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S. G. Felix

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Beschreibung

Ende des 19. Jahrhunderts wurde der kleine Ort Lost Haven an der Ostküste Neuenglands Schauplatz einer Serie von Poltergeistheimsuchungen, für die es bis heute keine Erklärung gibt.

Über ein Jahrhundert später zieht sich der Schriftsteller Jack Rafton nach seiner Scheidung in jenen Schicksal behafteten Ort zurück. Während er sich mit Selbstmordgedanken trägt, beginnen in seinem Haus zunächst harmlose Poltergeistphänomene, die jedoch rasch bedrohlicher werden.
Nachdem eine weitere Heimsuchung durch den Geist vom Tod eines ihm nahe stehenden Menschen begleitet wird, gerät Jack immer tiefer in den Strudel aus bizarren Albträumen und Begegnungen mit dem Poltergeist.
Als es zu weiteren Todesfällen kommt, erkennt er, dass es einen Zusammenhang mit den paranormalen Phänomenen gibt, und dass er in Verbindung mit einem alten Fluch, der auf Lost Haven lastet, steht...

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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S. G. Felix

GEISTERZORN

Der Fluch von Lost Haven

Inhaltsverzeichnis
Prolog
Arthur Farrel schaut in den Spiegel
Michelle fasst einen Entschluss
Mrs. Trelawney achtet auf ihre Rosen
Jack bekommt Besuch
Jack wirft ein paar Körbe
Beverlys Theorie
Susan Danvers verschlägt es die Sprache
Jack träumt vom Fliegen
Peter und das Buch
Jack sucht die Lichtung
Mr. Beaver liest ein Märchen
Jack öffnet die Schublade
Peter telefoniert
Jack trifft eine Entscheidung
Mrs. Abagnale verliert die Kontrolle
Jack folgt einer letzten Spur
Jack schließt den Kreis
Irgendwo dazwischen
William schreibt einen Brief
Epilog

Prolog

Und wieder gelange ich zu der Erkenntnis, dass das Verstörende in diesem Moment nicht die Tatsache ist, dass ich aufgrund einer Vorhersehung hierher gelangt bin. Nein, mich beschleicht wiederholt das sichere Gefühl, dass ich in einem Strudel gefangen und den Kräften hilflos ausgeliefert bin. Es spielt keine Rolle, ob ich dagegen ankämpfe oder nicht.

Jetzt stehe ich hier an diesem Abgrund und warte, dass es passiert. Es gibt jetzt jedenfalls nichts mehr für mich, das noch zu erledigen wäre. Trotz der entsetzlichen Geschehnisse der letzten Tage bin ich jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ich außer Erschöpfung nichts mehr fühle. Und ich habe keine Angst mehr.

Ich kenne diesen Ort. Ich war schon oft hier. Aber heute ist es anders. Eine Veränderung geht vor sich. Die Zeit verändert sich. Ich denke, ich habe aber noch genug Zeit, um Ihnen zu erzählen, was ich vor vier Wochen das erste Mal gesehen habe. Ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem unheilvollen Knarren einer Tür begonnen hat, und ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem Tod geendet hat. Aber vorher möchte ich, dass Sie sich eine Frage stellen und ehrlich beantworten.

Vielleicht haben Sie sich ja irgendwann einmal in ihrem Leben gewünscht, etwas Außergewöhnliches zu erleben. Vielleicht etwas, das man gemeinhin als übersinnlich bezeichnen würde. Denn genau das ist es, worum es bei mir geht. Sie werden jetzt sicher wissen wollen, wie es angefangen hat, wo ich hier bin und warum und worauf zum Teufel ich hier eigentlich warte. Aber um Ihnen meine Geschichte zu erzählen, müssen wir zurück zu meiner Frage.

Haben Sie nicht auch schon einmal etwas Übernatürliches erleben wollen? Ein UFO beobachten? Oder vielleicht mit einem verstorbenen Verwandten aus dem Jenseits Kontakt aufnehmen? Besonders wenn wir jung sind, faszinieren uns Geschichten über Übersinnliches. Aber die meisten von uns würden es vermutlich nicht bewusst selbst erleben wollen und gezielt darauf hinarbeiten, geschweige denn offen zugeben, es zu wollen. Nein, nach außen hin sind wir – Sie und ich - ja alle vollkommen rational handelnde und denkende Menschen, die über das Geplapper von Übernatürlichem nur verständnislos den Kopf schütteln. Deshalb haben Sie ja auch noch nie Ihr eigenes Horoskop gelesen, sind auch in Ihren schlimmsten Lebenssituationen nicht abergläubisch gewesen, haben nie einen Glücksbringer besessen, geschweige denn, haben jemals an Glück oder Pech geglaubt, sondern stets nur an den Zufall. Oder?

Verstehen Sie bitte, was ich damit sagen möchte: Nicht mir, sondern sich selbst gegenüber müssen Sie bei der Beantwortung der Frage ehrlich sein. Und wenn Sie das getan haben, gehe ich noch einen Schritt weiter. Haben Sie manchmal Angst vor dem Wahnsinn? Nein, ich weiß schon. Natürlich haben Sie keine Angst davor, weil Sie sich erst gar nicht trauen, darüber überhaupt nachzudenken. Egal, in welcher Form uns der Wahnsinn auch im Leben begegnen mag. Er ist Teil unserer Existenz. Trotzdem versuchen wir ihn zu verdrängen. Schließlich reicht es ja schon aus, wenn uns unsere Alpträume hin und wieder eine kleine Ahnung von Wahnsinn geben. Bei dem einen oder anderen bizarren Alptraum kann es schon einmal vorkommen, dass ein kühler Hauch von Wahnsinn durch den Türspalt quillt und wir erschauern. Dann wachen wir, wenn wir Glück haben, rechtzeitig aus dem Alptraum auf und müssen uns vergewissern, dass die Tür auch wirklich geschlossen ist. (Auch wenn wir insgeheim wissen, dass die Tür niemals richtig geschlossen werden kann.)

Aber was ist, wenn der Wahnsinn schon durch den offenen Türspalt lugt und nur ein kleiner Luftzug ausreichen würde, um die Tür ganz aufzustoßen und den Wahnsinn zu Ihnen hinein zulassen, damit er von Ihnen vollkommen Besitz ergreift? Oder noch schlimmer: sie zu zwingen, durch die offene Tür zu blicken? Zu sehen, was sich absolut Unbegreifliches und Zerstörerisches dahinter verbirgt? Auf der anderen Seite. Ich habe diese Seite gesehen, und sie hatte ihren Ursprung in meinen eigenen vier Wänden. Vermutlich drücke ich mich zu abstrakt aus. Deshalb werde ich, bevor ich alles von Anfang an erzähle, Ihnen etwas ganz Konkretes sagen:

Sie würden nicht wollen, dass Sie nichtsahnend für den Tod von geliebten Menschen verantwortlich sind. Und es nichts gibt, was Sie dagegen tun könnten.

Glauben Sie mir. Das würden Sie nicht wollen.

Arthur Farrel schaut in den Spiegel

1

 

Bevor ich berichte, was sich bei mir in den letzten Tagen ereignet hat, sollte ich zunächst etwas über Lost Haven erzählen. Nur dann kann man verstehen, was diesen Ort so besonders macht.

Im Jahre 1651 wurde Lost Haven das erste Mal in einem Brief eines Puritaners erwähnt. Es gibt allerdings auch andere Quellen, die das Gründungsjahr viel später auf das Jahr 1708 datieren. Fast zweihundert Jahre lang war Lost Haven nichts weiter als ein winziges, unbedeutendes Fischer-Dörfchen an der Ostküste Neuenglands. Es war aber ganz sicher nicht das schönste Fleckchen Erde. Wäre es das geblieben, was es immer war, dann dürfte es heute gar nicht mehr existieren. Niemanden hätte es hierher gezogen. Es wäre heute eine Geisterstadt, für die sich allenfalls noch Historiker interessieren würden.

Doch eines Tages geschah etwas in Lost Haven, das alles verändern sollte: Die Ereignisse jenes Tages und der folgenden zehn Jahre sind von Arthur Farrel, einem Einwohner von Lost Haven, in akribischer Genauigkeit in seinem Tagebuch niedergeschrieben worden. Diese bis heute noch erstaunlich gut erhaltenen und äußerst umfangreichen Aufzeichnungen liegen heute in einer Vitrine im ‚Museum of Lost Haven’. Das Tagebuch ist eines von zwei Attraktionen des Museums.

Die wie folgt beschriebenen Ereignisse beginnen nämlich wie eine typische 0815-Gruselstory, die nur eine unter vielen sein könnte. Doch je weiter man sich durch die Aufzeichnungen von Farrel vorarbeitet, desto klarer wird, dass dies alles andere als eine gewöhnliche Gruselgeschichte ist. Und man begreift, dass Lost Haven mehr ist, als es heute zu sein vorgibt. Denn einige der Geschehnisse gelten bis heute selbst unter Experten und Historikern als gesichert. Aber zurück zu Farells Tagebuch:

Es war der 14. September 1884. Ernest Hawl, ein alter von Arthritis gebeutelter Mann, saß wie jeden Tag auf der Veranda seines Hauses und blickte auf Meer. Sein Haus war das einzige, das am Fuße des Felsenhügels ‚The Old One’ direkt an der Klippe auf einer großen natürlichen Felsterrasse lag. Laut Tagebuch waren er und Arthur Farrel sehr gute Freunde, so dass Farrel Ernest Hawl als absolut glaubwürdigen Zeugen beschrieb. Demnach beobachtete Hawl gern den seltenen aber regelmäßigen Schiffsverkehr vor der Küste. Lost Haven selbst war nur selten das Ziel der Klipper und der etwas fülligeren für Neuengland typischen Down Easter.

Doch an diesem September-Morgen war etwas anders. Die See war ungewöhnlich ruhig. Hawl gab an, dass er spüren konnte, dass an dem Meer etwas falsch war, nur konnte er es nicht näher beschreiben. Wenige Stunden nach Sonnenaufgang hatte er eine Art dunkle Barriere am Horizont wahrgenommen. Hawl glaubte, dass die Welt dort hinter der Barriere aufgehört hatte zu existieren. Totenstill sei es gewesen, während Hawl das merkwürdige Phänomen beobachtete. Und so plötzlich die Barriere aufgetaucht war, so plötzlich verschwand sie auch wieder und gab den Blick auf ein Segelschiff frei. Es sei jedoch nicht eines gewesen, das Hawl jemals hier vor der Küste gesehen hätte. Es war ein eher kleiner Dreimaster mit einem hohen Achterkastell. Bis auf ein zerfetztes Segel am Hauptmast waren alle anderen Segel eingeholt oder nicht vorhanden. Das unbekannte Schiff trieb mit der Strömung.

Hawl verfolgte es über mehre Stunden mit seinem Fernrohr. Er war sich sicher, dass niemand mehr an Bord war. Das Schiff trieb führerlos wie in Zeitlupe parallel zur Küste. Schließlich drohte der Dreimaster, in eine Region mit vielen Untiefen und aus dem Wasser ragenden Felsen vorzudringen. Hawl verständigte sich mit den Dorfältesten, zu denen er selbstverständlich auch zählte, und man beschloss, rasch ein Boot zum geheimnisvollen Schiff zu entsenden, um herauszufinden, was an Bord geschehen war. Zwei Männer erreichten schließlich den Dreimaster und umrundeten ihn mit ihrem Ruderboot. Die beiden Männer berichteten später, dass ihnen ein schimmelartiger Geruch in die Nase stieg, als sie sich dem Schiff näherten. Niemand war an Bord. Der Schiffsrumpf war recht stark verwittert, aber keinesfalls morsch. Auch den Schiffsnamen konnten sie identifizieren. Es war die Speedwell.

Wie man erst fast 90 Jahre später herausfand, war die Speedwell ein Kolonial-Schiff, das England im Oktober des Jahres 1634 verlassen hatte. An Bord waren schätzungsweise 52 Kolonisten, die in der Neuen Welt ihr Glück zu finden hofften. Doch die Speedwell erreichte nie ihr Ziel und galt seither als verschollen.

Über zweihundert Jahre später tauchte die Speedwell schließlich vor der Küste Neuenglands auf. Wie ich schon sagte: So oder so ähnlich beginnen viele seichte Gruselgeschichten, von denen ich selbst genug gelesen habe, um diesem Teil der Geschichte keinen Glauben zu schenken. Doch richtig interessant wird es erst ab hier.

Es gelang schließlich, die Speedwell sicher in den kleinen Hafen, der in einer natürlichen, schmalen Bucht lag, zu manövrieren und vor Anker zu legen. Auch wenn man 1884 nichts über die genaue Herkunft und das Schicksal der Speedwell wusste, so war den Einwohnern von Lost Haven klar, dass es sich um ein Schiff aus dem 17. Jahrhundert handeln musste. Es dauerte nicht lange, bis der Begriff »Geisterschiff« durch die Straßen von Lost Haven getragen wurde. Und so wurde man sich auch schnell einig, dass die Speedwell schleunigst wieder den Hafen verlassen sollte, denn so ein herrenloses Schiff konnte nichts anderes als Unheil mit sich bringen.

Auch Hawl selbst bestätigte gegenüber Farrel, dass ihm nicht wohl dabei gewesen wäre, die Speedwell in den Hafen zu manövrieren, aber seine Neugier war stärker als seine eigenen Bedenken. So enterte er selbst das unheimliche Schiff, um Informationen zu sammeln. Er wurde allerdings enttäuscht: An Bord gab es nichts, das Rückschlüsse auf die Ursache des Verschwindens von Besatzung oder Passagieren und auf das plötzliche Wiederauftauchen der Speedwell hingewiesen hätte. Das Schiff war leer. Es gab keine Fässer, in denen der Proviant gelagert wurde, keine Werkzeuge oder Ersatzteile und auch keine Habseligkeiten.

Als Hawl im Begriff war, die Speedwell wieder zu verlassen, entdeckte er eingeklemmt zwischen zwei Planken eine Goldmünze. Es gelang ihm nicht, sie herauszuziehen. Passendes Werkzeug hatte er nicht zur Hand, und so entschied er sich, das Schiff am nächsten Tag erneut zu betreten, denn es war schon später Abend. Würde Hawl, der eine stattliche Münzsammlung sein Eigen nennen konnte, die Münze identifizieren können, so hätte er einen eindeutigen Beweis, dass die Speedwell ein Schiff aus der Vergangenheit wäre. Doch dazu sollte er keine Gelegenheit mehr bekommen. Am nächsten Morgen war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen, da klopfte es wild an der Tür seines Hauses. Hawl sagte aus, er hätte schon geahnt, welche Nachricht der Ungeduldige an seiner Tür zu überbringen gedachte. Die Speedwell war fort. Über Nacht spurlos verschwunden.

Die wildesten Theorien machten daraufhin die Runde. So sei die Speedwell durch Geisterhand aus der schützenden Bucht von Lost Haven zurück ins offene Meer gefahren. Dämonen hätten die Speedwell entführt. Das Schiff sei auf eine unheilvolle Art lebendig geworden und hätte von alleine den Hafen verlassen. Eine andere Theorie besagte schlicht, das Schiff sei gesunken, weil es schon halb verrottet gewesen wäre. Keine Theorie, keine Geschichte über die Speedwell war in den folgenden Wochen absurd genug, um nicht ernsthaft in Lost Haven zur Sprache gebracht zu werden.

Dessen ungeachtet berichtet Farrel, dass allgemeine Erleichterung darüber herrschte, dass das Geisterschiff fort war. Doch mit dem Verschwinden der Speedwell begann etwas, dass heutige Parapsychologen und Geistergläubige weltweit übereinstimmend als die häufigsten, bestdokumentierten und vor allen Dingen folgenschwersten Poltergeisterscheinungen in der Geschichte der Neuzeit bezeichnen.

 

 

2

 

Die meisten paranormalen Vorfälle wurden zwar von Arthur Farrel schriftlich festgehalten. Doch gab es auch andere, teilweise sogar übereinstimmende Berichte und Erwähnungen aus Briefen, Notizen, Tagebüchern und sogar aus Testamenten der Einwohner von Lost Haven. Vorab sei noch gesagt, dass sich Parapsychologen und sonstige 'Experten' bis heute nicht vollständig darüber einig sind, ob die Geschehnisse jener zehn Jahre nach dem Verschwinden der Speedwell, einem Spuk oder Poltergeist-Heimsuchungen zuzuordnen sind.

Ein Spuk wird in der Regel als eine personenbezogene, geisterhafte Erscheinung beschrieben, die auch über viele Jahre auftreten kann. Ein Poltergeist hingegen sei ortsgebunden und würde sich vornehmlich durch unerklärliche Geräusche wie Klopfen oder durch Bewegen von Gegenständen bemerkbar machen. In den letzten Jahren hat sich für die Geschehnisse in Lost Haven die Bezeichnung Poltergeist durchgesetzt, weil die meisten der mysteriösen Erscheinungen als lokal gebunden beschrieben wurden. Oder anders ausgedrückt: Fast alle Erscheinungen traten, oftmals mehrfach, in den Wohnungen der Einwohner von Lost Haven auf, unabhängig davon, wer das jeweilige Heim zur fraglichen Zeit bewohnte.

Hätte Arthur Farrel die folgenden Ereignisse nicht in so akribischer Genauigkeit niedergeschrieben, hätte sich niemals ein Historiker oder Parapsychologe ernsthaft mit dem Fall 'Lost Haven' beschäftigt. Für die Skeptiker jedoch – und davon gab und gibt es nicht wenige – ist Farrel der Quell allen Übels. Weil der überwiegende Teil der detaillierten Berichte über Poltergeister von ihm stammt, ist es ein Leichtes zu argumentieren, dass alles nur Farrels Fantasie entsprungen war, die krankhafte Ausmaße angenommen hatte. Allein durch das Anzweifeln der Echtheit von Farrels Geschichten lassen sich auch alle Berichte der übrigen Dorfbewohner als Unfug abtun, da diese – so die Skeptiker - nur auf den Geisterzug aufspringen wollten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass Farrel sich alles nur ausgedacht haben sollte, war somit ein ideales Totschlagargument.

Nachdem die Speedwell spurlos verschwunden war, vergingen Tage und Wochen, ohne dass etwas Erwähnenswertes geschehen wäre. Eine trügerische Ruhe legte sich über den kleinen Küsten-Ort. Schließlich berichtet Farrel, dass Ende November 1884 einige Einwohner von Lost Haven über Schlafstörungen klagten. Zudem breitete sich eine zunehmend depressive Stimmung unter den Menschen aus. »Es scheint mir, als seien alle unfähig geworden, sich über die bescheidenen aber guten Dinge unseres gewohnten Lebens zu freuen«, schreibt Farrel.

Zunächst schien niemand diese Merkwürdigkeiten in Verbindung mit der Speedwell zu bringen.

Kurz nach der Wintersonnenwende gab es dann den ersten Bericht über eine geisterhafte Erscheinung. Es war die Witwe Marodith. Sie habe einen Geist gesehen, wie er nachts am Fußende ihre Bettes gestanden und sie angestarrt habe. Sie habe einen solchen Schreck bekommen, dass sie aus ihrem Bett gefallen sei, berichtet Farrel. Niemand glaubte ihr. Doch der Geist erschien wieder. Marodith fürchtete, es handle sich um den Geist ihres verstorbenen Mannes. Er sei aus dem Jenseits zurückgekehrt, um sich nun an ihr zu rächen, weil sie verschwiegen hatte, dass sie, als sie noch eine junge Frau war, ihrem Ehemann untreu gewesen war. Man wollte die arme Frau schon für verrückt erklären, als drei weitere Poltergeistphänomene die Runde machten.

Ein Hafenarbeiter, der direkt an seinem Arbeitsplatz wohnte, wollte um Mitternacht seltsame Gestalten über das Wasser der Bucht schweben gesehen haben. Sie hätten sich an den Fischerbooten zu schaffen gemacht, indem sie diese wild hin und her stießen.

Ein Mr. Harper, der Barbier des Dorfes, berichtete, dass er eines Nachts merkwürdige Geräusche in seinem Geschäft gehört hätte. Seine Wohnung befand sich im gleichen Haus eine Etage darüber. Als er die Treppe hinunterging, um nach dem Rechten zu sehen, hätte er seine Rasiermesser durch die Luft fliegen sehen. Nur durch reines Glück, wie er Arthur Farrel erzählte, sei er mit dem Leben davon gekommen.

Emily Miller war eine junge Frau, die eine kleine Pension in Lost Haven betrieb. Sie wurde in einer Nacht aus ihrem Bett gerissen, als sämtliche Türen in ihrem Haus mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf und zu schlugen. Schreiend sei sie ins Freie gerannt und beschwor, von draußen eine unheimliche feinstoffliche Erscheinung an einem der Fenster gesehen zu haben. Ein Anblick, der ihr für den Rest ihres Lebens schwere Schlafstörungen bereiten sollte.

Waren der Hafenarbeiter, Mr. Harper und Emily Miller noch mit dem Schrecken davongekommen, nahm das Schicksal mit der Witwe Marodith eine traurige Wendung: Immer öfter erschien ihr der Geist in ihrem Schlafzimmer. Sie fühlte sich bedroht, fürchtete gar um ihr Leben, weil sie überzeugt war, dass der Geist ihres Mannes ihr nach dem Leben trachtete. Sie hielt es eines Tages nicht mehr aus und stürzte sich aus dem Fenster des ersten Stockwerks ihres Hauses.

Es vergingen ein paar Monate, und die Einwohner von Lost Haven hofften stillschweigend, dass die merkwürdigen Geistererscheinungen ein Ende gefunden hatten. Doch sie sollten sich irren.

Allein bis einschließlich 1889 verzeichnete Arthur Farrel über neunzig weitere Poltergeistphänomene. Dabei unterschieden sich die Darstellungen erheblich voneinander. Die Berichte reichten von merkwürdigen Geräuschen wie Flüstern, sich bewegenden Gegenständen bis hin zu Geistern, die vornehmlich in den Wohnhäusern in Erscheinung traten und dabei die Bewohner in Angst und Schrecken versetzten.

Dabei sollte die Witwe Marodith nicht das einzige Todesopfer gewesen sein, das in Zusammenhang mit den Erscheinungen gebracht wurde. Sechs weitere Personen sollen den Poltergeistern zum Opfer gefallen sein. Drei Fälle davon sind allerdings eher vage beschrieben und stammen nicht aus Farrels Aufzeichnungen. Daher sind jene Todesfälle bei einer halbwegs objektivierten Betrachtung aus der Beweiskette herauszunehmen.

Die Umstände der anderen drei Todesfälle jedoch sind an Kuriosität wahrlich kaum zu überbieten.

 

 

3

 

Den wohl seltsamsten Fall, der allen voran bis heute besonders kontrovers diskutiert und interpretiert wird, schildert der unermüdliche Farrel im Spätsommer 1890. Es war die wohl eindrucksvollste Schilderung einer Poltergeistheimsuchung, die es jemals gegeben hat. Keinem anderen Fall wurde jemals mehr Glauben aber gleichzeitig auch mehr Ablehnung entgegengebracht.

Er ereignete sich in der 1722 gebauten Kirche von Lost Haven und wurde erzählt von Reverend Sasusa. Ebenezer Sasusa war in jenem Jahr ein 61 Jahre alter Mann, von dem nur bekannt war, dass er 1872 aus Massachusetts nach Lost Haven kam. Er galt als ruhiger und ausgeglichener Mensch, der nicht gerade als Frohnatur bekannt war. Die Einwohner achteten ihren Reverend für seine viel gelobten Sonntagsmessen, die praktisch nie jemand versäumte.

Auch in diesen schwierigen Jahren war Reverend Sasusa ein wichtiger Pfeiler für seine Gemeinde. Viele fragten sich, ob sie Gott verlassen hätte. Ob Gott gar ganz Lost Haven mit einer Strafe belegt hätte. Doch Sasusa bemühte sich unentwegt, beruhigend auf die Menschen einzuwirken. Er verstand die unerklärlichen Geschehnisse als eine Art Prüfung von Gott, der man sich stellen müsse. Nichts, was Gott tat, war ohne Zweck. Davon war er zutiefst überzeugt. Er betete jeden Tag für Erleuchtung, suchte in der Bibel nach Trost und in Alten Schriften nach Lösungsmöglichkeiten, doch auch er vermochte nicht, den Bann zu brechen. Er klammerte sich an seine Gebete und seinen Glauben.

So auch eines Abends im September 1890. Es war ein Freitag. Reverend Sasusa saß in seiner kleinen Sakristei der Kirche. Wie schon hunderte Male zuvor bereitete er sich gewissenhaft auf seine Sonntagsmesse vor, auch wenn es ihm in diesen Tagen kaum Freude bereitete. Wusste er doch, dass er wieder auf die Phänomene der letzten Jahre eingehen musste. Dennoch, so berichtete er es Farrel, der alles detailverliebt und lückenlos protokollierte, keimte im Reverend ein kleiner Funken Hoffnung auf. Denn die Geistererscheinungen schienen sich in den letzten Monaten beruhigt zu haben. Vielleicht wäre bald alles überstanden, so dachte er.

Es war kurz vor Mitternacht, als Sasusa aus dem Kirchenschiff plötzlich einen donnernden Lärm hörte. Es sei so gewesen, als wäre eine der Sitzbänke hochgeworfen worden, um dann berstend auf den Steinboden zu krachen. Starr vor Angst und mit der zermürbenden Sorge, dass die Geister nun auch in das Haus Gottes eingedrungen waren, betete der Reverend das Vaterunser. Doch brachte er es nicht zu Ende. Weitere tumultartige Geräusche drangen auf der anderen Seite der Tür an seine Ohren. Geräusche von Sitzbänken, die auf dem alten und unebenen Steinboden verschoben wurden.

Welche Macht auch immer in jenem Moment in seiner Kirche am Werke war, sie war wütend.

Es war eine Prüfung. Dies hatte er seiner Gemeinde jahrelang eingebläut. Und einer Prüfung, insbesondere, wenn sie von Gott gestellt wurde, musste man sich stellen. Der Reverend nahm allen Mut zusammen, erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich mit klopfenden Herzen der Tür, währenddessen das Poltern auf der anderen Seite fortdauerte. In dem Moment, in dem er die Türklinke berührte, verstummten mit einem Mal die Geräusche. Ein kurzes Zögern, dann öffnete Sasusa die Tür. Was er dahinter erblickte, ließ ihn zunächst glauben, in einem Alptraum zu leben.

Der Reverend erblickte etwa drei Dutzend schwebende Sphären, die von einer schwarzen Korona umgeben waren, aber eine menschliche Form besaßen. Erst heute weiß man, dass diese Zahl ziemlich genau derjenigen Zahl an Siedlern entspricht, die auf der Speedwell der Neuen Welt entgegen segelten. Obwohl Sasusa keine Gesichter zu erkennen vermochte, spürte er, dass die Gestalten ihn forschend anstarrten. Einige schienen auf den Sitzbänken Platz genommen zu haben. Andere schwebten mehrere Meter über dem Boden, andere standen direkt neben der Tür und verströmten, so beschwor er es, eine eisige Kälte. Während sich keiner der Geister bewegte, schritt Sasusa wie in Zeitlupe ein Stück in die Halle hinein. Die Geister ließen ihn gewähren, was ihm Hoffnung gab, einen Kontakt zu den Geistern herstellen zu können.

»Was kann ich tun, um euch zu helfen?«, fragte der Reverend.

Kein Schrecken hätte ihn nach seiner Frage schlimmer treffen können als jene Tat, welche die Geister ihm in den folgenden Sekunden zumuteten. Lautlos und sehr langsam, so erzählte es Sasusa, hätten sich die schwebenden Sphären auf ihn zubewegt, bis sie ihn regelrecht eingekreist hatten. Sie wollten ihm etwas mitteilen, doch besaßen sie keine Stimme. Man vermutet heute, dass die Geister nur durch die Konzentration ihrer Energien in der Lage waren, dem Reverend eine Botschaft zu übermitteln. Diese Botschaft sei mangels Worten über Gefühle und Emotionen, die die toten Seelen dieser Geister in sich trugen, zu übermitteln versucht worden. Eine Art telepathische Übertragung von Empfindungen, jedoch nicht von Gedanken. Dieser Versuch schlug jedoch, wenn man dieser Theorie Glauben schenken möchte, katastrophal fehl.

Zuerst spürte Sasusa nur ein Frösteln. Doch dann fühlte der Reverend eine panische Angst rasch in sich aufsteigen, die ihn völlig ungehindert bis ins tiefste Mark zu durchdringen schien. Es waren Leid, Qualen, Trauer, Schmerz und Wut zugleich, die geballt wie eine Keule auf ihn einschlugen und ihn in grenzenlose Panik versetzten. In seinem Entsetzen schrie Reverend Sasusa in der sicheren Annahme, sein letztes Stündlein schlagen gehört zu haben. Er fiel auf die Knie und bettelte weinend, die Folter zu beenden, denn von allen Emotionen in dieser Welt bombardierten ihn die Geister mit den leidvollsten von ihnen. Irgendwann schwanden Sasusa die Sinne. Als er wieder zu sich kam, waren die Geister fort und der Morgen dämmerte bereits. Noch am selben Tag vertraute er sich schließlich Arthur Farrel an. Völlig aufgelöst erzählte er ihm alles. Und er erzählte ihm auch, dass er nie wieder in die Kirche zurückkehren könne, denn er fürchtete fortan um sein Leben.

Wohl wissend um die unkalkulierbaren Auswirkungen auf die Dorfbewohner bei einer Verbreitung der Geschichte des Reverends, bemühte sich Farrel stundenlang, den Reverend zu beruhigen und ihn davon zu überzeugen, dass sie seine Erlebnisse zunächst für sich behielten. Farrel schlug vor, dass sie beide gemeinsam in die Kirche zurückkehren sollten, um sich von der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit dieses heiligen Ortes zu überzeugen.

Farrel machte in seinen Aufzeichnungen keinen Hehl daraus, dass er begierig darauf war, selbst einmal eine übernatürliche Erscheinung zu erleben, war er selbst doch bisher von derartigen Heimsuchungen verschont geblieben. Als beide Männer in die Kirche zurückkehrten und feststellten, dass es sicher war, räumten beide die Bänke wieder ordentlich in Reih und Glied. Sichtlich erleichtert bedankte sich Sasusa bei Farrel für seine weisen Worte und bat, ihn allein zu lassen. Sasusa gab an, er wolle sich noch einmal im Klaren darüber werden, was letzte Nacht geschehen war, und er wollte seine Erlebnisse dokumentieren. Farrel kam der plötzliche Sinneswandel des Reverends verdächtig vor. Er verließ ihn – vorerst. Am Abend wollte er jedoch noch einmal zurückkehren und nach dem Reverend sehen.

Nach Sonnenuntergang kam Farrel wie geplant wieder. Als er die Außentür zur Kirche aufstieß, schrie er vor Bestürzung auf ob der Gräuel, die seine Augen sehen mussten. Die Sitzbänke lagen wild verstreut herum. Einige waren zerborsten. »Es war mir, als sei ein Riese hier am Werke gewesen und hätte alles in blinder Wut zerstört«, schreibt Farrel. Am anderen Ende des Saals baumelte der leblose Körper von Reverend Sasusa, erhängt an einem Strick. Jede Hilfe kam zu spät. Dieser Vorfall ließ sich freilich nicht geheim halten. Die Dorfbewohner von Lost Haven waren entsetzt. Sie gerieten in Panik, weil die Geister nun anscheinend sogar das Haus Gottes in ihre Gewalt gebracht hatten. Folglich wurde nicht lange überlegt. Man einigte sich hastig darauf, die Kirche zu verbrennen, in der Hoffnung, die Geister, die sich nach wie vor darin befänden, zu vernichten. Niemand wollte mehr jene Kirche betreten und so fiel der Leichnam von Reverend Sasusa ebenfalls den Flammen zum Opfer, so dass ihm ein würdiges Begräbnis verwehrt blieb.

Doch bevor die Flammen die Kirche bis auf ihre Grundmauern vernichtete, gelang es Farrel noch, eine Notiz aus der Schreibkammer des Reverends vor den Flammen zu retten. Auch diese Notiz liegt heute – wenn auch nahezu unleserlich vergilbt - in einer Vitrine des Museums direkt neben Farrels Tagebuch.

Laut Farrel waren folgende Worte darin enthalten: »Vor der letzten Nacht habe ich mich stets gefragt, was dieser verzweifelten Wut der Geister entgegen zu setzen ist. Doch nun weiß ich es besser. Dem unendlichen Leid, das jene Wesen zu tragen haben, ist keine glückliche Wendung beschieden. In ihrer Verzweiflung wollten sie es mit mir teilen, doch überschätzten sie meine Leidensfähigkeit. Sie werden wieder kommen. Dessen bin ich mir gewiss. Doch ich bin nicht gewillt, diesen wüsten Schmerz noch einmal zu erdulden. Ich muss ihnen zuvorkommen.

Vielleicht ist das der Weg, sie zu besänftigen.«

Man kann von dieser Geschichte halten, was man will. Fakt ist aber, dass der Reverend sich erhängt hat, und dass die Kirche wenig später in Brand gesteckt wurde. Als Beweis gab es sogar eine Fotografie der brennenden Kirche, die von Historikern für authentisch befunden wurde. Aufgenommen wurde dieses Bild im Auftrag einer Zeitung, die in einem großen Artikel über die seltsamen Ereignisse in Lost Haven berichtete. Es ist übrigens das einzige Foto aus dem 19. Jahrhundert aus Lost Haven. Das Foto verschwand jedoch aus ungeklärten Gründen in den neunzehnhundertsiebziger Jahren. Dies geschah ausgerechnet in einer Zeit, in der eine wahre Geister-Hysterie ausgebrochen war und Lost Haven zum Quell des Glaubens und des Wissens für alle Geister-Gläubige und selbsternannten Medien aller Art hochstilisiert wurde.

Bis heute gibt es immer wieder Augenzeugen, die angeblich aus dem angrenzenden Wald kommende schwebende Lichter über den Ruinen der Kirche gesehen haben wollen.

Auch wenn ich meine eigenen Erlebnisse der letzten Wochen in keinen erklärbaren Zusammenhang mit dem Schicksal von Reverend Sasusa bringen kann, so gibt es doch eine entscheidende Gemeinsamkeit: Ebenso wie die Leidensfähigkeit des Reverends nach jener Nacht der Heimsuchung, ist jetzt auch die meine vollends aufgebraucht.

 

 

4

 

Der zweite ungeklärte Todesfall, der in Verbindung zu den Poltergeistern gebracht wurde, ereignete sich ein Jahr später, 1891, und betrifft Ernest Hawl. Demjenigen, der die Speedwell als Erster aus dem Nirgendwo auftauchen sah.

Im Gegensatz zu anderen teils sehr detaillierten Schilderungen anderer Heimgesuchter, hat Farrel nichts über die Hintergründe zu Hawls Ableben zu berichten. Allerdings kam seine Betroffenheit in seinem Bericht zum ersten Mal voll zum Tragen, denn erstmals hatte es einen Menschen getroffen, dem Farrel sehr nahestand. Und zu allem Überfluss war Farrel es selbst, der die Leiche von Hawl in dessen Haus auf der Felsterrasse fand.

Hawl hatte mit dem Rücken auf dem Boden im Korridor gelegen. Bei einer ersten Begutachtung ergaben sich keine Fremdeinwirkungen, die auf ein Verbrechen hätten hinweisen können. Erst die genauere Untersuchung der Leiche durch den Dorfarzt Dr. Pickman brachte eine erstaunliche Entdeckung ans Licht, die auch den letzten Zweifler von der Existenz der Poltergeister und ihrer tödlichen Macht überzeugen sollte. Nahm Pickman zunächst noch an, Ernest Hawl sei durch einen Herzinfarkt gestorben, so musste er zu dem Schluss gelangen, dass die Todesursache Ersticken war. In seinem Hals fand er einen Gegenstand, den Hawl seiner Meinung nach versucht hatte zu verschlucken, sich dann aber in seiner Luftröhre verklemmt hatte. Es war die Goldmünze, die Hawl auf der Speedwell gefunden hatte, aber nicht mitzunehmen vermochte.

Wie konnte die Münze in sein Haus und dann in seinen Hals gelangen? Darauf gibt es bis heute keine plausible Antwort. Hawl wurde von jedem, der in Lost Haven lebte, geachtet. Erst die Kirche und dann der Dorfälteste. Die Einwohner fragten sich, was diese finstere Macht zu solchen Taten trieb. Ein regelrechter Exodus war die Folge. Innerhalb der nächsten zwei Jahre verließ fast die Hälfte der Einwohner das Küstenstädtchen.

Gleichzeitig nahm die Zahl der Poltergeist-Berichte rapide ab. Man glaubte, dies sei auf die geschwundene Einwohnerzahl zurückzuführen, doch nach Farrels Aufzeichnungen begann sich die Lage, was die Zahl der Sichtungen betrifft, schon seit 1889 zu entspannen. Trotz der Toten. Auch wenn dem so war, so gab es noch ein letztes Todesopfer im Jahr 1893 zu beklagen. So wie die anderen wurde auch die Anbahnung dieses Todesfalles durch Arthur Farrel dokumentiert. Er konnte jedoch nicht ahnen, dass er selbst es sein sollte, der den Tod finden würde.

 

 

5

 

Folgende Zeilen wurden von Farrel kurz vor seinem Ableben in seinem Tagebuch notiert:

Ich bin mir selbst nicht ganz gewiss, was mich dazu trieb, die seltsamen Berichte der letztenJahre so beharrlich zu verfolgen. Ich wähnte mich in Sicherheit, glaubte, nicht mehr als ein neutraler Beobachter zu sein, der immun gegen den dunklen Zauber dieses Ortes ist. Erst als mein alter Freund Hawl, den ich schon von Kindesbeinen an in mein Herz geschlossen hatte, starb, spürte auch ich, wie mich ein dunkler Schleier langsam einzuhüllen begann. Diese Kälte. Diese gottverfluchte Kälte! Ich spüre sie nun immerzu. Sie umklammert mich wie ein Leichentuch.

Es hat - wie bei den meisten anderen auch – ganz harmlos begonnen. Es waren schlechte Träume, die mich des Nachts schreiend erwachen ließen. Dies allein vermochte mich jedoch nicht in Besorgnis zu versetzen. Schließlich hatte ich mich seit Jahren tagein tagaus nur mit den Geistern beschäftigt, die nicht ruhen wollten. Alpträume waren nicht mehr und nicht weniger als eine logische Konsequenz meines unsinnigen Verhaltens. Unsinnig, sage ich, weil es mir bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist, irgendetwas über die Beweggründe der geisterhaften Wesen hier in Lost Haven herauszufinden. Stattdessen bin ich genauso klug und genauso dumm wie zuvor. Verschwendete Jahre waren es, die ich mit den Befragungen, den Niederschriften und den Recherchen verbracht habe. Verschwendet, sage ich.

Ich glaubte, durch die Bildung von kausalen Zusammenhängen der Geschehnisse Rückschlüsse ziehen zu können, die mich der Lösung des Problems näher bringen würden. Doch statt Dank für meine Bemühungen wurde mir nur Unverständnis und schlimmer noch: Misstrauen entgegengebracht. Ja, es gab sogar ein wütendes Frauenzimmer, das mir vorwarf, mit den Geistern im Bunde zu stehen, weil ich anscheinend als Einziger von bösen Dingen verschont geblieben wäre.

Ich verleugne nicht, dass ich in der Tat all die Jahre unbehelligt blieb. Doch insgeheim wünschte ich mir doch, einem der Geister zu begegnen, um sein Geheimnis zu lüften. Doch mit meinen aufkeimenden Nachtmahren sollte sich dieser Wunsch ins Gegenteil verkehren. Als ich darauf jede Nacht von bösen Träumen verfolgt wurde, beschloss ich endgültig, meine Arbeit aufzugeben und das Buch zu schließen. Ruhe suchte ich zu finden. Doch war sie mir nicht mehr vergönnt. Mittlerweile ist es so schlimm, dass ich es seit Tagen nicht mehr wage, in einen Spiegel zu blicken, denn dort lauert der Tod auf mich.

Es begann vor sechs Tagen, als aus meinen Alpträumen Realität wurde. An einem eigentlich schönen Sonntagmorgen erwachte ich spät aber ausgeruht. Hinter mir lag die erste Nacht seit Wochen, in der ich nicht von einem Albtraum heimgesucht worden war. Mit noch verschlafenen Augen blickte ich an diesem Morgen in den Spiegel in meinem Badezimmer. Was ich in jenem Spiegel sah, den ich unlängst zerstört habe, ließ mich erschaudern. Denn schräg hinter meinem Spiegelbild stand in meiner unmittelbaren Nähe eine von einer dunklen, nebelartigen Aura verhüllte Gestalt, die kein Gesicht besaß, aber mich anzublicken schien. Zu Tode erschrocken drehte ich mich auf dem Absatz um, doch hinter mir war niemand zu sehen, so dass ich glaubte, schon Gespenster zu sehen, die meiner Fantasie entsprungen waren. Erleichtert atmete ich auf und drehte mich wieder zum Spiegel. Ich wollte mich überzeugen, dass mir meine Fantasie nur einen Streich gespielt hatte, was in Anbetracht der unzähligen Geistergeschichten, mit denen ich mich die vergangenen Jahre beschäftigt hatte, keinesfalls überraschend gewesen wäre. Doch als ich erneut in den Spiegel blickte, war die Gestalt immer noch da, direkt hinter meinem Spiegelbild. Kaum konnte ich diesen neuerlichen Schrecken begreifen, streckte das Wesen im Spiegel plötzlich seine Hände nach meinem entsetzten Spiegelbild aus, umklammerte dessen Hals und würgte es. Schreiend packte ich meine Hände an den Hals, konnte jedoch keine fremden Hände ergreifen, sondern nur den rasenden Puls an meinem Hals spüren. Erneut warf ich mich herum und konnte doch wieder niemanden sehen. Was immer dieses Ding war, es lebte und agierte nur im Spiegel. In Panik geraten, drehte ich mich wieder zurück zum Spiegel. Von der anderen Seite blickte mich das finstere Wesen mit seinen verborgenen Augen an. Mein eigenes Spiegelbild war nicht mehr existent. Das Wesen hatte es umgebracht. Ich schrie erneut vor Entsetzen. Dann packte ich den Spiegel, riss ihn von der Wand und schmetterte ihn zu Boden.

So hat es begonnen.

Nach diesem entsetzlichen Erlebnis weigerte ich mich zu akzeptieren, dass das Ding aus demSpiegel ein böser Spuk war, der mir nach dem Leben trachtete. Ich redete mir ein, dass ich den Verstand verloren hatte. Ich beschloss zunächst, sämtliche Spiegel, die ich besaß, zu zerstören. Mit geschlossenen Augen ergriff ich die in meinem Haus verbliebenen Spiegel - es waren drei an der Zahl - und zerstörte sie. Das Ding aus der Spiegelwelt, gleich ob real oder meiner Fantasie entsprungen, sollte keine Gelegenheit mehr haben, einen weiteren Blick in meine Welt zu erhaschen. Dass mein Verstand womöglich angegriffen, nicht aber Generator scheußlicher Halluzinationen war, habe ich erst jetzt begreifen können. Welch undenkbares Glück war mir nur all die Jahre beschieden, dass ich von den Geistern, die Lost Haven heimsuchten, verschont geblieben war, und welch unsägliches Pech lastet nun auf mir, dass ich einem besonders bösartigen Spuk ausgeliefert bin! Ich entschied mich fortan, jedweden Kontakt mit einer spiegelnden Oberfläche zu vermeiden. Doch musste ich jäh feststellen, dass dieses Vorhaben leichter gesagt war als getan.

Zwei Tage vergingen, ohne dass ich in eine spiegelnde Oberfläche geblickt hatte, geschweige denn jemandem mein Leid geklagt hatte. Erst in diesen dunklen Stunden erahnte ich, welch unsägliches Leid all die Opfer der Geistererscheinungen durchlitten haben mussten. Wie einsam sie sich gefühlt haben mussten. Verlassen von allem, was gut war.

Doch am heutigen Abend ist es wieder geschehen. Stets hatte ich die letzten zwei Tage rechtzeitig vor Sonnenuntergang die Vorhänge vor allen Fenstern in meinem Haus zugezogen, um so zu verhindern, mein Spiegelbild, oder das eines anderen im Fenster vor einem dunklen Hintergrund sehen zu müssen. Doch heute vergaß ich, das Fenster in der Küche zu verhängen. Die Sonne war bereits vollständig untergegangen, als ich ahnungslos in die Küche schritt, um meinen Hunger zu stillen. Während ich mir mein Abendmahl bereitete und dabei direkt vor dem Fenster stand, blickte ich beiläufig in genau dieses Fenster. Was ich dort erblickte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Alles was ich sehen konnte, war durch die dunkle Spiegelung des Fensters getrübt, doch sah ich genug, um zu verzweifeln.

Die dunkle Gestalt. Sie war wieder da. Und wieder stand sie genau hinter meinem Spiegelbild. Die Gestalt hob ihre rechte Hand, in der sie ein großes Messer hielt. Es war mein großes Küchenmesser, das hinter mir in einer Schublage liegen sollte. Ich wusste, würde ich mich umdrehen, wäre hinter mir niemand zu sehen, und würde ich die Schublade öffnen, wäre das Messer an Ort und Stelle, doch ich widerstand der Versuchung mich umzudrehen. Ich wollte mich dem Wesen aus der Spiegelwelt stellen. Doch wurde ich nur erneut Zeuge, wie das Ding mein Spiegelbild ermordete, indem es diesmal das Messer meinem Ebenbild in den Rücken rammte.

Ich schrie auf, nahm meinen Teller und warf ihn in das Fenster, das darauf klirrend zerbarst. Es ging zwar alles furchtbar schnell, doch noch bevor ich das Fenster zerstören konnte, sah ich für den Bruchteil einer Sekunde, wie mich das Ding auf der anderen Seite anstarrte und dabei mit dem Finger auf mich zeigte. Die Botschaft, die diese Geste vermitteln sollte, war eindeutig. Sie lautete: »Das nächste Mal bist Du dran!«

Ich kauere jetzt schon seit Stunden im Korridor meines Hauses auf dem Boden und schreibe diese Worte nieder. Ich weiß nicht, ob ich diese Nacht überleben werde.

Bald müsste die Sonne aufgehen. Ich habe Angst davor, dass das Wesen aus der Spiegelwelt entkommt und mich findet.

 

An dieser Stelle enden Arthur Farrels Aufzeichnungen.

Seine Leiche wurde drei Tage später in seinem Haus gefunden. Sein lebloser Körper lag quer über seinem Bett. Sein Gesicht war von tiefen Schnitten durchsetzt, die von den Glasscherben des Schlafzimmerfensters stammten. Als Todesursache wurde zunächst der massive Blutverlust angenommen, doch bis heute hält sich hartnäckig die Auffassung, dass Farrel durch einen plötzlichen Herzstillstand infolge eines massiven Schreckens gestorben war.

 

 

6

 

Nach Farrels Tod gab es nur noch sehr vereinzelt Berichte oder Gerüchte über Poltergeisterscheinungen. In den folgenden Jahrzehnten will immer wieder jemand einen Geist gesehen oder unerklärliche Phänomene erlebt haben. Aber etwas Vergleichbares mit den Schilderungen von Farrel hat es nie wieder gegeben. Was immer auch in Lost Haven vorgefallen war, nach fast genau zehn Jahren hatte es ein Ende gefunden.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts scherte sich kaum jemand noch um den Gespenster-Mythos von Lost Haven, und so versank das Dorf an der Ostküste des Atlantiks zunehmend in der Bedeutungslosigkeit. In den neunzehnhundertfünfziger Jahren gab es nur noch knapp vier Dutzend Einwohner.

Erst ab den sechziger Jahren begann das Interesse an Lost Haven wieder aufzuflammen. Geistergeschichten kamen mehr und mehr in Mode. Ende der siebziger Jahre entwickelte sich gar ein richtiger Tourismus. Immer mehr Menschen wollten auf den Spuren der Poltergeister wandeln. Lost Haven wurden mystische Kräfte zugeschrieben. Die Grundstückspreise stiegen allmählich, und immer mehr Menschen, meist Leute mit zu viel Geld, bauten sich ein Sommerhaus oder zogen ganz nach Lost Haven. Der Ort erfuhr eine regelrechte Ummodellierung, denn die meisten der alten Häuser aus dem vorigen Jahrhundert waren derart zerfallen, dass sie rücksichtslos abgerissen und durch neue ersetzt wurden. Trotz der Bemühungen, das Landschaftsbild nicht allzu sehr zu verändern, hatte das Neue Lost Haven mit dem alten verschrobenen Fischerort von einst wenig gemein. Der New Haven Harbour wurde auf der Westseite der lang gezogenen schmalen Bucht komplett neu gebaut. Der alte Hafen an der Ostseite wurde aufgegeben. Einige kleine Straßen kamen neu hinzu, wie die Kennington Street, in der ich jetzt wohne, östlich der Bucht. Die verbliebenen Straßenzüge wurden verändert und bekamen neue, tourismusfreundliche Namen verpasst. Diese ganzen Transformationen haben das alte Lost Haven zwar zerstört, aber den Ort immerhin vor dem Vergessen bewahrt.

 

 

Michelle fasst einen Entschluss

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Keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht mit Belanglosigkeiten aus meinem Leben langweilen. Deshalb beschränke ich mich auf das Wesentliche.Ich will Ihnen nur erklären, warum es mich nach Lost Haven verschlagen hat.

Mein Name ist Jack Rafton. Nun, eigentlich stimmt das gar nicht. Jack Rafton ist mein Künstlername, den ich vor acht Jahren angenommen habe. Wenn ich es mir recht überlege, hat meine Ex-Frau Michelle mir Jack Rafton vorgeschlagen und ich habe zugestimmt, weil mir selber nichts einfiel.

Mein erster großer Roman erschien etwa vier Jahre nach seiner Fertigstellung endlich bei einem großen Verlag. Und ich war so stolz. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich steckte mitten in meinem Ingenieurs-Studium, hatte aber immer eifrig nebenher geschrieben. Stolz und zittrig war ich, als ich meine erste Lesung in einer kleinen Buchhandlung hielt. Gerne erinnere ich mich an diese Zeit zurück.

Der Roman, um welchen es in meiner ersten Lesung vor zwölf Jahren ging, trug den Titel 'Angststurm' und war ein richtiger Erfolg. Er war über acht Monate in den Bestsellerlisten.

Ein gutes Jahr nach Erscheinen meines Erstlings wurde mein zweiter Roman veröffentlicht. Er konnte nicht ganz an den Erfolg des ersten anknüpfen, sicherte mir jedoch auch weiterhin das allseits beliebte Prädikat Bestsellerautor. Aber das war alles ziemlich unwichtig für mich. Denn in dem Jahr, in dem mein zweiter Bestseller erschien, wurde meine Tochter Amy geboren.

In den folgenden drei Jahren erschienen von mir immerhin noch drei weitere Romane. Inhalt: Monster, Panikattacken, gut aussehende, schreiende Teenager und natürlich ein paar grausam zugerichtete Leichen und viel Blut. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich augenscheinlich so abfällig meine 'Werke' zusammenfasse. Aber aus heutiger Sicht würde ich eigentlich keinem unbedingt empfehlen, eine dieser Geschichten zu lesen, wenn er nicht gerade etwas Besseres zu tun hat. Mein erster Roman war gut, und ich bin auch noch heute stolz auf ihn, aber der Rest war letztlich Zwang. Es war mein Lebensunterhalt.

Dann, fünf Jahre nach meinem Durchbruch, gab es einige Veränderungen. Paul, mein Agent und Freund starb bei einem Autounfall. Als ich die Nachricht von Pauls Tod erfuhr, war ich geschockter, als ich es mir selbst zugetraut hätte. Paul und ich hatten uns oft zum Lunch getroffen. Nicht nur, um über meine Bücher zu diskutieren, sondern auch, um sich einfach nur entspannt über unsere Alltagssorgen zu unterhalten.

Nachdem Paul gestorben war, wurde mir bewusst, dass er die letzten fünf Jahre eine der wenigen Bezugspersonen in meinem Leben gewesen war. Denn, als mein erstes Buch zum Erfolg wurde und mein Gesicht im Fernsehen zu sehen und mein Name in den Zeitungen zu lesen war, gab es zwar viele Menschen, die gern meine Freunde sein wollten. Die Freunde, die ich jedoch vorher schon hatte, wandten sich im Lauf der Zeit von mir ab. Eine Tatsache, an der ich selbst sicherlich nicht ganz unschuldig war. Der Erfolg verändert einen, und er verändert die Sichtweise anderer auf einen selbst. Was mir also nach Pauls Tod blieb, waren im Grunde nur meine eigene kleine Familie. Meine Frau Michelle und meine Tochter Amy.

 

 

2

 

Mein neuer Agent, der Paul ersetzte, war jung und überdreht. Bei unserer ersten Begegnung bombardierte er mich ständig mit dämlichen Marketing-Schlagworten wie 'Pageturner' und 'Unputdownable'. Er glaubte fest daran, dass mit seiner Hilfe mein neuer Roman ein Erfolg werden würde. Der Verlag wollte mein neues Buch zur nächsten Herbstsaison rausbringen. Zum Schreiben hatte ich etwas mehr als 10 Monate Zeit. Viel Zeit, die ich nicht genutzt habe.

Mein letztes Buch, das ich dann schließlich schrieb, war von Anfang an beschissen. Dieser und damit mein bislang letzter Roman, den ich unter dem Arbeitstitel 'Leichenschmatzen' geschrieben hatte (das erklärt eigentlich schon alles, oder?), bekam von der Fachpresse eigentlich ganz ordentliche Kritiken. Die Leser aber, die dank Internet Rezensionen schrieben, bloggten oder sich in Foren austauschten, verrissen das Buch gnadenlos. Zu Recht. Es war einfach jämmerlich. Und es war der Schlussstrich unter meine Karriere als Autor. Der Verkaufszahlen waren die schlechtesten, die der Verlag in jenem Jahr für einen seiner Romane verbucht hatte. Obwohl ich mich bemühte, mit dem Verlag in Kontakt zu bleiben, wollte man dort erst mal nichts mehr von mir wissen.

»Nimm dir mal eine Auszeit, Kumpel«, riet mir mein neuer Agent eines Nachmittags am Telefon und legte danach auf. Ich war nicht sein Kumpel. Erst nach diesem Telefonat wurde mir bewusst, dass mein Leben als Autor beendet war. Es war nicht nur eine vorübergehende Schwäche oder gar eine Schreibblockade. Es war endgültig.

Was danach geschah kann ich kurz zusammenfassen: Ich stürzte ab, war die meiste Zeit über betrunken, und es dauerte nicht mehr lange bis mich meine Frau Michelle aus unserem Haus geworfen hat.

Ihre einzigen Worte, die mir noch im Gedächtnis geblieben sind, waren: »Wenn du mir nicht Amy und das Haus lässt, mach ich dich so fertig, dass du wünschen wurdest, mich nie kennengelernt zu haben! Glaubst du, du würdest einen Prozess gegen mich gewinnen? Jack Rafton, der alkoholkranke Versager will das Sorgerecht für seine Tochter? Glaubst du das wirklich? Ich sag dir was: Versuch es doch! Dann gehe ich zur Presse und erzähle denen, wie schlimm deine Sucht ist.«

Mir wurde klar, dass ich Amy eine Schlammschlacht zwischen ihren Eltern nicht zumuten konnte. Ich wollte nicht, dass sie litt.

Und so gab ich auf. Einfach so. Ich überließ Michelle das Haus. Im Gegenzug sicherte sie mir zu, Amy an den Wochenenden mit zu mir nach Lost Haven mitnehmen zu dürfen - dort hatten wir unser Ferienhaus, das fortan mein neues, einsames Zuhause sein sollte. Das fiel Michelle nicht schwer zu versprechen, denn sie wusste ganz genau, dass Amy das Haus in Lost Haven ablehnte, weil sie glaubte, dort eines Nachts, als wir unseren letzten Sommerurlaub verbracht hatten, von einem Geist heimgesucht worden zu sein. Seither fürchtete sie sich vor dem Haus. Nach meinen Erlebnissen in den letzten Wochen hier kann ich ihr das nicht verübeln.

Nachdem ich schließlich nach Lost Haven gezogen war, war die Realität die, dass ich Amy nur sehr selten zu Gesicht bekam. Dafür sorgte ihre Mutter und deren Eltern, die sie in ihre Pläne penibel eingeweiht hatte, und die sie erfolgreich gegen mich aufgehetzt hatte.

Ja, natürlich. Ich hätte um Amy kämpfen müssen. Aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Mit dem Trinken und mit meinem Selbstmitleid. Ich war erbärmlich.

Aber genug davon. Ich stehe jetzt hier in Lost Haven am Abgrund, blicke aufs Meer und warte, dass das, was mit den anderen geschehen ist, auch mit mir geschieht. Ich habe noch ein wenig Zeit. Gehen wir also gedanklich zurück zu dem Punkt, an dem vor einigen Wochen alles angefangen hat.

Ja, ich erinnere mich. Ich wollte ein Geschenk für Peter kaufen...

Mrs. Trelawney achtet auf ihre Rosen

1

 

Ich hatte das Für und Wider sicherlich schon eine ganze Woche gegeneinander abgewogen. Ich hatte mich jedoch nun dafür entschieden, auf die Gefahr hin, dass Peter das Geschenk ablehnen würde. Ich meine, es geht hier schließlich nur um ein Buch für 12 Dollar. Ich kannte zwar den Tag von Peters Geburt, aber nicht sein Alter, das ich jedoch mit ziemlicher Sicherheit auf Mitte Dreißig schätzte.

Obwohl Peter und ich die letzten drei Jahre hier in Lost Haven viel Zeit miteinander verbracht hatten, wussten wir doch nur sehr wenig voneinander. Das Meiste von dem Wenigen, das wir voneinander wussten, beruhte nicht auf Gesprächen, sondern auf reiner Intuition. Peter erzählte mir einmal nur, dass er als Broker gearbeitet und entsprechend gutes Geld verdient hätte, bevor er sich im Zuge der Finanzkrise aus dem Geschäft zurückgezogen hatte. Vorbehaltlich meiner Gewissheit, dass dies nicht der eigentliche Grund war, warum er in Lost Haven gestrandet war, war das alles, das ich von ihm wusste. Ich selbst wiederum habe ihm nur erzählt, dass ich Schriftsteller war, bevor ich hierher gezogen war. Er kannte nicht einmal meinen richtigen Namen, und er wollte ihn auch gar nicht wissen. Das Ausblenden unserer Vergangenheit war das Fundament unserer Freundschaft, was ich später noch genauer ausführen werde. Nur soviel vorweg: Unsere Freundschaft wäre niemals in unseren früheren Leben möglich gewesen, als wir beide noch glücklich und erfolgreich waren. Sie konnte nur hier existieren. Nur jetzt. Denn das, was hier in Lost Haven von uns beiden noch übrig war, war nur noch ein Schatten dessen, was wir einmal waren.

Aufgrund dieser besonderen Art unserer Beziehung zueinander, war die Entscheidung, Peter ein Geschenk zu kaufen eine heikle Angelegenheit. Für einen Außenstehenden mag das vielleicht befremdlich wirken. Aber mein Geschenk – auch wenn es nur ein Roman war – hatte ich nicht auf das Geratewohl ausgesucht, sondern in dem Glauben, Peter würde darin Ähnliches erkennen wie ich. Und genau das war der kritische Punkt. Ich maßte mir an zu wissen, wovon Peter emotional eingenommen werden könnte. Für mich als Autor war das sicherlich ein Reiz, der in gewisser Weise aus einem Reflex heraus entstand. Deshalb geschah dies nicht in böser Absicht. Aber das war auch gar nicht so wichtig, denn Peter hätte mich wohl in dieser Form nie auf die Probe gestellt. So wurde mein Geschenk zu etwas Persönlichem. Und das Persönliche war in dieser fragilen Freundschaft zwischen Peter und mir stets ausgeklammert worden. Im schlimmsten Fall würde ich dadurch eine Grenze überschreiten, die bisher für uns beide selbstverständlich war.

Wird schon schief gehen, dachte ich, während ich die Main Street entlang schritt. Es war ein sehr schöner und warmer Spätsommertag im September.

Um ein Haar hätte ich kurz vor Beaver's Books angehalten und kehrt gemacht, weil ich kalte Füße bekam. Ich schüttelte den Kopf über meine irrsinnige Annahme, mein Geschenk könnte Peter sauer aufstoßen. Ihn vielleicht glauben lassen, ich wollte in seiner Vergangenheit herumstochern. Unmöglich! Und doch... Nein, nein ich wollte es jetzt kaufen. Wenn ich es ihm geben würde, würde ich ihm versichern, dass das Buch kein Versuch meinerseits war, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Ich würde dieses Tabu nicht brechen. Genauso wenig, wie er es tun würde.

 

 

2

 

Beaver’s Books war ein kleines, altes Geschäft, das der Inhaber Henry Beaver von seinem Vater geerbt hatte. Der Laden hatte sich seit Jahrzehnten kaum verändert. Wenn man das Geschäft betrat, fühlte man sich ein Stück in der Zeit zurückversetzt. Es herrschte ein schummriges Licht. Es roch nach alten Büchern. Prallvolle Bücherregale bedeckten jeden Quadratmillimeter Wand. Dieser Laden hatte rein gar nichts mit den modernen, bunten Buchläden gemein. Auch wenn aktuelle Literatur angeboten wurde, so war Beaver’s Books mehr ein Zufluchtsort von Worten, die im heutigen Sprachgebrauch keine Verwendung mehr fanden. Viele alte Schätze lagerten dort neben den neuesten Bestsellern. Doch nur die weniger wertvollen davon bot Mr. Beaver auch zum Verkauf an. Seine Schätze, wie er sie nannte, würde er nie verkaufen.

Ich öffnete die verglaste Tür, an der ein nostalgisches ‚OPEN’-Schild an einer Kette mit Saugnapf an der Innenseite baumelte. Und kaum hatte ich den Raum betreten, hatte ich wiederholt das Gefühl von einer Art Zeitlosigkeit. Draußen vor der Tür lief die Zeit ganz normal weiter, aber hier drinnen war Zeit etwas anderes, sie war zwar existent, aber nicht fassbar. Ich war mir nie ganz sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Gefühl war. Jedenfalls stärkte es jedes Mal meine Sinne. So auch an diesem Tag.

Mr. Beaver saß wie immer, wenn ich den Laden betrat, hinter der großen Verkaufstheke und starrte auf den Bildschirm seines Lesegeräts. Nur selten wandte er sich von jenem Bildschirm ab. Henry Beaver verfügte nur noch über eine etwa 15- prozentige Sehfähigkeit. Bücher konnte er nicht mehr ohne technische Hilfe lesen. Eine einfache Leselupe reichte da nicht aus. Sein Lesegerät hatte Ähnlichkeit mit einem Computer. Ein Buch oder eine Zeitung wurde auf ein kleines Podest gelegt, über dem in ca. dreißig Zentimetern Entfernung eine Kamera an einem Teleskoparm angebracht war. Direkt darüber an einem beweglichen Arm befestigt war ein großer Flachbildschirm, der die gedruckten Worte in variabler Einstellung vergrößert darstellte. Dies war eines der besseren Geräte, so dass es sehr teuer war. Mr. Beaver hätte es sich selbst kaum leisten können, dafür gab sein geliebter Buchladen viel zu wenig her. Und auch wenn er das Geld gehabt hätte, hätte er es niemals für sich ausgegeben, sondern nur für seine Tochter Melissa. Sie war es, die das Lesegerät letztlich gekauft hatte, nachdem sie mit meiner bescheidenen Unterstützung einen 'anonymen Spendenaufruf' gestartet hatte, der zu meiner und ihrer Überraschung derart positiv aufgenommen wurde, dass das Geld schnell zusammen kam.

»Ah, Mr. Rafton. Wie geht es Ihnen heute?«, begrüßte mich Mr. Beaver. Er erkannte mich immer aufgrund meiner Schritte. Nach dem Befinden fragte er mich immer, sobald ich den Laden betrat. Wenn man so eine Frage stellt, erwartet man wohl kaum eine ehrliche Antwort. 'Zum Kotzen' kann man ja schlecht erwidern. Stattdessen bleib ich höflich: »Alles bestens, Mr. Beaver. Darf ich fragen, welche Lektüre Sie heute beim Wickel haben?«

Mr. Beaver schmunzelte leicht und blickte wieder auf seinen großen Bildschirm. »Ein altes Märchen, Mr. Rafton. Nur ein altes Märchen.«

Er starrte einige schweigsame Sekunden auf den Bildschirm. »Melissa ist gleich bei Ihnen«, fügte er regungslos hinzu. Melissa war im Hinterzimmer, das vornehmlich als Lager diente, beschäftigt. Sie war siebzehn. Nicht nur ich war der Meinung, dass sie viel zu viel Zeit dort verbrachte. Andere junge Frauen in ihrem Alter hatten wohl ganz andere Dinge im Kopf als alte verstaubte Bücher, und Melissa selbst war kein Bücherwurm. Sie konnte schlicht ihren Vater nicht allein lassen. Sie glaubte, er würde ohne sie nicht zurechtkommen, obwohl ich der Meinung war, dass Henry Beaver durchaus sehr eigenständig leben konnte, trotz seiner Sehbehinderung. Melissa jedoch liebte ihren Vater viel zu sehr, als dass sie ihn verlassen würde. Lost Haven war kein Ort für so junge Menschen wie sie, wenn man kein Tourist war. Mr. Beaver sah das ähnlich wie ich, aber er hatte nicht die Kraft, seine Tochter davon zu überzeugen, ihn zu verlassen. Er war in eine melancholische Starre verfallen, die er zwar versuchte sich nicht anmerken zu lassen, die aber dennoch greifbar war, sobald man ihn sah.

Ich genoss für einige Sekunden die absolute Stille dieses Ortes, bis Melissa schließlich an die Verkaufstheke herangeschwebt kam.

---ENDE DER LESEPROBE---