir die Geister loswerden können.«

Er reichte Fheondri seine Hand. »Mein Name ist Dheyrion«, stellte er sich vor und fügte mit einem aufmunternden Lächeln hinzu: »Na, wie wär's, sollen wir uns dieses Schloss auf dem Berg einmal genauer anschauen?«

Fheondri nickte freudestrahlend und machte sich mit ihm auf den Weg den Berg hinauf, der sich jedoch als etwas beschwerlicher und daher zeitraubender herausstellte, als die beiden sich das vorgestellt hatten.

V

Der Hang war steil, und ein starker Wind blies ihnen hartnäckig ins Gesicht. Außerdem war der Weg scheinbar - abgesehen von den ›riesigen Deppen‹, von denen Fheondri erzählt hatte - wohl schon lange von niemandem mehr begangen worden und deshalb sehr uneben und steinig.

Dheyrion blieb einen Moment stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Auch Fheondri war außer Atem, denn er war gezwungen, den Weg mit Dheyrion zu Fuß zurückzulegen. Wie er diesem unterwegs berichtete, war es durch einen Bannkreis, den der Weltgeist über den Ort gelegt hatte, niemandem mehr möglich, dort längere Zeit zu fliegen. Ein bisschen herumflattern, ja, aber das war's dann auch schon. Der Weltgeist hatte damit verhindern wollen, dass ihm der Luftgeist seine Sklaven abspenstig machte, wenn diese höher hinaus in den Himmel flogen. Erst hinter den Bergen war man außerhalb des Bannkreises und fliegen wurde wieder möglich.

Nachdem die beiden um die Mittagszeit ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft hatten, legten sie eine kurze Pause ein. Sie setzten sich, lehnten sich an der vom Wind abgewandten Seite gemütlich an einen großen Stein und genossen die Aussicht, die sich ihnen von hier oben bot. Obwohl alles etwas trist und grau aussah, war das Panorama dennoch atemberaubend.

Nach einer Weile fragte Dheyrion Fheondri, ob er ihm nicht ein bisschen was von sich erzählen mochte. Fheondri wurde ein wenig verlegen, denn schon lange hatte ihm niemand mehr seine Aufmerksamkeit geschenkt.

»Weißt du, ich bin als kleiner Vogel aus dem Nest gefallen«, begann er dann aber doch.

»War wohl auch damals schon nicht so gut zu bändigen«, fügte er lachend hinzu, sodass auch Dheyrion lächeln musste.

»Als ich dann also verfroren und hungrig durch die Gegend stolperte, hat mich ein Dachs gefunden. Er nahm mich mit zu sich nach Hause und zog mich wie seinen Sohn auf. Er hieß Vhilomerus, aber alle nannten ihn nur den alten Vhil, obwohl er damals so alt noch gar nicht war.

Er wohnte in einer Höhle am Südhang, deren Eingang für Unkundige nicht zu finden war. Da wohne ich übrigens noch immer, weshalb ich wohl auch bisher der Aufmerksamkeit des Weltgeistes entgangen bin. Wenn seine Diener mich nicht finden können, kann er mich schließlich auch nicht foltern oder töten, nicht wahr?«, meinte er augenzwinkernd.

»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen seinen Dienern und den Sklaven?«, fragte Dheyrion.

Fheondri dachte einen Moment über die Frage nach.

»Nun, die Diener des Weltgeistes haben leuchtend rote Augen, und es scheint, als ob er durch sie hindurch reden würde. Sie sind nicht nur versklavt, sondern von ihrem eigenen Selbst scheint gar nichts mehr übrig zu sein; sie sind wie Marionetten und wohnen oben bei ihm im Schloss.«

Dheyrion sah ihn stirnrunzelnd an und dachte an den kurzen Augenblick am Abend zuvor, als er den Eindruck gehabt hatte, die Augen seines Gastgebers hätten rot geleuchtet und seine Stimme habe sich verändert.

»Kann es denn auch geschehen, dass der Geist sich ... wie soll ich es ausdrücken ... vorübergehend in das Gehirn eines der Sklaven ... nun ... einklinkt?«

Fheondri sah ihn überrascht an. »Keine Ahnung«, meinte er. »Hast du denn so etwas beobachten können?«

Dheyrion erzählte ihm von dem Mäusevater und fügte an: »Ich frage mich, warum der Geist das nicht ständig mit allen macht. So wäre es doch viel einfacher für ihn, alle unter Kontrolle zu behalten.«

»Vielleicht ist seine Macht ja gar nicht so groß«, meinte Fheondri. »Vielleicht muss ja auch er mit seinen Kräften haushalten, und weil wir so viele sind, hält er nur einige wenige völlig unter seiner Kontrolle. Dürfte bei den Riesen nicht so schwer sein, denn die waren immer schon ein bisschen blöde, wenn ich das mal ganz offen sagen darf.« Er grinste.

Dheyrion grinste zurück. »Mag sein, dass du recht hast«, meinte er dann. »Ist auf jeden Fall ein Aspekt, der uns bei einem Kampf gegen die Geister eventuell helfen könnte. Aber erzähl doch bitte, wie es mit Vhil und dir weiterging.«

»Vater war das, was man wohl einen Gelehrten nennen würde«, fuhr Fheondri also fort. »Er hatte Unmengen an Schriften und Büchern und lehrte mich das Lesen und Schreiben.

Außerdem konnte er ganz tolle Geschichten erzählen, und ich war immer ein begeisterter Zuhörer. In unserer Phantasie haben wir viele Welten bereist und Kämpfe gegen Unholde ausgetragen ...« Er machte eine Pause und sah wehmütig in die Ferne.

»Er fehlt mir sehr«, schloss er dann leise.

»Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Dheyrion. »Haben die Geister ihn sich geschnappt?«

Fheondri sah ihn traurig an. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete er. »Als die Geister kamen, wurde schnell klar, dass er zu denjenigen gehörte, die immun gegen ihre Kräfte waren. Er fing an, in seinen Schriften herumzukramen und suchte immer nach irgendetwas, redete aber kaum noch mit mir und hatte auch keine Zeit mehr für mich. Eines Tages erklärte er mir dann, er werde sich aufmachen und gegen die Geister kämpfen.

Ich wollte ihn unbedingt begleiten, aber er sagte, ich sei noch zu jung dafür. Ich solle hier auf ihn warten, und er versprach, ganz sicher wieder zu mir zurückzukommen ...

... und das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe.

Wenn ich nicht so große Angst gehabt hätte, hätte ich mich auf den Weg gemacht, um ihn zu suchen.« Fheondri sah Dheyrion wie der Inbegriff des schlechten Gewissens an.

»Mach dir keine Vorwürfe«, meinte Dheyrion tröstend. »Du warst schließlich noch jung und allein, wer hätte da keine Angst gehabt? - Ich glaube, ich hätte mich auch nicht getraut, mich alleine auf den Weg zu machen«, setzte er mit aller Überzeugungskraft hinzu, die er aufbringen konnte.

Fheondri lächelte wieder. »Echt nicht?«

»Nein, echt nicht«, versicherte er, obwohl das nicht so ganz den Tatsachen entsprach. Denn Dheyrion war nie jemand gewesen, der sich von seinen Ängsten hätte vorschreiben lassen, was er tun sollte. Aber die Hauptsache für ihn war, dass Fheondri sich besser fühlte. Denn letztlich war er überzeugt davon, dass auch Fheondri seinen eigenen Weg noch finden und dann auch den Mut haben und sich nicht scheuen würde, ihn zu gehen.

VI

Obwohl man in dem grauen Einerlei kaum ausmachen konnte, wie spät es war, schien der Tag doch bereits in den Nachmittag überzugehen. So wollten sie sich nicht länger aufhalten, denn an dem Hang war eine Übernachtung unmöglich, wenn man nicht Gefahr laufen wollte abzustürzen.

Sie mussten zusehen, dass sie den Weg bis zum Abend schafften, auch wenn ihnen nicht wohl bei dem Gedanken war, in der Nähe des Schlosses übernachten zu müssen.

Der Abend ging allerdings schon in die Nacht über, als sie den Gipfel des Berges endlich erreichten. Etwas erschöpft setzten sie sich auf einen der Steine.

Von hier oben konnte man erkennen, dass der Berg an der gegenüberliegenden Seite steil nach unten abfiel. Dahinter war hier und da ein Glitzern zu sehen, denn dort lag so weit das Auge reichte ein Meer.

Das Schloss ragte etwa hundert Meter entfernt von ihnen gespenstisch in den Himmel. Eine unheimliche Atmosphäre lastete darauf, und die Bedrohung, die davon auszugehen schien, war beinahe spürbar.

Ihr angeregtes Gespräch verstummte abrupt, und eine unbehagliche Stille breitete sich aus. Nur der Wind brauste weiterhin um sie herum und zauste ihnen Fell und Federn durcheinander.

Dheyrion bemerkte, wie sich auf seinem ganzen Körper eine Gänsehaut ausbreitete und sich sein Fell kerzengerade aufrichtete.

»Sag mal, wie sieht dieser Weltgeist eigentlich aus?«, fragte er schließlich leise, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.

»Keine Ahnung«, entgegnete Fheondri ebenso leise. »Ich kenne niemanden im Ort, der ihn je gesehen hätte. Und von denen, die ihn vielleicht doch gesehen haben, ist nie jemand zurückgekehrt, um uns davon zu berichten.«

»Hört sich irgendwie nicht sehr aufmunternd an.«

»Nein, wirklich nicht.«

Die Nacht lag nun dunkel auf ihnen. Kaum ein Lichtschein drang durch die dichte Wolkendecke, und auch im Schloss war nicht eine einzige Lampe zu sehen, die die Finsternis erhellt hätte.

Während Dheyrion weiterhin regungslos dasaß, flatterte Fheondri, der zu unruhig geworden war, um länger still sitzen zu bleiben, über seinem Kopf herum. Dheyrion tastete nach seinem Stock.

»Vielleicht sollten wir mal um das Schloss herumgehen, um uns einen Überblick zu verschaffen?«, meinte er nach einer Weile. »Wir können ja nicht die ganze Nacht einfach nur hier herumsitzen.«

»Ich sitze doch gar nicht.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Och, eigentlich ist es hier doch ganz nett.« Fheondri hatte auf einmal überhaupt keine Lust mehr, näher an das Schloss heranzugehen. Von der Abenteuerlust, die er heute morgen unten im Ort und auf dem Weg hierher noch verspürt hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Im Dunkel der Nacht waren all seine mutigen Pläne dahingeschmolzen wie Käse in einer heißen Pfanne.

»Na, komm schon, auf diese Weise finden wir sicher nichts über den Weltgeist heraus«, versuchte Dheyrion, ihn zu überreden. Er wollte lieber etwas unternehmen, anstatt nur dazusitzen und abzuwarten.

»Weißt du, Dheyrion, wenn ich so darüber nachdenke, reicht mir das, was ich über ihn weiß, dann doch eigentlich schon aus«, entgegnete Fheondri ausweichend.

Sprach's, setzte sich auf einen Stein neben dem von Dheyrion und begann außerordentlich konzentriert damit, sein durch den Wind zerzaustes Gefieder zu ordnen. Ein völlig unnützes Unterfangen, da der Wind in unverminderter Stärke weiterblies, und offensichtlich nur dazu gedacht, Dheyrion nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Und was ist mit den Bewohnern des Goldenen Tals?«, fragte ihn Dheyrion daraufhin herausfordernd und fügte nach einer kurzen Pause noch hinzu: »Und mit deinem Vater?«

Fheondri hörte auf, an seinem Gefieder herumzuzupfen und sah ihn nun doch an. Trotz des schlechten Lichts konnte Dheyrion erkennen, wie er minutenlang sichtlich mit sich rang, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Schließlich schien Fheondri zu einem Ergebnis gekommen zu sein, denn er straffte auf einmal die Schultern und sagte entschlossen: »Du hast recht.«

Dann erhob er sich von dem Stein, plusterte seine Federn auf und meinte resolut: »Also los, lass uns gehen, denn du weißt ja: Wer mutig sich dem Wagnis stellt, vom Schicksal wird belohnt im Feld.«

»Als Held, Fheondri, es heißt ›als Held‹«, murmelte Dheyrion und betrachtete ihn lächelnd mit einem Kopfschütteln. An diesem Vogel war doch mehr dran, als man auf den ersten Blick erkennen konnte.

»Was? Im Feld als Held?«, fragte Fheondri irritiert.

»Kein Feld«, berichtigte Dheyrion ihn geduldig. »Wer mutig sich dem Wagnis stellt, vom Schicksal wird belohnt als Held.«

»Macht irgendwie auch mehr Sinn, wenn ich es mir recht überlege«, erwiderte Fheondri und murmelte: »Hab mich auch immer schon gefragt, was das Ganze eigentlich mit Ackerbau zu tun hat...«

Er wandte sich in Richtung Schloss, ging zwei, drei Schritte und drehte sich dann zu Dheyrion um. »Wo bleibst du denn?«, warf er ihm aufgeräumt entgegen.

»Na, nun werd mal nicht gleich übermütig«, erwiderte Dheyrion noch immer lächelnd und ging ihm hinterher. Trotz seiner aufmunternden Reden war auch ihm nicht wirklich wohl in seiner Haut. Doch wie immer ließ er sich hierdurch nicht von seinem Vorhaben abbringen.

Fheondri wartete auf ihn und überließ ihm dann doch gerne die Führung.

Und so näherten sie sich langsam dem Schloss.

Innerhalb kürzester Zeit standen sie nahe an den Mauern, und nur wenige Meter trennten sie noch von dem finsteren Gebäude. Außer dem beständigen Raunen des Windes war kein Laut zu hören. Dheyrion überlegte gerade, in welcher Richtung sie das Schloss umrunden sollten und ob sie an irgendeiner Stelle den Klippen damit eventuell zu nahe kämen, als ...

»Da ist etwas!«, schrie Fheondri plötzlich hinter ihm aufgeregt.

Tatsächlich hatte sich dicht neben dem Schloss etwas bewegt. Es war ein Wesen, das aussah wie eine Gestalt aus rotem Nebel mit brennenden, boshaften roten Augen. Es war mehr als doppelt so groß wie die beiden und besaß wohl ein Dutzend tentakelähnliche Arme, mit denen es sich langsam und bedächtig fortbewegte. Dieses Wesen sah so zerbrechlich aus, dass man hätte glauben können, es würde jeden Augenblick vom Wind davongetragen.

›Das muss der Weltgeist sein‹, schoss es beiden durch den Kopf.

Eine Weile schien die Zeit beinahe stillzustehen.

Sie beäugten sich gegenseitig, während das Wesen sich weiterhin träge auf sie zubewegte, bis es sich auf ungefähr vier Meter angenähert hatte.

Da geschah es!

Ehe Dheyrion auch nur einen Gedanken fassen konnte, schnellte auf einmal einer der roten Fangarme auf ihn zu und wickelte sich blitzschnell um seinen Hals. Dheyrion ließ vor Schreck seinen Stock fallen und versuchte verzweifelt, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Das Wesen hob ihn daraufhin hoch in die Luft, wo er mit den Beinen strampelnd weiter an dem Tentakel zerrte, welcher ihm langsam aber sicher die Luft abschnürte.

Mit all seinen Kräften kämpfte Dheyrion darum freizukommen. Er trat nach dem Wesen, doch seine Füße fanden kein Ziel und flutschten einfach durch den Nebel hindurch. Es war, als ob dieses Wesen seine Form beliebig von fest in neblig und umgekehrt verändern könnte.

Dheyrion kämpfte weiter, obwohl unschwer zu erkennen war, dass seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sein würden. Im Gegenteil führte sein Gestrampel letztlich dazu, dass das Wesen nun auch seine restlichen Fangarme zur Hilfe nahm, um Dheyrion ganz und gar damit einzuhüllen. Diesem wurde schwarz vor Augen, und Fheondri, der während des Kampfes aufgeregt über ihnen hin und her geflattert war, sah nur noch, wie sich Dheyrion langsam auflöste und schließlich völlig verschwand.

Vor Entsetzen verließen Fheondri von einer Sekunde zur anderen seine Kräfte. Er plumpste auf den Boden hinunter, wo er schmerzhaft auf dem Rücken aufprallte. Doch er spürte nichts davon, denn sein Körper fühlte sich angesichts dieses Grauens an wie in Eiswasser getaucht - kalt und völlig taub.

Das Wesen hatte, nachdem Dheyrion verschwunden war, einen Moment innegehalten und wendete sich nun lauernd zu Fheondri um. Sein brennender, hasserfüllter Blick traf Fheondri wie ein Dolchhieb, und ihm blieb beinahe das Herz stehen. Keuchend versuchte er, genügend Luft in seine Lungen zu bekommen, um atmen zu können, doch irgendwie schien er verlernt zu haben, wie das ging.

Wieder schnellte einer der Fangarme vor, verfehlte sein Ziel jedoch um Haaresbreite und hinterließ eine tiefe Furche im Boden neben seinem rechten Flügel.

Fheondri, der bis dahin wie gelähmt dagelegen hatte, erwachte nun angesichts der Gefahr die ihm drohte zu neuem Leben, und bevor der Fangarm ihn abermals erreichen konnte, floh er schnell in Richtung des Goldenen Tals, um Hilfe zu holen.

Gefangen

Der Traum its der beste Beweis dafür,

daß wir nicht so fest in unserer Haut

singeschlossen sind, wie es scheint

Christian Friedrich Hebbel 1813 – 1863

I

Dheyrion spürte einen brennenden Schmerz an Armen und Beinen und öffnete gequält die Augen. Er befand sich, mit Eisenketten an sein Lager gefesselt, in einem großen, düsteren und kalten Raum.

Im Dämmerlicht konnte er weitere Ketten und verschiedene Folterinstrumente erkennen. Überall um ihn herum lagen Knochen und Überreste von Tieren und Menschen, teilweise noch gefangen in den Folterinstrumenten, die sie wohl letztlich getötet hatten.

Ein modrig-fauler Geruch hing in der Luft, und Dheyrion war froh, dass er heute noch nichts gegessen hatte, das ihm nun wieder aus dem Mund hätte hüpfen können.

Er wandte sich von dem schrecklichen Anblick ab und schluckte mühsam.

Sein Hals schmerzte, aber zumindest war er noch am Leben. Doch wo war er? Was hatten sie mit ihm vor? Sollte er vielleicht auch so enden wie all die anderen hier?

Ein Knarren der schweren Tür ließ ihn aus seinen unruhigen Gedanken aufschrecken.

Ein hünenhafter Mann mit leuchtend roten Augen und einem wie erstarrt wirkenden Gesichtsausdruck betrat den Raum, befreite Dheyrion von seinen Fesseln und führte ihn hinaus.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte Dheyrion.

Seine Stimme hallte, von mehrfachem Echo zurückgeworfen, laut und gespenstisch durch den Gang, den sie nun betreten hatten.

Der Riese sah ihn nur an, sagte aber nichts. So schwieg auch Dheyrion und ließ sich weiterführen.

Sie stiegen eine steile Wendeltreppe hinunter und gelangten in einen großen Saal, der von einem rötlichen Nebel erfüllt war. Beim Betreten des Saales wurde der Nebel augenblicklich so dicht, dass Dheyrion den Riesen neben sich nicht mehr ausmachen konnte.

Der Nebel war kalt, und Dheyrion hatte das unangenehme Gefühl, als ströme er ihm in jede seiner Poren. Plötzlich schien er zu schweben, und die Kälte breitete sich schnell in seinem Inneren aus. Irgendetwas drang in seinen Geist, durchforschte sein Wissen und seine Gedanken und versuchte unverzüglich, seinen Willen zu unterwerfen.

›Das ist der Weltgeist‹, dachte Dheyrion erschrocken und überlegte verzweifelt, wie er sich gegen den Zugriff des Geistes wehren könnte.

Der Weltgeist blieb unterdessen nicht untätig und riss und zerrte an den Barrieren, die seinen Geist umgaben, bis Dheyrion entsetzt spürte, wie er unter diesem mentalen Angriff zu schwanken begann.

Was konnte er nur tun?

Dheyrion hörte in seinem Inneren bereits das triumphierende Lachen des Geistes, als er sich auf einmal an das erinnerte, was Fheondri ihm über die Kinder im Ort erzählt hatte. Er klammerte sich mit all seiner Willenskraft an diesen Gedanken.

Aber was war es, das die Kinder von den Erwachsenen unterschied? Über welche Fähigkeit verfügten sie, die viele der Erwachsenen nicht mehr besaßen?

Eine Idee formte sich in seinem Kopf, doch fragte er sich unsicher, ob es denn wirklich so einfach sein konnte. Andererseits, was hatte er schon zu verlieren?

›Also gut‹, dachte er entschlossen, ließ seinen Gedanken freien Lauf und begab sich auf die Reise zu fernen Welten und wilden Abenteuern.

Er stellte sich Dutzende von Arten vor, wie er dem Geist den Garaus machen würde, eine heldenhafter als die andere - in einer Version schwang er sogar todesmutig seinen Wischmopp und schlug ihn dem Geist rechts und links um die nicht vorhandenen Ohren, zog ihm anschließend damit die Tentakel weg, sodass dieser rücklings auf den Boden klatschte, und wischte ihn dann kurzerhand zur Tür hinaus, wo der Geist zermatscht in einer Pfütze liegen blieb ...

Und tatsächlich ließ nach einer Weile der Druck in seinem Kopf langsam nach. Dheyrion kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Er fühlte sich etwas mitgenommen und zerschlagen, aber er war noch er selbst.

›Das ist also des Rätsels Lösung‹, ging es ihm durch den Kopf, und er hätte beinahe gelacht. So einfach und doch so effektiv.

Denn das, was Kinder vielen Erwachsenen voraushatten, war ein Übermaß an Phantasie!

II

Dheyrion freute sich, dass es ihm gelungen war, die Absichten des Weltgeistes zu durchkreuzen.

Phantasie war etwas, worüber er selbst in weitreichendem Maße verfügte. Doch hatte er das immer eher für eine Schwäche gehalten, vor allem wenn sie ihm allein an dunklen Orten etwas vorgaukelte, was gar nicht da war.

In der Vergangenheit war es daher sein stetes Bemühen gewesen, mehr in der Realität zu bleiben und sich weniger seinen ›Phantastereien‹ hinzugeben.

Doch nun hatte ihn gerade diese überbordende Phantasie vor dem Weltgeist gerettet!

Dheyrion konnte es noch immer kaum glauben.

Er zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich eine Stimme durch den Raum dröhnte und ihn damit abrupt aus seinen Gedanken riss.

»Ich bin der Weltgeist«, sagte die Stimme. »Alleiniger Herrscher über dieses Land!«

Dheyrion sah sich um, konnte aber in dem Gewaber zunächst nichts erkennen. Angestrengt versuchte er, den Nebel mit den Augen zu durchdringen, und langsam formierte sich vor ihm eine dunkle Gestalt, deren leuchtend rote Augen ihn hasserfüllt ansahen.

»Ich habe deine Gedanken gesehen«, sagte die Stimme gepresst. »Du kleiner Wurm willst mich und meine Herrschaft zerstören, aber das wird weder dir noch irgendwann einmal jemand anderem gelingen, denn dieses Land wird auf ewig mir gehören!«

Der Weltgeist starrte Dheyrion wütend an.

Was bildeten sich diese Winzlinge eigentlich ein? Kamen daher, widersetzten sich seiner Gedankenkontrolle und meinten tatsächlich, ihn besiegen zu können. Wie viele von ihnen musste er denn noch ertragen?

Der Weltgeist seufzte innerlich, doch seine Laune verbesserte sich schlagartig, als ihm in den Sinn kam, was das letztlich für seinen Gefangenen bedeutete.

Er grinste, und man hörte das Vergnügen aus der lauten Stimme heraus, als sie sagte: »Da es mir nicht gelungen ist, dich zu versklaven, bleibt mir wohl keine andere Wahl, als dich zu töten.«

Dheyrion schluckte trocken, denn sein Magen startete nach dieser Ankündigung einen zweiten Versuch, den nicht vorhandenen Inhalt wieder loszuwerden.

Doch den Weltgeist interessierte Dheyrions Befinden herzlich wenig, und so redete er einfach weiter.

»Bevor du stirbst, werden wir natürlich noch ein wenig Spaß miteinander haben«, informierte er ihn genüsslich. »Aber weil du mir damit meinen Tag versüßt, darfst du dir die Art des darauffolgenden Todes sogar aussuchen! Na, klingt das nicht großartig?«

Dheyrion sah die dunkle Gestalt nur wortlos an. Erwartete der Weltgeist jetzt ernsthaft eine Antwort von ihm?

»Nun ja«, sprach die Stimme weiter, als Dheyrion nicht reagierte. »Ich kann verstehen, dass du das vielleicht nicht so grandios findest, aber das wird mein Vergnügen nicht schmälern, glaub mir. Und dein Widerstand wird dir auch nichts nützen. Du hast doch gesehen, was mit denen geschieht, die mir nicht zu Diensten sein wollen. Vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal und begibst dich freiwillig in meine Dienste. Wie wär's?«

Zorn wallte in Dheyrion auf.

»Lieber sterbe ich!«, schrie er die Gestalt an und wollte sich erbost auf sie stürzen.

Doch es war, als ob er sich durch zähen Morast bewegte. Er kam einfach nicht von der Stelle.

Während er sich dennoch verbissen vorankämpfte, verdichtete sich der Nebel plötzlich wieder, und höhnisches Gelächter hallte schauerlich durch den großen Saal. Ein weiteres Mal drang die Kälte in Dheyrion ein, doch anders als zuvor spürte er nun, wie er das Bewusstsein verlor und zu Boden ging.

III

Fheondri war die ganze Nacht den Hang wieder hinuntergestolpert und hatte es wohl nur seinem sprichwörtlichen Glück zu verdanken, dass er zwar etwas verschrammt, aber ohne Knochenbrüche im Ort anlangte.

Am Anfang hatte er noch ständig über seine Schultern zurückgesehen aus Angst, dort den Weltgeist zu erblicken, der ihn den Berg hinunter verfolgte. Aber dieser hatte scheinbar Besseres zu tun, denn er blieb allein.

Da der neue Tag bereits angebrochen war, machte er sich sofort auf den Weg zum Steinbruch und rief dabei immer wieder mit lauter Stimme um Hilfe.

Doch die Bewohner des Ortes sahen ihn nur mit stumpfen Augen und ausdruckslosen Gesichtern an und gingen weiter ihrer Arbeit nach. Sie wussten, dass es keine Hilfe gab - für niemanden von ihnen - also wozu eine Strafe riskieren, indem sie sich gegen den Weltgeist aufgelehnt hätten.

Fheondri musste bedauernd erkennen, dass hier mit Hilfe nicht zu rechnen war.

›Eigentlich hätte mir das klar sein müssen‹, dachte er grummelig. ›Mist! Warum bin ich überhaupt hier heruntergekommen? Nun muss ich den ganzen Weg wieder hinaufkraxeln und versuchen, Dheyrion alleine zu befreien.‹

Denn dass dieser vielleicht nicht mehr am Leben sein könnte, weigerte er sich zu glauben.

Unverdrossen kehrte er also um und machte sich erneut an den mühseligen Aufstieg zum Schloss. Seine Wut über die Reaktion der Bewohner des Goldenen Tals gab ihm auf seinem Weg zusätzlich Energie.

›Und dabei haben wir das doch alles nur für sie getan‹, dachte er verärgert, bis ihm irgendwo auf der Hälfte der Strecke klar wurde, dass die Bewohner so gefangen in ihrem Elend waren, dass schon allein der Gedanke an die Möglichkeit, wirklich eine Wahl hinsichtlich ihrer Entscheidungen oder Taten zu haben, für sie unvorstellbar geworden war.

Fheondri stoppte völlig atemlos und sah zurück in das Tal hinunter. In der Ferne konnte er den Steinbruch erkennen, die Bewohner klein wie Ameisen. Und plötzlich empfand er nur noch großes Mitleid mit ihnen und Dankbarkeit darüber, dass er diesem Schicksal entgangen war.

Seine Entschlossenheit kehrte wieder. Er würde Dheyrion befreien, und zusammen mit ihm würden sie diese Geister zurück in das Loch jagen, aus dem sie gekrochen waren! Sollten die doch versuchen, ihn zu unterjochen!

Voller Tatendrang stürmte er den Rest des Hanges hinauf.

IV

Als Dheyrion zum zweiten Mal erwachte, befand er sich wieder in der Folterkammer. Zum Glück hatten sie ihn wenigstens nicht wieder angekettet, aber furchterregend war es hier trotzdem.

›Also, der Zimmerservice lässt dieser Tage wirklich sehr zu wünschen übrig‹, dachte er mit einem Galgenhumor, der wohl nur daher rührte, dass es dem Weltgeist zumindest nicht gelungen war, seinen Willen zu brechen.

Doch die Freude darüber hielt auch jetzt nicht sehr lange an, als er an die Worte des Geistes dachte. Und zudem quälten ihn Sorgen um Fheondri. Ob der Weltgeist auch ihn gefangen genommen hatte? Was hatte er sich wohl für Grausamkeiten für ihn überlegt? Würde er auch ihn töten oder war es ihm vielleicht doch noch gelungen, ihn seinem Willen zu unterwerfen? Vielleicht war Fheondri ja schon wieder im Ort und musste mit den anderen im Steinbruch arbeiten? So würde er zwar überleben, aber was für ein Leben war das schon?

Über seinen Grübeleien war es erneut Nacht geworden. Da hörte er Schritte, und schon öffnete sich wieder die Tür. Schaudernd blickte er in die kalten roten Augen des Geistes, der flankiert von zwei riesigen Dienern den Raum betrat.

»Nun?«, dröhnte seine Stimme aus dem Mund des Dieners zu seiner Linken. »Hast du dich bereits für eine Art zu sterben entschieden, mein Freund?«

Und obwohl Fheondri ja erwähnt hatte, dass der Weltgeist durch seine Diener sprach, fand Dheyrion diese Art der Kommunikation nebenbei bemerkt doch etwas irritierend.

V

Fheondri hatte den beschwerlichen Weg zum Schloss ein weiteres Mal geschafft, und obwohl er nun wirklich sehr erschöpft war, gönnte er sich doch aus Sorge um Dheyrion keine Pause. Er flatterte und ging um das Schloss herum, um ausfindig zu machen, wo man ihn eventuell gefangen halten könnte, doch bisher war seine Suche erfolglos geblieben.

Er wollte gerade aufgeben, als er ein kleines, kaum sichtbares vergittertes Fenster oben am Nordturm bemerkte. Mit letzter Kraft und gegen den Bann ankämpfend, der sich sofort schwer auf ihn legte, näherte er sich dem Fenster.

Sofort hörte er Stimmen aus dem Raum, und eine davon erkannte er sofort: Es war die von Dheyrion! Und der Weltgeist schien ihn auch noch nicht seinem Willen unterworfen zu haben. Doch was Fheondri dann hörte, war beinahe genauso bestürzend.

»Wenn ich schon sterben muss, dann soll es wenigstens schnell geschehen«, sagte Dheyrion gerade. »Ich möchte also von den Klippen ins Meer stürzen.«

»Gut«, antwortete eine andere Stimme. »Dein Wunsch soll dir erfüllt werden.« Jemand lachte, als hätte er einen besonders gelungenen Scherz gemacht, und die Stimme fuhr fort: »Wie wir beide ja bereits besprochen haben, möchte ich dich aber zunächst noch ein wenig leiden sehen. Schließlich habe ich sonst keine Gelegenheit mehr, ein bisschen Spaß an dir zu haben. Und wenn ich dann mit dir fertig bin, wirst du froh sein, sterben zu dürfen!«

Schritte entfernten sich, und eine Tür wurde mit Wucht zugeworfen.

Vorsichtig steckte Fheondri seinen Schnabel zwischen den Gitterstäben in den Raum.

»Pst!«, zischte er. »Ich bin's, Fheondri!«

»Fheondri!«, flüsterte Dheyrion zurück. »Dem Himmel sei Dank, es geht dir gut! Du musst mir unbedingt helfen ... nur wie?«

»Ich werde auf jeden Fall in der Nähe bleiben«, wisperte Fheondri. »Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, wenn du ...« Fheondris Stimme verstummte und sein Schnabel verschwand schnell, denn die Tür hatte sich wieder geöffnet.

Einer der Hünen war zurückgekommen und fesselte nun Dheyrions Hände mit einem Strick. Anschließend führte er ihn hinaus, jedoch in die entgegengesetzte Richtung als beim ersten Mal.

Auch dieser Gang endete an einer Wendeltreppe, und der Riese zerrte Dheyrion hinter sich her die Stufen hinunter, weiter und weiter in die Tiefe.

Endlich erreichten sie den Boden.

Dheyrion, der inzwischen ganz weiche Knie hatte, stolperte auf der letzten Treppenstufe und stürzte. Er war erschöpft von der Anstrengung, dem mentalen Angriff des Geistes und hatte bisher auch weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen.

Doch der Riese zog ihn kurzerhand an seinem Strick wieder in die Höhe und schleifte ihn hinter sich her zu einer Höhle, wo er ihm das Seil abnahm und seine Arme stattdessen an die Wand kettete. Dann machte der Hüne sich auf den Rückweg, wobei er die Fackel, die er dabeigehabt hatte, wieder mit sich nahm, sodass Dheyrion allein im Dunkeln zurückblieb.

›Hier findet mich Fheondri nie‹, dachte Dheyrion verzagt.

Er hörte ein Rascheln, und sein Kopf ruckte zu dem Geräusch herum.

Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er, dass er so alleine gar nicht war. Da waren viele kleine Tiere, die von einer Ecke in die andere huschten.

Ratten!

Auf einmal blieben alle gleichzeitig stehen, als ob jemand sie gerufen hätte. Dheyrion sah erschrocken, wie ihre Augen langsam eine leuchtend rote Farbe annahmen. Dann versammelten sie sich in der Mitte der Höhle und kamen von dort wie in Trance auf Dheyrion zu...

VI

Dheyrion zerrte verzweifelt an seinen Ketten, während die Meute immer näher und näher an ihn heranrückte. Die ersten Ratten hatten ihn gerade erreicht, als sich wie durch ein Wunder die Kette, die seine rechte Hand festhielt, aus der Wand löste.

Er begann, damit auf die Ratten einzuschlagen, aber diese gaben nicht auf. Immer und immer wieder stiegen sie über die toten Leiber ihrer Kameraden hinweg, um zu Dheyrion zu gelangen.

Eine Ratte, die er übersehen hatte, sprang ihn von der Seite her an und landete auf seiner Brust. Schmerzhaft bohrten sich ihre Krallen in seine Haut. Dheyrion griff nach ihr, um sie wegzuziehen, doch sie ließ nicht von ihm ab. Gierig öffnete sie ihr Maul, um sich ein Stück seines Fleisches einzuverleiben, und während Dheyrion mit ihr beschäftigt war, hatten sich auch die anderen Ratten wieder genähert.

Angstvoll beobachtete er, wie die ersten von ihnen seine Füße erreichten.

Noch einmal zerrte er energisch an der Ratte auf seiner Brust, und nach einem heftigen Ruck, mit dem er sich gleichzeitig ganze Büschel seines Fells ausriss, löste sie sich von ihm, und er warf sie angewidert weit in den hinteren Teil der Höhle.

Mit der Kette schaffte er es, auch die anderen wieder auf Abstand zu bringen, doch seine Kräfte ließen nun sehr schnell nach.

Hoffnungslosigkeit stieg in ihm auf.

Es schienen immer mehr Ratten aus den Gängen herbeizueilen, und er war sich nicht mehr sicher, wie lange er sie noch würde aufhalten können.

Ein Krampf ließ seinen Arm herabsinken. Schmerzerfüllt stöhnte er auf. Nach einem letzten Blick über die herannahenden Massen schloss er die Augen. Er wollte nicht mit ansehen, wie die Ratten über ihn herfielen und ihre Zähne in seinen Körper schlugen.

Er wartete.

Sein ganzer Körper spannte sich angesichts dessen, was ihm nun bevorstand, doch er blieb aufrecht stehen. Er würde nicht auf den Knien sterben!

›Kann man sich auf ein solches Ende überhaupt irgendwie vorbereiten?‹, ging es ihm durch den Kopf.

Er dachte an sein Zuhause, an die vielen schönen Reisen, die er erlebt, und die wundervollen Dinge, die er gesehen hatte. Und er dachte an Fheondri, der nun vergebens auf ihn warten würde, und hoffte, dass er schlau genug sein und beizeiten von hier verschwinden würde.

Dheyrion war so versunken in seine Gedanken, dass ihm erst verspätet auffiel, dass sich nichts und niemand auf ihn gestürzt hatte. Vorsichtig öffnete er ein Auge und schielte in die Höhle hinüber.

Dann öffnete er erstaunt auch das andere Auge und sah verblüfft, dass die roten Augen der Ratten erloschen waren und sie sich langsam wieder in die Gänge, aus denen sie gekommen waren, zurückzogen. Vermutlich, um sich ›Futterplätzen‹ zuzuwenden, die für sie leichter zugänglich waren.

Erschöpft holte Dheyrion tief Atem und ließ sich müde zu Boden sinken. Er hatte das Gefühl, als ob jedes bisschen Energie, das ihn bisher aufrechterhalten hatte, nun förmlich aus ihm herausfloss. Kaum zu glauben, dass er hier mit - naja, zumindest größtenteils - heiler Haut davongekommen war.

Doch seine Erleichterung darüber verflüchtigte sich augenblicklich, denn am Eingang zur Höhle erschien ein flackerndes Licht, das langsam heller wurde, als einer der Riesen zurückkehrte.

Dieser betrachtete das Schlachtfeld, sagte aber nichts. Allein sein verkniffener Mund zeugte von dem Ärger, den der Weltgeist beim Anblick der vielen toten Ratten empfand.

Der Riese befreite Dheyrion von den Ketten und führte ihn die Treppe wieder hinauf und aus dem Schloss hinaus auf die Klippen zu.

›Na, das war's dann wohl‹, dachte Dheyrion resigniert. ›Nun kann mir wirklich keiner mehr helfen.‹

An den Klippen erwartete der Weltgeist sie bereits - und er hatte extrem schlechte Laune.

Dieser Winzling hatte ihm in der kurzen Zeit, in der er hier war, schon mehr Ärger bereitet, als alle anderen zusammen, die vor ihm gekommen waren.

Doch damit war jetzt Schluss!

»Ich stelle fest, dass man mit dir offensichtlich keinen Spaß haben kann«, knurrte er Dheyrion durch den Mund des Dieners wutentbrannt an - er hatte ihm die ganze Nacht verdorben.