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Nachdem sich das Flüsternde Buch selbst vernichtet hat, steht der Rückkehr des verbannten Dunkelträumers scheinbar nichts mehr im Wege. Um herauszufinden, warum Antilius auf einem jahrhundertealten Gemälde zu sehen ist, muss er sich auf eine gefährliche Reise in seine eigene Vergangenheit begeben. Eine Reise, welche die schreckliche Wahrheit über ihn und den Dunkelträumer zutage fördern wird.
Doch seine Gegenspieler werden nicht weniger. Der Kayen, ein Totenbeschwörer und Herrscher über die Geister des größten Friedhofs des Universums und der Kataklyst, ein Golem, der dem Moor von Elend-Uhn entstiegen ist, sind erwacht und setzen alles daran, ihn zu stoppen.
Sie alle eint ein gemeinsames Schicksal, das seinen Ursprung in Verlorenend hat, dem Ort, der ewiges Leben verspricht.
Und die Titanen des Rätselmachers sind der Schlüssel zur Pforte der Ewigkeit...
Neuauflage des dritten Teils der Verlorenend-TetralogieDas E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
S. G. Felix
Das Mysterium der
Titanen
Band III der Verlorenend-Tetralogie
Erschöpft und mit schweren Beinen, aber mit eisernem Willen watete Calessia durch den knietiefen Morast.
Die Moorebenen der Inselwelt Fahros waren berüchtigt für ihre lebensgefährlichen Seen und Tümpel. Nicht deshalb, weil man fürchtete, im Moor versinken zu können, sondern weil man davon überzeugt war, dass irgendwo in dem trüben Wasser etwas lebte, das nur darauf wartete, jemanden zu sich in die Tiefe zu ziehen.
Diese Geister- und Spukgeschichten über das Moorland, das die Einheimischen auch als Elend-Uhn bezeichneten, kannte Calessia nur zu gut. Daher wusste sie auch, dass sie der Wahrheit entsprachen. Nicht Geister lebten in den Mooren, sondern etwas, das sehr lebendig war, obschon es sehr alt sein musste.
Calessia war auf der Suche nach dem Kataklysten. Vor mehreren Jahrhunderten, wahrscheinlich zu der Zeit kurz nach dem großen Krieg auf Thalantia, musste es gewesen sein, als der Kataklyst im Moor versank und sich in eine Art Golem verwandelte. Das Flüsternde Buch hatte es ihr verraten.
Mit sechs kräftigen Männern war Calessia im Südosten von Fahros zum Moorland aufgebrochen. Ihre Träger und Gehilfen hatte sie nur mithilfe vieler Goldmünzen überreden können, sie tief hinein ins Moor zu begleiten.
Drei von ihnen mussten nach einigen Tagen vor Erschöpfung aufgeben. Der Vierte machte sich eines Nachts während einer Rast heimlich aus dem Staub, weil er furchtbare Angst hatte vor dem, was Calessia aus dem Moor erwecken wollte.
Von den zwei übriggebliebenen bat der fünfte Mann Calessia um Entbindung von seinen Pflichten. Er war ihr Führer, der wie kein anderer die wenigen begehbaren Wege im Moor kannte. Ohne ihn wäre ihre Suche nach dem Kataklysten schon längst beendet gewesen. Deshalb machte sie ihrem Führer klar, dass sie ihn persönlich umbringen würde, sollte er es wagen, sie im Stich zu lassen.
Vier Tage waren Calessia und ihre zwei verbliebenen Helfer nun schon weiter in die Moorebenen vorgedrungen, weiter, als sich kein anderer je gewagt hätte. Der faulige Gestank in dieser Gegend war schon schlimm genug. Aber die feuchte Kälte, besonders in den Nächten, fuhr der Gruppe tief in die Knochen und machte jeden Schritt zur Qual.
»Hier endet der Pfad, der auf unserer ältesten Karte, die wir haben, verzeichnet ist«, sagte Calessias Führer am Ende des vierten Tages. Er war auf Fahros auch als der Waldläufer bekannt.
Wie so oft in den Moorebenen hatte es wieder begonnen zu regnen. Die ohnehin schon gut gefüllten Becken, Seen und Flüsse würden noch weiter anschwellen und den Rückweg kaum leichter, wenn nicht sogar unmöglich machen.
»Wir haben unser Ziel fast erreicht«, sagte Calessia. »Der Legende nach versank der Kataklyst in einem See, in dessen Mitte sich eine kleine Insel erhebt. Eine alte Eiche, die schräg über das Wasser ragt, steht darauf.
Es muss ganz in der Nähe sein!«
»Ich hoffe, Ihr irrt Euch«, bemerkte Calessias Führer.
»Wieso sagst du das?«, fragte sie zornig.
»Das, was hier im Moor ruht, sollte man besser in Frieden lassen. Es stammt aus dunklen Zeiten, und es kennt nichts anderes als das Dunkel. Es ist böse und verflucht.«
»Verflucht? Ja, vielleicht. Aber böse? Du fürchtest dich nur, weil du es nicht besser weißt. Den Kataklysten nicht zu erwecken wäre töricht. Jedenfalls nicht in Anbetracht dessen, was uns allen schon sehr bald bevorsteht.«
»Selbst wenn es dieses Wesen wirklich gibt, was wollt Ihr dann von ihm?«, wollte der andere Mann wissen, der Calessias Gepäck trug.
»Der Kataklyst besitzt etwas, das ich brauche. Mehr musst du nicht wissen.«
»Die Sonne geht bald unter. Wir sollten hier unser Nachtlager aufschlagen«, schlug der Waldläufer vor.
»Nein. Auf keinen Fall«, sagte Calessia und starrte auf einen Punkt hinter ihrem Führer.
»Warum nicht?«
Calessia atmete einmal tief ein und aus, bevor sie antwortete: »Weil wir unser Ziel erreicht haben.«
Der Waldläufer drehte sich um und folgte ihrem Blick. In der Ferne ragte die schattengleiche Silhouette der alten, verdorrten Eiche vor einer untergehenden Sonne auf.
»Ich habe es euch doch gesagt! Die Legende ist wahr.«
Die beiden Männer sackten innerlich zusammen. Mehr als je zuvor hatten sie das Gefühl, dass die Sache ein böses Ende nehmen würde.
Nebelfelder zogen über dem Moor auf, als Calessia und ihre beiden Helfer das Ufer des kleinen Sees mit der Eiche auf dessen Insel erreichten. Die Temperatur war stark gefallen. Der Regen hatte aufgehört, aber die Nässe war zusammen mit der Kälte in jede Ritze gekrochen. Der Waldläufer und der Träger froren. Nur Calessia war auf ihr Ziel fixiert und starrte auf den See mit seinem dunklen, undurchsichtigen Wasser.
»Zündet ein paar Fackeln an und steckt sie hier am Ufer in einem Halbkreis um uns herum in den Boden!«, befahl sie.
Die Männer führten ihren Befehl aus, während die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Das letzte Glühen am Himmel im Westen spiegelte sich auf der Wasseroberfläche des kalten Sees.
»Woher wisst Ihr, wie man den Kataklyst erweckt?«, fragte der Waldläufer zweifelnd.
»Ich weiß es nicht«, sprach Calessia fast amüsiert. »Woher auch? Es hat noch niemand versucht, ihn aufzuwecken.«
Sie zog sich ihre Schuhe aus und trat ans Ufer heran. Dann setzte sie einen Fuß in das Wasser und zuckte ob der Kälte einmal. Sie biss die Zähne zusammen. Als sie sicher sein konnte, dass der Untergrund fest genug war, ihr Gewicht zu halten, stieg sie ein Stück weiter hinein, bis ihr das Wasser bis zu den Knien reichte.
Der Kataklyst sollte wissen, dass jemand bei ihm war. Ihre Körperwärme würde ihn anlocken.
»Los, macht es genauso wie ich!«, rief sie den Männern zu.
Der Waldläufer und sein Leidensgenosse wechselten kurz einen Blick und einigten sich stumm darauf, diesmal nicht zu gehorchen.
»Feiglinge!«, zischte Calessia nur und ließ es auf sich beruhen. Sie war viel zu fasziniert von diesem abgeschiedenen Ort. Sie spürte, dass der Kataklyst in der Nähe war.
Sie schritt noch ein Stück weiter hinein in den eisigen See, tauchte ihre Hände ins Wasser und bewegte sie im Kreis, um Wellen zu erzeugen. Die Kälte spürte sie gar nicht mehr.
»Ich rufe dich, Gefangener des Sees! Ich rufe dich herbei. Erwache aus deinem langen Schlaf! Folge mir, und ich werde dir zu deiner Vergeltung verhelfen, die dir bis heute verwehrt geblieben ist!
Erwache!«
Nichts geschah.
Erleichtert stellten die beiden Männer im Hintergrund fest, dass sich nichts tat. In froher Hoffnung, Calessia nun zum Umkehren bewegen zu können, klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter, als sie plötzlich ein leises Blubbern vernahmen.
Calessia zog blitzartig mit einem leichten Schreck ihre Hände wieder aus dem Wasser und starrte gebannt zu den Bläschen, die sich ein paar Meter vor ihr auf der Wasseroberfläche gebildet hatten.
Weitere Blasen stiegen auf und ein gedämpftes Raunen ertönte. Es schien aus dem See zu kommen.
Die Männer bekamen es mit der Angst zu tun.
»Lasst uns von hier verschwinden, bevor es zu spät ist!«, flehte der Träger Calessia an.
»Schweig!«, schrie sie zurück, ohne sich vom See abzuwenden.
Mehr und mehr Blasen stiegen aus der finsteren Tiefe des Sees empor.
Und dann, nur ganz schwach, sah Calessia ein Leuchten unter Wasser. Es war dasselbe grüne Leuchten, das Panton - das war der Name des Kataklysten vor seiner Verwandlung - einst in die Tiefe gezogen hatte. Aber dieses Mal kam es vom Kataklysten selbst.
Das Wasser begann regelrecht zu sprudeln. Das grüne Licht wurde immer heller. Ein unheilvolles Rumoren durchdrang das Moor.
Calessia ging langsam rückwärts, bis sie wieder aus dem Wasser heraus war.
Die beiden Männer hätten es besser wissen müssen: Sie hätten die Gelegenheit beim Schopfe packen und von diesem Ort fliehen sollen. Aber der seltsamen Faszination, die das Schauspiel in ihnen auslöste, konnten sie sich nicht entziehen. Sie wagten sich stattdessen bis an das Ufer heran, um zu sehen, was gleich aus dem fauligen Nass emporsteigen würde.
Langsam begann sich die Wasseroberfläche in der Mitte des Sees zu wölben. Eine schwarze, modrige Masse erhob sich aus einem leuchtenden Kranz von Blasen. Es war der Kopf des Kataklysten. Er war eins geworden mit dem Moor. Und deshalb bestand er auch überwiegend nur aus dem Morast, den ein Moor beinhaltet.
Das grüne Leuchten stammte von seinen Augen, die wie zwei Scheinwerfer aus der zunehmenden Dunkelheit zu Calessia und ihren Männern hinüber strahlten.
Mit jedem Zentimeter, den der Kataklyst aus dem Wasser stieg, wurde klar, dass er riesig war. Mindestens doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann.
Als er halb aus dem Wasser war, bewegte er sich ein Stück weit auf das mit Fackeln beleuchtete Ufer zu.
Auf halber Strecke machte er Halt und beugte sich tief in das Wasser hinein. Anscheinend wollte er etwas vom Grund aufheben. Als er es gefunden hatte, richtete sich das mächtige Wesen wieder auf.
Es war der Helm des Kataklysten, den er als stolzer König vor langer Zeit getragen hatte. Der Helm war einst wunderschön gewesen, gefertigt aus Gold und besetzt mit den edelsten Steinen, die man auf seiner Heimatwelt finden konnte. Er war das, was man hierzulande als Krone bezeichnet hätte.
Der Kataklyst hob den vor Schlamm triefenden Helm über seinen mächtigen Kopf und setzte sich ihn auf. Widerlich schmatzende und glucksende Geräusche entstanden dabei. Dann kam das morastige, nach Fäulnis stinkende Ding weiter auf das Ufer zu.
Calessia war so fasziniert und erregt von dem Geschehen, dass ihr Herz wild pochte, und sie zu schwitzen begann, obwohl es doch eiskalt war.
Das Moorwesen erreichte die Uferböschung. Ehe der Mann, der als Gepäckträger angeheuert hatte, begriff, dass das vermoderte Ungeheuer aus dem See etwas in seinen grün-leuchtenden Augen hatte, das ihn an den Tod erinnerte, packte der Kataklyst den armen Kerl blitzschnell am Hals und hob ihn hoch. Er schrie nur kurz, denn die unerbittliche Kraft seines Würgegriffs ließ jeglichen Schrei im Keim ersticken.
»Nein!«, brüllte der Waldläufer. »Calessia, tut doch etwas! Befehlt ihm, aufzuhören!«
Aber Calessia dachte gar nicht daran, dem einstigen König aus dem Moor etwas zu befehlen. Sie wusste, der Kataklyst musste sehr hungrig sein, nach all der langen Zeit. Also sollte er sich nehmen, was er brauchte.
Das stechende Licht aus seinen Augen paralysierte sein Opfer und machte es willenlos. Der Moorgolem öffnete seinen Mund, aus dem tiefschwarzer Matsch herausquoll. Dann begann er den armen Mann auszusaugen. Es war ein Strom aus grün-glühendem Plasma, das der Kataklyst aus seinem Opfer heraussaugte.
Calessia sah mit geweiteten Augen und einer Mischung aus Abscheu und Faszination zu, wie das Ding aus dem Moor ihrem Gepäckträger gierig das Leben aussaugte. Für einen Moment kamen ihr ernsthafte Zweifel, ob es wirklich klug gewesen war, den Moorgolem herbeizurufen. Aber es kam noch schlimmer: Nachdem auch das letzte Zucken des Mannes im eisernen Griff der morastigen Pranke erstorben war, begann er in sich zusammenzufallen. Er schrumpfte wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausließ. Der Kataklyst hinterließ von seinem Opfer nichts als eine leere Hülle. Am Ende warf er das, was er übrig gelassen hatte, von sich, woraufhin sich die Hülle des Mannes wie ein nasser Sack um einen verdorrten Ast eines Baumes wickelte, so als handele es sich um ein nasses Handtuch.
Der Waldläufer schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und flüchtete. So wollte er nicht auch enden. Er rannte nicht weit und versteckte sich hinter einem großen Stein, von dem er aus sicherer Entfernung das Geschehen beobachten konnte.
Das Glühen in den Augen des Kataklysten senkte sich wieder ein wenig. Calessia war zweifelnd zurückgewichen. Das Wesen aus dem Moor näherte sich ihr und setze dabei langsam einen Fuß vor den anderen. Calessia erstarrte. Der Kataklyst blieb unmittelbar vor ihr stehen.
Der Waldläufer, hinter dem Stein kauernd, wollte am liebsten wegsehen. Aber er tat es nicht.
Dann senkte der Kataklyst seinen Kopf und ging bedächtig in die Knie.
»Ich bin Euer Diener, meine Herrin«, brummte das Geschöpf.
Calessia zitterte vor Anspannung und Erregung. Sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.
»Es heißt...« Sie musste noch einmal tief Luft holen und sich zusammenreißen, um dem Kataklysten keine Schwäche zu zeigen. »Es heißt, du besitzt einen der sprechenden Steine. Gib ihn mir! Dann werde ich dich teilhaben lassen an meinem großen Plan.«
Der Kataklyst streckte die rechte Hand aus und hielt sie ihr mit der Innenseite nach oben hin.
Stirnrunzelnd betrachtete Calessia die leere Hand aus triefendem Morast. Dann quoll etwas aus der Handfläche heraus. Ein Klumpen, über und über mit Schlamm bedeckt. Sie nahm das Ding an sich, wusch es hastig im Wasser des Sees und öffnete staunend den Mund, als sie erkannte, was der Golem aus dem Moor ihr überlassen hatte.
Es war der sprechende Stein. Der Stein, mit dem sie den Dunkelträumer kontaktieren konnte.
Der Kataklyst war einst ein König, gefürchtet und zugleich geliebt von seinem Volk. Viele Jahrhunderte ist das nun her, bevor er eins wurde mit dem Moor, in dem er bis zum heutigen Tage unbehelligt geruht hatte.
Um zu verstehen, wer und vor allem was der Kataklyst ist, und warum er im Besitz des sprechenden Steins ist, müssen wir zurückgehen zu der Zeit vor tausend Jahren, als Ilbétha auf Thalantia gestrandet war.
Durch die Berichte der Vergessenen in der versunkenen Stadt Eventum wissen Antilius und seine Gefährten bereits, was sich im Wesentlichen zu der damaligen Zeit zugetragen hat.
Ilbétha, ein schöpferisches Wesen, das älter als das Universum selbst ist, hatte versucht, eine neue Welt zu erschaffen, parallel zu der bereits existierenden. Verlorenend haben die Thalantianer einst diese Parallelwelt genannt. Bei ihren Reisen durch den Äther dieses Universums und zu den zahllosen anderen Welten eignete sich Ilbétha die Fähigkeit an, Welten zu erschaffen, allein durch die Kraft ihrer Gedanken.
Die unvorstellbare Macht, die sie bei ihren Schöpfungen entfaltete und stetig fortentwickelte, war beispiellos.
Ihr Schöpfungsdrang wurde getrieben durch ihre Suche nach einer perfekten Welt. Einer Welt, in der Kummer und Schmerz, ja sogar auch der Tod überwunden waren. Doch fand sie so eine Welt bei ihren Reisen nicht vor, selbst in den noch so fremdartigsten und entferntesten Gegenden. Egal, zu welcher Zeit, egal, in welcher Dimension sie auch suchte, bei all den Wundern und Schönheiten, die sie vorfand, waren Verfall, Zerstörung und die allgegenwärtige Bedrohung durch das launische Schicksal immer allgegenwärtig. Und das machte sie traurig.
Daher beschloss sie, ihre Fähigkeit zu nutzen und eine Welt zu kreieren, die es noch nicht gegeben hatte. Sie wollte eine Welt erschaffen, welche von all den üblen Dingen befreit war, die sie immer und immer wieder vorfand. So erschuf sie Verlorenend.
Doch was nutzt die perfekte Welt, wenn sie nicht mit Leben erfüllt war? Denn bei aller Macht, über die Ilbétha verfügte - Leben zu erschaffen, das vermochte sie nicht zu tun. Noch nicht.
Deshalb musste sie einen bereits bewohnten Planeten auswählen, den sie für würdig erachtete, ihre neu geschaffene Welt zu bevölkern. Verlorenend existierte zwar in einer anderen Realität, brauchte aber für eine Besiedlung einen Ankerpunkt in dieser Welt. Und als diesen Ankerpunkt wählte sie Thalantia aus.
Keine andere Welt schien Ilbétha besser geeignet als jener kleine Planet, dessen Bewohner ohne kriegerische Auseinandersetzungen lebten und sich der Forschung und eigenen Weiterentwicklung widmeten. Ein Volk, das die geistige Reife und die moralische Integrität besaß, um für Verlorenend würdig zu sein.
Zu der damaligen Zeit, vor tausend Jahren, war Thalantia einer der schönsten und friedfertigsten Orte, die sie je gesehen hatte. Sicher, auch Thalantia war nicht perfekt. Aber es war in jeder Hinsicht geeignet für ihr Vorhaben.
Lange hatte sich Ilbétha auf den Moment der ersten Kontaktaufnahme vorbereitet, kurz nachdem sie ihre neue Welt Verlorenend vollendet glaubte. Doch dann geschah das große Unglück. Vielleicht war es auch Bestimmung, wer kann das schon wissen?
Verlorenend wurde von einer Welle der Zerstörung erschüttert. Weite Teile von Verlorenend wurden vernichtet oder auseinandergerissen. Die Verwüstung war so gewaltig, dass sie sogar Ilbétha schwer verletzte, denn sie war auf vielen Ebenen mit Verlorenend verbunden. Ihre eigene Lebensenergie war an die von ihr geschaffene Welt geknüpft.
Woher die Zerstörung kam, oder was sie ausgelöst hatte, das konnte Ilbétha nie in Erfahrung bringen. Ihrer neuen Welt, die sie vor eben genau jener Zerstörung befreit geglaubt hatte, drohte nun die Vernichtung.
Als sie Verlorenend erschuf, hatte sie alles Negative dermaßen naiv ignoriert, dass es sich unbemerkt im Schatten ihrer Schöpfung sammelte und in einer brachialen Welle der Vernichtung entlud; wie ein Vulkan, der dem Druck der Magma nicht mehr standhalten konnte.
Das war die bitterste Erkenntnis in Ilbéthas langem Leben. Nämlich, dass trotz aller Wunder, die sie in Verlorenend verwirklicht hatte, sie blind gewesen war für die zerstörerischen Urgewalten, die ihrer neuen Welt inhärent waren. Urgewalten, die jeder Welt inhärent waren. Verlorenend bildete trotz größter Mühen hier keine Ausnahme.
Nun war das Undenkbare geschehen und Ilbétha hätte schnell handeln müssen, denn Verlorenend begann unmittelbar nach der Welle zu zerfallen. Doch die Weltenerschafferin war viel zu geschwächt, da das Schicksal Verlorenends an ihr eigenes gekoppelt war. Es erging ihr so schlecht, dass ihre Präsenz auf Thalantia für jedermann sichtbar wurde. Ihr wahres Antlitz konnte sie zwar verbergen, nicht jedoch ihre Anwesenheit. Und so nahm sie die Gestalt eines humanoiden Wesens an, während sie trotz ihrer Verletzungen einen Plan entwickelte, Verlorenend und damit auch sich selbst wieder zu heilen.
Aber als wäre das Geschehene nicht bereits furchtbar genug, taten sich zu allem Überfluss auch noch Risse in Verlorenend auf. Diese Risse waren Durchgänge, mithilfe derer jedermann auf Thalantia in Verlorenend eindringen konnte. Doch waren die Durchgänge nicht nur auf Thalantia beschränkt. Überall im Universum taten sich die Risse auf, die direkt in das Raumzeitgefüge von Verlorenend führten. Viele Völker im Universum, die dazu fähig waren, konnten nun einen Blick in die von Ilbétha erschaffene und aus den Fugen geratene Welt erhaschen. Verlorenend war so für jeden sichtbar geworden, auch für diejenigen, für deren Augen es nicht bestimmt war. Und noch mehr als das: Weil Ilbétha und Verlorenend eng miteinander verwoben waren, schimmerte durch jeden Riss, der sich im Universum auftat, ihre schöpferische Macht hindurch. Sie war wie ein goldenes Licht, dem jeder, der es sah, folgen und seinen Ursprung finden wollte.
Die Fremden mussten nur durch die Risse, die sich in ihren Welten aufgetan hatten, hindurch schreiten und kamen so über Verlorenend schließlich nach Thalantia. Und weil Ilbétha, die gescheiterte Weltenerbauerin, auf Thalantia geschwächt gestrandet war, dauerte es nicht lange, bis die ersten Fremden dort eintrafen, um nach der grenzenlosen Macht der Schöpfung zu greifen. Verlorenend war so etwas wie eine gigantische Kreuzung im Raum geworden, welche die vielen verschiedenen Welten im Universum miteinander verband.
Ehe man auf Thalantia begriffen hatte, was geschehen war, rutschte die einst so friedvolle Welt auch schon in einen Krieg. Viele der fremden Invasoren waren aggressiv und glaubten, dass die Thalantianer Ilbéthas Macht für sich beanspruchen wollten, obwohl sie zu Beginn noch gar nicht wussten, womit sie es zu tun hatten. Es waren Jahre des Chaos, in denen viele ihr Leben ließen und beinahe alles zerstört wurde.
Erst als die Thalantianer mit Ilbétha kommunizieren konnten, gelang es ihnen durch eine List, die Invasoren davon zu überzeugen, dass Ilbétha verstorben war. Der Krieg war damit nach vielen Jahren beendet.
Die stolzen fünf Königreiche lagen zu diesem Zeitpunkt aber bereits größtenteils in Trümmern. Für die Invasoren gab es danach auf Thalantia nichts mehr von Interesse. Die meisten von ihnen kehrten der Siebeninselwelt wieder den Rücken, auf dem gleichen Wege, auf dem sie sie gefunden hatten. Ilbétha verschloss die Risse, die von Verlorenend ausgingen, und stabilisierte ihre fragile Welt bis auf Weiteres.
Seit jenem Tage am Ende des schrecklichen Krieges ruht Ilbétha an einem geheimen Ort und erholte sich von ihren Strapazen - bis zum heutigen Tag.
Nicht alle der Fremden aber haben Thalantia wieder verlassen. Dafür gab es die unterschiedlichsten Gründe. Einige hatten schlicht nicht genug Zeit, um den Riss nach Verlorenend zu finden, durch den sie gekommen waren. Andere wollten gar nicht wieder zurück in ihre Heimat und hofften, sich auch auf Thalantia ein neues Leben aufbauen zu können. Denn nicht alle Lebewesen, die zur Siebeninselwelt kamen und nach Ilbétha suchten, taten das, um mit kriegerischen Mitteln nach der schöpferischen Macht zu streben. Viele sind einfach, getrieben von einer Mischung aus Neugier und Abenteuerlust, gekommen und führten nichts Böses im Schilde.
Aber da so viele verschiedene und fremdartige Völker auf Thalantia plötzlich aufgetaucht waren, war es für die hiesigen Bewohner unmöglich, Feinde und Freunde zu unterscheiden. In den Wirren des jahrelangen Krieges waren die Thalantianer in ihrer Not auch gezwungen gewesen, Allianzen mit einigen gemäßigten Kräften einzugehen, die aber schnell wieder aufgekündigt wurden. Und deshalb vertraute man nach dem Krieg niemandem mehr, sodass diejenigen Fremden, die geblieben waren - freiwillig oder nicht - verfolgt und getötet wurden. Selbst dann, wenn die Verfolgten stets pazifistisch gewesen waren und sich während des Krieges nie etwas zu Schulden hatten kommen lassen.
Diejenigen Thalantianer, die sich zu Lebzeiten noch an die Jahre der Verfolgung erinnerten, beschrieben diese Zeit oft als den Sündenfall ihrer Generation.
Einer dieser Verfolgten war der Kataklyst, den man auf seiner fernen Heimatwelt Panton nannte. Er war einem Menschen nicht unähnlich gewesen, bevor er im Moor versank. Er und seinesgleichen waren von größerer und kräftigerer Statur als die Menschen.
Auf seiner Welt, von der er gekommen war, war Panton das, was man hierzulande als König oder Monarch bezeichnen würde. Viele Millionen Lichtjahre von Thalantia entfernt befand sich seine Heimatwelt, welche im Sterben lag. Es war eine große Dürre, die seinen Planeten heimgesucht hatte, und die sein Volk langsam aber sicher aussterben ließ. Panton war der einzige König, der es verstand, seinen Untertanen durch Geschick und manchmal auch durch List und auf Kosten anderer am längsten das Überleben zu sichern und mit dem verbliebenen Süßwasser hauszuhalten. Aber der Untergang seines Volkes und letztlich auch der seiner ganzen Spezies war dennoch nur noch eine Frage der Zeit.
Alle Hoffnung schien bereits verloren, als sich eines Tages ein Riss in seiner Welt öffnete. Ein Durchgang, der nach Verlorenend und von dort nach Thalantia führte. Und genauso wie durch die vielen anderen Risse, die sich im Universum aufgetan hatten, schimmerte Ilbéthas schöpferische Macht hindurch.
Panton war der Einzige, dem zugetraut wurde, die rätselhafte Macht aus dem Riss zu entschlüsseln und sie zum Wohle seines Volkes einzusetzen, um es vor der Ausrottung zu bewahren. Es war die eine Chance, die man nicht verstreichen ließ. Die eine Chance, die man kein zweites Mal erhielt.
Panton durchschritt den Riss im Raumzeitgefüge, folgte der Spur Ilbéthas und erreichte alsbald Thalantia, ohne zu wissen, ob er je wieder zurückkehren würde. Das Schicksal seiner Spezies lag nun in seinen Händen.
Schon als Panton die ersten Schritte auf Thalantia machte, begann er zu ahnen, wie naiv er doch gewesen war. Thalantia lag bereits weitgehend in Trümmern. Der erstickende Rauch von Tausenden Bränden machte das Atmen schwer. Der König stolperte entsetzt und verstört über brennende Ruinen, die einmal große Städte gewesen waren. Leid und Tod waren allgegenwärtig.
War er in eine Falle gelockt worden? War Ilbétha in Wirklichkeit keine Weltenerschafferin, sondern war sie das Verderben? Wie sonst konnte man das, was Panton auf der anderen Seite des Risses vorfand, anders erklären?
Es war ihm, als wäre er in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Wie schön und begehrenswert diese Welt, die er unwissend betreten hatte, auch einmal gewesen sein mochte, nichts davon war mehr übrig geblieben. Dieser Welt erging es nicht besser als der seinen.
In all dem Chaos begegnete Panton plötzlich einem sehr alten Mann, einem Menschen. Er war klein und ging an einem Stock. Er hatte einen für Pantons Auffassung merkwürdigen, zylindrisch geformten schwarzen Hut auf und war ordentlich gekleidet. Er wirkte fast, als gehöre er nicht hierher in dieses Elend.
Er kam Panton, der um so viel größer war als er selbst, mit kleinen, mühevollen Schritten entgegen.
»Und wer bist du?«, fragte ihn der alte Mann mit brüchiger Stimme, den man auf Thalantia den Rätselmacher nannte. »Bist du gekommen, um auch mich zu vernichten?«
»Wovon sprecht Ihr? Ich will Euch kein Leid zufügen.«
Der alte Mann lächelte nur müde und schien Schwierigkeiten zu haben, sich auf den Beinen zu halten.
Er verdrehte leicht die Augen, begann ins Wanken zu geraten und wäre einfach hingefallen, wenn ihn Panton nicht aufgefangen hätte. Er beugte sich zu dem Mann herab und hielt ihn fest.
»Geht es Euch nicht gut?«, fragte Panton bestürzt.
»Ich bin zu alt für solche Tage, an denen die Dunkelheit über uns gekommen ist. Und es werden noch viele weitere Tage kommen, die so dunkel sein werden wie dieser. Ich bin müde. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst mehr. Meine Zeit ist bald abgelaufen. Aber es gibt noch etwas, das ich tun muss, bevor ich nicht mehr bin.«
»Sagt mir, guter Mann, was ist hier geschehen?«
Der alte Mann schnaufte verächtlich: »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Selbst heute nicht. Eine Invasion von fremden Wesen ist über uns gekommen. Ihr seid auch ein Fremder. Aber Ihr seid zu spät gekommen. Alles, was einmal gut gewesen ist auf unserer Welt, ist bereits vernichtet. Ihr könnt Euch nur noch an den Trümmern ergötzen. Der Krieg ist zu Ende, aber ich sehe keinen Stein mehr, der auf dem anderen steht.«
»Ihr schätzt mich falsch ein, guter Mann. Ich bin nicht gekommen, um Krieg gegen Euer Volk zu führen. Ich bin dem Licht gefolgt. Dem Licht einer mächtigen Kraft, von der ich glaubte, ich könnte sie für mein Volk zum Guten einsetzen.«
Der alte Mann nickte schwach. »Ja, alle sind wegen ihr gekommen. Ilbétha haben wir sie genannt. Sie kam auf unsere Welt, schwer verletzt.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie sagen, sie sei gestorben.
Ich habe schon viele Dinge in meinem Leben erfunden. Darunter auch Dinge, die dabei geholfen haben, den Krieg zu beenden. Aber ich konnte offensichtlich nichts erfinden, das Ilbétha das Leben rettet. Sie ist tot. Und mit ihr ihre Macht, die alle blind gemacht hat vor Gier.« Der Rätselmacher glaubte wirklich, dass Ilbétha es nicht geschafft hatte. Er war einer Lüge aufgesessen, so wie viele andere auch. Denn diejenigen, die Ilbétha in ihr Versteck gebracht hatten, wollten sicherstellen, dass niemand je wiederkommen und nach ihr suchen würde. Das galt in erster Linie für die Invasoren. Aber auch Verbündeten, wie dem Rätselmacher, traute man nicht genug, um ihnen die Wahrheit anzuvertrauen.
»Und wo sind die Invasoren hin?«, fragte Panton.
»Wer weiß? Vermutlich dorthin, wo sie hergekommen sind. Aber nicht alle sind fort.«
Der alte Mann packte Panton an seinem mächtigen Arm und sah ihn eindringlich an. »Ihr scheint mir ein ehrbarer Mann zu sein, der zu falschen Zeit am falschen Ort ist. Ihr müsst diese Welt schnell wieder verlassen und in die Eure zurückkehren.«
»Warum?«
»Weil sie Jagd auf Euch machen werden. Sie jagen alle, die nicht von unserer Welt sind.«
Der alte Mann kramte etwas aus seiner Jackentasche. Es war ein Stein. »Hier nehmt ihn an Euch! Verwahrt ihn gut.«
»Was ist das?«
»Es ist ein sprechender Stein. Niemand weiß davon. Nehmt ihn mit in Eure Welt! Wenn eines Tages die Zeit gekommen ist, soll er benutzt werden. Es wird aber viel Zeit vergehen, bis er wieder Verwendung finden wird. Ich habe es vorausgesehen, in meinen Visionen.«
Panton verstand nicht, was der alte Mann anzudeuten versuchte. »Erklärt mir, was Ihr damit meint!«
Der alte Mann seufzte und sah über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete.
»Ich habe Dinge tun müssen, auf die ich nicht besonders stolz bin«, begann er. »Ihr werdet das nicht verstehen, aber früher, da habe ich die Leute unterhalten, mit dem, was ich gemacht habe. Den Rätselmacher hat man mich genannt, weil ich Rätsel so gerne habe. Und große Dinge habe ich gebaut, die sich bewegt haben, von ganz allein. Aber als der Krieg über uns hereinbrach, da musste ich meine Fähigkeiten dafür einsetzen, den Feind zurückzuschlagen, weil ich ein Meister im Erfinden bin. Und ja, ich habe meine Pflicht getan, das kann ich wohl sagen. Ich habe etwas erschaffen, das so groß und furchtbar war, dass es die entscheidende Wende brachte.
Aber dann, als der Krieg vorbei war, wurde mir aufgetragen, noch ein letztes Werk zu vollbringen.«
»Was für ein Werk?«
Der alte Mann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es würde zu weit führen, das zu erklären. Ich habe etwas gebaut, das dazu diente, jemanden von dieser Welt zu verbannen. Jemanden von uns. Doch als ich sah, für wen ich es gebaut hatte, wusste ich, dass es falsch war. Aber ich konnte nichts mehr tun. Es war bereits zu spät. Jemand von uns wurde zu Unrecht vertrieben, und ich habe dabei geholfen.
Ich kann es nicht wiedergutmachen, aber mit diesem Stein, den ich dir anvertraue, wird es eines Tages möglich sein, dass der Verbannte eine zweite Chance bekommt. Ich habe es gesehen in einer Vision.
Geht jetzt! Geht, bevor sie Euch finden und auch auf Euch Jagd machen!«
Panton nahm den sprechenden Stein in die Hand und betrachte ihn nachdenklich.
»Ich habe zwar nicht verstanden, was Ihr mir erzählt habt. Aber wenn es Euch so viel bedeutet, werde ich den Stein aufbewahren, solange es notwendig ist. Doch sagt mir, wann soll der Stein seinem Zweck dienen?«
»Das Schicksal wird entscheiden, wann die Zeit für den sprechenden Stein gekommen ist. Ich weiß zwar nicht, was die Zukunft bringt, doch ich bin davon überzeugt, dass sie besser sein muss als heute. Und wenn diese Zeit gekommen ist, dann soll der Stein dazu dienen, dem Verbannten seine Rückkehr zu ermöglichen. Denn eine Entscheidung muss dann getroffen werden«, sprach der Rätselmacher. »Geht jetzt und beeilt Euch!«
Panton vertraute dem Rätselmacher und machte sich wieder auf den Weg in seine eigene sterbende Heimat. Ohne Hoffnung und mit der Gewissheit, dass er nur zurückkehrte, um sein Volk in den Tod zu begleiten.
Aber Panton kehrte nie wieder zurück. Der Weg, der ihn über Verlorenend zurück in seine Heimat führen sollte, war bereits versperrt, und die Thalantianer hatten damit begonnen, jeden Fremden aufzuspüren und zu verfolgen.
Panton floh vor dem auf Rache sinnenden Mob. Er hatte keine Ahnung, wo er Schutz finden konnte. Seine planlose Flucht führte ihn schließlich auf die Inselwelt Fahros im Nordwesten von Truchten, die auch als das Land der vielen Moore bezeichnet wurde. Immer tiefer drang er in die unwegsamen Moorebenen vor. Seine Verfolger trieben ihn immer weiter und ließen sich nicht abschütteln.
Die Strapazen der Flucht forderten irgendwann ihren Tribut, und so geschah es, dass Panton in einem der Moortümpel stecken blieb und sich nicht mehr ohne Hilfe befreien konnte.
Die mit der Verfolgung beauftragten Thalantianer berieten, was sie mit Panton tun sollten, als sie ihn gestellt hatten. Sollten sie ihn töten oder ihn im Moor seinem Schicksal überlassen?
»Lasst mich hier nicht zurück!«, flehte Panton sie an. »Ich habe niemandem von euch ein Leid zugefügt. Ich bin nur auf der Suche nach Hilfe für mein Volk gewesen.«
»Selbst wenn Ihr die Wahrheit sprecht«, entgegnete einer seiner Verfolger, »so spielt es jetzt keine Rolle mehr. Wir haben Befehl, jeden, der nicht einer von uns ist, zu eliminieren. Unsere Welt muss wieder von Neuem aufgebaut werden. Ihr habt darin keinen Platz.«
Panton wäre bereit gewesen, beim Wiederaufbau zu helfen, auch um seinem Leben einen Sinn zu geben, nachdem es für ihn kein Zurückkommen zu seinem Volk mehr gab.
Die Thalantianer ließen sich aber nicht erweichen und entschieden, Panton dem Moor zu überlassen und dem, was sich in dem Moor befand. Sie drehten ihm den Rücken zu und verließen ihn.
»Ihr Narren!«, schrie Panton ihnen hinterher. »Eure Wut und euer Schmerz über die Vernichtung eurer Städte hat euch blind gemacht für diejenigen, die euch wohlgesonnen sind. Wenn ihr euch eurer Angst hingebt und alles vernichtet, das ihr nicht versteht und jeden tötet, den ihr nicht kennt, dann wird eure Welt eines Tages endgültig untergehen.«
Die Thalantianer antworteten nicht mehr, aber sie hatten sehr wohl Panton gehört. Wie durch einen Zauber hallten seine Worte in ihren Köpfen wider. Immer und immer wieder.
Sie erzählten von ihrer Begegnung mit Panton und gaben seine warnenden Worte weiter. So wurde im Lauf der Jahre, trotz des Verbots, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen, Panton, das Wesen aus dem Moor, der Kataklyst genannt, der den Untergang von Thalantia prophezeit hatte.
So paradox es klingen mag, es wäre ein Akt der Gnade gewesen, hätten sich Pantons Verfolger dazu entschieden, ihm einen schnellen Tod zu bereiten. Stattdessen ließen sie ihn im Moor zurück, in dem er langsam aber sicher immer tiefer versank. In diesem Moor, so erzählte man sich, gab es etwas, das nur darauf wartete, Beute zu machen. Es lebte schon seit Jahrhunderten dort. Die Einheimischen nannten es 'Das Wispern' und mieden die immerfeuchten Moore von Fahros. Schon oft hatte man von Männern und Frauen gehört, die sich in den Weiten von Elend-Uhn verirrt hatten und nie wieder zurückfanden.
»Das Wispern hat sie sich geholt«, sagte man und überließ es der Fantasie, was damit gemeint war.
Panton musste am eigenen Leib erfahren, dass die Geschichten über das Wispern im Moor nicht erfunden waren.
Von der Welt allein gelassen, vernahm er zuerst ein unheilvolles Gemurmel aus dem Tümpel, der ihn gefangen hielt. Blasen stiegen auf und schließlich quoll ein grünliches Leuchten aus der Tiefe empor. Es wurde immer intensiver. Panton, der einst so stolze König, schrie vor Angst, aber niemand hörte ihn.
Kälte umfing ihn. Das Wispern zog ihn langsam und unbarmherzig zu sich hinab in das Moor.
Ja, ein schneller Tod wäre eine Gnade gewesen, verglichen mit dem, was Panton widerfuhr.
Über die Jahrhunderte hinweg wurde er, den man den Kataklyst nannte, vom Wispern umgewandelt in ein Wesen, das halb lebendig und halb tot war. Ein Ding, das aus den Ingredienzien des Moores bestand und nur noch entfernt einen eigenen Willen, oder gar eine Seele besaß.
Panton wurde als der Kataklyst wiedergeboren, von dem die Einheimischen stets munkelten und sich insgeheim fürchteten. Er wurde zu einer Art Golem, der nur darauf wartete, dass er eines Tages aus dem Moor gerufen werden würde, um den ahnungslosen Thalantianern zu beweisen, dass ihr endgültiger Untergang längst besiegelt war.
Und dass der Rätselmacher sich geirrt hatte, als er Panton im guten Glauben den sprechenden Stein überließ.
Während der Kataklyst vor Calessia kniete und ihr seine Treue schwor, gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Bevor sie hier ankam, war sie ein wenig über sich selbst überrascht, dass die Nachricht, die sie kurz vor ihrer Abreise erhalten hatte, sie nicht schockierte. Die Nachricht über den Tod ihrer Schwester Xali.
Irgendwie hatte sie es schon geahnt. Und als sie über das Schicksal ihrer geliebten Schwester endlich Gewissheit hatte, empfand sie insgeheim Erleichterung. Denn sie wusste, dass Xali nicht mehr die gewesen war, die sie gekannt hatte.
Xali war zuletzt kein Mensch mehr gewesen, sondern hatte sich in ein Geschöpf verwandelt, das irgendwo zwischen Leben und Tod existierte, ganz ähnlich wie der Kataklyst. Banshee hatte man ihre Schwester genannt. Eine Vorbotin des Todes. Und in gewisser Weise hatte diese Beschreibung zugetroffen.
Ihre Schwester, die sich zuletzt stets als entflammt beschrieben hatte, hatte nach ihrer Verwandlung vom Menschen hin zur todbringenden Banshee die Fähigkeit entwickelt, durch die Projektion der Gedanken anderer auf sich selbst, ihre eigene Existenz zu erhalten. Und wenn ihr das zum Weiterleben nicht ausgereicht hatte, dann saugte sie ihrem Opfer das Herz aus. Wie sie das gemacht hatte, darüber wollte Calessia gar nicht erst nachdenken, denn es war erst einige Tage her, als Xali ihr selbst, ihrer eigenen Schwester, mit dem Tod gedroht hatte. Nein, sie hat ihr den Tod natürlich nicht wörtlich angedroht. Vielmehr war es ihr erschreckend eisiger Blick gewesen, der in Calessia die Erkenntnis reifen ließ, dass sich ihre geliebte Schwester in ein spukhaftes Monster verwandelt hatte, das tötete, um zu überleben - ganz gleich, wann und ganz gleich, wen.
Ja, in gewisser Weise war Calessia erleichtert, dass Xali nun endgültig gestorben war. Sie würde nun den Frieden finden, der ihr als Banshee verwehrt geblieben war. Xali würde niemandem mehr Leid zufügen können und würde auch selbst nicht mehr leiden müssen. Dies war für Calessia ein tröstender Gedanke, als sie sich per Segelschiff aufgemacht hatte, die Südküste von Fahros, der sechsten Inselwelt, zu erreichen.
Zwei Tage hatte die Überfahrt gedauert. Die Inselwelt Fahros lag nordwestlich von Truchten, der Fünften Inselwelt. Der Wind hatte günstig gestanden. Das Schicksal war ihr gewogen.
Große Pläne hatte Calessia, die Frau, über die merkwürdige Dinge gemunkelt wurden. Sie stünde mit dem Tod höchstpersönlich im Bunde, sagte man. Das hatte ihr den Spitznamen 'Gefährtin des Todes' eingebracht. In der Tat hatte sie sich jahrelang intensiv mit dem Tod beschäftigt. Nichts ängstigte sie mehr als jene Vorstellung, eines Tages ihm anheimfallen zu müssen. Die Leute hielten sie für verrückt, denn der Tod behandelt doch alle gleich. Er holt sich jeden. Den einen früher, den anderen später. Aber Calessia war davon überzeugt, eines Tages einen Weg zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Der Schlüssel zu diesem Vorhaben lag in der Vergangenheit. Und heute glaubte sie, ihn gefunden zu haben. Es war der Dunkelträumer, der vor über tausend Jahren von dieser Welt verbannt worden war.
Die genauen Umstände seiner Zwangs-Exilierung waren Calessia unbekannt, und sie würde sie auch nie in Erfahrung bringen. Es geschah während des großen Krieges vor tausend Jahren, über den fast niemand heute mehr etwas zu sagen wusste, soviel war ihr bekannt.
Einzig und allein der merkwürdigen Unwissenheit der heutigen Bewohner über Thalantias Vergangenheit war es zu verdanken, dass niemand außer Calessia ahnte, welches Schicksal allen drohte, sollte der Dunkelträumer je wieder zurückkehren.
Sie hatte sich ihr halbes Leben mit den Mythen und Legenden rund um den Dunkelträumer beschäftigt und wusste, dass er sich eines Tages für seine Verbannung rächen würde. Eines Tages würde er zurückkehren und die Welt Thalantia in Schutt und Asche legen, um auf den Ruinen eine neue Welt zu erbauen. Und nur die Auserwählten würden ihm in diese neue, von ihm kreierte Zukunft folgen dürfen.
Calessia war davon überzeugt, dass sie eine von jenen Auserwählten sein würde, wenn sie sich die Gunst des Dunkelträumers verdienen würde. Ihr Name sollte jedenfalls ganz oben auf der Liste stehen. Sie würde alles dafür tun. Seine Rückkehr stand unmittelbar bevor.
Das Flüsternde Buch hatte ihr den Weg hierher tief in das Moorland gewiesen. Der sprechende Stein sollte sich an diesem Ort befinden, bewacht von einem Wesen aus der alten Zeit, dem Kataklysten. Das Buch hatte nicht gelogen. Sie hatte nun bekommen, wonach sie gesucht hatte. Sie drehte den sprechenden Stein in ihrer Hand und konnte ihr Glück kaum fassen.
Es war nicht so, dass sie die Vorstellung von der Vernichtung Thalantias kaltlassen würde. Und dass die Zukunft, die der Dunkelträumer - mit welchen geheimnisvollen Kräften auch immer - erschaffen wollte, völlig ungewiss war; dieser Gedanke erfüllte sie insgeheim sehr wohl mit Sorge. Aber sie war jetzt schon viel zu weit gegangen, als dass sie jetzt umkehren wollte.
Dem Schicksal konnte man sich ohnehin nicht entgegenstellen. All die Narren, die in Unwissenheit auf Thalantia lebten, würden sich ihrer eigenen naiven Dummheit bewusst werden, wenn sich die Dunkelheit über diese Welt legen würde. Die Tage der Unbeschwertheit auf Thalantia waren gezählt. Diese Welt würde untergehen, und niemand würde den Dunkelträumer aufhalten können. Niemand.
Der sprechende Stein in ihren Händen löste in Calessia Emotionen aus, die sie bisher noch nie zuvor erfahren hatte. Dieser Stein war ein Relikt aus jener Vergangenheit von Thalantia, in welcher Mächte um die Vorherrschaft rangen, die größer waren als alles, was man sich heute vorstellen konnte. Der Stein war ein Stück lebendige Geschichte.
Die Dunkelheit hatte sich mittlerweile vollständig über das weite Moorland von Elend-Uhn gelegt. Umringt von den tanzenden Flammen der Fackeln stand die Gefährtin des Todes vor dem Kataklysten und starrte auf den Stein in ihren Händen. Sie ertappte sich dabei, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, bei der Vorstellung, dass der sprechende Stein tatsächlich funktionieren würde und damit Dinge von unermesslicher Tragweite ins Rollen brachte, die nicht mehr aufzuhalten waren.
Calessia hielt den sprechenden Stein mit beiden Händen nahe vor ihr Gesicht.
»Ich rufe Euch, Dunkelträumer! Ich rufe Euch von Thalantia, der Welt, von der Ihr verbannt wurdet!
Könnt Ihr meine Stimme in der Ferne hören? Versteht Ihr mich?«
Nichts tat sich. Der Stein blieb stumm.
»O bitte, antwortet mir, denn die Zeit Eurer Vergeltung ist gekommen!«
Der Stein, der zuvor relativ unspektakulär grau und schmutzig ausgesehen hatte, begann in Calessias Händen wärmer zu werden, und er veränderte seine innere Struktur. Er wurde durchsichtig und glich mehr und mehr einem Kristall. Ein dunkles Licht erglomm im Inneren.
»Wer bist du?«, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Stein. Sie kam von weither.
Calessia zuckte vor Schreck zusammen. Sie bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie hatte nicht erwartet, dass sie so schnell eine Antwort bekommen würde.
»Mein Name ist Calessia, und ich bin Euch treu ergeben, mein Gebieter. Ich weiß, dass Eure Rückkehr bevorsteht und dass Ihr ein neues Zeitalter einläuten werdet. Das Flüsternde Buch hat mir verraten, wie ich mit Euch in Kontakt treten kann. Ich biete Euch meine Dienste an.« Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass sie ihn, den einen, den Dunkelträumer, kontaktiert hatte.
»Du sprichst wahre Worte, Calessia. Ich habe lange geschlafen. Finstere Träume haben mich umfangen. Aber nun bin ich erwacht. Und meine Rückkehr ist nahe. Ich kann es fühlen.
Aber woher weiß ich, dass ich dir trauen kann? Das letzte Mal, als ich einem Thalantianer vertraut habe, hat es mich ins Exil getrieben und mich unendliche Qualen der Einsamkeit erleiden lassen.«
Calessia war auf diese Frage nicht vorbereitet. Händeringend suchte sie nach überzeugenden Worten.
»Ich schwöre Euch, dass ich für Euch sterben würde. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, nach Euch zu suchen. Ich habe dafür alles aufgegeben. Diese Welt ist für mich nicht mehr von Bedeutung. Was Ihr auch verlangt, um Euch meine Treue zu beweisen, ich werde es tun. Ich will Euch bei Eurem Werk helfen. Für meine Überzeugungen habe ich sogar meine geliebte Schwester zuerst an die Dunkelheit und dann an den Tod verloren. Es gibt nichts mehr, das mich an diese Welt bindet.
Wenn die Legende wahr ist und Ihr, mein Gebieter, diese Welt opfern werdet, um eine neue zu erbauen, dann bitte ich Euch, Euch zu Diensten sein zu dürfen.«
Der Dunkelträumer fällte seine Entscheidung über Calessias Ansinnen nicht sofort. Er hatte eigentlich keinen rationalen Grund, ihr zu vertrauen. Aber es gab etwas, an das er unverrückbar glaubte. Etwas, an das er schon geglaubt hatte, als er vor tausend Jahren verbannt wurde und an das er wieder zu glauben begann, als er aus seinem finsteren Schlaf erwachte und Antilius durch den fragilen Tunnel in der Raumzeit in die Augen sah. Es war das Schicksal. Es hielt alle Fäden in der Hand. Das Schicksal hatte Calessia den sprechenden Stein zugespielt und sie erwählt, um seine Vergeltung endlich wahr werden zu lassen.
Der Dunkelträumer vertraute dem Schicksal.
»Du hast gut gesprochen. Wenn du mir dienst, dann werde ich dich reich belohnen. Wenn die alte Welt vernichtet und vergessen ist, dann kannst du in der neuen werden, was du willst.«
Calessia kamen vor Freude und Begeisterung die Tränen. »Das ist mehr, als ich verlangen könnte.«
Die Stimme machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Wir haben aber noch viel zu tun.«
»Wie kann ich Euch helfen, zurückzukehren? Sagt, was ich tun muss!«
»Das Schicksal hat die Pläne für meine Rückkehr längst geschmiedet. Ein neuer Transzendenter wird kommen und mich zurück nach Thalantia geleiten.«
»Wer wird das sein?«
»Jemand, der bereits erwählt wurde. Die Späher, meine einstigen Schüler, werden ihn mir schon bald entsenden. Aber meine Rückkehr ist zwecklos, wenn die verborgene Macht Thalantias unerreichbar bleibt.«
»Welche verborgene Macht?«
»Die Macht von Ilbétha.«
Calessia wiederholte den Namen, konnte ihn jedoch in keinen Zusammenhang mit dem Dunkelträumer bringen. Trotz ihrer intensiven Forschungen der letzten Jahre war es ihr nicht gelungen, alle Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften. Ilbétha war eines davon.
»Ich kenne ihr Versteck«, fuhr der Dunkelträumer fort, «doch ist es selbst mir ohne Hilfe nicht möglich, es zu erreichen. Daher brauchen wir die Hilfe mächtiger Verbündeter. Einen von ihnen hast du bereits an deiner Seite. Ich spüre seine Anwesenheit.«
Calessia blickte zum Kataklysten, der wie zur Salzsäule erstarrt neben ihr stand und auf Befehle wartete.
»Ich werde noch mehr Verbündete für unsere Sache gewinnen. Ich habe ein großes Vermögen. Es wird nicht schwierig sein, eine Armee aufzustellen, die Eurer würdig ist, Gebieter.«
»Ich vertraue auf dein Geschick und deine Fähigkeiten, eine Armee zu führen. Aber ich spreche von Verbündeten, die weitaus stärker als das mächtigste Schwert sind. Ich spreche von den Sieben.
»Die Sieben? Davon habe ich noch nie gehört. Leben sie noch auf Thalantia?«
»Die Sieben sind nicht lebendig. Sie waren ein Werkzeug im Krieg um Thalantia. Bis heute ruhen sie an einem verborgenen Ort. Wenn du sie sehen würdest, so wie sie jetzt sind, könntest du sie nicht als das erkennen, was sie wirklich sind.
Damit die Sieben wieder funktionieren und ihre Arbeit verrichten können, brauche ich die denkenden und die sehenden Steine. Sieben denkende und drei sehende. Sie sehen dem sprechenden Stein ähnlich, sind jedoch von völlig anderer Art. Finde sie, dann erhältst du weitere Anweisungen.«
Calessia überkam plötzlich das Gefühl, dass sie der Aufgabe, vor die sie der Dunkelträumer stellte, vielleicht doch nicht gewachsen war. Je mehr der Dunkelträumer sprach, desto weniger verstand sie. Wo sollte sie auf einmal jene zehn Steine herbekommen?
»Wo soll ich die Steine suchen? Und wie sehen sie aus?«
»Du musst dich auf die Suche nach ihnen begeben. Ihr Aufenthaltsort liegt für mich im Dunkeln. Als ich noch auf Thalantia war, gab es jemanden, der die denkenden Steine verwahrt hat, ebenso wie den sprechenden Stein, den du bereits gefunden hast. Wir nannten ihn den Rätselmacher. Er war der Herr der Steine und der Schöpfer der Sieben.«
In den Augen des Kataklysten flammte es kurz auf, als er vom Rätselmacher hörte. Zwar war nach seiner Transformation in einen Moorgolem nur noch ein winziger Rest von Panton übrig geblieben, aber es reichte aus, um sich vage an die Begegnung mit dem Rätselmacher vor zehn Jahrhunderten zu erinnern.
Calessia bemerkte die Reaktion des Kataklysten und löste ihren Blick vom sprechenden Stein.
»Was ist mir dir?«, fragte sie ihn.
»Ich bin dem Rätselmacher vor langer Zeit begegnet, meine Herrin. Von ihm erhielt ich den sprechenden Stein.«
»Das ist ja unglaublich! Welch ein Zufall!«, entfuhr es ihr.
»Das hat nichts mit Zufall zu tun«, belehrte sie die Stimme aus dem sprechenden Stein. »Das Schicksal hat euch zusammengeführt. Es ist vorherbestimmt. Alle Wege führen von nun an zu einem einzigen Punkt.«
»Ich nehme mal an, dass dieser Rätselmacher ein Wesen aus Fleisch und Blut war, so wie ich. Dann ist er schon sehr lange tot.«
»Der Rätselmacher lebte an einem abgelegenen Ort, irgendwo auf der Inselwelt Brigg. Beginne dort mit deiner Suche. Die Steine müssen noch dort sein«, befahl der Dunkelträumer.
»Das werde ich, mein Gebieter. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Was soll ich noch tun?«
»Stelle eine Invasionsflotte von mindestens zehn Schiffen auf. Sie müssen für einen Angriff auf Arcanum vorbereitet sein.«
»Arcanum, die Stadt der Ahnen?«
»Arcanum wird als Erstes fallen. Viele andere Städte werden folgen. Rufe wieder nach mir, sobald du die denkenden Steine gefunden hast!«
Der sprechende Stein verstummte, und das Glühen in seinem Inneren verschwand.
In Calessias Kopf überschlugen sich ihre Gedanken. Zum einen fürchtete sie insgeheim den hohen Anforderungen, die der Dunkelträumer an sie stellte, nicht gerecht zu werden. Sie sollte nicht nur nach Steinen suchen, die irgendjemand vor annähernd tausend Jahren irgendwo versteckt hatte. Sie sollte auch noch eine Armee aufstellen, welche die schier unüberwindbare Klippe der Ahnenländer durchbrechen konnte. Ausgerechnet die Ahnenländer! Jede andere Stadt auf Thalantia könnte sie mit einer gut bezahlten Armee aus Söldnern binnen weniger Tage einnehmen, aber Arcanum? Das erschien ihr unmöglich.
Hier war ihr ganzes Geschick und ihre List gefordert. Wenn sie scheiterte, wäre sie eine tote Frau, da machte sie sich keine Illusionen.
Zum anderen konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass der Dunkelträumer sie ohne Weiteres als Dienerin akzeptierte. War es wirklich eine Fügung, dass sie zusammengefunden hatten? War es vom Schicksal vorherbestimmt, so wie der Dunkelträumer gesagt hatte?
Schicksal. Calessia wiederholte den Begriff innerlich mehrfach. Schicksal war doch nur ein Wort, oder? Eine höhere Macht musste hier am Werk sein und die Geschicke von Thalantia lenken. Es konnte dafür keine andere Erklärung geben.
Calessia, die Gefährtin des Todes, sammelte sich und begann einen Plan auszuarbeiten, wie man die Stadt der Ahnen überfallen konnte. Sie musste sich beeilen, denn schließlich musste sie auch die denkenden Steine finden. Sie war voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. Nichts konnte sie davon ablenken.
So bemerkte sie auch nicht, dass sie die ganze Zeit, während sie mit dem Dunkelträumer gesprochen hatte, beobachtet worden war. Es war der Waldläufer, der sich geistesgegenwärtig rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte und von seinem Versteck aus alles mitbekommen hatte.
Als er hörte, dass Thalantia zerstört werden sollte, packte ihn das nackte Entsetzen. Er musste etwas unternehmen, und es gab nur einen Ort, an dem seine schreckliche Neuigkeit Gehör finden würde. Noch in derselben Nacht schlich er sich heimlich davon. Niemand folgte ihm. Calessia war noch zu sehr mit ihren Gedankenspielen beschäftigt. Den Waldläufer hatte sie völlig vergessen.
Im Morgengrauen, als das Moor von Elend-Uhn allmählich in ein graues, kaltes Dämmerlicht gehüllt wurde, wandte sie sich an den Kataklysten.
»Lass uns gehen, mein treuer Diener. Wir haben Großes vor.«
»Ja, meine Herrin«, brummte der Kataklyst und folgte seiner Herrin durch das Moor.
Die Gemeinschaft von Antilius, Haif Haven, Pais Ismendahl, Tirl und Gilbert, dem Spiegelgefangenen, hatte das Angebot der Präfektin der Ahnenländer angenommen und sich zwei Tage Ruhe gegönnt. Man hatte ihnen in Arcanum, der wunderschönen Stadt im Inneren eines erloschenen Vulkankraters, eine Unterkunft zur Verfügung gestellt.
Xali war vernichtet, aber Gorgus, der Weise, hatte es geschafft, dem Dunkelträumer eine entscheidende Hürde auf dem langen Weg nach Hause zu nehmen. Er hatte dafür gesorgt, dass genug des wundersamen Avioniumgesteins entstanden war, dass dessen Energie für die bevorstehende Rückkehr mehr als ausreichend sein würde.
Haif schlief während dieser Zeit fast durchgehend und erholte sich vollständig von seinem 'Besuch' in Argusa Gigantulas ätzendem Inneren.
Tirl nutzte die Zeit und durchforstete sämtliche Aufzeichnungen seiner Forschungsreisen, um auch keine noch so unbedeutend erscheinende Information zu übersehen, die ihnen in dieser gefährlichen Zeit von Nutzen sein könnte.
Pais beriet sich mit seinem Bruder und ließ sich alles erzählen, was er in den letzten Jahren auf den Ahnenländern verpasst hatte.
Jeder fand ein wenig und auf seine Weise Ruhe. Nur nicht Antilius. Er konnte während dieser Tage kaum schlafen. Am Morgen des dritten Tages, den sie in Arcanum verbrachten, trat er auf den Balkon seines Zimmers, das sich auf der obersten der ringförmigen Terrassen befand. Von dort aus hatte er einen fantastischen Blick auf die weiße Stadt im grünen Vulkantrichter. Der Herbst war nun da. Die Natur bereitete sich allmählich auf den Winter vor. Alles wurde ein wenig stiller und kälter. Das Laub der Bäume in den Parkanlagen hatte seine Farbe verändert. Die ersten Blätter fielen bereits herab und wirbelten umher. Und die Schatten wurden länger.
Der Anblick machte Antilius einfach nur traurig. Er konnte aus der ihn umgebenden Ruhe keine Kraft schöpfen, weil er wusste, dass die Ruhe trügerisch war. Es waren einfach zu viele Dinge, die ihm schwer auf dem Herzen lasteten. Und dabei war die Erkenntnis, dass sein Bildnis auf einem fast tausend Jahre alten Gemälde zu finden war, nicht einmal das Schlimmste.
Die Rückkehr des Dunkelträumers war nicht mehr zu verhindern. Das Avionium, das dieser dafür brauchte, war durch die Sprengung des Berges bei Gorgonia freigesetzt worden. Das Einzige, was dem Dunkelträumer noch fehlte, war der spirituelle Führer, der sogenannte Transzendente, der ihn zurück lotsen würde. Diesen zu finden, war vermutlich nur noch eine Frage der Zeit.
Was Antilius aber noch viel mehr Sorgen bereitete, war die Neuigkeit, die ihm der Vergessene in der versunkenen Stadt Eventum enthüllt hatte. Nämlich die Tatsache, dass Verlorenend zerfiel. Ilbétha hatte - so viel wusste Antilius durch den Vergessenen bereits - Verlorenend stabilisieren können, bevor sie sich versteckt und zur Ruhe begeben hatte. Aber anscheinend war das nicht ausreichend gewesen. Alle, die in Verlorenend lebten, würden sterben, wenn man den Zerfall nicht aufhalten würde. Auch Tahera, die Frau, die Antilius in Verlorenend getroffen hatte, würde sterben. An sie musste er in der letzten Zeit besonders oft denken. Je mehr er über sie nachdachte, und je mehr Zeit seit seinem Aufenthalt in Verlorenend verging, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er konnte es sich nicht erklären, aber seine Begegnung mit ihr konnte kein Zufall gewesen sein. Er spürte, dass es eine Vertrautheit zwischen ihnen gab, die ihm mit jedem Tag, der verging, offensichtlicher wurde.
Nur Ilbétha würde wissen, wie man den Zerfall von Verlorenend aufhalten konnte. Doch von ihr fehlte jede Spur. Sie auf konventionellem Wege zu suchen, wäre aussichtslos. Ihr Versteck auf Thalantia war so außergewöhnlich, dass niemand es von sich aus finden würde. Antilius hatte der Präfektin und den anderen von seiner Überzeugung, dass Ilbétha noch lebendig war, berichtet. Zunächst hatte er es für sich behalten, doch jetzt hielt er es für ratsam, keine Geheimnisse vor der Präfektin mehr zu haben. Sie hatte zwar trotz gegenteiliger Überlieferung schon geahnt, dass Ilbétha noch lebte. Aber nach dem Bericht von Antilius bekam die Bedrohung, die von ihrer Macht ausging, eine neue Qualität, die auch der Präfektin Angst machte.
Heute war der Tag, an dem über die Bedrohung durch den Dunkelträumer und das weitere Vorgehen beraten werden sollte. Neben Antilius und seinen Gefährten wurden Avest, der Hüter der letzten Relikte aus der Zeit der Könige, geladen, sowie drei weitere Vertraute der Präfektin.
Der Rat sollte an einem besonderen Ort zusammenkommen und zwar im höchsten Zimmer in der Spitze des schmalen Turms, der aus der Mitte der Stadt, vom tiefsten Punkt des Kraters aus, aufragte.
Gilbert in seinem Spiegel musste Antilius mehrfach auffordern, an dem Rat teilzunehmen, denn sein Meister driftete mit seinen Gedanken immer weiter weg. Außerdem wusste Antilius ohnehin, was er jetzt zu tun hatte. Weiteres Gerede erschien ihm wenig zweckmäßig.
Er blieb aber vernünftig und nahm an dem Treffen teil. Der Raum an der Spitze des Turms war kreisrund und hatte eine lückenlose Fensterfront, sodass man einen atemberaubenden Rundumblick auf die riesige Terrassen-Stadt hatte.
Nachdem die Präfektin die Anwesenden kurz begrüßt hatte, kam sie auch gleich zur Sache:
»Die Ereignisse der letzten Tage haben sich überschlagen und entziehen sich mehr und mehr unserer Kontrolle.« Die Frau mit den langen grauen Haaren seufzte. Sie wirkte müde. »Wir müssen uns wohl eingestehen, dass wir die Rückkehr des Dunkelträumers nicht mehr verhindern können. Besonders nach dem, was in Gorgonia geschehen ist.
Egal, was wir beschließen, zu unternehmen, wir müssen uns beeilen. Die Zeit rennt uns davon.
Als erste Maßnahme habe ich das Gebiet rund um Gorgonia von meinen Leuten bewachen lassen, soweit das überhaupt möglich ist. Auf diese Weise will ich verhindern, dass sich jemand an dem freigesetzten Avionium zu schaffen macht. Der Dunkelträumer wird es für seine Rückkehr brauchen.«
»Ich will nicht respektlos erscheinen«, wendete Pais Ismendahl ein, »aber wenn der Dunkelträumer an das Avionium heran will, dann wird er sich nicht von ein paar Wachen aufhalten lassen.«
»Vergesst nicht, Herr Ismendahl, dass der Dunkelträumer sich das Avionium nicht selbst holen wird, sondern jemand, der von Thalantia stammt. Jemand, der als Transzendenter in Erscheinung treten wird.«
»Und was sollen wir jetzt tun? Sollen wir jetzt einfach dasitzen und abwarten, was passiert? Schließlich wissen wir doch gar nichts über die Pläne des Feindes, oder irre ich mich?«, fragte Haif, dessen beigefarbenes Fell in der Morgensonne glänzte.
»Bis zum gestrigen Tage glaubte ich, dass wir zur Untätigkeit verdammt wären, Herr Haven«, antwortete die Präfektin. »Aber vielleicht haben wir ein wenig Glück.« Sie wies per Handbewegung einen Diener an, jemanden in den Raum zu bringen.
Alle Anwesenden schauten gespannt und misstrauisch den zerlumpten Mann an, der kurz darauf eintrat. Ihm wurde kein Stuhl zum Sitzen angeboten.
»Wer ist das?«, wollte Tirl wissen.
Es war der Waldläufer, der Calessia bei ihrem Gespräch mit dem Dunkelträumer beobachtet und danach die Flucht angetreten hatte.
Die Präfektin nickte dem Mann zu und bedeutete ihm, sich zu erklären.
»Mein Name ist Endras. Ich komme von Fahros.
Da ich weiß, dass Eile geboten ist, werde ich mich kurzfassen. Calessia, die Gefährtin des Todes, heuerte mich und ein paar andere Männer für eine Expedition in das weite Moor von Elend-Uhn an. Als wir nach einer beschwerlichen Reise am Ziel ankamen, erweckte Calessia etwas, das aus dem Moor emporstieg.«
»Erweckte?«, fragte Tirl argwöhnisch.
»Ja, wir auf Fahros nennen ihn den Kataklysten. Ein Moor-Golem, der laut unserer Legenden eines Tages dem Moor entsteigen und den Untergang Thalantias prophezeien würde.«
»Ich habe von diesen Erzählungen gehört. Aber es sind doch nur Legenden. Das ist einfach nur Fiktion. Endras, seid Ihr Euch sicher, dass Ihr Euch nicht geirrt habt? Dass das, was Ihr gesehen haben wollt, nicht doch etwas anderes war?«, hakte Tirl nach. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass sich die Legenden versunkener Städte und in der Dunkelheit ruhender Wesen nach und nach als wahr herausstellten. Und das, obwohl er eine dieser lebendig gewordenen Legenden vor Kurzem erst selbst gesehen hatte, nämlich den Leviathan.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, antwortete Endras. »Es war der Kataklyst. Er überreichte Calessia einen Stein, mit dessen Hilfe sie jemanden anrief, den sie als Dunkelträumer bezeichnete.«
Antilius wurde ganz blass, und auch den anderen Anwesenden stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. »Sie hat mit dem Dunkelträumer gesprochen?«
»Ja. Aber ich weiß nicht, wer der Dunkelträumer sein soll.«
»Das tut hier nichts zur Sache. Fahrt fort!«, forderte die Präfektin Endras auf. Er sollte nicht noch mehr erfahren, als er ohnehin schon wusste.
»Calessia bot dem Dunkelträumer ihre Dienste an, woraufhin dieser ihr auftrug, nach denkenden Steinen auf der Inselwelt Brigg zu suchen. Mithilfe dieser Steine will der Dunkelträumer - so sagte er es jedenfalls - die ruhenden Sieben als Verbündete wecken.
Ich habe zwar keine Ahnung, worum es dabei geht, aber während ich die furchtbare Stimme des Dunkelträumers aus dem Stein hörte, überkam mich eine große Angst. Ich floh heimlich und wurde schließlich von einem eurer Agenten der Ahnenländer aufgegabelt und hierher gebracht, um meine Geschichte zu erzählen.«
»Danke. Das war es fürs Erste, Endras. Lasst uns bitte wieder allein«, sagte die Präfektin.
Nachdem Endras den Raum hoch oben über Arcanum wieder verlassen hatte, sagte zunächst niemand etwas.
»Wir haben noch ein viel größeres Problem, als wir dachten«, durchbrach Avest Dremor das Schweigen, während er ins Leere starrte.
»Dann klärt uns auf! Wer sind die Sieben?«, forderte ihn Pais auf.
»Die Sieben waren während des großen Krieges auf Thalantia eine Art Waffe, die auf Truchten im Kampf gegen die fremden Invasoren, insbesondere die Uwore, eingesetzt wurde. Es waren steinerne Riesen. Jeder dieser Titanen muss wenigstens hundert, vielleicht sogar dreihundert Meter groß gewesen sein. Sie bestanden aus einer besonderen Gesteinsart, die mit der Energie des Schwerkraft verringernden Avioniums versetzt war. Die denkenden Steine, von denen Endras gesprochen hat, sind so etwas wie das Gehirn der Titanen. Wer die denkenden Steine kontrolliert, der kontrolliert die Titanen.«
Haif verbarg sein Gesicht hinter seinen kleinen Händen. »Dieser Stress nimmt ja gar kein Ende!«
»Wenigstens wissen wir jetzt, was der Dunkelträumer vorhat. Er will eine Armee aufbauen, ohne die er anscheinend nicht seine Ziele erreichen kann, worin auch immer diese liegen. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die denkenden Steine zu finden, bevor Calessia und ihr Freund aus dem Moor es tun.