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S. G. Felix

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Beschreibung

Thalantia ist nur knapp einer Katastrophe entgangen, welche der Transzendente heraufbeschworen hatte. Doch die eigentliche Bedrohung beginnt erst jetzt Gestalt anzunehmen. Der Dunkelträumer, der vor vielen hundert Jahren an den entferntesten Ort, den man sich vorstellen kann, verbannt wurde, ist erwacht und bereitet, getrieben von zerstörerischer Rache, seine Rückkehr vor.

In seinem zweiten Abenteuer müssen sich Antilius und seine Gefährten auf die Suche nach dem Flüsternden Buch begeben, das über die Macht verfügt, den Dunkelträumer nach Thalantia zurückzuholen.
Ihr Weg führt sie dabei zum Versteck des legendären Leviathans in der versunkenen Stadt Eventum, in die Fänge einer gigantischen, sprechenden Pflanze und in die Falle einer wahnsinnig gewordenen Banshee namens Xali. Kann Antilius das Buch finden und vernichten, bevor seine Widersacher es gegen ihn verwenden?

Nur wer bereit ist, kein noch so großes Opfer zu scheuen, wird diesen Wettlauf gewinnen.

Neuauflage des zweiten Teils der Verlorenend-Tetralogie

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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S. G. Felix

Das Herz von Xali

Band II der Verlorenend-Tetralogie

Inhaltsverzeichnis
Prolog
Das Buch des Vaters
Die Zusammenkunft
Arcanum
Aufbruch ins Unbekannte
Xali, die Entflammte
Der geschenkte Blick
Als die Mauern fielen
Das versprochene Herz
Eventum, die versunkene Stadt
Stimmen aus der Tiefe
Das Volk der Vergessenen
Das Schicksal von Verlorenend
Die Stunde des Leviathan
Der Klang ihrer Stimme
Große Taten
Die Gefährtin des Todes
In der Falle von Argusa Gigantula
Der Woodrof
Der blinde Fleck
Das letzte Abenteuer
Das verdorbene Herz
Am Ende des Schreckens
Die Ruinen von Eleusis
Die Vereinbarung
Xalis Neugier
Der Abschied
Die letzte Chance
Der Verrat der Totengräber
Kampf am Abgrund
Gorgus, der Weise
Das Schicksal von Gorgonia
Das sterbende Herz
Der Vater
Epilog

Prolog

Verlassen in der Kälte und der ewigen Finsternis, weit entfernt vom Licht und Staub der Sterne, harrte der Dunkelträumer an einem Ort aus, von dem man einst glaubte, er würde ihn nie wieder verlassen können.

Diejenigen, die ihn in seine eisige Verbannung geschickt hatten, waren schon seit vielen Jahrhunderten tot. Und beinahe wäre ihr Plan aufgegangen: Mit der Unsterblichkeit versehen, gab es kein Mittel, den Dunkelträumer zu vernichten, also wurde beschlossen, ihn in die Ferne zu verbannen, an den Rand des Universums. Dort sollte er ewig schlafen.

Fast tausend Jahre lang schlief der Dunkelträumer. Und er träumte. Er träumte von seiner Zeit auf Thalantia und von dem großen Krieg, in dem er einst gekämpft hatte. Und er träumte von dem Verrat, der an ihm begangen wurde. Doch mit den Jahrhunderten verblassten die Träume, und die Erinnerungen schwanden beinahe vollends. Die Hoffnung der Verschwörer, der Dunkelträumer würde alles vergessen und für alle Zeiten in der Einsamkeit vor sich hindämmern, schien sich zu erfüllen.

Aber nichts währt wirklich ewig. Was vor tausend Jahren auf Thalantia geschah, war so gewaltig und einzigartig, dass es nicht vergessen werden konnte. In jenen schweren Tagen der einst so unbekümmerten und friedvollen Welt wurden Kräfte freigesetzt, deren Macht bis heute nicht erloschen ist. Kräfte, deren Macht nun im Verborgenen ruht und darauf wartet, wiedererweckt zu werden. Das wusste der Dunkelträumer. Diese Gewissheit bewahrte ihn vor dem Wahnsinn. Und sein unbändiger Wille, eines fernen Tages nach Thalantia zurückzukehren und sich für den Verrat zu rächen, bewahrte ihn vor dem endgültigen Vergessen.

Obwohl er einsam war, war der Dunkelträumer nicht allein. Sein wichtigster Verbündeter hatte ihn nie vergessen und arbeitete jeden Tag unermüdlich daran, ihn nach Thalantia zurückzuholen. Es war das Flüsternde Buch, das einen eigenen Willen besaß. Das Buch hatte nach einem ersten missglückten Versuch einen neuen Transzendenten für ihn erwählt, der ihm den Übergang von seinem Verbannungsort zurück nach Thalantia ermöglichen sollte. Doch der neue Transzendente, der zuvor unter dem Namen Koros Cusuar ein machthungriges und einfältiges Leben geführt hatte, war nicht geeignet für diese Aufgabe.

Das Flüsternde Buch hatte so lange nach einem geeigneten Kandidaten gesucht, dass es überzeugt davon war, dieses Mal den Richtigen gefunden zu haben. Aber es hatte sich geirrt. Wieder einmal. Und so geschah es, dass die körperlosen Wesen, die unter den Bewohnern Thalantias als die Späher bekannt sind, dem mit der Macht des Transzendenten überforderten Koros eben jene Macht wieder entzogen.

Die Späher waren einst die treuen Adepten des Dunkelträumers gewesen, damals, als sie noch eine körperliche Gestalt besaßen. Genauso wie viele andere rätselhafte Wesen auch, führten die Späher ein Leben im Verborgenen. Irgendwo zwischen der Zeit und der Antizeit. Denn dies war ihre einzigartige Begabung. Sie vermochten zwar nicht die Zeit zu beherrschen, doch wussten sie, sie für sich zu nutzen. Die Späher waren es nun, welche die Macht der Transzendenz zwischen Zeit und Antizeit bewahrten. Nur so konnten sie sicherstellen, dass die Macht unversehrt überdauern konnte, bis zu jenem ersehnten Tage, an dem ein neuer Transzendenter gefunden war, der den Dunkelträumer zurückholen würde und den Spähern ihre Sterblichkeit wiedergeben würde.

Das Scheitern des letzten Versuchs, einen würdigen Transzendenten zu erschaffen, lastete schwer auf ihnen. Alle Hoffnung lag nun auf dem Flüsternden Buch. Jenes Buch hatte schon eine lange Reise hinter sich. In unzähligen Händen wurde es über Jahrhunderte hinweg gehalten, wobei es stets auf der Suche nach einem neuen Wirt für die Macht der Transzendenz war. Doch gelang es ihm bis heute nicht, den Richtigen zu finden.

Das Flüsternde Buch enthielt das gesammelte Wissen seit jener Zeit, zu welcher der Dunkelträumer verbannt wurde. Orte, Namen und Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte waren in diesem Buch enthalten. Es wusste um den Verrat am Dunkelträumer, und so wie die Späher auch, hatte das Flüsternde Buch es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dem Dunkelträumer seine zerstörerische Vergeltung zu ermöglichen, denn der Verrat reichte so tief, dass der Wunsch nach Rache zur Obsession wurde.

Auch wenn die letzte Inkarnation des Transzendenten ein Fehlschlag war, so gab es doch einen Erfolg, der dem Flüsternden Buch Hoffnung machte, sein Werk vollenden zu können: Als sich am Fuße des Adler-Gebirges in den Ahnenländern das Dimensionstor öffnete, erwachte der Dunkelträumer erstmals aus seinem tausendjährigen Schlaf. Das hatte das Flüsternde Buch bei all seinen Versuchen zuvor nicht vollbracht.

Den ersten Transzendenten, den es vor langer Zeit erschaffen hatte, ereilte der Tod, da es zu jener Zeit einen Geheimbund gab, der noch Kenntnis vom Dunkelträumer hatte und seine Rückkehr um jeden Preis verhindern wollte. So geschah es, dass die Macht der Transzendenz durch den Geheimbund in ein Dimensionstor eingesperrt und sein Wirt getötet wurde. Die Späher hatten damals keinen Zugang mehr zur Transzendenz. Erst jetzt, als die Macht durch Koros unter Anleitung des Flüsternden Buches aus dem Tor befreit worden war, brachten die Späher sie wieder unter ihre Kontrolle.

Die Rückkehr des Dunkelträumers war zwar gescheitert, aber er war jetzt erwacht. Das Ziel schien so nahe wie nie zuvor. Seine Erinnerungen waren alle zurück. Und obwohl oder gerade weil jede einzelne dieser Erinnerungen an sein früheres Leben auf Thalantia so unendlich schmerzhaft war, war die Begierde nach seiner Rückkehr überragend.

Aber trotz seiner Erweckung war er weiterhin zur Untätigkeit verdammt. Das Flüsternde Buch und die Späher waren die Einzigen, die seine Rückkehr noch ermöglichen konnten.

Dennoch spürte der Dunkelträumer, dass auf Thalantia Dinge ins Rollen gebracht wurden, die ihm in die Hände spielen würden. Zu dieser Einschätzung gelangte er, als er für einen kurzen Moment einen Blick durch den Dimensionstunnel erhaschen konnte, unmittelbar nach seiner Erweckung, während auf Thalantia die Macht der Transzendenz befreit worden war. Dort sah er zwei leuchtende Augen, die dem Dunkelträumer sehr vertraut waren.

Zwei Augen, die zu jemandem gehörten, der Antilius genannt wurde.

Das Buch des Vaters

»Grabt!«, befahl Ancrus ungeduldig.

Er stand an einen großen Findling gelehnt und versuchte, sein rechtes Bein zu entlasten. Es hatte ihm schon früher nach längerem Gehen Schmerzen bereitet, doch heute war es besonders schlimm. Nur durfte er es sich vor den anderen Gorgens nicht anmerken lassen. Ganz besonders heute nicht.

»Warum dauert das so lange? Macht schneller!«, rief er.

Ancrus wusste zwar, dass die sieben Gorgens, die unter seinem Befehl emsig schaufelten, nicht noch schneller arbeiten konnten, aber er wollte sie ständig auf Trab halten, damit sie keine Gelegenheit bekamen, innezuhalten und den Erfolg ihrer geheimen Mission infrage zu stellen oder sich der Gefahr, der sie sich aussetzten, bewusst zu werden.

Ancrus selbst half ihnen nicht beim Graben. Dafür war er zu alt, und außerdem hatte er das Kommando. Er sagte den anderen, was zu tun sei, und dafür waren die Gorgens dankbar, denn das, was Ancrus ihnen versprach, war nicht weniger als eine Zukunft für ihr Volk.

Nach der großen Schlacht an der Barriere von Valheel vor ein paar Wochen drohte dem Volk der Gorgens der Untergang, dessen war sich Ancrus absolut sicher. Tausende von seinesgleichen fielen auf die falschen Versprechen des Despoten Koros Cusuar herein und stürzten sich in einen Kampf, in dem es nichts zu gewinnen gab. Der Großteil derer, die ihm gefolgt waren, fand den Tod. Und viele von denen, die überlebt hatten, weil sie dem Inferno noch rechtzeitig entfliehen konnten, kehrten nicht mehr nach Gorgonia, ihrer Heimat, zurück. Teils aus Scham, teils aus Selbstaufgabe.

Die Geschichte wiederholt sich immerzu, dachte Ancrus betrübt.

Er hatte versucht, seine Artgenossen vor dem Tod zu bewahren. Er war einer der wenigen, der Koros durchschaut hatte. Aber die Verzweiflung der meisten anderen war einfach zu groß. Das Volk von Gorgonia hatte nie eine faire Chance erhalten, eine eigenständige und unabhängige Gesellschaft zu bilden, mit Stolz und Selbstbewusstsein. Immerzu wurde ihr Volk unterdrückt, missbraucht, bekriegt, ausgebeutet und vor allem anderen verachtet.

Oft hatte Ancrus darüber nachgedacht, was die Ursachen dafür waren. Sicher, die Gorgens waren kein Volk, das besonders intelligent war. Sie hatten nie bedeutende Erfindungen gemacht. Sie bevorzugten den Stillstand, aber nicht den Fortschritt. Sie waren keine Dichter oder Poeten, keine großen Architekten, sie waren ein einfaches Volk. Naiv ja, aber nicht dumm. Aber war Naivität der Grund für ihr Scheitern?

Wenn es nur Gorgens auf Thalantia geben würde, so dachte Ancrus manchmal, dann wäre ihre Vision einer zufriedenen Gesellschaft mit Gorgens, die ein erfülltes Leben führten, vermutlich wahr geworden. Denn stets waren es andere Völker, die aus Gier, Hass und Machtstreben das Volk der Gorgens für ihre niederen Zwecke missbrauchten. Eigenschaften, die den Gorgens im Wesentlichen fremd waren. Aus diesem Grunde nannte Ancrus auch alle Nicht-Gorgens auf Thalantia nur die Niederen.

Koros hatte die desolate Lage, in der sich die Gorgens befanden, ausgenutzt und versprach ihnen raschen Wohlstand und auch Macht. Seine verheißungsvollen Versprechen waren zu verlockend, um abgelehnt zu werden, obwohl die Gorgens es doch besser hätten wissen müssen. Sie hatten es einfach verlernt, mit Selbstvertrauen zu leben und eigene Entscheidungen zu treffen. Auch wenn niemand offen darüber redete, fühlten sich die Gorgens anderen gegenüber unterlegen. Viele von ihnen lebten in Armut, litten Hunger und verließen ihre Heimat Gorgonia. Nicht wenige wurden zu Dieben. So wie Feuerwind, der Antilius nach seiner Ankunft auf Truchten ausgeraubt hatte und später sein Leben an der Barriere von Valheel verlor. Dieser Gorgen war es auch, von dem Ancrus vor dessen Tod von der Existenz des Flüsternden Buches erfuhr. Das Buch, das Koros in seinem Palast stets aufbewahrte und dort auch zurückgelassen hatte, als er in die Schlacht gezogen war. Kein anderer noch lebender Gorgen hätte gewusst, was es mit dem Flüsternden Buch auf sich hatte. Niemand wusste es - bis auf Ancrus.

Es hieß, dass Ancrus nicht nur der älteste noch lebende Gorgen sei, sondern auch, dass er der älteste Gorgen überhaupt sei, den es jemals gegeben hatte. Und vielleicht stimmte das sogar. Ancrus war in jeder Hinsicht etwas Besonderes. Er war größer als die meisten anderen Gorgens. Auch sein Kopf war schmaler und größer. Seine Augen waren leuchtend grün. Sein für Gorgens typisch pechschwarzer Körper war von dutzenden graugefärbten Narben übersät, die er sich in zahllosen Gefechten zugezogen hatte, bevor er zu der Einsicht gelangte, dass das Kämpfen keine Lösung für seine Probleme war. Sein rechter Flügel (alle Gorgens hatten Flügel wie bei Fledermäusen) war halb verkrüppelt, sodass er höchstens noch ein paar Meter weit damit fliegen konnte, und das auch nur unter größter Anstrengung.

Ancrus war gezeichnet.

»Seid ihr schon auf etwas gestoßen?«, fragte er seine Arbeiter.

»Noch nicht«, antwortete einer von ihnen. »Seid Ihr sicher, dass wir an der richtigen Stelle graben?«

Ancrus schaute hinüber zum Meer, denn an dessen Küste befanden sie sich.

Dann sah er hinter sich, nach Süden. In der Ferne erblickte er die Zinnen der Beobachtungstürme und den Wehrgang am oberen Teil der Ringmauer, welche den Palast des einstigen Herrschers Koros Cusuar umschloss.

In dem heute verlassenen Bau hatten Ancrus und sein Gefolge noch am gestrigen Tage nach dem Flüsternden Buch gesucht, das Koros dort zurückgelassen hatte. Aber das Buch war nicht mehr dort. Jemand anderes war ihnen zuvorgekommen. Ancrus war wieder einmal zu spät gekommen. Alles, was im Palast nicht niet- und nagelfest war, war bereits gestohlen worden. Die Nachricht, dass Koros nicht mehr am Leben war, hatte sich offensichtlich schnell herumgesprochen.

Ancrus sah wieder auf das Loch, das er in den Boden an der nördlichen Küste von Truchten graben ließ.

»Er ist hier. Der Höhleneingang ist hier. Die Spuren, denen wir gefolgt sind, haben uns hierher geführt«, sagte er. Er musste sich beherrschen, seine wahren Gefühle den anderen gegenüber nicht zu offenbaren, denn nichts fürchtete er mehr, als jenen Höhleneingang freizulegen.

Die Gorgens machten eine kurze Pause und hielten inne. Offenbar hatten sie bemerkt, dass Ancrus besorgt zu sein schien. Ein Beben in seiner sonst so festen und tiefen Stimme hatte sie misstrauisch gemacht. Ancrus fluchte innerlich. Er wollte ihnen keine Angst machen und doch hatte seine eigene ihn verraten.

»Was ist in dieser Höhle?«, fragte ein anderer im Namen seiner Kollegen.

Ancrus wurde wütend: »Das Buch ist dort unten. Das wisst ihr doch! Was glaubt ihr wohl, wonach wir hier suchen? Dummköpfe!«

»Ja, aber wie ist es dort hineingelangt? Erst sagtet Ihr, das Buch sei im Palast. Das war es aber nicht. Und jetzt sagt Ihr, es sei in einer Höhle«, bemerkte ein dritter Gorgen.

Ancrus wurde noch wütender. Er überlegte kurz, was er antworten sollte, denn er wollte keine Meuterei riskieren. Sollte er sie belügen? Hatten sie das verdient? Noch mehr Lügen?

Die sieben Gorgens regten sich keinen Millimeter und fixierten Ancrus mit ihren Blicken. Ohne eine plausible Antwort würden sie nicht weitergraben.

»Also gut«, gab Ancrus nach. »Ihr werdet es sowieso erfahren.«

Er ging ein paar Schritte mit gesenktem Kopf. Dann blieb er stehen, vermied es aber, den anderen ins Gesicht zu sehen. »Hier unter uns befindet sich nicht nur eine Höhle, sondern ein ganzes Höhlensystem, das sich über mehrere Quadratkilometer erstreckt.«

Den Gorgens schwante Übles.

»Es ist das Reich der Totengräber«, sagte Ancrus.

»Die Totengräber?«, entfuhr es einem Gorgen. »Dann sollten wir zusehen, dass wir hier schnell wegkommen! Die Totengräber sind Bestien! Ich will nicht gefressen werden! Ich werde nicht weitergraben.«

»Schweig!«, schrie Ancrus. »Seid doch nicht immer so furchtsam! Glaubt nicht jeden Unsinn, den man sich erzählt!«

Ancrus kannte die Geschichten, die über die Totengräber erzählt wurden. Es seien gepanzerte Wesen, die fast blind waren und angeblich von Hummertieren abstammten. Nur mit dem Unterschied, dass sie viel größer als jene Gattung waren, sprechen konnten und recht intelligent waren. Ihr Höhlensystem verlief entlang der Küste. Es gab mehrere unterirdische Zugänge zum Meer, aus dem sie sich vornehmlich ernährten.

Aber manchmal, so wurde es erzählt, wenn ihr Hunger übermächtig wurde, dann kamen sie des Nachts aus ihren Höhlen an die Oberfläche und holten sich ein Opfer und entführten es in ihr unterirdisches Reich, um es dort zu fressen. Wegen dieser Legende trugen sie ihren Namen.

»Aber das sind die Totengräber!«, rief der Gorgen, der sich zum Unmut von Ancrus zum Wortführer des Widerstands erhob. »Egal, ob die Geschichten über sie wahr sind oder nicht, die Totengräber sind real, und kein vernünftiger Mann würde sich freiwillig in ihr Reich begeben. Das wäre glatter Selbstmord!«

»Ich habe auch nie behauptet, dass unsere Suche nach dem Buch ungefährlich sein würde«, erwiderte Ancrus wahrheitsgetreu.

»Wieso sollten gerade die Totengräber sich das Buch geholt haben? Was sollten sie damit anfangen?«

Ancrus sah den aufgebrachten Gorgen ernst an. »Ein jeder, der mit seinem Leben unzufrieden ist und sich zu Höherem bestimmt fühlt, will das Buch haben, sobald er von dessen Existenz gehört hat. Das Buch soll die gesammelte Weisheit Thalantias in sich tragen, und deshalb kann sich niemand seiner Anziehungskraft entziehen. Viele hatten es schon besessen. Aber niemand konnte es wirklich verstehen.

Die Totengräber haben auf ihre Gelegenheit gewartet: Als sich alle Aufmerksamkeit auf die Barriere von Valheel richtete, schlugen sie zu und holten sich das Buch. Von dem Buch versprechen sie sich Anleitungen dafür, wie ihr Volk eines Tages wieder an der Oberfläche leben könnte. Gleichberechtigt mit anderen. Sie hoffen, sich nicht mehr unter der Erde verstecken zu müssen. Die Totengräber hassen sich für das, was sie sind. Sie verabscheuen ihre animalischen Instinkte.

Ihr solltet sie bemitleiden, nicht fürchten. Letztlich bin wahrscheinlich ich der Grund dafür, dass sie überhaupt nach dem Buch gesucht haben.

Ich bin mir absolut sicher, dass sie es sind, die es jetzt haben. Und da wir nun die Einzigen sind, die das wissen, sind wir im Vorteil.«

»Warum seid Ihr der Grund? Und woher wisst Ihr so viel über die Totengräber?«

Die Gorgens warteten gespannt auf eine Antwort.

»Weil ich schon einmal bei ihnen war«, sagte Ancrus und zeigte auf den zugeschütteten Höhleneingang. »Ich war in ihrem Reich. Es war vor über vierzig Jahren, als sie mich entführten.«

Die anderen Gorgens waren entsetzt. »Dann sind die Geschichten über die Totengräber also wahr. Sie entführen Unschuldige, um sie zu verspeisen«, rief einer.

Ancrus nickte nur stumm.

»Aber wenn Ihr dort wart, wie seid Ihr entkommen?«, fragte der Wortführer des Widerstands.

»Ich bin nicht geflohen. Sie haben mich gehen lassen. Weil sie nicht das sind, wofür ihr sie haltet.«

Ancrus erntete nur verständnislose Blicke. »Wie ich euch bereits sagte, mögen die Totengräber nicht das, was sie sind. Das Meer ist eigentlich ihre Hauptnahrungsquelle. Aber manchmal, da entwickeln sie diesen besonderen Hunger.« Ancrus sah in den Gesichtern der anderen Abscheu und Furcht.

»Ja, es ist grausam«, sagte er. »Es ist ein uralter Instinkt, von dem die Totengräber alle paar Jahre übermannt werden. Sie hassen sich dafür, das kann ich euch versichern. Sie würden alles tun, um sich von diesem Trieb zu befreien. Alles.

Als sie mich entführten, da hatten sie ihn wieder, diesen entsetzlichen Hunger. Ich war ihr auserwähltes Opfer. Sie entführten mich am helllichten Tage und brachten mich tief, tief in ihr unterirdisches Reich.« Ancrus erschauerte sichtlich bei dieser Erinnerung.

»Sie hielten mich zunächst tagelang gefangen. Ich bemerkte schnell, dass die Totengräber heftig miteinander stritten. Offenbar gab es einige, die dagegen waren, mich zu ihrem Festmahl zu machen. Sie wollten sich nicht ihrer Fresslust hingeben. Sie argumentierten, dass meine Tötung all ihre Bemühungen, ihren Trieb unter Kontrolle zu bringen, zunichtemachen würde. Schon damals reichte ihre innere Zerrissenheit über ihren animalischen Instinkt tief.

Viele von ihnen glaubten, dass sie nie wieder an der Oberfläche leben könnten, wenn sie wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückfielen.

Schließlich holten sie mich aus meinem Gefängnis und brachten mich in eine riesige Höhle, in der es von Totengräbern nur so wimmelte. Ich kann euch versichern, dass dies das Furchterregendste war, das ich je erlebt habe.«

»Was geschah dann?«, wurde Ancrus angsterfüllt gefragt.

»Die Totengräber beschlossen, mich sprechen zu lassen. Sie hatten sich darauf geeinigt, mir eine faire Chance zu geben, mein Leben zu retten. Sie erklärten mir, dass sie mir eine Frage stellen würden. Wenn meine Antwort sie mehrheitlich davon überzeugen sollte, dass ich es nicht verdient hatte zu sterben, dann würden sie mich gehen lassen. Wenn nicht, würden sie mich fressen.

Sie taten damit etwas, das sie bei ihren früheren Beutezügen stets vermieden hatten. Nämlich ihrer Beute ein Gesicht und einen Namen zu geben.

Ihr versteht jetzt hoffentlich, dass sich mörderische Bestien nicht so verhalten würden«, sagte Ancrus und musterte die Runde von Gorgens. Keiner sagte etwas. Sie rätselten nur, wie Ancrus es geschafft hatte, unversehrt das Reich der Totengräber zu verlassen.

»Welche Frage stellten sie Euch?«

»Sie fragten mich, ob ich an etwas glauben würde, das meinem Leben einen Sinn gibt.

Da ich ihrem Versprechen, mich eventuell gehen zu lassen, keinen Glauben geschenkt habe, erzählte ich ihnen wahrhaftig, an was ich glaubte.

Ich erzählte ihnen vom Vater.«

Ein Raunen ging durch die Runde der Gorgens.

»Aber es ist doch verboten, mit anderen über den Vater zu sprechen!«, schallte es Ancrus empört entgegen.

»Das weiß ich. Aber ich dachte, mein Tod wäre schon beschlossene Sache. Also offenbarte ich mich ihnen. Was hättet ihr denn getan, im Angesicht des Todes?«

Die Gorgens senkten beschämt ihren Blick. Wenn sie sich in seine Situation hineinversetzten, dann hätten sie wohl auch vom Vater gesprochen, an welchen sie genauso fest glaubten wie Ancrus selbst. Im Gegensatz zu Ancrus war aber der Vater für die meisten Gorgens eher so etwas wie eine religiöse Figur.

Ancrus bemühte sich nicht ärgerlich über die Nachfrage zu sein. »Ich erzählte ihnen also das, was man euch und was man mir von klein auf erzählt hat. Ich erzählte ihnen, wie der Vater am Anbeginn der Zeit aus der Erde aufgestiegen ist und wie er später die Gorgens erschuf. Ich erklärte ihnen, dass wir seine Kinder sind.

Zuerst waren die Totengräber nicht sonderlich von meinen Erzählungen beeindruckt, da im Prinzip jedes Volk an ein höheres Wesen oder an eine höhere Macht glaubt. Aber dann berichtete ich ihnen von dem Buch, das der Vater schrieb, als es für ihn an der Zeit war, zu schlafen.

Damit wir, die Gorgens, ohne den Vater unbehelligt und beschützt weiterleben konnten, schrieb er all sein Wissen über die großen und kleinen Geheimnisse Thalantias in dieses Buch hinein. Und als er es beendete, gab er dem Buch eine Seele.

Aber als der Vater dann schlief, wurde das Buch gestohlen und fand nie wieder zurück zu den Gorgens. Seine Existenz geriet unter unserem Volk in Vergessenheit.

Die Niederen, also auch jene, die das Buch unrechtmäßig unserem Volk gestohlen hatten, nennen dieses Buch das Flüsternde Buch. Sie tun das, weil sie keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.

Wir Gorgens aber, wir nennen es das Buch des Vaters.«

Fassungslosigkeit machte sich unter den anderen Gorgens breit. Diese legte sich aber wieder schnell, als sie die Tragweite des Berichts von Ancrus begriffen.

»Ihr sagt, dass das Flüsternde Buch in Wirklichkeit das Buch des Vaters ist. Ein Buch, das ein Erbe unseres Vaters und Schöpfers ist. Es ist unser Buch?«, fragte einer.

Ancrus war sichtlich erfreut über die letzten zwei Worte.

»Du sagst es! Es ist unser Buch«, sprach er und zeigte stolz auf den einen Gorgen.

»Es gehört uns! Der Vater hat es nur für uns geschrieben, und das erzählte ich den Totengräbern an jenem dunklen Tage vor über vierzig Jahren.

Und dann sprach ich zu ihnen die wahrsten Worte, die ich je gesprochen hatte.

Ich sagte, dass ich es im Angesicht des Todes bereuen würde, nicht alles mir Mögliche getan zu haben, um das Buch des Vaters zu finden und den Gorgens zurückzugeben. Ich sagte, dass unser Volk nun endgültig dazu verdammt sei, im Dunkeln zu leben, ohne Ehre und ohne Würde, da ich der Letzte war, der nach dem Buch des Vaters gesucht hatte.

Jene Worte, meine Freunde, brachten schließlich den Wendepunkt. Ich war für sie ein vorgehaltener Spiegel, in dem sie ihre eigene traurige Existenz wiedererkannten. Sie sahen in mir keine Beute mehr, sondern einen Bruder im Geiste. Und so ließen sie mich ziehen. Auch wenn einige protestierten, so kehrte ich doch unversehrt aus ihrem stillen Reich zurück an die Oberfläche und schwor, niemandem etwas von meinen Erlebnissen zu berichten. Bis zum heutigen Tage.«

Die Gorgens murmelten nachdenklich und berieten sich untereinander knapp, bis der Anführer des Widerstands fragte: »Aber wenn die Totengräber wirklich im Besitz des Buchs des Vaters sind, wie wollt Ihr sie überzeugen, es Euch zu überlassen?«

»Das lasst ihr meine Sorge sein. Ihr müsst nichts weiter tun, als diesen Höhleneingang freizulegen. Um den Rest kümmere ich mich, auch wenn ich euch nicht versprechen kann, dass es ungefährlich ist.

Ich kann euch nur die einzigartige Möglichkeit bieten, unserem Volk wieder das zurückzugeben, was unser verehrter Vater uns einst geschenkt hat: Stolz und Ehre.«

Ancrus sprach diese Worte wieder mit seiner so tiefen und festen Stimme, die man von ihm gewohnt war.

Die Gorgens tauschten Blicke aus. Dann begann einer wieder mit dem Graben, und es dauerte nicht lange, bis die anderem seinem Beispiel folgten.

Ancrus atmete erleichtert auf. Er hatte es geschafft, die sich anbahnende Rebellion seiner Arbeiter zu verhindern. Es war die richtige Entscheidung, sie über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen. Und er war froh, dass ihn niemand danach fragte, wie er mit dem Buch des Vaters die Ehre seines Volkes wiederherstellen wollte. Denn über diese Herausforderung hatte sich Ancrus noch keine Gedanken gemacht. Wie auch? Woher sollte er wissen, wie man das Buch des Vaters liest? Das Buch, das sich in den vergangenen Jahrhunderten so weit von seinen rechtmäßigen Besitzern entfernt hatte.

Das werde ich schon noch herausfinden, wenn ich es erst einmal in meinen Händen halte, dachte Ancrus, als einer seiner Arbeiter rief: »Ich bin durch! Ihr hattet recht. Hier ist ein Eingang!«

»Wir sind unserem Ziel nahe. Heute wird der Tag sein, an dem das Buch des Vaters wieder mit seinen rechtmäßigen Eigentümern wiedervereint wird. Unsere Tage des Leidens sind bald vorüber«, sagte er, und er glaubte an das, was er sagte.

Genauso wie die Totengräber bereit gewesen wären, alles zu tun, um ihren animalischen Beuteinstinkt loszuwerden, so war Ancrus bereit, alles zu tun, um das Buch des Vaters zu bekommen.

Alles.

Die Zusammenkunft

Seit dem Ende der Ereignisse an der Barriere von Valheel vor nicht einmal drei Wochen lag eine bedrückende Stille über den Ahnenländern. Jener kleinen Insel im Nordwesten von Truchten, die seit Generationen für Außenstehende als unerreichbar galt, weil sie von einem geschlossenen Steilküstenring umgeben war.

Einst waren die Ahnenländer ein Teil von Truchten gewesen. Und obwohl es sich tatsächlich nur um eine Insel mit wenigen Quadratkilometern Fläche handelte, war ihr Gebiet in sechs kleine Ländereien unterteilt, die hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt wurden, und daher trug die Insel ihren Namen.

Die Bewohner der Ahnenländer wurden sich erst nach und nach der Bedeutung der Schlacht, die sich im letzten Moment zu ihren Gunsten gewendet hatte, bewusst. Auf Thalantia wussten nur die wenigsten von der Legende vom Transzendenten, geschweige denn vom Dunkelträumer. Aber die Bewohner der Ahnenländer, allen voran die Einwohner der Stadt der Ahnen, auch Arcanum genannt, im Zentrum der Insel, kannten diese Legenden. Sie vermieden es darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen, weil sie gelernt hatten, dass die Vergangenheit ruhen müsste, um sich nicht eines Tages zu wiederholen. Als aber Koros kurzzeitig die Macht der Transzendenz in sich aufnahm und damit um ein Haar den Dunkelträumer zurück nach Thalantia gelockt hätte, da wurden die Legenden ferner Tage plötzlich real. So real, dass viele nicht weniger als das blanke Entsetzen packte. Entsetzen darüber, wie fragil ihre vermeintlich abgeschiedene Idylle in Wirklichkeit war.

Und viele hatten Fragen. War die Gefahr gebannt? Ist der Transzendente jetzt wirklich tot? Existiert für den Dunkelträumer doch noch ein Weg zurück? Und wenn ja, weiß der Dunkelträumer, dass es einen Weg nach Thalantia gibt?

Auf diese und zahlreiche andere Fragen gab es aber keine Antworten. Die Präfektin der Ahnenländer versprach, dass keine Gefahr bestünde, aber das glaubten ihr nur die wenigsten.

Weil die Bewohner der Ahnenländer von ihren Volksvertretern keine oder allenfalls beschwichtigende Antworten bekamen, wandten sie sich mit ihren Fragen an denjenigen, der ihnen und vielleicht ganz Thalantia das Leben gerettet hatte.

Sie wandten sich an Antilius, von dem berichtet wurde, seine Augen würden im Mondlicht silbern leuchten.

Antilius selbst konnte jedoch keine Antworten liefern. Denn obwohl er derjenige war, der das alles vernichtende Schwarze Loch geschlossen hatte, verstand er am wenigsten von den Hintergründen, die zur Beinahe-Katastrophe geführt hatten. Er, Gilbert, Pais und der kleine Sortaner Haif saßen seit dieser Zeit hier auf den Ahnenländern fest. Darüber waren sie aber nicht unfroh, da sie von Lois, dem Bruder von Pais, vor allzu aufdringlichen Zeitgenossen abgeschirmt wurden. Sie sollten sich erst einmal erholen und in Ruhe wieder zu Kräften kommen. Lois brachte alle vier in einem kleinen Landgut, ganz im Osten der Insel, unter. Jeder, der an der Tür klopfte und neugierig einen Blick auf die Neuankömmlinge erhaschen wollte, wurde brüsk abgewimmelt.

Die Largonen, welche Antilius beim Kampf gegen Koros Cusuar unterstützt hatten, wurden auf ihren Wunsch hin woanders untergebracht und von der Öffentlichkeit abgeschirmt.

Pais war sehr froh darüber, seinen Bruder wiederzusehen. Nach seiner Flucht von den Ahnenländern vor vielen Jahren, war er sich nicht sicher, ob Lois ihm sein heimliches Verschwinden jemals verzeihen würde. Aber er tat es. Lois wusste, dass sich sein Bruder eingesperrt gefühlt hatte. Niemand durfte die Ahnenländer verlassen, genauso wenig, wie sie jemand Fremdes betreten durfte. Und nichts hasste Pais mehr als das Gefühl, eingesperrt zu sein. Er hatte in den Jahren seines Exils seine Entscheidung nie bereut. Aber nun, da ihn die vergangenen Ereignisse wieder hierher geführt hatten, da kamen ihm manchmal Zweifel, ob es richtig gewesen war, seine Familie und seine Freunde heimlich zu verlassen. Er fragte sich, ob er sie nicht gar im Stich gelassen hatte.

All diese Zweifel und Befürchtungen diskutierte Pais in diesen Tagen nun ausführlich mit seinem Bruder, mit dem er seit so vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Aber Lois gab ihm keine Sekunde Anlass dafür, sich schuldig zu fühlen. Er war einfach nur froh, seinen Bruder wiederzuhaben.

Und Pais war noch nie in seinem Leben so sehr mit Dankbarkeit erfüllt.

Für den kleinen und stämmigen Sortaner Haif war alles ein großes Abenteuer. Er entdeckte eine Seite an sich, von der er nie zuvor in Erwägung gezogen hätte, dass er sie besitzt. Ja, Haif war davon überzeugt, dass er zum Abenteurer geboren war.

Ursprünglich dachte er lediglich, dass er ein gewinnbringendes Geschäft aus den Geheimnissen rund um den Transzendenten ziehen könne, aber das war ihm jetzt völlig egal. Auch er wollte nun wissen, was es mit dem mysteriösen Dunkelträumer auf sich hatte, und er fragte sich, welche Kräfte in der Vergangenheit wohl am Werk gewesen sein mussten, deren Macht noch bis in die heutige Zeit hineinreichte.

Als er dem Menschen Antilius und seinen Freunden zum ersten Mal begegnet war, da hielt er nicht viel von ihnen. Sie waren überhaupt nicht an Profit interessiert. Und sie waren groß. Denn Größe war eine körperliche Eigenschaft, die bei Sortanern als Anzeichen für geistige Trägheit interpretiert wurde. Er hatte Vorurteile gegen seine menschlichen Mitstreiter. Das musste er sich heute innerlich eingestehen. Genauso, wie er sich nun eingestand, dass er sich geirrt hatte. Und auch, dass sie mehr waren als nur Mitstreiter in einem großen Abenteuer, sondern vielmehr so etwas wie Freunde.

Freundschaften schließen? Das war eigentlich nicht gerade eine von Haifs Stärken. Er war sich nicht einmal ganz sicher, wie er diesen Begriff Freundschaft für sich definieren würde. Aber er glaubte, dass er in diesen großen Menschen Freunde gefunden hatte, auch wenn er das niemals offen zugeben würde. Zumindest nicht jetzt. Wenn ein anderer Sortaner davon erfahren würde, dass er mit Menschen Freundschaft geschlossen hätte, dann würde er wohl mehr als nur verständnislose Blicke ernten.

Wie dem auch sei. Haif erkannte, dass er mitten in ein großes Abenteuer gestolpert war, dessen magischer Anziehungskraft man sich unmöglich entziehen konnte.

Er sprach fortan nur noch von dem großen Abenteuer, das auf sie alle wartete. Abenteuer hier, Abenteuer da. Von morgens bis abends redete er von nichts anderem.

Nur manchmal in diesen Tagen auf dem Landgut, wenn sich die Dunkelheit über die Felder legte, in einer stillen Stunde, wenn Haif alleine mit seinen Gedanken war, dann war er sich ob seiner neu entdeckten Abenteuerliebe selbst ein wenig unheimlich.

Gilbert indes hatte seit dem Tag, an dem die Gefahr durch den Transzendenten und den Dunkelträumer vorläufig gebannt war, nicht viel geredet.

Durch seine Ankunft in Verlorenend zusammen mit Antilius war er kurzzeitig aus seinem Gefängnis, dem Spiegel, befreit worden. Er hatte aufgrund der Dramatik der Ereignisse nie Zeit gefunden, sich dieser unfassbaren Freude über seine Befreiung bewusst zu werden. Die wenigen Stunden außerhalb seines Gefängnisses erschienen ihm heute nur noch surreal; fast schon wie ein Traum.

Der Transzendente war besiegt, aber Gilbert war wieder hinter dem Spiegelglas gefangen. In einem kleinen Raum mit einem Fenster, durch das die Illusion einer Sonne Licht spendete.

Gilbert hatte Antilius von seiner Geschichte erzählen wollen, als er aus dem Spiegelgefängnis befreit wurde. Er wollte ihm erzählen, wie er vor vielen Jahren dort hinein gelangt war. Aber jetzt brachte er keinen Mut mehr dazu auf. Denn er hatte damals nicht nur seine Freiheit verloren, sondern auch jemanden, ohne den er nicht mehr vollkommen war. Die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.

Irgendwann würde er Antilius alles erzählen müssen. Irgendwann müsste er die Vergangenheit wieder hervorholen und sich ihr stellen. Das wusste Gilbert. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür.

Und Antilius selbst? Er fühlte sich leer. Ihm wurde gesagt, er hätte Thalantia vor einer Katastrophe bewahrt. Ihm wurde gesagt, dass seit seiner Rückkehr aus Verlorenend seine Augen im Mondlicht des Mondes Quathan silbern leuchten würden. Immer und immer wieder sprach man darüber, und Antilius konnte sich auf alles keinen Reim machen. Er war erschöpft.

Das Orakel in Verlorenend hatte ihm nur soviel erzählt, wie er wissen musste, um Koros Cusuar letztlich zu besiegen. Aber es hatte ihm auch vage vom Dunkelträumer berichtet. Ihm hatte Antilius an der Barriere von Valheel durch eine Art Tunnel in die Augen geblickt. Und seither fühlte er sich so erschöpft. Und älter. Keiner sprach es aus, aber seit er vom Orakel aus Verlorenend wieder zurückgeschickt worden war, sah er deutlich älter aus als zuvor. Sein Gesicht wirkte kantiger. Die Haut unebener. Die Kräfte, denen er ausgesetzt war, waren so unersättlich, dass sie spürbar an ihm gezehrt hatten.

Er fürchtete sich davor, den Geheimnissen um den Dunkelträumer noch weiter auf die Spur zu gehen, aber er fühlte, dass seine Reise gerade erst begonnen hatte.

Sein Gedächtnisverlust hatte definitiv etwas mit den jüngsten Vorgängen hier auf Thalantia zu tun.

Eigentlich war er nach Truchten gereist, um etwas über seine eigene Vergangenheit herauszufinden. Aber bisher taten sich ihm statt Antworten nur neue Rätsel auf, wobei das größte Rätsel er selbst zu sein schien.

Auch wenn Antilius bis heute nicht in Erfahrung bringen konnte, wer er eigentlich wirklich war, so hatte er doch etwas über sich gelernt. Nämlich, dass er über Fähigkeiten zu verfügen schien, die normale Menschen nicht hatten. Und diese besonderen Fähigkeiten, so glaubte er, waren der Schlüssel zum Öffnen des Schlosses aller Fragen.

Antilius machte sich Vorwürfe, dass es ihm nicht gelungen war zu verhindern, dass Gilbert erneut in den Spiegel geraten war und eingesperrt wurde. Diesmal ohne vorstellbare Aussicht, ihn jemals wieder dort herauszubekommen.

Wenn die Nacht über das kleine Landgut, das ihre vorläufige Herberge war, hereinbrach und alle schliefen, dann schlich sich Antilius manchmal heimlich aus dem Haus und wanderte entlang der östlichen Steilküste unter dem silbernen Mondlicht von Quathan. Nur dann fand er Trost und Ruhe.

Seit seine Augen jenes ferne Licht zu reflektieren begannen, fühlte er eine merkwürdige Verbindung zwischen sich und jenem Mondlicht. Er fühlte sich jenem Licht zugehörig. Er war ein Teil von ihm. Es machte ihn seine Fragen und seine Sorgen vergessen.

Und so wie in vielen Nächten zuvor, war Antilius auch in der letzten Nacht, die seine Freunde und er auf dem Landgut verbrachten, unterwegs, stets begleitet vom abnehmenden Mond, der jetzt nur noch eine dünne Sichel war und nur wenig von seinem mystischen Schein auf die Ahnenländer warf.

Morgen würde die Präfektin der Ahnenländer persönlich hier erscheinen, um die Lage zu besprechen und die Gefahren für Thalantia in der Zukunft auszuloten.

Pais hatte gegenüber Antilius angedeutet, dass die Präfektin über Wissen verfügen könnte, dass niemandem sonst mehr zugänglich sei. Irgendwie hoffte Antilius, dass dem nicht so war. Ein Teil von ihm wollte nichts mehr von den sonderbaren Geschehnissen wissen und einfach nur in Frieden leben, auch wenn dies bedeuten würde, dass er weder etwas über seine Herkunft erfahren noch seine fehlenden Erinnerungen jemals wieder erhalten würde.

Er saß am Klippenrand im fahlen Mondlicht und schaute aufs nächtliche Meer hinaus. Immer wieder war er in den vergangenen Tagen an diesen Ort gekommen, um sich über seine Gefühle im Klaren zu werden. Aber es gelang ihm nicht. Das Gefühl der Leere lag wie ein dunkler Schleier über ihm.

Er hatte dem Dunkelträumer in die Augen gesehen, als sich an der Barriere ein fragiler Durchbruch gebildet hatte. Und für einen verschwindend geringen Bruchteil einer Sekunde hatte er in diesen Augen Dinge gesehen, die alles erklärten. Wirklich alles. Nur konnte er sich, wie durch einen dunklen Zauber beeinflusst, nicht mehr daran erinnern.

Doch eine Gewissheit hatte er aus diesem Augenblick bewahrt. Eine Gewissheit, die er sich erst heute in dieser Nacht eingestand. Nämlich die, dass auf Thalantia noch uralte Mysterien verborgen waren, die seine Vorstellungskraft zwar überstiegen, denen er sich aber würde stellen müssen.

Seine Reise hatte gerade erst angefangen. Alles, was bis zu diesem Tage geschehen war, sollte nur ein kleiner Vorgeschmack auf das sein, was ihn noch erwartete.

Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, trat wie angekündigt die Präfektin der Ahnenländer in das kleine Bauernhaus ein. Lois hatte sie hierher begleitet, doch kurz nach ihrer Ankunft bat sie ihn, das Haus wieder zu verlassen. Sie wollte allein mit Antilius, Pais, Haif und Gilbert sein, und niemand sollte sie stören.

Obwohl Lois genau wie die anderen sehr gespannt auf die Worte der Präfektin war, protestierte er nicht und verschwand durch die Eingangstür nach draußen.

Im geräumigen Wohnraum stand ein großer Esstisch aus Eichenholz, an dem die Besprechung stattfinden sollte.

Alle setzten sich, und Pais legte noch ein Scheit Holz in das Feuer des großen Kamins, da der Morgen die Kühle der Nacht noch nicht vollständig verdrängt hatte, bis auch er Platz nahm.

Die Präfektin war eine ältere Frau mit langen hellgrauen Haaren. Sie trug ein einteiliges Baumwollgewand, das nur den ranghohen Mitgliedern der Ahnenländer vorbehalten war. Schon bei ihrer Ankunft hatte sie jeden der Neuankömmlinge eindringlich gemustert. Besonders Antilius. An ihn richtete sie ihre ersten Worte.

»Zunächst möchte ich mich im Namen aller Bewohner der Ahnenländer bei Euch bedanken, dass Ihr uns vor dem Untergang gerettet habt.«

Antilius wollte etwas erwidern, weil er doch gar nicht wusste, was er getan hatte, aber die Präfektin machte mit einer Handbewegung deutlich, dass sie jetzt nicht unterbrochen werden wollte.

»Ich weiß, dass es nichts gibt, das wir Euch anbieten könnten, um die Schuld zu begleichen, in der wir bei Euch stehen. Aber vielleicht gibt es etwas, das ich tun kann, damit wir verstehen, was es mit den Ereignissen auf sich hat. Doch zuvor würde ich mir gerne anhören, was jeder Einzelne aus seiner Sicht erlebt hat und wie es Euch letztlich hierher verschlagen hat. Und ich bitte jeden, kein Detail auszulassen, denn ich bin in großer Sorge um unser aller Sicherheit.«

Antilius begann zu erzählen, was er seit seiner Ankunft auf Truchten erlebt hatte. Er erzählte von seiner Suche nach Brelius Vandanten, mit der alles angefangen hatte. Er berichtete von seiner Begegnung mit den Spähern im Turm der Zeit, und er erzählte, was er in Verlorenend erlebt hatte. Wie er dort dem Orakel begegnet war, das für ihn gestorben war, damit er zurück in die reale Welt konnte, um sich dem Transzendenten zu stellen.

Danach war Pais an der Reihe, dann Gilbert, dessen Spiegel auf dem Tisch aufgerichtet war, und zum Schluss berichtete Haif. Der Sortaner war sichtlich aufgewühlt und überschlug sich manchmal beim Sprechen vor Aufregung. Er fühlte sich so unglaublich wichtig.

Die Präfektin hörte sich alles sehr konzentriert an. Sie unterbrach die Berichte nicht ein einziges Mal.

»Pais und ich konnten uns gerade noch in Sicherheit bringen, als dieses riesige Schwarze Loch alles in sich aufzusaugen begann, und die kolossalen Statuen in sich zusammenstürzten. Ich schloss die Augen, und plötzlich war alles vorbei.

Ich öffnete meine Augen wieder, und Antilius war dort, wo das Loch zuvor gewütet hatte«, sagte Haif am Ende seines Berichts.

Die Präfektin nickte nachdenklich und bedankte sich bei Haif.

»Was besorgt Euch, Präfektin?«, fragte Pais.

»Nun, ich gestehe, ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Ich bin verwirrt. Wahrscheinlich stehe ich noch unter dem Einfluss des Geschehens an der Barriere«, sagte sie. Die Präfektin faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich vor.

»Was ich jetzt sagen werde, darf diesen Raum nicht verlassen.«

»Selbstverständlich, Präfektin«, versicherte Pais.

»Gut. Ich befürchte, dass die Gefahr durch den sogenannten Dunkelträumer nicht gebannt ist. Der Transzendente wurde besiegt, aber seine Macht wurde von den Wesen, die Antilius als Späher bezeichnet hat, in Besitz genommen.

Wie wir durch seine Schilderungen nun wissen, braucht der Dunkelträumer einen Transzendenten, um in unsere Welt vorzudringen. Und solange die Macht der Transzendenz noch existiert, solange wird der Dunkelträumer nicht müde werden, seine Pläne in die Tat umzusetzen und auf einen neuen Transzendenten zu warten, der ihn nach Thalantia holt.«

»Was wisst Ihr über den Dunkelträumer? Was ist vor tausend Jahren hier auf Thalantia geschehen?«, fragte Antilius gespannt.

»Das würde mich auch interessieren«, sagte Pais. »Es wundert mich sehr, dass es überhaupt jemanden gibt, der etwas über diese Dinge aus der fernen Vergangenheit weiß. Ich kenne jedenfalls niemanden, der jemals etwas von einem Dunkelträumer gehört hätte.«

»Aus gutem Grund«, erwiderte die Präfektin bestimmt. »Aus gutem Grund, Herr Ismendahl. Was sich vor über zehn Jahrhunderten auf Thalantia ereignet hat, sollte in Vergessenheit geraten, damit es sich nicht wiederholt.

Ich bin eine von sehr wenigen, die noch Kenntnisse über jene ferne Vergangenheit hat. Das meiste davon stammt aus mündlichen Überlieferungen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Aber es gibt auch noch ein paar Artefakte, die wir verwahrt haben.«

Pais, der sich die ganze Zeit über an seinem bärtigen Kinn gekratzt hatte, hielt inne und schaute die Präfektin überrascht an: »Ihr seid noch im Besitz von Gegenständen, die etwas über die Vergangenheit Thalantias erzählen könnten?«

»Ganz recht.«

»Das ist ja dreist!«, fuhr Pais lauthals fort. »Mit welchem Recht haltet Ihr dieses Wissen unter Verschluss? Wissen, das etwas darüber aussagt, wer unsere Vorfahren waren, und wie sie gelebt haben.«

»Ich dachte, das hätte ich eben erklärt. Weil es zu gefährlich ist«, antwortete die Präfektin ruhig, aber entschlossen.

Pais schnaufte verächtlich. »Eure Geheimhaltung hat beinahe zu einer Katastrophe geführt, weil keiner wusste, was vor sich ging, als Koros zum Transzendenten wurde. Wenn Antilius, durch welchen Zufall auch immer, nicht nach Truchten gekommen wäre, dann würde es uns alle nicht mehr geben. Ist Euch das klar?«

»Ich mache mir keine Gedanken über das, was gewesen sein könnte, sondern über das, was sein wird«, erwiderte die Präfektin jetzt in einem schärferen Ton. »Die Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen, geschah in guter Absicht. Vielleicht war es im Nachhinein betrachtet keine weise Entscheidung, aber es war die beste, die unseren Vorfahren zur Verfügung stand. Unsere Vorfahren waren es, die Thalantia vor der Vernichtung bewahrt haben, und nun ist es an uns, ihr Erbe fortzuführen. Nun liegt das Schicksal Thalantias in unseren Händen.«

»So sagt uns doch jetzt endlich, was damals geschehen ist!«, rief Haif. Er hielt es einfach nicht länger aus, auf die Folter gespannt zu werden und zappelte auf seinem Stuhl hin und her.

»Ja, sprecht es endlich aus«, stimmte Gilbert aus dem Spiegel zu.

Die Präfektin sah kurz zu Antilius. Er saß mit gesenktem Kopf da, der Herausforderungen harrend, die ihre nächsten Worte enthüllen würden.

Sie erhob sich von ihrem Platz, ging zum Kamin und richtete ihren Blick auf das lodernde Feuer.

»Vorab sei gesagt, dass mein Wissen nur sehr lückenhaft ist. So vieles, das an jene Zeit erinnern könnte, wurde zerstört, sodass es beinahe einem Wunder gleicht, dass wir überhaupt die Ereignisse grob rekonstruieren können. Das, was wir auf den Ahnenländern heute wissen, stammt aus Überlieferungen, die einer kleinen Gruppe entstammen. Diese Gruppe hatte damals entschieden, ihr Wissen nur innerhalb ihrer Organisation mündlich an die nachfolgenden Generationen zu überliefern. Aus diesem Grunde ist viel von dem Ursprungswissen mit den Jahrhunderten verloren gegangen«, sagte sie leise. »Vor etwas mehr als tausend Jahren, da tobte ein schrecklicher Krieg auf Thalantia. Viele denken heute, dass die damaligen einflussreichen und erfinderischen Königreiche diesen Krieg gegeneinander geführt haben. Und man glaubt, dass dieser Krieg alles vernichtet hat, weshalb es aus dieser Zeit keine Aufzeichnungen mehr gibt. Aber das ist nicht wahr. Im Gegenteil: Unsere Vorfahren kämpften vereint, Seite an Seite. Doch kämpften sie gegen Mächte, denen sie trotz ihrer fortschrittlichen Errungenschaften nichts entgegenzusetzen hatten.

Ihr müsst wissen, dass unsere Vorfahren zu jener Zeit regelrecht besessen davon waren, Maschinen zu bauen und sich die geheimnisvollen Energiequellen Thalantias zunutze zu machen. Einige wenige Relikte existieren auch heute noch, wie die Schienenbahn, die Ihr selber schon benutzt habt. Jene Technologie war so weit fortgeschritten, dass man sie bis heute nicht einmal im Ansatz nachbauen könnte.

Aber das, was Thalantia heimsuchte, war mit keiner Maschine der Welt zu bekämpfen.«

»Und was soll das gewesen sein?«, fragte Pais.

»Es waren Wesen in unsere Welt eingefallen, die von irgendwoher außerhalb von Thalantia kamen. Sie alle waren gekommen, um eine Kraft an sich zu reißen, die im ganzen Universum einmalig ist.«

»Sie meinen doch nicht etwa, Außerirdische wären hierhergekommen? Entschuldigt bitte, aber das kann unmöglich Euer Ernst sein«, sagte Pais zweifelnd.

»Ich weiß selber nicht, wie man sie bezeichnen soll. Die Überlieferungen sind hier nicht eindeutig. Es sollen Wesen darunter gewesen sein, die ähnlich wie der Transzendente über Fähigkeiten verfügten, die wir wohl nie begreifen können. Wesen, die nicht nur von fremden Welten, sondern auch aus anderen Realitäten, aus Parallelwelten oder auch aus anderen Dimensionen entstammten.«

»Das klingt ziemlich verrückt«, sagte Pais. »Ich will ja gar nicht leugnen, dass es solche Wesen gegeben hat oder noch geben mag, aber warum sollten sie plötzlich über unsere kleine, unscheinbare Welt hergefallen sein? Was soll das für eine besondere Kraft sein, um die sie gekämpft haben?«

»Sie waren hier wegen Ilbétha. Sie war der Grund«, sagte Antilius plötzlich, der sich die ganze Zeit über still zurückgehalten hatte.

»So ist es«, bestätigte die Präfektin.

»Moment mal! Da komme ich nicht mit,« fiel Haif ein. »Wer soll diese Ilbétha sein? Was ist das überhaupt für ein komischer Name?«

»Leider kann ich diese Frage nicht beantworten. Niemand hat nach dem Krieg herausfinden können, wer oder was Ilbétha war und woher sie gekommen ist. Wir wissen nur, dass sie der Grund für den Krieg war. Sie erschien plötzlich auf unserer Welt. Irgendetwas an ihr muss so wertvoll gewesen sein, dass es eine kriegerische Auseinandersetzung rechtfertigte.

In einem Schriftstück, das wir besitzen, wird Ilbétha als die höchste Kraft im Universum beschrieben, auch wenn wir die Herkunft dieser Schrift nicht eindeutig nachvollziehen können.

Der Name Ilbétha setzt sich, soviel wir heute wissen, aus zwei Wortteilen zusammen. Das eine Wort Il bedeutet Insel. Und Bétha kann übersetzt werden als Unendlichkeit oder Unerreichbarkeit. Das ist ja auch der Name der Vierten Inselwelt. Man vermutete auch, es könnte grenzenlos oder unsterblich bedeuten. Wir wissen es einfach nicht genau«, sagte die Präfektin, während sie wieder zu ihrem Stuhl ging und sich setzte.

»Die feindlichen Invasoren wollten also Ilbétha für sich beanspruchen. Welche Rolle spielten dabei Thalantias Königshäuser? Hatten sie gegen die Invasoren um Ilbétha gekämpft? Wussten sie überhaupt, womit sie es zu tun hatten?«, fragte Pais.

»Wir glauben, dass man auf Thalantia zunächst keine Ahnung hatte, was Ilbétha war. Wie auch? Wir wissen es bis heute nicht. Ilbétha brauchte aber Schutz, und offenbar erkannten die Thalantianer ihre Bedeutung. Sie wollten sie beschützen, obwohl sie nicht die richtigen Mittel zur Verteidigung besaßen.«

»Und wie ist dieser Konflikt ausgegangen? Ich meine, wenn sie gegen die Invasoren machtlos waren, dann ist Ilbétha wahrscheinlich entführt worden. Habe ich recht?«, fragte jetzt Gilbert, der genauso wenig wie die anderen etwas über die wahre Geschichte des Krieges wusste.

»Nein. Von den wenigen Quellen, die wir haben, geht relativ eindeutig hervor, dass Ilbétha starb und deshalb für die Invasoren keinen Wert mehr besaß. Sie war geschwächt auf unsere Welt gekommen und überlebte den Krieg nicht.«

Antilius musste daran denken, was das Orakel in Verlorenend ihm anvertraut hatte. Nämlich, dass Ilbétha noch irgendwo auf Thalantia sein würde, und er mit niemandem darüber sprechen dürfe. Aus diesem Grunde behielt er diese Information erst einmal für sich. Wenn Ilbétha noch leben würde, dann wären die Folgen kaum auszudenken.

Die Präfektin fuhr fort: »Die Geschöpfe, die unsere Welt überfallen hatten, zogen sich nach und nach zurück. Einige kehrten in ihre Heimatwelten zurück. Andere jedoch konnten oder wollten nicht mehr zurück. Nach dem Tod Ilbéthas muss ein heilloses Durcheinander geherrscht haben. Die zurückgebliebenen Fremden verkrochen sich in die dunkelsten Ecken und Winkel Thalantias, weil sie sich vor Vergeltungsmaßnahmen der Thalantianer fürchteten. Viele sind in ihren Verstecken verendet. Aber einige haben überlebt. Wie zum Beispiel das Sandwesen, von dem Antilius erzählt hat. Oder die Späher, die im Turm der Zeit leben. Das vermuten wir zumindest.«

»Und der Dunkelträumer ist dann vermutlich auch einer der Übriggebliebenen, nur mit dem Unterschied, dass er nicht hier auf diesem Planeten ist«, folgerte Pais.

Die Präfektin nickte.

»Verzeiht«, begann Antilius, »aber der Sandling, dem ich begegnet war, schien mir kein aggressives Wesen zu sein. Er hatte mir bei meiner Suche geholfen, kurz bevor er starb.«

»Nicht jedes Geschöpf von außerhalb war von Grund auf böse. Es war vielmehr so, dass Ilbétha auf alle eine magische Anziehungskraft ausübte, der sich keiner widersetzen konnte. Es muss eine Art Besessenheit gewesen sein, die in einen gewalttätigen Konflikt mündete.«

»Und welche Rolle spielte dabei der Dunkelträumer?«, fragte Haif.

Die Präfektin schaute den kleinen Sortaner verschwörerisch an: »Der Dunkelträumer war von allen fremden Wesen das gefährlichste und hinterhältigste. So jedenfalls ist es uns überliefert. Aber um Euch die Gefahr, die von ihm ausgeht, zu verdeutlichen und Euch zu erklären, wie es zu seiner Verbannung kam, werde ich Euch in die Stadt der Ahnen mitnehmen. Im Zentrum, tief unter der Erde, haben wir eine Pinakothek. Vielleicht werdet Ihr dann auch besser verstehen, warum unsere Vorfahren beschlossen hatten, nach dem Ende von Ilbétha all das zu vernichten, was an jene Zeit erinnern könnte, und das wenige Verbliebene geheim zu halten.«

»Eine Pinakothek? Das heißt, Ihr besitzt Gemälde, die von jenen finsteren Tagen berichten? Gemälde, die über tausend Jahre alt sind?«, fragte Antilius, völlig perplex.

»Arcanum, die Stadt der Ahnen!«, seufzte Haif. »Ich werde die Stadt der Ahnen betreten. Das ich das noch erleben darf!«

Die Präfektin kam gar nicht dazu, Antilius' Frage zu bejahen, da Pais als Nächster das Wort ergriff.

»Dann sollten wir sofort aufbrechen. Ich habe ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken an diesen Dunkelträumer. Was immer er vorhat bei seiner geplanten Rückkehr, es ist bestimmt nichts Gutes. Jeder noch so kleine Hinweis, den wir in Arcanum erhalten, kann sich als nützlich erweisen. Ihr, Präfektin, würdet uns nicht die Ehre erweisen, die Stadt der Ahnen zu betreten, wenn Ihr nicht von einer noch größeren Gefahr für uns alle ausgehen würdet. Eine Gefahr, die sich unserer Kontrolle entziehen könnte, meine ich.«

Die Präfektin sah Pais scharf an. Entweder mochte sie es nicht, dass ihre wahren Befürchtungen offengelegt wurden, weil sie als Anführerin eine beruhigende Wirkung auf ihre Untergebenen haben sollte, oder sie mochte solche Analysen nicht gerade von Pais hören, weil er in ihren Augen ein Deserteur war. Aber Pais war es gleich, was sie über ihn dachte.

»Ich hoffe, dass keine unmittelbare Gefahr droht. Aber ich stimme Euch zu. In knapp zwei Stunden können wir schon dort sein, wenn wir zügig laufen«, sagte sie.

»Laufen? Zu Fuß?«, fragte Haif verdutzt, der sich eigentlich schon auf ein opulentes Mittagessen auf dem Landgut gefreut hatte.

Pais stand von seinem Stuhl auf und fasste Haif an seine fellbedeckte Schulter. »Abenteuer werden wir nicht erleben, wenn wir hier bleiben und uns die Bäuche vollschlagen«, sagte er mit einem ungewohnt gutmütigen Lächeln.

»Du hast wohl recht«, sagte Haif wehmütig. »Ich werde diese ruhigen Tage hier vermissen. Und das Essen.«

Ganz besonders das Essen, dachte er ergänzend.

Antilius brannte noch eine Frage auf der Seele, weshalb er als Letzter von seinem Stuhl aufstand und sich dann nach anfänglichem Zögern doch an die Präfektin wandte.

»Eine Frage hätte ich noch«, begann er. »Ihr erzähltet uns soeben von der Wortherkunft des Namens Ilbétha.«

»Ja?«

»Ich frage mich, ob Ihr mir etwas über die Herkunft meines Namens sagen könnt. Wie Ihr bereits wisst, ist Antilius dem Anschein nach nicht mein richtiger Name. Es wurde mir nur geraten, diesen Namen fortan zu verwenden, weil er einzigartig sei. Ich weiß zwar, dass wir jetzt wichtigere Dinge zu erledigen haben, aber es würde mir sehr viel bedeuten, wenn Ihr etwas darüber wisst.«

Die Präfektin nickte verständnisvoll. »Ich wollte es Euch eigentlich unter vier Augen sagen, aber ich kann es auch hier tun, wenn Euch das recht ist.«

»Was meine Person betrifft, so habe ich vor meinen Freunden keine Geheimnisse«, sagte er.

Haif schwoll ein wenig die Brust. Freund, dachte er stolz.

»Der Name Antilius ist, soweit ich das sagen kann, in der Tat einzigartig. Wenn ich mich aber nicht irre, dann steckt in Eurem Namen ein Begriff aus der alten Sprache, der sich eindeutig übersetzen lässt.«

»Welcher?«, fragte Pais, der Antilius zuvorgekommen war, denn so wie alle anderen im Raum war auch er sehr gespannt auf eine Antwort.

»Es gibt nur das Wort Antil, das ich kenne und welches das Einzige ist, das sich aus Ihrem Namen eindeutig ableiten lässt.« Sie machte eine kurze Pause und Antilius bekam ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

»Antil bedeutet in der alten Sprache soviel wie ausgestoßen oder vertrieben«, sagte die Präfektin. »Hilft Euch das weiter?«

Antilius schüttelte den Kopf.

Alle machten nachdenkliche Gesichter, nur Gilbert, dessen Spiegel immer noch auf dem Tisch stand, versuchte sich an einer Bemerkung, die an alle gerichtet war.

---ENDE DER LESEPROBE---