Das, was du zurücklässt - S. G. Felix - E-Book

Das, was du zurücklässt E-Book

S. G. Felix

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Thalantias Tage scheinen gezählt zu sein: Der auf Rache sinnende Dunkelträumer ist aus seinem Exil am Rande des Universums zurückgekehrt. Seine entfesselten Titanen marschieren auf die Stadt der tausend Brücken. Verlorenend zerfällt. Im Abyss steht der Aufstieg des Reichs der Finsternis in die Oberwelt bevor, und der dritte Mond ist kurz davor, aus seiner Verschleierung zu treten, um das Ende der Welt einzuläuten.

Für einen letzten verzweifelten Versuch, Thalantia zu retten, müssen Antilius und seine Freunde an ebenso fantastische wie lebensfeindliche Orte reisen, und sie müssen Kräfte heraufbeschwören, die sie vielleicht nicht mehr kontrollieren können.
Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.
Die Reise endet.

Neuauflage des vierten Teils der Verlorenend-Tetralogie

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



S. G. Felix

Das, was du 

zurücklässt

Band IV der Verlorenend-Tetralogie

Inhaltsverzeichnis
Prolog
Das Ende und der Anfang
Der Teleport
Der Weg der Titanen
Bronthu-Geuze
Die zerstörte Welt
Amantha
Das Refugium
Realitätsverlust
Ein Lächeln aus Scherben und Blut
Glas
Zurück durch den Spiegel
Illusionen
Eine gute Lüge
Der Kern
Scherbendämmerung
Der geteilte Berg
Nemesis
Das Schicksal der zwei Brüder
Rückkehr nach Elend-Uhn
Düstere Vorahnungen
Tiefer Schlaf
Das Konzerthaus
Eine fast perfekte Tarnung
Gestern, Heute, Morgen
Der Dirigent
Divergenz
Der Todestanz
Der weiße Strand der Wiederkehr
Die Stimme aus dem Dunkel
Der Abstieg
Der Abgesandte
Die Sache mit der Zeit
Der Stein der Prophezeiung
Die Kathedrale der Finsternis
Die Reisende
Der Mann, der nicht herauskommen wollte
Der sehende Stein und das blinde Auge
Der Schatten, der keiner war
Die Tür des Abgesandten
Die Verfolgung
Versunkene Geschichte
Der Dämon aus dem Meer
Angriff auf die Titanen
Der Thron
Der Zirkel der einhundert Hexen
Der Aufstieg
Die Tiefe der Finsternis
Das Mädchen aus Verlorenend
Vom Schicksal auserwählt
Die zweite Dimension
Das Vinculum
Die Flucht
Das Zeitalter des Abgesandten
Schwerelos
Die Reise der Gedanken
Die weiten Ebenen der Suchenden
Das, was du zurücklässt
Die letzte Schlacht
Die Siebte Inselwelt
Die erste Flotte
Das letzte Wiedersehen
Im Morgengrauen
Die Singularität
Die zweite Flotte
Das Beste beider Welten
Assandrias Visionen
Zwei Brüder
Ilbétha
Das Ende
Die Wahrheit über Verlorenend
Ihre letzte Reise
Epilog
Abbildung 1: Thalantia
Abbildung 2: Thalantia vor tausend Jahren
Abbildung 3: Truchten
Abbildung 4: Arbrit
Abbildung 5: Brigg
Abbildung 6: Fahros
Abbildung 7: Bétha
Abbildung 8: Panthea
Abbildung 9: Zuflucht des Imperators
Abbildung 10: Grotte des Rätselmachers
Abbildung 11: Arcanum
Abbildung 12: Weg der Titanen

Prolog

Antilius' Herz raste wie verrückt, als er das alte Schwert mit beiden Armen emporhielt, bereit, den einen Streich auszuführen, der den Mantikor enthaupten sollte.

»Tu es! Bring es zu Ende«, forderte die Siobsistin ihn auf. Ihr altes, rundes Gesicht wirkte in dem fahlen Licht der beiden Monde wie eine starre Maske, deren maskenhafte Mimik einen erschaudern lassen konnte.

Der Mantikor regte sich nicht. Er stand einfach nur da, mit einem Ausdruck von Resignation in seinen Augen, dessen Anblick Antilius rasend machte, jetzt, da er wusste, wer oder was der Mantikor tatsächlich war.

»Tu es endlich, Antilius! Nur so wirst du erfahren, wie du zurück nach Verlorenend kommen kannst. Töte ihn!«

Kalter Schweiß rann Antilius über die Stirn. Je länger er so dastand, mit dem Schwert über seinem Kopf, desto schwerer wurden ihm die Arme. Je länger er zauderte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dem Mantikor mit nur einem Schwertstreich einen schnellen und schmerzlosen Tod zu bereiten.

Es war keine Zeit mehr, noch länger zu warten. Entschlossenheit war es, die er jetzt brauchte. Er spannte seine Muskeln an und umschloss den Griff des Schwertes so fest, dass ihn seine Finger schmerzten.

Und dann tat er, was zu tun war...

Das Ende und der Anfang

Kurz zuvor: Antilius und die Siobsistin erreichten die geheime Insel Il Antil, nachdem sie nur Augenblicke zuvor noch auf Truchten gewesen waren.

»Ich kenne diesen Ort. Hier sind alle gestorben, die so waren wie ich. Und auch Tahera.

Warum hast du mich hierher gebracht?«, fragte Antilius die Siobsistin.

Er schaute sich um. Der Ort, zu dem die Siobsistin sich und ihn teleportiert hatte, sah noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte.

Sie befanden sich auf Il Antil, der Insel der Ausgestoßenen. Hier sollten die Auserwählten den Rest ihres Lebens verbringen, nachdem sie ihre Begabungen für die Rettung Thalantias vor den Invasoren eingesetzt hatten. Aber statt eines neuen Lebens hatten sie den Tod gefunden. Alle bis auf Antilius. Knapp tausend Jahre waren seitdem vergangen, aber für Antilius war es nur ein Bruchteil dieser Zeit gewesen. Dieser auf den ersten Blick scheinbare Widerspruch lag in der einzigartigen Besonderheit von Il Antil begründet.

Unter normalen Umständen lief die Zeit auf dem kleinen Eiland exakt gleich wie auf dem Rest Thalantias ab. Aber immer, wenn sich der Mantikor die Erinnerungen seiner Opfer einverleibte, verlangsamte sich die Zeit auf Il Antil. Zusammen mit Antilius und Tahera waren mehr als einhundert Auserwählte gekommen, die dem Mantikor zum Opfer gefallen waren. Sie boten dem Mantikor genug Erinnerungen, um die Zeit so stark zu verlangsamen, dass auf Il Antil nur wenige Tage verstrichen, während es auf dem Rest Thalantias fast zehn Jahrhunderte waren. Das zu akzeptieren, war für Antilius immer noch schwer. Denn es bedeutete, dass er vor tausend Jahren zu der Zeit des Großen Krieges gelebt hatte und durch die enorme Zeitverschiebung, die durch den tödlichen Erinnerungsdiebstahl des Mantikors ausgelöst worden war, in eine für ihn ferne Zukunft, dem Heute, katapultiert worden war.

Man brauchte sich gar nicht erst die Mühe zu machen, dieses Spiel mit der Zeit zu verstehen. Das hatte Antilius erkannt und konzentrierte sich stattdessen auf seine bevorstehende Aufgabe.

Er und die Siobsistin standen Seite an Seite mitten im Zentrum der kleinen Insel. Hier war das Camp der Auserwählten. Die Hütten und Verschläge, die sie damals nur provisorisch gebaut hatten, um später in bessere, selbst gebaute Holzhäuser zu ziehen, waren verlassen. Einige hatten die Auserwählten in ihrer Not wieder eiligst abgerissen, um Flöße zu bauen, mit denen sie von Il Antil vor dem Mantikor fliehen wollten, nachdem das Sterben begonnen hatte.

Tische und Bänke standen immer noch um die zentrale Feuerstelle herum, so als ob sie gerade erst benutzt worden waren.

Es war Nacht, aber es war nicht dunkel. Beide Monde, Quathan in seinem silbrig fahlen Schein und Pathan, der sein rotes ockerfarbenes Licht nach Thalantia aussendete, prangten selten dicht beieinander am Himmel und verdrängten die Dunkelheit. Es war warm und gespenstisch still. Der Mantikor hatte niemanden am Leben gelassen. Antilius überfiel ein kalter Schauer. Ihm war, als befände er sich mitten auf einem Friedhof. Einem Friedhof, von dem niemand wissen sollte. Nur die beiden Monde waren Zeugen gewesen bei dem, was sich auf Il Antil abgespielt hatte.

Antilius wartete immer noch auf eine Antwort auf seine Frage, warum er wieder hier war, und sah die Siobsistin mit ihrem großen traurigen Gesicht auffordernd an.

»Der einzige Weg, der dich nach Verlorenend führen kann, beginnt hier«, sagte sie mit ihrer zarten und hohen Stimme.

»Das verstehe ich nicht. Hier ist nichts. Alle sind tot. Es gibt nur noch den Mantikor. Er versteckt sich irgendwo hier.«

»So ist es. Der Mantikor ist der Schlüssel.«

»Wie das? Wie soll er mich nach Verlorenend bringen können?«

»Der Mantikor kann dich nicht dorthin bringen. Nur du kannst es«, sagte sie und musterte Antilius genau, um herauszufinden, ob er verstand, was sie damit gemeint hatte.

»Ich? Aber...« Antilius dachte nach, und schnell ging ihm ein Licht auf. »Der Mantikor besitzt immer noch einen Teil meiner Erinnerungen. Einen ganz besonderen Teil. Ist es nicht so?«

»Ja. Er hat dir dein Wissen, dich selbst nach Verlorenend hineinzudenken, gestohlen. Jetzt ist es an der Zeit, es von ihm zurückzufordern.«

»Hineinzudenken? Wie soll ich mir das vorstellen?«

»Du und alle anderen Auserwählten, ihr wurdet mit dieser Gabe von Ilbétha ausgestattet. Ihr wusstet sie nur nicht anzuwenden. Wie man hinter den Schleier blicken und Materie verändern kann, das weißt du bereits. Jenseits des Schleiers verstecken sich Welten, die dem normalen Auge verborgen bleiben. Verlorenend befindet sich auch dort, irgendwo in der Tiefe des Raums, aber nicht weit von Thalantia entfernt. Ich kann dir helfen, deinen Blick dorthin zu richten, damit du es sehen kannst, aber ich kann dich nicht dorthin führen. Das kannst nur du selbst. Doch der Mantikor hat dir diese in dir verborgene Fähigkeit entrissen, so wie deine Erinnerungen an die Zeit des Großen Krieges gegen die Invasoren.«

Antilius ordnete seine Gedanken: »Wenn das stimmt, was du sagst, dann hätten wir alle damals unserem Schicksal entfliehen und nach Verlorenend reisen können? Niemand von uns hätte hier dem Mantikor zum Opfer fallen müssen?«

Die Siobsistin nickte langsam.

»Aber warum hat uns dann Ilbétha mit dieser zusätzlichen Fähigkeit ausgestattet, ohne uns deren richtige Anwendung zu erklären? Wie man Materie verändern kann, das hat sie uns gelehrt. Nachdem sie diese Gabe auf uns übertragen hatte, wussten wir instinktiv, wie es ging. Aber, dass wir nach Verlorenend reisen konnten, davon hatten wir nicht die leiseste Ahnung. Hast du eine Erklärung dafür?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ilbétha wusste natürlich um die Bedeutung der neuen Kräfte, mit denen sie euch ausgestattet hatte. Deshalb wusste sie auch, wie gefährlich jene Kräfte für euch und andere sein konnten. Du selbst hast es gespürt, als du den Imperator vernichtet hast. Die zerstörerische Kraft, die du zu entfesseln imstande warst, drohte, sich deiner Kontrolle zu entziehen.

Ilbétha wollte euch daher im Anschluss an eure Mission zur Rettung Thalantias nach Verlorenend holen, weil ihr nur dort den Frieden für eure Seelen gefunden hättet, der notwendig gewesen wäre, um eure Kräfte dauerhaft in einen Ruhezustand zu versetzen. Aber dazu kam es nicht mehr. Ich vermute, weil sie in ihren Kokon eingesperrt wurde und entgegen dem Versprechen von König Artorius, der bei ihrer Verbringung zu ihrem Versteck das Kommando hatte, jeglichen Kontakt zur Außenwelt verlor. Sowohl den natürlichen Kontakt als auch den übersinnlichen, den sie zu euch vermutlich hatte. Vielleicht war sie auch einfach zu schwach.«

»Ja, so muss es gewesen sein«, sagte Antilius und entfernte sich einige Meter vom Camp.

Er ging zu der Stelle, an der Tahera ihren vergifteten Tee getrunken hatte, um sich selbst zu töten und ihre unsterbliche Seele nach Verlorenend reisen zu lassen. Der Becher, aus dem sie das tödliche Gebräu getrunken hatte, lag immer noch dort. So, als ob sie ihn gerade erst hatte fallen lassen.

»Tahera muss diese Verbindung zwischen uns Auserwählten und Verlorenend gespürt haben. Sie tat instinktiv das Richtige, indem sie den Freitod wählte. Ich bin ihr in Verlorenend begegnet, aber da konnte ich mich noch nicht an sie erinnern. Sag mir, Siobsistin, was ist Tahera jetzt dort? Ist sie ein Geist?«

»Nein, sie ist so lebendig wie du und ich.«

»Aber das ist doch unmöglich.«

»Nicht in Verlorenend. Es hat ihr zu einer neuen Existenz verholfen. Du musst es nicht verstehen, Antilius, noch nicht. Es reicht, wenn du es akzeptierst.«

»Weißt du, ob die anderen Auserwählten nach ihrem Tod auch den Weg nach Verlorenend fanden?«

»Keiner von ihnen hat das. Ich weiß, dass du dir eine andere Antwort gewünscht hättest. Ich teile deinen Schmerz. Der Unterschied zu Tahera war, dass allen anderen die Erinnerungen durch den Mantikor entzogen wurden. Nach ihrem Tod war ihre unsterbliche Seele nur noch ein leeres Vakuum. Sie konnten nicht mehr nach Verlorenend. Tahera aber ist dem Mantikor zuvorgekommen. Sie starb hier auf Il Antil und erstand in Verlorenend wieder auf, mit dem Wissen über dich und über die Vergangenheit.«

Antilius hatte den Becher aufgehoben und drehte ihn gedankenverloren in seiner Hand.

»Seit ich weiß, was mit ihr geschehen ist, frage ich mich die ganze Zeit, ob ich ihr in den Tod hätte folgen sollen. Dann wären wir jetzt vereint in Verlorenend.«

Die Siobsistin widersprach: »Das ist keineswegs sicher. Über den eigenen Tod nach Verlorenend zu gelangen ist ein sehr gefährlicher Weg. Tahera hatte viel Glück gehabt, ihr Ziel zu erreichen. Und vergiss eines nicht: Verlorenend zerfällt, und Thalantia steht kurz vor der Vernichtung durch den Dunkelträumer. Das Ende aller Dinge wäre endgültig unabwendbar.

Aber du bist jetzt hier und kannst alles noch zum Guten wenden. Auch wenn die Chancen schlecht stehen, so besteht dennoch Hoffnung. Die gäbe es aber nicht mehr, wenn du jetzt auch in Verlorenend wärst.«

Antilius sah die Siobsistin erstaunt an. Schließlich hatte sie sich bis vor Kurzem noch vehement geweigert, ihm zu helfen und auf das Ende gewartet.

»Wenn du wirklich glaubst, dass es noch Hoffnung gibt, dann will ich es auch glauben«, sagte er.

Er stellte den Becher wieder auf dem Boden ab. »Wie soll ich mir also meine letzten noch fehlenden Erinnerungen vom Mantikor zurückholen?«

»Du musst ihn töten.«

Antilius zog die Augenbrauen hoch: »Wir waren einhundert auf dieser Insel, und wir haben es nicht einmal geschafft, ihn aufzuspüren. Wie sollte ich ihn dann alleine töten können?«

»Ihr wusstet ja auch nicht, womit ihr es zu tun hattet. Keine konventionelle Waffe der Welt könnte den Mantikor zur Strecke bringen. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, ihm das Leben zu nehmen. Du musst ihn mit dem konfrontieren, wovor er am meisten Angst hat. Es gibt etwas, das ihn bedrückt. Etwas, das ihn beherrscht.«

Antilius runzelte die Stirn. »Und das wäre?«

»Das weiß ich nicht. Du musst es herausfinden. Du musst ihm Auge in Auge gegenüberstehen und dich in seine Gedanken hineinfühlen. Es funktioniert ganz ähnlich wie der Blick hinter den Schleier. Seine Gedanken sind ebenfalls hinter dem Schleier verborgen. Überwindest du ihn, wirst du verstehen, was den Mantikor dazu treibt, seinen Opfern ihre Erinnerungen zu stehlen und sie damit zu töten.«

»Wie soll ich ihm so nahekommen? Und wie soll ich verhindern, dass er nicht mit mir dasselbe macht wie mit den anderen?«

»Ich werde an deiner Seite sein. Der Mantikor hat Angst vor mir. Er fürchtet sich vor meinen Gedanken und wird dir nichts tun, solange ich in der Nähe bin.«

Antilius seufzte. Es war kein Gefühl der Angst, das ihn überkam, sondern vielmehr eine Art von Resignation. Ausgerechnet der Mantikor hatte, was er brauchte, um nach Verlorenend zu kommen. Ausgerechnet er! Die Auserwählten, die er getötet hatte, es waren gute Leute gewesen. Und er hatte ihnen alles genommen. Er hatte sie nicht nur umgebracht, sondern auch ihre Erinnerungen geklaut, ohne die sie nicht einmal den Weg nach Verlorenend finden konnten, so wie Tahera. Er hatte sie einfach ausgelöscht. Einen schmerzvollen Tod hatte er ihnen bereitet, brutal und ohne Gnade.

Antilius ahnte, dass die folgende Begegnung mit diesem bestialischen Wesen unschön werden würde, ganz gleich, ob er seine Erinnerungen wiederbekäme oder nicht. Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, wäre das nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Rettung Thalantias und Verlorenends.

»Wo ist er?«

Die Siobsistin deutete nach Süden. »Folge mir! Es ist nicht sehr weit.«

Wie die Auserwählten damals vermutet hatten, befand sich das Versteck des Mantikors in einem Gebiet der Insel, das zerklüftet und unwegsam war. Scharfkantige Felsen ragten dort meist schräg in alle Richtungen an der Küste empor, drohend und unwirklich. Sie waren nicht besonders hoch, aber derart dicht aneinandergedrängt, dass man bei jedem Schritt höllisch aufpassen musste, um nicht zu stürzen und sich ein Bein zu brechen. Selbst erfahrene Kletterer hätten ihre liebe Not gehabt, sich durch das Gelände zu schlagen. Zum Glück lag die Höhle, die dem Mantikor als Versteck diente, zum Landesinneren hin gelegen, sodass sie nur einen kleinen Teil jenes gefährlichen Weges zurücklegen mussten.

Während sie sich langsam dem Versteck des Mantikors näherten, bekam Antilius zunehmend Zweifel. Die Siobsistin bemerkte das und fragte ihn: »Was denkst du gerade?«

»Ich frage mich, was geschieht, wenn etwas schiefläuft. Gehen wir nicht eine zu große Gefahr ein, dass sich die Zeit auf Il Antil verlangsamen könnte, und uns die Zeit auf Thalantia dadurch regelrecht davonläuft?«

»Das wird nicht geschehen. Nur wenn sich der Mantikor Erinnerungen einverleibt, dann gerät Il Antil aus dem normalen Zeitgefüge. Solange du und ich das verhindern werden, verläuft die Zeit genau gleich wie auf dem Rest Thalantias.«

»Ich hoffe, du irrst dich nicht«, sagte Antilius und blieb stehen.

Sie hatten den Höhleneingang zum Versteck des Mantikors erreicht. Es war nur ein finsteres, schwarzes Loch, das am Fuße eines Felsvorsprungs lag. Man hätte es leicht übersehen können. Im fahlen Mondlicht beider Trabanten Thalantias verschmolz der Eingang, hinter dem sich der Mantikor verbarg, mit dem Schatten des Felsens. Nur als Antilius seinen Blick verstellte und hinter den Schleier blickte, um damit die Dunkelheit zu überwinden, konnte er den Eingang klar und deutlich sehen.

Er atmete einmal tief durch. »Und jetzt?«

»Rufe ihn. Er wird kommen.«

»Was soll ich denn sagen? Versteht mich das Ding überhaupt?«

»Sei gewiss, dass er dich ganz genau verstehen wird. Er weiß bereits, dass wir hier sind. Du musst ihm jetzt nur noch einen Grund liefern, herauszukommen. Wenn es nötig wird, wirst du ihn provozieren müssen.«

Antilius musste an die Gesichter jener Toten denken, die durch den Mantikor sterben mussten. Ihre Gesichter, die zu angstverzerrten Fratzen eingefroren gewesen waren. Wo waren all ihre Leichen? Was war mit ihnen geschehen? Warum mussten sie sterben? Antworten wollte er jetzt darauf haben. Er spürte, dass die Wut in ihm hochstieg. Jene Wut, die ihn beim Kampf gegen den Käfer-Imperator Übermenschliches hatte tun lassen. Er musste sich beherrschen, um nicht Gefahr zu laufen, dass die Kräfte, die damals in ihm überhand genommen hatten, wieder entfesselt wurden. Denn es war jetzt nicht die Zeit für Rache; noch nicht.

Er starrte in die finstere Höhle. Er glaubte nun auch, seine Anwesenheit spüren zu können.

»Worauf wartest du?«, rief er zum Mantikor, der sich irgendwo in der Dunkelheit seiner Zuflucht versteckt hielt und Antilius deutlich hören konnte.

»Warum kommst du nicht heraus? So viele meiner Freunde hast du getötet. Nur noch ich bin übrig. Warum zögerst du also ausgerechnet jetzt? Hast du Angst?«

Ein Knurren, das an den dichten Höhlenwänden widerhallte und dadurch mehrfach überlagert nach außen drang, verriet endgültig die Anwesenheit des Mantikors. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand unterstellte, er hätte Angst. Aber die Wahrheit war, dass er sich fürchtete, vor dem, was ihn außerhalb seiner Höhle erwartete.

»Komm raus, dann bringen wir es zu Ende. Ich werde nicht gehen, ehe ich nicht erfahren habe, warum du meinen Freunden die Erinnerungen gestohlen und sie anschließend getötet hast. Ich werde nicht gehen, ehe ich die Wahrheit von dir erfahren habe, du weißt das. Du kannst meine Gedanken spüren, so wie ich gerade deine Furcht spüren kann.«

Wieder knurrte es aus der Höhle, diesmal lauter und länger. Der Mantikor sträubte sich noch, aber er wusste, dass er sich Antilius würde stellen müssen. Das machte ihn wütend. Noch wütender machte ihn, dass der Mensch draußen eine innere Entschlossenheit ausstrahlte, die ihn dermaßen verunsicherte, dass er es nicht wagte, ihm entgegenzutreten. Er würde ihm keine Erinnerungen mehr aussaugen können, so wie damals. Das würde die Siobsistin nicht zulassen, deren Gedanken ihm besonders Angst machten.

Antilius fuhr fort: »Wenn du nicht jetzt herauskommst, dann werde ich zu dir kommen.« Er ging langsam auf den Höhleneingang zu. Der Mantikor knurrte, aber dieses Mal klang es weniger bedrohlich. Es hörte sich fast so an, als würde sich ein Winseln unter das Knurren mischen.

»Seit dem Tag, an dem du meine Erinnerungen und das Wissen über meine Kräfte gestohlen hast, bin ich innerlich zerrissen. Ich habe alles verloren, aber jetzt werde ich mir zurückholen, was mir gehört. Ich werde mir den letzten Teil meines Wissens zurückholen, und es wird nichts geben, was du dagegen tun kannst. Ich werde alles dafür tun, um zurück nach Verlorenend zu kommen. Hast du gehört? Alles!«

Der Mantikor jaulte laut auf. Es war wie ein Schrei der Verzweiflung. Antilius hielt inne. Er blickte erneut hinter den Schleier, um in der Dunkelheit sehen zu können. Und so sah er, wie der Mantikor langsam, mit gesenktem Kopf und mit angelegten Ohren, aus der Höhle heraustrat. Er war ein Geschöpf, das auf sechs Beinen lief, zwei vorne und vier hinten. Seine Schulterhöhe überragte die eines ausgewachsenen Elchs. Sein Kopf war ebenso wie seine weißen Augen groß, seine lange Schnauze war spitz. Die Kiefer waren mit Hunderten winzigen, messerscharfen Zähnen bestückt, die zudem in drei Reihen hintereinander wuchsen.

Nur ein einziges Mal wagte der Mantikor kurz aufzublicken, um sich zu vergewissern, dass die Siobsistin ihm nicht zu nahe kam. Sein devotes Verhalten irritierte Antilius. War es die Siobsistin, die ihn so sehr ängstigte, dass er sich so benahm? Oder war es gar Antilius selbst? Vor ihm stand nicht mehr die mordende Bestie von einst, sondern ein verunsichertes Geschöpf. Irgendetwas hatte sich bei ihm verändert. Antilius fühlte, dass der Mantikor eine große Last mit sich herumtrug. Eine Last, die ihn quälte, und die ihn vielleicht sogar hatte tun lassen, was er mit den Auserwählten getan hatte.

»Ruhig«, sagte Antilius leise und vergewisserte sich mit einem Seitenblick bei der Siobsistin, dass er fortfahren konnte. Als sie bestätigend nickte, streckte er seine Hand aus, mit dem Ziel, die Stirn des Mantikors zu berühren. Der hielt zunächst still, jaulte dann aber wieder gequält auf. Eine leichte Handbewegung der Siobsistin im Hintergrund genügte, um ihn wieder verstummen zu lassen. Was ging bloß in diesem Wesen vor?

Antilius berührte schließlich die glatte, dunkle Haut des Mantikors. Der zuckte einmal kurz zusammen, beruhigte sich dann aber wieder. Plötzlich fiel es Antilius wie Schuppen von den Augen: Der Mantikor wollte, dass jemand seine Geschichte erfuhr. Und ob es dem Wesen passte oder nicht, der Mensch, den er vor nicht allzu langer Zeit noch hatte töten wollen, war der Einzige, der dazu in der Lage war. Antilius musste das Geheimnis des Mantikors enträtseln, nur so würde er wieder in den Besitz seines verlorenen Wissens kommen, das ihn nach Verlorenend führen konnte.

Langsam aber immer deutlicher sah er Bilder vor seinem geistigen Auge entstehen. Bilder aus der Vergangenheit des Mantikors. Schneller als erwartet hatte sich zwischen ihnen eine telepathische Verbindung aufgebaut. Und dann dauerte es auch nicht mehr lange, um zu verstehen, was der Mantikor in Wahrheit war.

Vor langer Zeit, als der Mantikor noch jung an Jahren war, war er ein im wahrsten Sinne des Wortes zahmes Schoßhündchen gewesen, klein und schmächtig. Sein Herr, ein Mensch, zog mit ihm eines Tages nach Il Antil, zu einer Zeit, als diese Insel noch bewohnt gewesen war. Es war nur eine kleine Population von Menschen gewesen, die sich auf dem kleinen Eiland angesiedelt hatte, aber in Anbetracht der überschaubaren Größe von Il Antil konnte man von einer dichten Kolonisierung sprechen. Was jedoch keiner ahnte, war, dass Il Antil keine gewöhnliche Insel war. Sie war ein lebendiger Organismus, jedoch unfähig, mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Das änderte sich aber mit der Ankunft des jungen Mantikors.

Die Insel hatte nur einen Wunsch, nämlich die menschlichen Kolonisten loszuwerden, egal wie. Sie waren ihr ein Dorn im Auge. Sie trampelten über die Pflanzen, die sie hervorgebracht hatte, töteten unwissend und rücksichtslos die dort beheimateten Tiere und fällten Bäume, als gebe es davon einen unerschöpflichen Vorrat. Würden die Menschen so weiter machen, würde sich die Insel schon bald in ein karges Ödland verwandeln. Die Insel hatte sich gegen ihre Besiedelung zu wehren versucht, indem sie besonders giftige Pflanzen wachsen ließ, aber die Menschen waren nicht dumm und lernten schnell, neuen Gefahren entgegenzuwirken.

Dann kamen schließlich der Mantikor und sein Herr. Die Insel erkannte schnell, dass der Mantikor etwas Besonderes war. Es gelang ihr, eine Verbindung zu ihm herzustellen und mit ihm zu kommunizieren. Sie klagte ihm ihr Leid, und er verstand und war bereit, ihr zu helfen. Dann unternahm die Insel den nächsten Schritt und machte den Mantikor zu einem Teil ihrer selbst. Er wurde zu ihrem Werkzeug, einem autonomen Bestandteil ihrer komplexen Existenz, der dafür sorgen sollte, dass die Menschen für die törichte Zerstörung ihrer Umwelt bestraft wurden. Und so kam es dann auch. Er begann damit, einen Eindringling nach dem anderen auszulöschen, und zwar auf dieselbe Weise, wie er es später mit den Auserwählten getan hatte. Er stahl ihnen sämtliche Erinnerungen. Er saugte sie gierig und restlos aus ihnen heraus, bis sie starben. Und jede neue Erinnerung teilte er mit der Insel, welche dadurch viel über die Welt außerhalb ihres Wahrnehmungsbereichs erfuhr. Und das, was sie erfuhr, machte ihr Angst, es könnten noch mehr Menschen kommen und ihre Flora und Fauna zerstören. Deshalb mussten alle sterben, damit niemand weitere Menschen auf die Insel nachholen konnte.

Der Nebeneffekt des Tötens durch den Erinnerungsdiebstahl war, dass sich währenddessen die Zeit auf Il Antil um ein Vielfaches verlangsamte. Der Mantikor konnte diesen Effekt nicht steuern oder gar verhindern.

Wie dem auch sei, die Ursache für das plötzliche Sterben der Inselbewohner blieb lange Zeit ungeklärt. Nur der Herr des Mantikors erkannte eines Tages, dass es sein Haustier war, das für die Morde verantwortlich war - er erwischte ihn eines Nachts bei einer seiner schrecklichen Taten. Sein Herr beschloss, den Mantikor heimlich zu töten, wenn er schlafen würde, in seinem Haus neben dem Kamin. Mit einem Schwert, das ein altes Familienerbstück war, wollte er seinem ehemaligen treuen Begleiter den Kopf abschlagen, als er sich tief in der Nacht an dessen Schlafplatz heranschlich. Doch die Insel warnte den Mantikor rechtzeitig und riss ihn aus seinem Schlaf. Sie befahl ihm, seinen Herrn zu töten. Der Mantikor weigerte sich zunächst. Es war doch sein Herr, der sich immer um ihn so rührend gekümmert hatte. Er konnte ihn nicht töten. Doch die Insel war schrecklich und unerbittlich. Alle Menschen sollten sterben, und dieser hier sollte keine Ausnahme machen. Die Insel zwang den Mantikor, seinen Herrn zu töten, denn sie war stärker als er. Alles, was dem Mantikor nach dem Mord blieb, waren die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Tage. Erinnerungen an eine bessere Zeit.

Schließlich kam der Tag, an dem auch der letzte Mensch getötet worden war, und fortan war der Mantikor allein. Allein mit der Insel, die viele Jahrhunderte von weiteren Besuchern verschont blieb, bis zu dem Tag, an dem die Auserwählten nach Il Antil geschickt wurden.

Erneut verlangte die Insel von dem ihr hörigen Mantikor, der sich äußerlich sehr verändert hatte und gewachsen war, alle zu töten. Und der Mantikor tat wie befohlen. Er stahl Erinnerungen und tötete. Doch diese Erinnerungen waren anders als die von früher. Der Mantikor erfuhr von dem unfassbaren Verrat, der an den Auserwählten begangen worden war. Sie wurden hergeschickt, nicht um sich der natürlichen Schätze der Insel egoistisch zu bemächtigen, sondern um zu sterben. Irgendjemand (nämlich die Inquisitoren, was der Mantikor nicht wissen konnte) wusste von dem tödlichen Geheimnis der Insel und wollte den Mantikor die Drecksarbeit erledigen lassen. Und der Mantikor tat es, widerwillig, aber er tat es, weil er der boshaften Insel verfallen war. Erst als die Siobsistin aufkreuzte, um im letzten Moment Antilius vor ihm zu retten, wurde der Fluch, der auf ihm lastete, gebrochen. Er ließ ab von Antilius, und die Insel konnte ihn davon nicht abhalten. Zu mächtig waren die Gedanken der Siobsistin, die älter und stärker als die Insel selbst war.

All das konnte Antilius binnen Sekunden durch seine telepathische Verbindung zum Mantikor sehen. Ja, das sechsbeinige Wesen fühlte sich schuldig für die vielen Toten, die es zu verantworten hatte, und es war bereit, Antilius die Erinnerungen zurückzugeben, die ihm den Weg nach Verlorenend weisen würden. Doch nur unter einer Bedingung: Der Mantikor wollte sterben. Und zwar durch das Schwert seines Herren. Die Insel konnte ihn nicht von diesem Wunsch abhalten. Nicht, solange die Siobsistin anwesend war. Er neigte seinen Kopf ein wenig zur Seite. Antilius bemerkte, dass sich daraufhin in der Nähe des Höhleneingangs, vor dem sie sich befanden, Steine aus der Wand lösten und herabfielen. Sie legten etwas frei, das in dem geringen Licht der Monde silbern aufleuchtete. Es war das Schwert. Der Mantikor hatte es all die Jahrhunderte hier aufbewahrt. Es war das Letzte, was ihm von seinem Herrn geblieben war, von den Erinnerungen abgesehen.

Antilius sah die Siobsistin fragend an, ob er dem Wunsch entsprechen sollte. Die nickte nur stumm.

Antilius nahm die Hand von der Stirn des Mantikors und ging zum Schwert. Er löste die restlichen Steine heraus und legte es komplett frei. Als er es in die Hand nahm, stellte er überrascht fest, dass es nicht nur ungewöhnlich schwer war, sondern auch, dass seine Klinge immer noch scharf war wie an dem Tag, an dem es geschmiedet und geschliffen worden war.

Er ging mit dem Schwert zurück zum Mantikor.

»Also gut. Jetzt gib mir meine letzten Erinnerungen wieder zurück. Dann werde ich dich erlösen«, sagte er.

Der Mantikor vertraute Antilius und zögerte nicht. Er übertrug sein erbeutetes Wissen an sein Gegenüber. Antilius durchfuhr ein kalter Schauer, als er empfing, was ihm gehörte, und was ihm für lange Zeit gestohlen worden war. Er verstand nicht alles, was plötzlich wieder in seinen Kopf drang, aber das war im Augenblick auch gar nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass er jetzt wieder vollständig war. Alles, was ihn als Persönlichkeit ausgemacht hatte, gehörte nun wieder ihm allein.

»Jetzt ist es an der Zeit, deinen Teil der Abmachung einzulösen«, flüsterte die Siobsistin.

Antilius war unsicher. Aber er hatte es versprochen. Er stellte sich neben den Mantikor und hob das Schwert. Sein Herz raste wie verrückt.

»Tu es! Bring es zu Ende«, forderte die Siobsistin ihn auf.

Der Mantikor regte sich nicht. Er stand einfach nur da mit seinem ausdruckslosen Blick, dessen Anblick Antilius rasend machte, jetzt, da er wusste, wer oder was der Mantikor tatsächlich war.

»Tu es endlich, Antilius! Nur so wirst du erfahren, wie du zurück nach Verlorenend kommen kannst. Töte ihn endlich!«

Kalter Schweiß rann Antilius über die Stirn. Je länger er so dastand mit dem Schwert über seinem Kopf, desto schwerer wurden ihm die Arme. Je länger er zauderte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dem Mantikor mit nur einem Schwertstreich einen schnellen und schmerzlosen Tod zu bereiten.

Es war keine Zeit mehr, noch länger zu warten. Entschlossenheit war es, die er jetzt brauchte. Er spannte seine Muskeln an und umschloss den Griff des Schwertes so fest, dass ihn seine Finger schmerzten.

Und dann tat er, was zu tun war und sagte: »Nein.«

Dann warf er das Schwert, so weit er konnte, von sich. Klirrend fiel es auf den schroffen Felsboden und verschwand in einer Spalte.

»Ich werde es nicht es tun. Es steht mir nicht zu, über Leben oder Tod zu urteilen.« Er sah dem Mantikor mit düsterem Blick in die Augen: »Du musst dir jemand anderen suchen, der das für dich erledigt. Ich spiele hier nicht den Henker.«

Der Mantikor jaulte enttäuscht auf und bleckte die Zähne.

»Du musst es tun!«, rief die Siobsistin streng. »Als du den Imperator auf den Trümmern des Mandra vernichtet hast, hattest du doch auch keine Gewissensbisse.«

»Es ist nicht mein Gewissen, das mich plagt. Es ist meine tiefe Überzeugung, die mir verbietet, das zu tun. Als ich den Imperator tötete, wusste ich auch noch nicht, welche Bürde die Macht von Ilbétha sein würde. Doch jetzt weiß ich es besser.«

Der Mantikor geriet in Rage und wäre ihm vor Wut über den Bruch ihrer Vereinbarung am liebsten an den Hals gesprungen. Er knurrte, bleckte die Zähne und legte die Ohren an.

Die Siobsistin überlegte kurz, dann machte sie einen Vorschlag. »Wie wäre es dann, wenn wir die Vereinbarung umwandeln? Ich werde hierbleiben, hier auf Il Antil. Ich werde den Mantikor besänftigen und ihn lehren, mit seiner Schuld zu leben. Und ich werde verhindern, dass die Insel jemals wieder töten lässt und über ihn gebietet. Vielleicht wird sie mich eines Tages verstehen und zur Ruhe kommen.«

»Was heißt, du wirst bleiben? Wie lange denn? Wir brauchen deine Hilfe noch im Kampf gegen die Titanen und den Dunkelträumer.«

»Ich habe bereits alles getan, was ich konnte, um zu helfen. Meine Gedanken sind zu gefährlich, als dass ich sie weiterhin als Waffe einsetzen kann. Du glaubst nicht, dass meine Gedanken Schaden anrichten können, aber das ändert nichts an meiner Entscheidung. Du, Antilius, weißt jetzt alles, um nach Verlorenend zu gelangen und vielleicht Thalantia zu retten. Ich kann dir nicht mehr helfen.

An diesem Ort ist Ruhe, die ich so dringend nötig habe. Meine Anwesenheit hier wird früher oder später die Bösartigkeit der Insel ersterben lassen, denn ich bin mächtiger als sie. Ich finde, das ist eine Aufgabe, für die es sich lohnt, hierzubleiben. Versuche nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, ich werde meine Entscheidung nicht ändern.«

Der Mantikor beruhigte sich wieder. Mit dieser Alternative schien er leben zu können.

Antilius legte keinen Widerspruch ein. Für endlose Diskussionen war eh keine Zeit mehr. Er musste schnellstens nach Verlorenend. Denn nur dort würde er das erhalten, was er brauchte, um Ilbétha aus ihrem tausendjährigen Schlaf zu erwecken und sie aus ihrem Gefängnis zu befreien, bevor der Dunkelträumer sich ihrer schöpferischen Kräfte bemächtigte.

»Also gut. Erkläre mir jetzt, was ich tun muss, um nach Verlorenend zu kommen.«

Die Siobsistin nickte. »Ich werde meinen Blick nach Verlorenend richten und dir den Weg weisen. Den Weg beschreiten kannst aber nur du selbst.«

Sie verstellte ihren Blick, und ihre Augen durchdrangen den Schleier, der alle Welten und alle Dimensionen voneinander trennte. Tiefer und tiefer drang ihr Blick, bis sie schließlich den Ort sah, zu dem Antilius gelangen wollte. Doch das, was sie sah, erschreckte sie so sehr, dass sie zusammenzuckte.

»Was ist los? Was hast du auf einmal?«, wollte Antilius wissen, der ein flaues Gefühl im Magen bekam. »Nun antworte doch endlich! Was siehst du?«

»Es ist geschehen, was ich insgeheim befürchtet hatte«, flüsterte sie, immer noch den Blick nach Verlorenend gerichtet.

»Was ist passiert?«

»Verlorenend, es ist bereits zerfallen. Alles ist dahin...«

Der Teleport

Nur wenige Mondstunden vor der Ankunft von Antilius und der Siobsistin auf Il Antil und ihrer Begegnung mit dem Mantikor befanden sich beide noch auf Panthea, der nördlichsten aller sieben Inselwelten.

Zu jenem Zeitpunkt hatte Antilius zusammen mit seinem Freund Pais versucht, die Siobsistin davon zu überzeugen, ihm zu helfen, nach Verlorenend zu gelangen. Nach langem Zögern hatte die Siobsistin eingewilligt. Sie hatte Pais dabei geholfen, seine volle Sehkraft zurückzuerlangen und hatte Antilius vor dem gewarnt, was ihn in Verlorenend erwarten würde. Sie hatte ihm erklärt, dass er nach Il Antil reisen und sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen müsse, um Verlorenend zu erreichen und hatte ihm die genauen Koordinaten der geheimen Insel verraten.

»Wir haben nicht viel Zeit. Ich frage mich, wie wir auf schnellstem Wege dorthin kommen sollen. Wenn ich die Koordinaten richtig deute, dann müsste sich Il Antil südlich von Bétha und sogar südwestlich von Finfin befinden. Das ist quasi am anderen Ende der Welt. Alte Schwinge wird unmöglich so weit fliegen können«, stellte Pais zweifelnd fest. Er ging zu diesem Zeitpunkt noch fest davon aus, dass er Antilius nach Il Antil und anschließend nach Verlorenend begleiten würde.

»Nein, das würde sie nicht schaffen«, pflichtete ihm die Siobsistin bei. »Aber das wird auch nicht notwendig sein. Ich werde Antilius nach Il Antil bringen.«

»Du? Und wie?«

»Ich werde ihn und mich dorthin teleportieren.«

»Was?«

»Solltest du wirklich die Gabe der Teleportation besitzen, so wäre die für uns von unschätzbarem Wert«, sagte Antilius und dachte noch weiter. »Kannst du mich denn nicht direkt nach Verlorenend bringen? Immerhin kannst du es sehen und weißt, wo es zu finden ist.«

»Ich kann mich binnen weniger Minuten auf jeden beliebigen Ort auf Thalantia teleportieren. Aber zwischen den Dimensionen zu reisen, das vermag selbst ich nicht zu tun.«

Antilius machte ein enttäuschtes Gesicht.

»An deinem Blick erkenne ich, dass du an der Wahrheit meiner Worte zweifelst. Aber du musst mir glauben. Wenn ich nach Verlorenend kommen könnte, dann hätte ich es schon längst getan.«

»Ich glaube dir. Es war nicht meine Absicht, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Ich denke einfach, dass du uns mit deinen Begabungen noch viel mehr helfen könntest, als du dir selber eingestehen willst.« Antilius musste auch an Tirl denken, den er vom Friedhof bis zum Dorf hatte tragen müssen. Hätte die Siobsistin ihn direkt dorthin teleportiert, könnte er jetzt vielleicht noch leben.

»Ich habe mich dazu bereit erklärt, dir dabei zu helfen, nach Verlorenend zu kommen. Aktiv werde ich mich darüber hinausgehend aber nicht einmischen. Meine Gedanken sind zu gefährlich. Ich kann nicht riskieren, dass sie unbeabsichtigt Schaden anrichten. Dich nach Verlorenend zu bringen, ist schon gefährlich genug.

Alles, was ich sonst noch tun kann, ist, euch Informationen zu geben, die euch vielleicht im Kampf gegen die Titanen hilfreich sein können.«

»Die da wären?«, fragte Pais.

»Es gibt noch Dinge auf Thalantia, die im Verborgenen ruhen, von denen der Dunkelträumer nichts weiß. Dinge, die seinen Plan, Ilbéthas Macht an sich zu reißen, zumindest behindern können. Das zu erläutern, nimmt jedoch etwas Zeit in Anspruch.«

»Dann wäre es wohl besser, wenn du das nicht nur uns erklärst, sondern allen. Ich habe mit der Präfektin vereinbart, dass wir uns in der Hafenstadt Itap-West treffen. Ich denke, dass sie dort mittlerweile angekommen sein wird, zusammen mit den anderen Vertretern Thalantias. Alle sollen erfahren, was du weißt, und dann können wir gemeinsam über unsere nächsten Schritte beratschlagen. Bist du damit einverstanden? Dich den anderen zu zeigen, meine ich?«

»Ich bin einverstanden. Ich werde euch beide jetzt mitnehmen nach Itap-West. Haltet meine Hände, dann wird unsere Reise dorthin nur wenige Minuten dauern.«

»Moment, Moment! Was ist mit Alter Schwinge? Soll sie den langen Weg alleine zurückfliegen? Hier auf Panthea bleiben kann sie jedenfalls nicht«, sagte Antilius, wissend, dass das kalte Klima der nördlichsten Inselwelt Gift für die alte Flugsaurierdame war.

»Dann bringe ich uns drei zuerst nach Telandir. Wir holen Alte Schwinge ab, und ich teleportiere uns dann gemeinsam nach Itap. Ich hoffe, ich schaffe das noch. Es ist schon sehr lange her, dass ich mich selbst an einen anderen Ort teleportiert habe.«

»Ist denn die Teleportation gefährlich?«

»Nicht, wenn ich nichts falsch mache und nicht abgelenkt werde.«

»Na, fein«, brummte Pais. Die Vorstellung, sich teleportieren zu lassen, gefiel ihm immer weniger.«

»Nehmt jetzt meine Hände. Dann werden wir sehen, ob ich es noch kann.«

Kaum hatten Pais und Antilius je eine der voluminösen Hände der Siobsistin ergriffen, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen und verwandelte sich in einen Sturm aus Staub und Dunkelheit...

Der Weg der Titanen

Nein, die Siobsistin hatte nicht vergessen, wie sie sich von einem zum anderen Ort teleportieren konnte. Sicher und wohlbehalten materialisierten sich Antilius, Pais, Alte Schwinge und sie selbst vor den Toren der Hafenstadt Itap im Westen von Truchten.

Seit dem Ausbruch der Titanen aus dem Untergrund von Arcanum waren jetzt knapp zwei Tage vergangen. Die steinernen Riesen hatten ihren langen Marsch nach Finfin begonnen. Ihr Ziel lag fern im Süden von Thalantia. Da sie den direkten Weg durchs Meer auf dessen Grund nahmen, konnte niemand sagen, wo sie sich gerade befanden, da man nicht wusste, wie schnell sie waren. Auch war nicht klar, wofür der Dunkelträumer die Titanen brauchte. Er wollte an das Versteck von Ilbétha heran, welches sich irgendwo hoch oben am Himmel über Finfin befand, aber inwiefern die Titanen dabei helfen sollten, konnte sich bislang niemand erklären. Aus diesem Grunde hatte die Siobsistin entschieden, den Vertretern Thalantias zu erklären, was sie erwartete und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie dem Dunkelträumer und den sieben entfesselten Titanen Widerstand leisten konnten.

Itap-West war nicht besonders groß. Eigentlich war es nicht mehr als ein Fischerdorf. Es war aber auch ein wichtiger Knotenpunkt für Thalantianer, die zwischen den Inselwelten reisten, aus dem einfachen Grund, weil Truchten, die Fünfte Inselwelt, zentral gelegen war. Deshalb war nach der Fischerei die Gastwirtschaft die zweitwichtigste Einnahmequelle von Itap-West. An fast jeder Straßenecke gab es ein Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeiten. Fische, Althane, hungrige und erschöpfte Reisende, das war es, was man hier kannte, und an das man sich gewöhnt hatte.

Die alteingesessenen Einwohner staunten daher nicht schlecht, als sich dieser Tage eine merkwürdige Flotte von Schiffen näherte, die - man traute seinen Augen kaum - in der Luft schwebten. Es waren die sieben Nachbildungen der Flotte des Peneplain, welche damals vor tausend Jahren im Kampf gegen die Invasoren eingesetzt worden war.

An Bord waren die Präfektin mit ihrem Stab aus Beratern und Feldherrn sowie alle Vertreter Thalantias, die ihrer Einladung gefolgt waren und erst vor Kurzem zum ersten Mal von der Bedrohung durch den Dunkelträumer erfahren hatten. Fast zeitgleich mit den Schiffen aus dem zerstörten Arcanum trafen Antilius und seine Begleiter in Itap ein. Es wurde kurzfristig ein großes Treffen aller Beteiligten direkt am Hafen einberufen. Dort, auf dem breiten Kai gab es genügend Platz, um alle zu versammeln. Haif drängte sich aus der Menge vor und freute sich, seine Freunde wiederzusehen, Alte Schwinge eingeschlossen. Als er erfuhr, dass Pais sein Augenlicht zurückbekommen hatte, stieß er einen Freudenschrei aus, den man in ganz Itap hören konnte.

Drei große Althane, die majestätischen schwimmenden Bäume, lagen am Hafen vor Anker. Schnell hatte die Präfektin ihre Leute angewiesen, mit den jeweiligen Kapitänen Kontakt aufzunehmen, da die Schiffe gebraucht werden würden. Zum Glück war der Bürgermeister von Itap auch anwesend und sicherte seine Hilfe bei der Beschaffung von weiteren Althanen zu, denn die Stadt Itap war Eigentümerin von mehr als einem Dutzend von Althanen. Darunter befanden sich auch die drei vor Anker liegenden Schiffe. Und der Bürgermeister tat das, obwohl er in der Eile noch gar nicht genau begriffen hatte, worum es eigentlich ging. Aber er wollte helfen und zögerte keine Sekunde.

Für die trügerische Idylle der malerischen Abendstimmung, in der die Strahlen der untergehenden Sonne die Baumwipfel der Althane streiften und das ruhige Wasser der Bogenbucht golden leuchten ließ, hatte jedoch keiner einen Blick übrig. Vielmehr richtete sich alle Aufmerksamkeit auf das eigenartige, große Geschöpf, das ein fächerförmiges Gestell auf dem Rücken trug mit allerlei daran herum baumelnden Gegenständen. Die Siobsistin konnte jeden einzelnen Blick auf sich spüren, und sie hasste es. Aber zum Glück würde sie nicht lange bleiben müssen.

Antilius stellte sie kurz der Präfektin und den Vertretern Thalantias vor und bat anschließend um Ruhe, da der Siobsistin der Lärm zu schaffen machte - zu lange hatte sie auf dem Friedhof des Kayen verbracht.

Der Präfektin war der Schock über die Zerstörung ihrer Stadt Arcanum immer noch deutlich anzusehen. Aber immerhin war sie wieder handlungsfähig und bereit, sich ihrer Verantwortung als Anführerin der Ahnenländer zu stellen. Mit Staunen und Befremden musterte sie die Siobsistin, als sie schließlich vor ihr stand.

»Ich freue mich, Euch kennenzulernen«, sagte sie zu ihr. »Ihr müsst meine Verwunderung verzeihen, aber die Tatsache, dass Ihr wirklich existiert und nicht nur eine Legende seid, fällt mir immer noch schwer zu glauben. Jedenfalls wünschte ich, dass wir uns unter besseren Umständen begegnet wären.«

Die Siobsistin sagte nichts und schaute die Präfektin nur auf eine Weise an, die ihrem Gegenüber deutlich machte, dass sie sich um Höflichkeiten wenig scherte. Sie wollte nur eilig loswerden, was sie wusste, und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden, um nicht länger begafft zu werden. Antilius konnte der Siobsistin nachfühlen, dass sie sich erheblich unwohl fühlte und kam schnell zur Sache.

»Präfektin, habt Ihr eine ungefähre Ahnung, wie weit die Titanen schon gekommen sind?«

»Ich habe eine grobe Schätzung anfertigen lassen.« Sie wandte sich an einen ihrer Leute und ließ sich eine Karte geben. Diese zeigte einen großen Abschnitt von Thalantia mit der westlichen Hälfte von Truchten im Zentrum bis hin zum nördlichen Teil von Finfin. Ausgehend von den an Truchten angrenzenden Ahnenländern ist eine gestrichelte Linie eingezeichnet worden, die von Arcanum über das Meer lief, vorbei an Itap-West bis weiter nach Süden zur Siebten Inselwelt.

»Diese Linie hier markiert den kürzesten Weg, welchen die Titanen auf dem Grund des Meeres zurücklegen müssen, um nach Finfin zu kommen. Wie Ihr sehen könnt, führt dieser Weg unmittelbar an Itap vorbei. Wir wissen, dass es hier eine breite Untiefe gibt. Wenn die Titanen wirklich diesen Weg genommen haben, dann stehen die Chancen gut, dass wir spätestens morgen früh zumindest ihre Köpfe aus dem Wasser ragen sehen werden, wenn sie hier vorbeikommen, und wenn unsere Berechnungen über ihre Geschwindigkeit korrekt sind.«

»Und wie lange werden sie brauchen, um Finfin zu erreichen?«, fragte Haif.

»Vermutlich etwa fünf Tage, vielleicht auch weniger. Wenn wir die Titanen hier bald sichten, werden wir genauer über ihre Geschwindigkeit Bescheid wissen.«

»Fünf Tage sind eine Menge Zeit«, sagte Antilius. Und das sagte er nicht nur, um sich und den anderen Mut zuzusprechen. Es war jedenfalls mehr Zeit, als er sich erhofft hatte. Es hätte wesentlich schlimmer kommen können, schließlich war der Dunkelträumer bereits zurückgekehrt.

Der Dunkelträumer war es, an den die Präfektin auch gerade dachte.

»Wo ist der Dunkelträumer jetzt?«

»Das weiß ich nicht. Er ist aber nicht auf Finfin. Er wird auf konventionellem Wege dorthin reisen müssen, genauso wie wir auch. Ich hoffe jedenfalls, dass er sich nicht wie die Siobsistin teleportieren kann«, sagte Antilius.

»Das kann er nicht. Noch nicht«, sprach die Siobsistin mit ihrer leisen Stimme.

»Und Ihr seid Euch sicher, dass der Dunkelträumer nicht vor der Ankunft der Titanen auf Finfin sein Vorhaben, Ilbéthas Macht an sich zu reißen, in die Tat umsetzen kann?«, fragte die Präfektin besorgt und ungeduldig.

»Ich bin mir sicher. Er braucht die Titanen. Ohne sie wird niemand an Ilbétha herankommen, auch er nicht.«

»Warum?«

»Die Titanen gehen nicht ohne Grund den Weg durchs Meer. Südlich von hier gibt es auf halber Strecke zwischen Finfin und Truchten etwas, das seit tausend Jahren auf dem Meeresgrund ruht«, erklärte sie Siobsistin.

»Und was soll das sein?«

»Es ist die schwebende Burg.«

»Die schwebende Burg? Unter Wasser, auf dem Grund des Meeres?« Haif konnte sich das nicht vorstellen. Die anderen um ihn herum schauten genauso ungläubig und wollten mehr wissen.

»Ilbéthas Versteck befindet sich hoch oben im Himmel über Finfin, unsichtbar von der Erde aus und eingehüllt in einen grünen Nebel, in dessen Inneren es immerzu blitzt und donnert. Ilbétha selbst war es, die jenen Nebel erschaffen hat. Er sollte sie schützen und ihr genug Energie für ihre jahrhundertelange Regeneration verleihen.

Um Ilbéthas Kokon, in den sie damals eingeschlossen wurde, zu versiegeln, brauchte es bestimmte Voraussetzungen. Und da kommt die Burg ins Spiel. Die Burg stand einst im Südosten von Finfin. Sie wurde in grauer Vorzeit erbaut und war schon vor tausend Jahren nicht mehr als eine halb verfallene Ruine. Die Titanen des Rätselmachers hoben zu siebt die Burg samt einem großen Klumpen Felsgestein als Fundament aus dem Boden. Mithilfe der Technologie, die, so wie die Titanen auch, vom Rätselmacher stammte, wurde die Gesteinsstruktur der Burg verändert, sodass sie schwerelos in der Luft schweben konnte. Sieben große Ketten wurden am Fundament befestigt, und jede Kette wurde von einem Titanen geführt. Die Burg wurde nach oben in den Nebel steigen gelassen. Auf ihr befanden sich König Artorius, der die Versiegelung des Verstecks beaufsichtigen sollte, der Konzertmeister, zwei Abgesandte der Inquisitoren und natürlich Ilbétha selbst.«

»Aber könnte man nicht einfach mit einem der schwebenden Schiffe, die wir aus Arcanum haben, in den Nebel hineinfliegen?«, fragte Antilius.

»Nein. Der Nebel ist eine schützende Barriere. Er ist die erste Stufe eines umfassenden Schutzsystems. Ihn zu durchdringen ist unmöglich. Das kann nur die schwebende Burg, welche sich auf demselben Energieniveau wie der Nebel befindet. Auch der Dunkelträumer kann daran nichts ändern. Wer den Nebel durchdringen will, muss die schwebende Burg in den Nebel bringen. Und das können nur die Titanen.«

»Jetzt wird mir einiges klarer«, sagte die Präfektin. »Bevor wir aber weiter über die Titanen sprechen, möchte ich noch mehr über dieses Schutzsystem wissen, das verhindern soll, dass Unbefugte Ilbétha befreien können. Welche weiteren Schutzmaßnahmen gibt es darüber hinaus?«

»Da wäre zum einen die Flöte, ohne die Ilbétha nicht aus ihrem Schlaf erwachen kann. Der Konzertmeister hat sie extra zu diesem Zwecke gebaut und eine einfache Melodie komponiert, die sie erwecken sollte, wenn die Zeit dafür reif sein würde. Aber wie ihr mittlerweile wisst, hat König Artorius seine Mitverschwörer verraten. Er nahm die Flöte an sich, und sie zerbrach in drei Teile. Zwei davon besitzt Antilius jetzt. Das fehlende dritte Teil befindet sich beim Konzertmeister, im Abyss von Verlorenend. Deshalb werde ich Antilius dabei helfen, nach Verlorenend zu kommen, damit er das letzte Stück der Flöte finden und die Melodie vom Konzertmeister besorgen kann.«

»Das wird der Konzertmeister wohl kaum freiwillig tun«, vermutete die Präfektin, die über dessen Schicksal noch nicht vollständig informiert war, sondern nur ahnte, dass dies ein gefährliches Unterfangen sein würde.

»Der Konzertmeister ist dem Wahnsinn verfallen, nachdem er von dem Verräter Artorius in den Abgrund gelockt worden war. Damals hatten die beiden gegeneinander gekämpft, nachdem sie Ilbétha gemeinsam in ihrem Kokon eingeschlossen hatten. Artorius bekämpfte den Konzertmeister, weil er verhindern wollte, dass Ilbétha jemals wieder erwachen würde. Und der Konzertmeister war durch ihre schöpferische Macht verführt worden und wollte in Verlorenend die Zeit abwarten, bis sie sich regeneriert hätte, um ihr dann ihre Macht zu entreißen. Aber er verlor den Kampf. Er sitzt nun im Abgrund unmittelbar an der Quelle der Zerstörung, die Verlorenend seit dessen Erschaffung heimsucht. Es ist nichts Menschliches mehr an ihm. Ich kann nicht sagen, wie Antilius ihn besiegen kann. Wir werden uns auf seine Fähigkeiten verlassen müssen. Ich habe zunächst versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber nun sehe ich ein, dass es keine andere Möglichkeit gibt, die Flöte und die Melodie zu bekommen.«

»Ich werde Antilius nicht alleine nach Verlorenend gehen lassen«, sagte Haif entschlossen und sah zu Pais, der bestätigend nickte.

»Eure Treue zu Antilius ehrt euch, aber nur Antilius allein wird nach Verlorenend reisen können. Niemand außer ihm wird den Weg dorthin beschreiten können. Er wird völlig auf sich allein gestellt sein müssen.«

Haif ließ den Kopf hängen, und Pais wollte nach dem Warum fragen, aber ein kurzer Blick von Antilius signalisierte ihm, dass es keine Alternative geben würde.

Trotzdem schwirrten in Pais' Kopf noch viel zu viele Fragen herum. »Ich verstehe noch nicht ganz, was wir eigentlich gerade planen. Wenn man Ilbétha ohne die Flöte nicht erwecken kann, warum sollten wir dann nach deren fehlendem Teil suchen und sie zusammensetzen? Wir riskieren doch damit, dass der Dunkelträumer sie in seine Finger bekommt. Wäre es nicht besser, stattdessen die beiden Teile der Flöte, die wir haben, zu vernichten?«

»Der Dunkelträumer braucht Ilbétha vielleicht nicht aus ihrem Schlaf zu wecken, um ihr ihre Kräfte zu rauben«, fuhr die Siobsistin fort. Sie sprach immer noch unglaublich leise, aber alle um sie herum waren ob ihrer Worte so gebannt, dass sie keinen Laut von sich gaben und sich kaum trauten, laut zu atmen. »Ihr jedoch müsst Ilbétha befreien, bevor der Dunkelträumer es tut. Und dazu muss sie erwachen, was nur mit dem Lied der Flöte möglich ist.«

»Dann müssen wir also schneller als der Dunkelträumer sein. Aber das bedeutet auch, dass wir die Kontrolle über die Titanen gewinnen müssen, denn ohne die Burg auf dem Meeresgrund kommen wir nicht an Ilbétha heran, richtig?«, schlussfolgerte Haif.

»Ja.«

»Einen Moment!«, unterbrach die Präfektin. »Waren das jetzt alle Hindernisse, um an Ilbétha heranzukommen? Wir wissen jetzt von dem energetischen Nebel, der Flöte und der Melodie. Was ist mit diesem Kokon, in dem sie sich befindet? Wie wird er geöffnet?«

»Nur das Licht der drei Monde wird den Kokon öffnen.«

»Drei Monde? Es gibt doch nur zwei«, sprach die Präfektin erstaunt.

»Ich glaube, das ist nicht ganz richtig. Es sind wirklich drei«, übernahm Antilius das Wort. »In meinem früheren Leben auf Thalantia damals vor tausend Jahren war ich ein Forscher des Sternenhimmels. Ich arbeitete gerade daran, einen Beweis für die Existenz des dritten Mondes Wuthan zu erbringen, da begann der Große Krieg gegen die Invasoren. Ich bin mir sicher, dass es den dritten Mond gibt. Ich habe ihn sehen können, auf dem Friedhof des Kayen.«

»Und warum sehen wir den dritten Mond nicht, wenn er doch existiert?«, fragte wieder Haif.

Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch übernahm wieder die Siobsistin, denn sie war die Einzige, die über jenes Mysterium Bescheid wusste. »Wuthan umkreist Thalantia genau wie seine beiden Schwestermonde Pathan und Quathan. Man kann ihn nicht sehen, weil er sich hinter dem Schleier verbirgt. Antilius ist der einzige noch lebende Auserwählte, der hinter den Schleier zu blicken vermag. Ich habe ihm den Mond gezeigt.«

»Es ist wahr. Ich habe ihn gesehen. Er war da, die ganze Zeit.«

Die Siobsistin fuhr fort. »Zu der Zeit, als mein Volk auf Thalantia lebte, vor vielen tausend Jahren, da gehörte Wuthan zum Nachthimmel genauso wie die anderen beiden Monde und die Sterne, die ihr alle auch heute noch sehen könnt. Wuthan war für jedermanns Auge sichtbar. Den Schleier, hinter dem er sich heute verbirgt, gab es damals nicht.

Ich bin mir nicht sicher, was damals geschehen ist, aber nachdem mein Volk diese Welt schon lange verlassen und mich zurückgelassen hatte, begann Wuthan allmählich zu verschwinden. Er verschwand nicht wirklich, sondern geriet aus der unsrigen Wirklichkeit, sodass er scheinbar nicht mehr da war. Dies hatte folgenschwere Auswirkungen für Thalantia. Die achte Inselwelt, von deren Existenz ihr nichts wisst, versank im Meer. Es war mit Abstand die größte aller Inselwelten. Diese Landmasse war jenes Land, das mein Volk bewohnt hatte und dessen Untergang es vorhergesehen und deshalb Thalantia verlassen hatte.

Der Mond hatte seine Schwerkrafteigenschaft auf Thalantia verloren, sodass sich die Gezeiten änderten, und die achte Inselwelt in den Fluten versank.«

»Eine achte Inselwelt! Faszinierend«, sprach Haif begeistert. Die Vorstellung einer alten und vergessenen Hochkultur, die auf Thalantia gelebt hatte, zu einer Zeit, in der Sortaner noch keine komplexe Sprache beherrschten, war für ihn kaum vorstellbar.

»Aber wenn der dritte Mond nicht zu sehen ist, wie soll sein Licht zusammen mit dem der anderen beiden Monde dann den Kokon von Ilbéthas Versteck öffnen können?«, fragte Pais.

»Es ist eigentlich ganz einfach. Ich selbst habe das, was ich euch jetzt sage, erst vor Kurzem enträtseln können. Wuthan macht einen Zyklus durch, der sich alle 30.000 Jahre wiederholt. Damals, als meine Heimat versank, geriet Wuthan aus der Phase unserer Wirklichkeit und verschwand hinter dem Schleier. Und jetzt, 30.000 Jahre später, wird er aus dem Schleier wieder heraustreten und für jedermann am Himmel sichtbar werden. Sein Licht wird auf Thalantia herabscheinen. Die drei Monde werden wieder vereint sein. Und das Meer wird die Achte Inselwelt wieder freigeben.«

»Wann wird der Mond wieder am Himmel zu sehen sein?«

»In sechs Tagen. Nur dann werden die Monde in einer bestimmten Konstellation zueinanderstehen, sodass ihr vereintes Licht den Kokon von Ilbéthas Versteck zu öffnen vermag.«

Alle machten große Augen.

»Also ungefähr genau dann, wenn die Titanen auf Finfin eintreffen werden.«

»Richtig. Ilbétha wusste von dem Zyklus des dritten Mondes. Sie wusste, dass Wuthan tausend Jahre nach ihrer Ankunft aus dem Schleier wieder hervortreten würde und dass sein Licht und das der anderen Monde ihren Kokon öffnen würde.

Ilbétha und die Eingeweihten waren also die Einzigen, die das exakte Datum ihres geplanten Erwachens kannten. Und der Dunkelträumer scheint es auch zu wissen. Ich vermute, dass der Rätselmacher es ihm vor seiner Verbannung verraten hat.«

Antilius musste an seine flüchtige Begegnung mit dem Rätselmacher in der Vergangenheit denken, gerade nachdem er seinen Bruder besucht hatte. Damals, vor tausend Jahren muss der Rätselmacher ihm sein Wissen um Ilbétha anvertraut und ihm den sprechenden Stein überreicht haben.

»Die Eingeweihten rund um König Artorius sollten dafür sorgen, dass in ferner Zukunft die Titanen wieder bereit sein würden, die schwebende Burg zu ihrem Versteck zu bringen, um sie zu befreien. Aber dieses Wissen ist leider verloren gegangen«, sagte die Siobsistin und sah die Präfektin ernst an. Es lag kein Vorwurf in ihrem Blick, vielmehr war es ein Bedauern.

Die Nachkommen des Bundes, der von den Inquisitoren gegründet worden war, sollten eigentlich das Wissen um Ilbéthas bevorstehendes Erwachen hüten. Aber dieser Plan scheiterte ja schon im Ansatz, da Artorius den Verrat beging und Teile jenes Wissens, wie die Melodie, mit der man Ilbétha aufwecken konnte, vernichtete. Die Präfektin als legitime Nachfahrin der Hüter des Wissens um die Vergangenheit, fühlte sich als Versagerin, sich selbst und stellvertretend für ihre Zunft. Hätte sie eine Ahnung von den wahren Geschehnissen damals gehabt, hätte sie vielleicht ein wenig mehr nachgeforscht, dann hätte sie die Rückkehr des Dunkelträumers verhindern können, lange bevor dieser seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

»Was würde eigentlich passieren, wenn Ilbétha nicht befreit werden würde? Wenn wir uns nur darauf konzentrieren würden, den Dunkelträumer zu stoppen und den Tag der Rückkehr des Mondes aus seinem Schleier folgenlos verstreichen lassen würden?«, fragte Pais.

»Wir können sie nicht noch weitere 30.000 Jahre eingesperrt lassen«, übernahm Antilius das Wort. »Wenn wir nicht dem Dunkelträumer zuvorkommen und sie nicht befreien, dann wird Verlorenend komplett in sich zusammenbrechen. Alle, die dort leben, vielleicht Tausende oder Millionen, würden sterben. Nur Ilbétha kann Verlorenend wieder in Ordnung bringen.«

Noch während Antilius diese Worte sprach, merkte er, dass er das nicht ganz uneigennützig tat. Tahera war in Verlorenend. Sie war schon einmal gestorben auf Il Antil und erstand in Verlorenend wieder auf. Sie sollte nicht noch einmal sterben. Nicht noch einmal.

Die Siobsistin machte ein überraschtes Gesicht. Eine Regung, die keinem entging.

»Offensichtlich wisst ihr es noch nicht, deshalb werden euch alle meine folgenden Worte sicherlich schockieren«, begann sie.

»Sprecht schon! Was erwartet uns noch?«

»Nicht nur Verlorenend wird sterben, wenn Ilbétha nicht befreit wird. Auch Thalantia wird untergehen.«

»Was sagt Ihr?« Die Präfektin wurde kreidebleich. Den anderen erging es nicht besser, Antilius eingeschlossen.

»Ilbétha hat Verlorenend an die Existenz von Thalantia gekoppelt. Beide Welten existieren quasi in einem Gleichgewicht. Als Verlorenend vor tausend Jahren, also kurz nach dessen Erschaffung, durch die Welle der Zerstörung beschädigt wurde, stoppte Ilbétha die Zeit in jener Welt, während auf Thalantia die Zeit normal weiter voranschritt. Nur so konnte sie den Verfall von Verlorenend aufhalten. Erst als Antilius durch einen der Spiegel nach Verlorenend kam, begann die Zeit wieder weiterzulaufen, und die Zerstörung fuhr fort.

Wenn Verlorenend sich in nichts auflösen wird und sich die Dunkelheit aus dem Abyss ausbreitet, dann wird Thalantia mit in den Abgrund des Nichts gezogen. Ilbétha vor dem Dunkelträumer zu retten und zu befreien bedeutet, Thalantia zu retten.

Wenn es euch nicht gelingt, wird Thalantia untergehen, entweder, weil es durch das sterbende Verlorenend vernichtet wird, oder weil der Dunkelträumer mit der schöpferischen Macht Ilbéthas Thalantia zerstören und eine neue Welt, ein neues Multiversum des Wahnsinns kreieren wird, das so schrecklich sein wird, das ich keine Worte finde, um es zu beschreiben. Doch wahrscheinlicher als das wird es sein, dass er in Unkenntnis der Anwendung ihrer Macht einfach nur alles vernichten wird, was in diesem Universum existiert.

So oder so, in sechs Tagen entscheidet sich das Schicksal eurer Welt.«

Die Vertreter Thalantias waren entsetzt. Keiner zweifelte an den Worten des mysteriösen Geschöpfes in seinem dunklen Umhang. Auch Antilius hatte von diesem fatalen Zusammenhang zwischen Verlorenend und Thalantia bislang nichts gewusst. Er konnte es kaum fassen. Auch die Tatsache, dass die Siobsistin bis vor Kurzem noch bereit gewesen war, dieses furchtbare Geheimnis für sich zu behalten, versunken in ihrer grenzenlosen Gleichgültigkeit und Resignation.

»Die Ahnen stehen uns bei«, murmelte irgendein Bürgermeister, der aus einer kleinen Stadt aus Bétha stammte. Sonst brachte niemand ein Wort heraus.

Nur Pais fand den Mut, das Schweigen zu durchbrechen. »Dann haben wir also keine andere Wahl. Wir müssen nicht nur den Dunkelträumer aufhalten, wir müssen auch Ilbétha befreien, und zwar am Tag der Rückkehr des dritten Mondes. Komme, was wolle.«

»Also schön«, begann Haif, der gedanklich noch mal das Gesagte durchging, »wir wissen jetzt, was nötig ist, und was wir brauchen, doch frage ich mich noch, was es mit den sehenden Steinen auf sich hat. Calessia hat sie uns weggenommen. Sie scheinen für das Vorhaben des Dunkelträumers von absoluter Notwendigkeit zu sein.«

»Die sehenden Steine werden als Prismen fungieren. Sie sollen das Licht der drei Monde bündeln und auf den Kokon abstrahlen. Drei Monde und drei Steine«, erklärte die Siobsistin.

»Aber wir wissen nur von zwei Steinen. Ich weiß es genau, weil Calessia uns die sehenden Steine weggenommen hat. Wo ist der dritte?«

»Antilius hat ihn.«

»Was denn, ich?« Antilius war völlig perplex und wollte schon vorschnell versichern, dass er den Stein nicht haben könne, da fiel ihm plötzlich wieder das junge Mädchen in Verlorenend ein, das ihm kurz vor seiner Rückkehr nach Thalantia etwas in die Hand gedrückt hatte, das in ein Leinentuch eingewickelt gewesen war. Er hatte es seit diesem Tage bei sich getragen, und bis heute hatte er es nicht gewagt, nachzusehen, um was es sich dabei handelte.

Völlig überrascht über diese unerwartete Wendung holte er den Gegenstand im Leinentuch hervor und wollte es entfalten, aber die Siobsistin hielt ihn zurück.

»Denk daran, was dir gesagt wurde, als du den Stein bekommen hast, Antilius.«

Er erinnerte sich genau, was das Mädchen gesagt hatte. Er sollte es erst öffnen, wenn er das Mädchen wiedersehen würde.

»Warum soll er ihn nicht auspacken? Wir müssen uns doch vergewissern, dass es sich um den richtigen Stein handelt«, wandte Pais ein.

»Der sehende Stein ist nicht in irgendein Tuch eingewickelt. Es schützt den Stein vor unerwünschten Blicken.«

»Was soll das nun wieder bedeuten?«

»Solange der Stein verhüllt ist, kann niemand, dessen Wahrnehmung über die eines Normalsterblichen hinausgeht, den Stein sehen. Nicht der Dunkelträumer und auch nicht die Späher, für die es ein Leichtes wäre, sich des letzten sehenden Steins zu bemächtigen, wenn sie wüssten, dass Antilius ihn hat.«