Geliebte Welt - Roland Hardmeier - E-Book

Geliebte Welt E-Book

Roland Hardmeier

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Beschreibung

Evangelikale Kirchen befinden sich in einem Paradig¬menwechsel: Das koloniale Missionsparadigma mit Europa im Zentrum gehört der Vergangenheit an. Am Horizont kündigt sich ein neues Verständnis von Kirche und Mission an - in dem die Kirche sich mit Leidenschaft in Gottes geliebte Welt senden lässt. Roland Hardmeier beschreibt diesen Paradigmenwechsel und begründet ihn theologisch. Dabei beleuchtet er auch die biblische Sicht von Gerechtigkeit und Heil sowie die Bedeutung sozialer Verantwortung. Dieses Buch ist die Fortsetzung des Bandes "Kirche ist Mission", der 2009 mit dem Peters-Preis des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie ausgezeichnet wurde. Gemeinsam begründen beide Bücher ein missionales Verständnis von der Aufgabe der Kirche in der Welt.

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Seitenzahl: 483

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Roland Hardmeier

Geliebte Welt

Auf dem Weg zu einem neuenmissionarischen Paradigma

Zu diesem Buch

Die evangelikalen Kirchen befinden sich mitten in einem Paradigmenwechsel. Das koloniale Missionsparadigma mit Europa im Zentrum gehört der Vergangenheit an. Am Horizont kündigt sich ein neuen Verständnis von Kirche und Mission an: Es ist der Anbruch eines missionalen Paradigmas, in welchem die Kirche sich mit Leidenschaft in Gottes geliebte Welt senden lässt.

Roland Hardmeier beschreibt diesen Paradigmenwechsel und begründet ihn theologisch. Dabei beleuchtet er auch die biblische Sicht von Gerechtigkeit und Heil sowie die Bedeutung sozialer Verantwortung. Auf verständliche Weise stellt er sie in den Dienst einer missionalen Theologie.

Dieses Buch ist die Fortsetzung des Bandes Kirche ist Mission. Gemeinsam begründen beide Bücher ein missionales Verständnis von der Aufgabe der Kirche in der Welt.

Über den Autor

Dr. Roland Hardmeier studierte Biblische Theologie an der Akademie für Weltmission in Korntal und Missiologie an der Universität von Südafrika. Von 1995 bis 2010 war er Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz.

Er ist Autor mehrerer Bücher, selbständiger Dozent und Referent und unterrichtet bei IGW International und anderen Institutionen.

www.roland-hardmeier.ch

Impressum

Dieses Buch als E-Book:ISBN 978-3-86256-759-1, Bestell-Nummer 590 026E

Dieses Buch in gedruckter Form:ISBN 978-3-86256-026-4, Bestell-Nummer 590 026

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf JohannsonUmschlagbilder: Anton Balazh/© ShutterStock®Lektorat: Roland Nickel, Altdorf/BöblingenSatz: Neufeld Media, Weißenburg in Bayern

© 2012 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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Inhalt

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Einführung

Überblick

Dank

1. Die geliebte Welt

Der Kosmos im Neuen Testament

Die Welt des 21. Jahrhunderts verstehen

Moderne

Postmoderne

Globalisierung

Klimawandel

Evangelikale auf dem Weg zu einem neuen missionarischen Paradigma

Europa und der Rest der Welt

Heilsverständnis

Weltbezug

Mission

Soziale Aktion

Missionaler Gemeindebau

2. Der gerechte Gott

Altes Testament – Gerechtigkeit als solidarische Mitmenschlichkeit

Ein sozialer Verhältnisbegriff

Ein rechtlicher Grundbegriff

Der gerechte Gott

Die Propheten

Menschenpflicht Gerechtigkeit

Israels Gerechtigkeits-Paradigma

Übertragung

Menschenrechte

Lebensdienliche Wirtschaftsordnung

Gerechte Strukturen

Neues Testament – Entgrenzung und Überbietung des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs

Kleingruppenethik

Jesus und Gerechtigkeit

Paulus und Gerechtigkeit

Die bleibende Gültigkeit der alttestamentlichen Sozialethik

Soziale Gerechtigkeit – Motive und utopisches Potenzial

Motive gerechten Handelns

Ein utopisches Potenzial

3. Die Fülle des Heils

Heilsgeschichte – Evangelikale und das Wirken Gottes in der Welt

Die traditionelle Auffassung

Die neuere umfassende Schau

Heilsdimensionen – dem Reichtum biblischen Heils gerecht werden

Die soziale Dimension

Die soteriologische Dimension

Die kosmische Dimension

Heilsbegriffe – von Social Gospel bis Befreiungstheologie

Der traditionelle evangelikale Heilsbegriff

Der Heilsbegriff des Social Gospel

Der Heilsbegriff der Befreiungstheologie

Das ökumenische Heilsverständnis

Die Fülle des Heils – die Entdeckung einer transformatorischen Kraft

Ganzheitlich

Altes Testament

Neues Testament

Ausgewogen

Transformatorisch

Kyrus

Wiederherstellung

Umfang und Grenzen des Heils

4. Die urchristliche Mission

Das vergehende jüdisch-alttestamentliche Paradigma

Das jüdisch-alttestamentliche Paradigma

Schwierigkeiten der urchristlichen Mission

Geografische Ausdehnung

Fehlende Modelle

Politische Situation

Kulturelle Differenzen

Gottes „Geheimnis“

Das heraufziehende christlich-hellenistische Paradigma

Stephanus und das hellenistische Judentum

Die Samariter

Der äthiopische Finanzminister

Mission an der Mittelmeerküste

Jesusbekenner in Damaskus

Der Römer Kornelius

Jerusalems Reaktion

Der Durchbruch des neuen Paradigmas auf dem Apostelkonzil

Die Entstehung des Konflikts

Antiochien

Die hellenistische Gestalt des Evangeliums

Reaktionäres Jerusalem

Der Konflikt und der Galaterbrief

Das Apostelkonzil von Jerusalem

Kirche im Paradigmenwechsel – von historischen Markern und Friktionen

Historische Marker

Kultureller Wandel

Friktionen

Stagnation oder Erweckung

5. Der Apostel Paulus

Auf den Ansatz kommt es an – Paulus im Lichte von Jesus verstehen

Jesus durch die Brille des Paulus definieren

Paulus im Lichte von Jesus verstehen

Verkündigung – ein Apostel auf den Spuren seines Meisters

Gelegenheitsschreiben

Wichtigkeit

Gründlichkeit

Inkarnation – Mission nach dem Vorbild von Jesus

Theologie der guten Werke

Paulus in Thessalonich

Paulus in Korinth

Paulus in Ephesus

Die Kollekte für Jerusalem

Sammlung in Korinth

Wichtigkeit der Kollekte

Gesellschaftsrelevanz – Gottesdienst zwischen jüdischer Synagoge und antikem Gastmahl

Jesus

Paulus und die Synagoge

Der urchristliche Gottesdienst

Das griechisch-römische Gastmahl

Der Gottesdienst in Korinth

Missstände in Korinth

Das paulinische Gottesdienstverständnis

Gottesdienst als Evangelisation

Transformation – Kirche als Laboratorium einer neuen Menschheit

Die Kirche als Alternative

Manifestation

Transformation

Paulus und die Frauen

Korinth

Ephesus

Möglichkeiten

Paulus und die Sklaverei

Die Situation im römischen Reich

1. Timotheusbrief

1. Korintherbrief

Der Philemonbrief

Von Addis Abeba bis Zürich – kulturelle Relevanz als Voraussetzung kirchlicher Lebenstauglichkeit

Kulturelle Relevanz

Christologische Orientierung

Charismatische Erbauung

Paulus – eine Bilanz

6. Die untrennbare Partnerschaft

Warum soziale Aktion?

Konsequenz der Nachfolge

Jesus, der Herr

Der vollkommene Mensch

Der Prophet

Frucht von Buße und Bekehrung

Sünde

Bekehrung

Kritische Würdigung

Streben nach Gerechtigkeit

Armut

Ungerechtigkeit

Ressourcengerechtigkeit

Spiritualität

Energische Spiritualität

Zur Tat drängende Spiritualität

Soziale Aktion und Evangelisation

Das Modell der untrennbaren Partnerschaft

Fazit

7. Das neue Paradigma

Ein umfassendes Heilsverständnis

Ein die soziale Aktion einschließendes Missionsverständnis

Eine missionale Ekklesiologie

Ein kontextuelles Schriftverständnis

Eine ganzheitliche Christologie

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Die Edition IGW

Über den Verlag

Einführung

Als im Jahr 2009 Kirche ist Mission veröffentlicht wurde, war mir klar, dass ein zweites Buch nötig sein würde. Es war unmöglich, in einem Band alle Themen zu behandeln, die für die Grundlegung einer ganzheitlichen Missionstheorie wichtig sind. Insbesondere die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit und die Frage ganzheitlichen Heils schienen mir vertiefter Betrachtung wert.

Auf die Veröffentlichung von Kirche ist Mission habe ich viele dankbare Rückmeldungen erhalten, besonders von Christen, die sich im sozialen Bereich betätigen und denen eine gesellschaftsrelevante Kirche am Herzen liegt. Eine besondere Freude war die Zuerkennung des Großen George-W.-Peters-Preises des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie im Januar 2010. Kirche ist Mission war das richtige Buch zur richtigen Zeit. Seine Herausgabe rechtfertigte ich mit dem Hinweis, es sei Zeit für ein neues missionarisches Paradigma. Ein einzelner Band bot allerdings zu wenig Platz, um diesen Gedanken ausreichend zu entfalten und seine Wichtigkeit biblisch zu begründen. Dieser Aufgabe stelle ich mich nun mit dem vorliegenden Band.

Überblick

Die Hauptaufgabe von Geliebte Welt besteht darin, einen missionarischen Paradigmenwechsel in der evangelikalen Welt zu beschreiben, das anbrechende Paradigma zu charakterisieren sowie einige seiner theologischen Grundbedingungen aufzuzeigen. Ich bin der Überzeugung, dass sich die weltweite evangelikale Bewegung in einem Paradigmenwechsel befindet. Ein Paradigma ist eine epochale Gesamtkonstellation von Überzeugungen und Werten. Ein Paradigmenwechsel zeigt einen Umbruch zumindest einiger Werte an und führt als Folge davon zu einem qualitativ neuen Verständnis – in unserem Fall hinsichtlich der Aufgabe der Kirche und ihrer Mission. Geliebte Welt entfaltet diesen Umbruch und die damit zusammenhängenden theologischen Grundbedingungen in sieben Kapiteln:

Kapitel 1 „Die geliebte Welt“ befasst sich mit dem Verhältnis der Kirche zur Welt. Es skizziert die Welt des 21. Jahrhunderts, in welche die Kirche gesandt ist, mit den Stichworten „Globalisierung“ und „Postmoderne“. Die Welt wird nicht mehr wie im ausgehenden Paradigma als böse und vernachlässigbar empfunden, sondern als Gottes geliebte Welt erkannt. Ein Paradigmenwechsel – vom Kolonialismus zur Ganzheitlichkeit – wird postuliert und mit Blick auf die jüngere Missionsgeschichte und aktuelle Entwicklungen begründet.

Kapitel 2 „Der gerechte Gott“ dient dazu, die Bedeutung des viel bemühten Begriffs der sozialen Gerechtigkeit biblisch zu klären, zumal es sich um einen Schlüsselbegriff des anbrechenden Paradigmas handelt. Der Gerechtigkeitsbegriff im Alten und im Neuen Testament wird untersucht und in Beziehung zueinander gesetzt, mit dem Ziel, die bleibende Gültigkeit der alttestamentlichen Sozialethik für die Welt des 21. Jahrhunderts herauszustellen.

Kapitel 3 „Die Fülle des Heils“ begibt sich auf theologische Spurensuche, um das Verhältnis zwischen sozialer Gerechtigkeit und Erlösung zu klären. Inwiefern kann bei der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit von einem Heilsereignis die Rede sein? Wie weit ist das biblische Verständnis von Erlösung und wo liegen seine Grenzen? Das Kapitel bietet Antworten auf diese Fragen, indem verschiedene Dimensionen von Heil in der Bibel untersucht werden. Der so gefundene ganzheitliche Heilsbegriff wird mit dem traditionellen evangelikalen Heilsbegriff und den Heilsbegriffen des Social Gospel, der Befreiungstheologie und der Ökumene verglichen.

Kapitel 4 „Die urchristliche Mission“ befasst sich mit der Bedeutung von Paradigmenwechsel in der Urkirche. Ausgangspunkt ist die These, dass in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus in der Urkirche ein missiologischer Paradigmenwechsel erstritten wurde und dass dieser die Voraussetzung für das Gelingen der urchristlichen Mission war. Der sich in Apostelgeschichte 1–15 ankündigende Paradigmenwechsel wird missiologisch nachgezeichnet und der Durchbruch des neuen Paradigmas am Apostelkonzil von Apostelgeschichte 15 beschrieben. Anschließend wird der Befund auf das 21. Jahrhundert übertragen und nach der Bedeutung von Paradigmenwechsel für die Kirche heute gefragt.

Kapitel 5 „Der Apostel Paulus“ stellt die Frage nach der Bedeutung des Apostels Paulus für eine missionale Theologie. Nicht selten wird in Paulus der Verkündiger einer reinen Heilslehre gesehen, der die Welt als böse und vernachlässigbar betrachtete. Doch stimmt dieses Paulusbild? Unter den Stichworten Verkündigung, Inkarnation, Gesellschaftsrelevanz und Transformation werden Jesus und Paulus miteinander verglichen. Dabei werden die Verkündigung des Apostels, seine Sammlung für die Jerusalemer Kirche, sein Verständnis von Kirche, seine Haltung zur Sklaverei und die Stellung der Frau in seiner Theologie untersucht. Besondere Aufmerksamkeit wird dem paulinischen Gottesdienstverständnis geschenkt. Das Kapitel ist ein ausführliches Plädoyer für kulturelle Relevanz alsVoraussetzung kirchlicher Lebenstauglichkeit.

Kapitel 6 „Die untrennbare Partnerschaft“ geht davon aus, dass im anbrechenden ganzheitlichen Paradigma die soziale Aktion unverzichtbare Lebensäußerung der Kirche sein wird. Das Kapitel liefert eine biblische Begründung der sozialen Aktion als Teil der Mission der Kirche und definiert das Verhältnis von Evangelisation und sozialer Aktion.

Kapitel 7 „Das neue Paradigma“ ist ein abschließender Vergleich zwischen dem vergehenden kolonialen Paradigma und dem anbrechenden ganzheitlichen Paradigma.

Dank

Corinne Meier für das Tippen der zahlreichen Korrekturdurchgänge. Ohne ihre Hilfe wäre dieses Buch nie geschrieben worden.

Elisabeth Hardmeier für die entscheidende Hilfe bei den letzten Korrekturen.

Dem Institut für Gemeindebau und Weltmission für die begeisterte Zusammenarbeit in der Entstehung dieses Buches. Besonderen Dank an Mathias Burri für die Begleitung des Projekts.

Dem Neufeld Verlag für die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit.

Dem Lektor Roland Nickel für das ausgezeichnete Lektorat und die wichtigen Hinweise.

Roland HardmeierKloten, im Mai 2012

1. Die geliebte Welt

Die Welt steht im Fokus der Heilsabsichten Gottes. Diese Welt, die wir bewohnen, ist Gottes geliebte Erde, die er befreien und erlösen will. Sie ist das Objekt seiner leidenschaftlichen Liebe:

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. (Joh 3,16–17)

Joh 3,16–17 kommt zweifellos ein missiologischer Rang zu. Das Heilsangebot Gottes richtet sich an einzelne Menschen und auf die Welt als Ganzes. Der Kosmos ist das Objekt der leidenschaftlichen Liebe Gottes und darin eingeschlossen sind die Menschen in ihrem gesamten Lebenszusammenhang.

Zentrale missiologische Texte aus dem Neuen Testament unterstützen diese Gedanken. Jesus sendet seine Nachfolger aus, um das Salz der Erde und das Licht der Welt zu sein (Mt 5,13–16). Hier ist mehr im Blickfeld als die Sendung zu einzelnen Menschen, obschon sie diese freilich einschließt. Nachfolger von Jesus sollen für die Welt als Ganzes ein Segen sein, indem sie wie Salz bewahrend wirken und wie ein Licht Orientierung geben. Im missiologischen Vermächtnis des Evangelisten Markus sendet Jesus seine Jünger in die ganze Welt: „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen“ (Mk 16,15). Hier ist die gesamte erschaffene Welt im Blickfeld. Im Matthäusevangelium werden die Jünger zu allen Völkern gesandt, um sie zu Jüngern zu machen (Mt 28,19). Gewiss schließt dieser Auftrag als zentrales Element die persönliche Jüngerschaft ein. Doch es ist ein Unterschied, ob Menschen zu Jüngern gemacht werden sollen oder ganze Nationen im Blickfeld sind.

Die Kirche ist also in die Welt gesandt. Sie nimmt teil an der Mission Gottes, der diese Welt so sehr liebt. Sie lässt sich wie Jesus in die Welt senden. Als Jesus in der Wüste dem Versucher widerstanden hatte (Lk 4,1–12), kehrte er von der Kraft des Heiligen Geistes erfüllt nach Galiläa zurück und begann seinen Dienst an den Menschen (Lk 4,14). Der Heilige Geist trieb ihn mitten hinein in die Welt zu den Menschen. Jesus ließ sich in den Lebenszusammenhang der Menschen senden und nahm Anteil am Ergehen einzelner, aber auch der jüdischen Gesellschaft. Mission ist ein trinitarisches Geschehen: Der Vater liebt diese Welt und sendet seinen Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes in die Welt, und der Sohn gibt sein Leben hin für die Welt.

Wenn die Kirche ihren Auftrag erfüllen will, braucht sie eine Theologie der Welt. Von Nöten ist ein Verständnis der Welt als Schöpfung, ein Verständnis der Menschen als Individuen und soziale Wesen, ein Verständnis von Kultur und wie diese Bereiche zusammenhängen. Wir werden in diesem Kapitel mit Blick auf das Neue Testament und die Welt des 21. Jahrhunderts eine Theologie der Welt skizzieren:

Zuerst untersuchen wir den Begriff „Welt“ im Neuen Testament und versuchen seine Bedeutungsnuancen herauszuarbeiten.

Dann verschaffen wir uns einen Überblick über die Welt des 21. Jahrhunderts und fragen nach der missiologischen Bedeutung des Befundes.

Schließlich versuchen, wir die Kosmos-Theologie des Neuen Testamentes mit der Welt des 21. Jahrhunderts zusammenzubringen, indem wir Überlegungen über das Auftauchen eines neuen Paradigmas anstellen.

Der Kosmos im Neuen Testament

Der neutestamentliche Begriff kosmos bedeutet „Welt, Weltall, Gesamtheit“. Er kommt in den Evangelien und in den Briefen gegen zweihundert Mal vor mit deutlichem Schwergewicht in den Schriften des Johannes und bei Paulus (Balz 1992, 766). Folgende Bedeutungsnuancen treten hervor:

Erstens ist mit Kosmos die sichtbare, der Vergänglichkeit unterworfene Schöpfung gemeint. Die unsichtbare Wirklichkeit Gottes wird seit der Erschaffung der Welt an den Werken der Schöpfung wahrgenommen (Röm 1,20). Mit seinem Verstand kann der Mensch die Welt als von Gott erschaffen erkennen und ist darum unentschuldbar (Röm 1,21). Die Welt ist der Vergänglichkeit unterworfen, aber nicht der Vernichtung preisgegeben (Röm 8,20). Sie ist von der Sünde infiziert, bleibt aber Gottes gute Schöpfung, die seine Herrlichkeit und Macht bezeugt (Ps 19,1ff). Die Schöpfung wird eines Tages zusammen mit den Kindern Gottes von Sklaverei und Verlorenheit befreit werden (Röm 8,21). Das ewige Leben ist sich nicht als ein seelenloser Zustand vorzustellen, sondern als ein wirkliches Leben in einer wirklichen Schöpfung.

Zweitens wird Kosmos als Synonym für die Menschheit verwendet. Bei dieser Begriffsverwendung ist die Menschheit als Ganzes, ihr Lebensraum und die Beziehungen der Menschen untereinander im Blickfeld. Paulus dankt Gott für die Christen in Rom, „weil euer Glaube in der ganzen Welt verkündet wird“ (Röm 1,8; vgl. Kol 1,6). Paulus kann sagen, dass „die ganze Welt vor Gott schuldig“ sei (Röm 3,19). Dieselbe Tatsache ist im Blick, wenn Johannes sagt, die Welt habe Christus nicht erkannt (Joh 1,10; vgl. 17,23). Joh 1,10 vereinigt die hauptsächlichen Bedeutungsnuancen in einem Satz: „Er (Christus) war in der Welt (lebte unter den Menschen) und die Welt (Schöpfung) ist durch ihn geworden, aber die Welt (von Gott entfremdete Menschheit) erkannte ihn nicht.“

Drittens bezeichnet Kosmos die in Widerspruch zu Gott geratene und von ihm entfremdete Menschheit. „Gleicht euch nicht dieser Welt an“, mahnt Paulus, „sondern wandelt euch und erneuert euer Denken“ (Röm 12,2). Gott hat durch das Evangelium die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt (1Kor 1,20). Die sich im Widerspruch zu Gott befindende Menschheit erkennt Gottes Wahrheit nicht, welche sich darin zeigt, dass Gott das Schwache, Niedrige und Törichte erwählt (1Kor 1,26–27). Die Weisheit der Welt ist insofern Torheit als die Menschen in ihrer Weisheit Gott nicht erkannten (1Kor 1,21). Nicht alle menschlichen Errungenschaften (z. B. kultureller oder intellektueller Art) dürfen als Torheit abgelehnt werden. Manche Dinge gehören zum Gutsein der Schöpfung, denn durch die Sünde ist das Gute der Schöpfung nicht ausradiert, nur befallen.

Verstärkt tritt diese Bedeutungsnuance in den Schriften des Johannes hervor. In ihnen finden sich die Grundzüge der paulinischen Rede von der Torheit des Kosmos in gesteigerter Radikalität (Balz 1992, 771). Die Welt ist durch Christus geschaffen, aber die Welt erkannte ihn nicht (Joh 1,9f). Die von Gott entfremdete Welt hasst Christus und die Kirche (Joh 15,18f). Weil die Welt gegen Christus ist und weil ihre Weisheit sich im Widerspruch zur Weisheit Gottes befindet, kann Johannes kategorisch sagen: „Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht“ (1Joh 2,15). Hier ist nicht von der Welt als Schöpfung die Rede. Auch nicht davon, dass Christusnachfolger die Menschen oder das Leben in seiner ganzen Vielfalt nicht lieben sollten. Ebenso wenig, dass kulturelle oder intellektuelle Leistungen irrelevant wären. Gott selbst liebt ja die Welt mit leidenschaftlicher Liebe. Johannes qualifiziert seine Aussage: „Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt“ (1Joh 2,16). Die moralischen Entgleisungen und die Habsucht der Welt sollen wir nicht lieben. Die Welt als Schöpfung aber bleibt Gottes geliebte Erde, die Menschen sind Gottes geliebte Geschöpfe, und so wie Gott sollen auch wir lieben.

Das Neue Testament ist an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen, in der es mit der im Widerspruch zu Gott stehenden Menschheit abrechnet. Die ganze Welt liegt im Argen (1Joh 5,19). Doch das ist nur die eine Seite. Johannes bezeugt mit derselben Radikalität, mit der er die Welt im Widerspruch zu Gott beschreibt, die durchgehaltene Liebe Gottes zum Kosmos (Balz 1992, 771). Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern dass sie durch ihn gerettet werde (Joh 3,17). Der Kosmos als Gesamtheit – die im Unglauben verharrende Menschheit samt der seufzenden Schöpfung – ist das Objekt der Liebe Gottes. Das ist im Lichte der alttestamentlichen Endzeiterwartung eine überraschende Aussage. Aus der eschatologischen (endzeitlichen) Erwartung des Alten Testamentes ergab sich die Überzeugung, der Messias werde als von Gott eingesetzter Richter die Völker wie Krüge aus Ton zertrümmern (Ps 2,9), die Unterdrücker strafen und die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen (Jes 9,5–6). Jesus aber verkündete den Gott der Liebe, der sein Gericht noch nicht vollzieht und den Menschen in seiner Person Gnade anbietet. Jesus führte die Geschichte nicht ihrem gerechten Ende zu, sondern durch ihn griff Gott gnädig in den Geschichtsverlauf ein, um Heil bringend in der Welt zu wirken (Lk 4,19). Moltmann (2002, 135) drückt es treffend aus: „Alles was man bei Jesus unter dem Stichwort ‚Gewaltlosigkeit‘ aufzählen kann, ist zuletzt auf diese ‚Revolution im Gottesbegriff‘ zurückzuführen, die er demonstrierte: Gott kommt nicht zur gerechten Rache an den Bösen, sondern zur gnädigen Rechtfertigung der Sünder, ob Zeloten oder Zöllner, ob Pharisäer oder Sünder, ob Juden oder Samaritaner, und in Konsequenz auch: ob Juden oder Heiden.“

Die Welt ist zwar unter der Macht des Bösen, aber sie ist dem Machtbereich der Liebe Gottes nicht entzogen. Jesus spricht seinen Jüngern Trost zu, denn er hat die Welt überwunden (Joh 16,33). Dieses „überwunden“ ist nicht gleichbedeutend mit der Verwerfung der Welt. Genauso wenig wie die Verlorenheit der Welt (Joh 3,16) ihre Verwerfung bedeutet. Im Kreuzesgeschehen zeigt sich auch die Liebe des Vaters. Der Vater verlässt den Sohn und „erleidet den Tod des Sohnes im unendlichen Schmerz der Liebe … Der Schmerz des Vaters ist dabei von gleichem Gewicht wie der Tod des Sohnes“ (Moltmann 2002, 230). Diese schmerzliche Hingabe geschieht um der Liebe zum Kosmos willen! In seinem Sohn richtet Gott die Welt nicht (Joh 3,17), sondern nimmt ihre Sünden weg (Joh 1,29). Die Welt ist nicht verworfen, sondern wird durch Liebe überwunden (Joh 16,33).

Das ist im Einklang mit Paulus. Im Zentrum seiner Kreuzestheologie steht die Aussage: „Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen“ (Kol 1,19–20). Und noch dramatischer: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen“ (2Kor 5,19–20). Die Liebe zum Kosmos treibt Gott so weit, seinen Sohn hinzugeben, damit die Welt mit ihm versöhnt werden kann. Wo immer Menschen zu Christus finden und in ihm bleiben, werden sie zu einer neuen Schöpfung (2Kor 5,17–18) und so verwirklicht sich Gottes Versöhnung mit der Welt. Es ist nicht die Versöhnung der Welt mit Gott, sondern Gottes Versöhnung mit der Welt, denn von ihm geht sie aus. Die Hingabe seines Sohnes ist ein dramatischer Akt, in welchem der Schöpfer seine von Anfang an durchgehaltene Liebe zur Welt unter Beweis stellt.

Wir können nun den Ertrag unserer Untersuchung über den neutestamentlichen Kosmos-Begriff festhalten:

Kosmos bezeichnet im Neuen Testament den Lebensraum des Menschen, die Menschen selber und ihre Lebensweise, sofern es sich um die im Widerspruch zu Gott geratene Menschheit handelt.

Kosmos als Lebensraum des Menschen meint die unter der Sünde seufzende, aber immer noch gute Schöpfung. In diesem Sinn sollen wir die Welt lieben, weil Gott sie liebt.

Wenn es beim Kosmos-Begriff um die Lebensweise der sich im Widerspruch zu Gott befindenden Menschheit geht, steht die Warnung von der Angleichung an die Welt im Vordergrund. In diesem Sinn sollen wir die Welt nicht lieben.

Der Kosmos ist in seinem ganzen neutestamentlichen Bedeutungsradius des Wortes von Gott geliebt. Gott vollzieht sein Gericht über die Gottlosigkeit noch nicht, sondern bietet durch seinen Sohn Versöhnung an. Die Schöpfung selbst wird zusammen mit den Kindern Gottes befreit werden.

Das Neue Testament enthält eine deutlich formulierte Theologie der Weltzugewandtheit. Diese hat Auswirkungen auf eine biblische Missionstheologie: Wenn Gott seine Liebe zur im Widerspruch zu ihm befindenden Menschheit durchhält, indem er die Welt noch nicht richtet, sondern mit sich versöhnt, und wenn die seufzende Schöpfung zur Herrlichkeit der Kinder Gottes befreit werden wird, dann ist es die Aufgabe der Kirche, sich dem Gott anzugleichen, den sie bekennt, und diese Welt und ihre Menschen ebenso zu lieben. Die Welt ist dann nicht mehr die verworfene Welt, gegen die evangelisiert wird, und das Evangelium wird zu einer guten Nachricht für die Welt. Die Welt rückt in das Zentrum der Heilsabsichten Gottes und die Kirche existiert um der Welt willen. Sie ist beauftragt, die Botschaft der Liebe Gottes zum Kosmos zu verkünden und in ihrem Mikrokosmos praktisch zu demonstrieren. Sie ist im besten Sinn des Wortes ein von Gott erneuerter Mikrokosmos, denn in ihr ist die zukünftige befreite Welt schon in den alten Äon hereingebrochen. Und das bedeutet in letzter Konsequenz: Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für die Welt ist.

Die Welt des 21. Jahrhunderts verstehen

Die Kirche braucht ein Verständnis der komplexen Welt, in welche sie gesandt ist. Sie muss die Welt als Schöpfung kennen und die Menschen mit ihren Bedürfnissen, die in ihr leben. Und sie braucht ein Verständnis davon, wie menschliche Kulturen funktionieren. Die Kirche kann nur dann einen Beitrag zur Transformation (Umwandlung in Gottes Willen) der Welt leisten, wenn sie ein grundlegendes Verständnis des sozialen Gefüges hat, in dem sie sich bewegt. Das gilt auch für die Kirche selbst. Reimer (2009, 33) formuliert es so: „Gemeinde ist nicht nur eine spirituelle Größe. Sie ist immer auch eine konkrete soziale Gestalt. Somit ist es nur konsequent, die neutestamentliche Gemeinde auch soziologisch zu untersuchen. Die Rolle von Frauen und Männern, Familienaufbau, Beziehungen zu Reich und Arm, Vertretern verschiedener Kulturen, Organisationsstrukturen, Wege der Kommunikation etc. – all das sind Fragestellungen der modernen Sozialwissenschaften. Sie bei der Analyse der neutestamentlichen Gemeindemodelle zu missachten wäre fatal.“

Ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen hat während langer Zeit eine Theologie der Welt nicht für nötig erachtet. Die Kirche sah ihre Mission nicht darin, einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Im Zentrum ihrer Mission stand der einzelne Mensch mit seinem Bedürfnis nach ewigem Leben. Die Umwelt des Menschen, die Gesellschaft, die Schöpfung – das waren vernachlässigbare Größen. Wo dennoch ein Beitrag zu einer besseren Welt geleistet wurde, ergab sich dieser in der Regel als Nebenprodukt der Evangelisation. Tätige Nächstenliebe und soziale Aktion (persönliche Hilfeleistung und gesellschaftliches Engagement) wurden als Brücke zur eigentlichen Aufgabe der Evangelisation willkommen geheißen. Sie erhielten ihren Wert dadurch, dass sie der Kirche Möglichkeiten bot, das Evangelium zu verkünden. Ein selbständiger Wert wurde der sozialen Aktion in der Regel aber nicht zugemessen.

Wie sieht die Welt des 21. Jahrhunderts aus, in welche die Kirche gesandt ist? Was zeichnet diese Welt aus? Man wird nicht umhin können, eine Antwort auf diese Frage zumindest zu skizzieren. Das soll im Folgenden geschehen.

Moderne

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist die Welt der Postmoderne, deren augenfälligstes Merkmal die Lossage von den ethischen Werten ist, die in der Moderne einen gesellschaftlichen Konsens bildeten. Dies gilt zumindest für die westliche Welt. Die Postmoderne bildet den großen kulturellen Rahmen des 21. Jahrhunderts.

Die Postmoderne kann nur auf dem Hintergrund der Moderne verstanden werden, aus der sie hervorgeht. Mit dem Begriff der Moderne bezeichnen wir die Neuzeit, die aus dem mittelalterlichen Weltbild hervorging und sich in allen Lebensbereichen radikal davon unterschied. Geisteswissenschaftlich gesehen setzte die Moderne mit der Renaissance des 14. Jahrhunderts ein. Bis zu jenem Zeitpunkt war Europa von der mittelalterlichen Denkweise geprägt. Kirche und Könige teilten sich die Macht. Die katholische Tradition mit ihren Dogmen prägte die Gesellschaft und die Kirche wachte über deren Einhaltung. Die soziale Schichtung wurde als von Gott gegeben hingenommen. Der Mensch lebte eingebunden in einen sozialen Zusammenhang und verstand sich mehr als Teil eines Ganzen denn als autonomes Individuum. Wissenschaftliches Arbeiten im modernen Sinn gab es noch nicht. Gelehrte wie Galileo Galilei (1564–1642), die sich erlaubten, naturwissenschaftliche Überlegungen anzustellen, die mit den Dogmen der Kirche nicht kongruent waren, mussten mit einem Verfahren der Inquisition rechnen. Galilei, der brillante Mathematiker, Physiker und Astronom, erntete für seine bahnbrechenden Theorien Gerichtsverfahren, Hausarrest und ein Lehrverbot. Andere Wissenschafter bezahlten ihre Überzeugungen mit ihrem Leben.

Die Wiederentdeckung antiker Kunst und Wissenschaften führte im 15. und 16. Jahrhundert die Epoche der Renaissance herbei. Es kam zu einer ersten Loslösung von der alles beherrschenden Macht der Kirche. Der Mensch und seine Freiheit sowie seine wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen wurden neu entdeckt und im 19. Jahrhundert mit dem französischen Begriff „Renaissance“ (Wiedergeburt) bedacht.

Die Reformation war nicht zuletzt ein Kind der Renaissance. Martin Luther berief sich auf das individuelle Gewissen des Gläubigen und verteidigte seinen Glauben gegen die Gedankenfestungen der katholischen Kirche. Es war etwas völlig Neues, dass ein gewöhnlicher Mönch sich auf sein Verständnis des Evangeliums berief und bereit war, seine Ansichten gegen den Rest der Welt auch dann durchzusetzen, wenn es ihn Leib und Leben kosten sollte. In Luther erkämpfte sich das autonome Gewissen seinen Platz in der Geschichte.

Wissenschaftlich gesehen führte die Wiederentdeckung antiker Wissenschaften zu einem verstärkten Fragen nach der Natur und dem Ursprung der Dinge. Die Antworten der Kirche vermochten nicht mehr zu befriedigen, zumal sich die Tradition mit neuen wissenschaftlichen Theorien im Streit wiederfand. Die wissenschaftliche Moderne setzte im 17. Jahrhundert ein. Bisher hatten die Gelehrten aller Gattungen im Denkrahmen der kirchlichen Tradition gearbeitet. Mit dem Einsetzen der Renaissance begann man, die Erkenntnisse griechischer Größen wie Aristoteles zu studieren und gedanklich weiterzuentwickeln. Trotzdem setzte die an der autonomen Vernunft und dem Fortschrittsgedanken orientierte Moderne erst im 17. Jahrhundert fassbar ein. Denn erst jetzt kam es zu umwälzenden Veränderungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, welche die Welt des Mittelalters endgültig in die Vergangenheit drängten.

Im 17. Jahrhundert gelang es den europäischen Wissenschaften, sich erstmals über das Niveau des Mittelalters und der Antike zu heben. Eine neue Art wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens setzte ein, die sehr bald auch die Theologie nachhaltig erschüttern sollte, welche bis zu jenem Zeitpunkt die Königin der Wissenschaften war. Fassbar wird diese neue Art zu denken und bald auch zu glauben schon früher durch Gestalten wie Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der statt des geozentrischen Weltbilds (die Erde im Mittelpunkt), welches die Kirche vertrat, ein heliozentrisches Weltsystem vorschlug (die Sonne im Mittelpunkt), mit den Mitteln seiner Zeit aber noch nicht beweisen konnte. So spricht man mit Recht von der „kopernikanischen Wende“ als Ausdruck für verschiedene „Wenden“, welche die Moderne konstituierten. Johannes Kepler (1571–1630) bestätigte und korrigierte Kopernikus’ Hypothesen. Die Keplerschen Gesetze über die Umlaufbahnen der Planeten haben bis heute Gültigkeit. Galileo Galilei schließlich gelang der überzeugende Beweis des kopernikanischen Modells und der Nachweis, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dadurch wurde er zum Begründer der modernen Naturwissenschaften. „Das Aufzeigen der Naturgesetze und die grenzenlose Erforschung der Natur, die immer neue Bereiche erfassen sollte, waren jetzt grundgelegt“ (Küng 1999, 762).1

Moderne Wissenschafter wie Francis Bacon (1561–1626) und Isaac Newton (1642–1726) trieben die empirische Forschung voran. Ihrem Verständnis nach sollte die Wissenschaft nicht in erster Linie in theoretischen Erörterungen bestehen. Die Wissenschaft sollte auf Erfahrung und Verstand bauen. Der praktische Versuch, mit dem eine Annahme auf ihre Richtigkeit überprüft wurde, löste das theoretische Denken ab. Wissenschaftlich haltbar konnte in der Folge nur noch sein, was sich durch praktischen Nachvollzug erweisen ließ. Das brachte große Fortschritte in wissenschaftlicher Hinsicht. Damit war aber auch die Methode des auf der Vernunft basierenden Zweifels geboren. Alles, was nicht vernünftig erklärbar war, musste zunächst einmal radikal in Zweifel gezogen werden. Dafür steht der französische Naturwissenschafter und Philosoph René Descartes (1596–1650), der mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ die Gewissheit von Gott in den Menschen verlegte. Damit war eine Wende im abendländischen Denken erreicht, denn nunmehr sollte das Faktum der eigenen Existenz zum Fundament aller Gewissheit werden (Küng 1999, 766). Gott war aus dem Zentrum des Kosmos vertrieben worden.

Die neue, an der Vernunft orientierte Denkweise, galt nicht nur für wissenschaftliche Behauptungen, sondern bald auch für das kirchliche Dogma. Die Moderne brachte die Epoche der Aufklärung hervor, die sich des Verstandes als Urteilsinstanz bediente, und bald wurde die Bibel kritisch untersucht und radikal neu interpretiert. Man hatte jetzt nicht mehr wie zweihundert Jahre zuvor das Bedürfnis nach Reformation, sondern nach Aufklärung. Die Aufklärung hatte einen ihrer einflussreichsten Vertreter im deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), nach dessen Definition die Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, ist der Wahlspruch der Aufklärung.2 Küng (1999, 780–781) stellt die Frage, gegen wen sich der Wahlspruch der Aufklärung richtete, und antwortet: „Gegen die alles Denken beherrschenden kirchlichen Autoritäten aller Konfessionen, die – wiewohl sie durch Glaubensstreit und Glaubenskriege ihre Glaubwürdigkeit vielfach eingebüßt haben – die Menschen noch immer in unwürdiger Abhängigkeit zu halten versuchen. Deshalb will die ‚Aufklärung‘ (‚enlightenment‘) in einer von kirchlichem Aberglauben und kirchlichen Vorurteilen verfinsterten Welt das Licht der Vernunft verbreiten.“

Der methodische Zweifel zersetzte in einem zweihundert Jahre dauernden Prozess die biblische Botschaft und führte zur Auflösung des traditionellen Glaubensguts. Die entscheidenden Anstöße zur Weltgestaltung kamen zum ersten Mal nicht von der Kirche, sondern von der aus ihrem Machtbereich losgelösten Philosophie und Wissenschaft. Die neue Autorität war die menschliche Vernunft, die sich auf nichts berief als auf sich allein. Plötzlich war nicht mehr klar, was denn nun wahr, vernünftig und tugendhaft sei, und so fanden sich alle traditionellen Autoritäten von Aristoteles über den Papst bis hin zur Bibel „in einer Krise ihrer Legitimation“ (Küng 1999, 773). Diese Krise ist mit der anbrechenden Postmoderne nicht aufgehoben, sondern wird noch verschärft. Die Postmoderne stellt die Identitätskrise der Moderne dar, „deren Ansprüche auf eine umfassende universale Vernunftwahrheit sich nicht eingestellt haben“ (Hille 2000, 27).

Postmoderne

In der Postmoderne – ihr Anbruch ist auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusetzen – zeichnet sich eine Absage an das Vernunftdenken der Aufklärung ab. Ob diese nachhaltig sein wird, bleibt abzuwarten, auf jeden Fall existiert sie parallel zu einer weiterhin starken Wissenschaftsgläubigkeit. Damit ist ein Grundzug der Postmoderne bereits angeklungen: Die unterschiedlichsten Auffassungen, Trends und Gegentrends existieren am selben Ort und zur selben Zeit. Die Postmoderne ist ein heterogenes Gefüge, in dem es für die Menschen schwierig ist, sich zu orientieren. Alles ist möglich. Vernunftdenken und radikaler Pluralismus stehen Seite an Seite. Die Absage an das reine Vernunftdenken brachte eine kritische Betrachtungsweise jeglichen universalen Wahrheitsanspruchs mit sich und besteht weiterhin. Sobald der Mensch mit seiner Vernunft das Maß aller Dinge wurde, war es nicht mehr möglich, den Wahrheitsanspruch des Evangeliums ohne weiteres aufrechtzuerhalten. Die konservativen protestantischen Kräfte versuchten vergeblich, sich gegen die heranrollende Flut zu wehren. Das liberale Aufklärungsdenken drang in alle Gesellschaftsbereiche ein. Die Kirche verlor ihre traditionelle Stellung und ist nur noch ein Player unter anderen. Der amtliche Bonus ist weg. Das bedeutet: Gesellschaftlichen Einfluss können sich die Kirchen in der Postmoderne nur noch durch Glaubwürdigkeit und Gesellschaftsrelevanz erarbeiten.

Mit den wissenschaftlichen Erfindungen der Neuzeit wie der Elektrizität oder der Dampfmaschine ging in der Moderne ein zukunftsgerichteter und fortschrittlicher Optimismus einher. Man glaubte, mit der Erforschung der physikalischen Gesetze der Natur würde es möglich sein, die Welt zu beherrschen. Dieser Optimismus existiert seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Zunehmend wird deutlich, dass das rein vernünftige Denken die Probleme der Menschheit nicht lösen kann. Die Welt ist nicht, wie zu Beginn des wissenschaftlichen Aufbruchs der Moderne geglaubt, mit einem mechanischen Uhrwerk zu vergleichen, das vollständig kontrolliert werden kann. Küng (1999, 871–874) charakterisiert die Postmoderne zu Recht als eine Zeit der Erschütterung. Die moderne Verabsolutierung des Vernunftglaubens ist erschüttert. Vernunft, die keine Tradition respektiert und der nichts heilig ist, zersetzt sich selbst. Zunehmend wird klar, dass der Mensch nicht von der Vernunft allein lebt. Erschüttert ist auch die Verabsolutierung des Fortschritts. Wirtschaftlicher Fortschritt als Selbstzweck hat verheerende Folgen globalen Ausmaßes: Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung, Finanzkrisen, erschütternde Armut.

Die Postmoderne mit ihrem Pluralismus bildet den großen gesellschaftlichen Rahmen, in dem die Kirche ihren Auftrag zu leben hat. Wie kann dieser skizziert werden?

Zunächst: Die Kirche muss durch die Verkörperung des von ihr verkündigten Heils überzeugen. Kein Weg führt daran vorbei. Fundierte Wahrheitsansprüche allein vermögen im Pluralismus der Postmoderne nicht mehr zu überzeugen. Es braucht eine Rückbesinnung auf die praktischen Aspekte des Evangeliums im Sinne des hohepriesterlichen Gebets, in welchem Jesus um die Einheit seiner Nachfolger betete (Joh 17,21). In dieser Einheit, die mit größter Anstrengung angestrebt werden muss, liegt die höchste Überzeugungskraft des Christentums, wie Schaeffer (1998, 191–192) ausführt:

Die sichtbare und tätige Liebe unter wahren Christen, welche die Welt auch heute mit recht zu sehen erwartet, sollte sich uneingeschränkt über alles Trennende hinwegsetzen (…) Wenn die Welt dies nicht beobachten kann, wird sie nicht glauben, dass Christus vom Vater gesandt wurde. Die Menschen werden nicht allein aufgrund zutreffender Antworten glauben. Das eine darf das andere nicht ausschließen. Die Welt muss auf aufrichtige Fragen zutreffende Antworten erhalten, zugleich aber muss unter allen wahren Christen einmütige Liebe herrschen. Das ist unerlässlich, wenn die Menschen wissen sollen, dass Jesus vom Vater gesandt wurde und das Christentum wahr ist.

Der Pluralismus der Postmoderne ist kein völlig neues Phänomen. Er hat seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist, dass er jetzt dominant und obligat wird (Welsch 1999, 40). Ebenfalls neu ist, „dass die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige, so radikal nämlich, dass sie nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen oder überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muss“ (Welsch 1999, 40). Diese radikale Pluralität verlangt nach einer überzeugenden Antwort der Kirche. Denn die radikale Pluralität brachte auch einen Verlust an traditioneller Bindung mit sich. Hatte sich das christliche Abendland einmal von den kirchlichen Dogmen befreit, befreite es sich damit auch aus einem schützenden Verständnisrahmen, durch den die Welt interpretiert werden konnte. Die Folge davon war eine Erosion ethischer Werte, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasste und den christlich-abendländischen Konsens hinwegschwemmte. Hille (2000, 22) spricht in diesem Zusammenhang von der prämodernen Glaubensgewissheit, die durch die moderne Vernunftautonomie erodierte und zum postmodernen Wahrheitspluralismus führte. Es ist „offensichtlich, dass die Moderne sich im Fortschritt der geistesgeschichtlichen Entwicklung immer vielfältiger ausdifferenziert. Zudem lösen sich auch die unterschiedlichen Philosophien und Ideologien in immer rascheren Zeitfolgen ab. Und eben dieser Wechsel der Deutungssysteme und ihre Ablösung ist in sich eines der charakteristischen Merkmale der heraufkommenden Postmoderne“ (Hille 2000, 25).

Angesichts des postmodernen Pluralismus darf die Kirche nicht von ihrer Überzeugung weichen, dass die Heilige Schrift Norma Normans bleibt. Die Bibel als Norm für Glauben und Leben ist die Wasserscheide in einer Welt der Beliebigkeiten. Die Antwort der Kirche auf die postmoderne Beliebigkeit kann darum nicht darin bestehen, alles Anstößige aus ihrer Botschaft zu entfernen, denn damit würde sie sich selbst abschaffen. Diesen Weg haben in der Moderne liberale Theologen beschritten und sind damit gründlich gescheitert (Hille 2000, 25). Der moderne leidenschaftliche Streit um die Wahrheit ist in der Postmoderne agnostisch aufgegeben. Jeder lebt seine individuellen Wahrheiten und seine ethischen Wertsetzungen im Kontext seines Submilieus (Hille 2000, 27). Dieser Unwissenheit über vorletzte und letzte Dinge darf und muss die Kirche die Gewissheit des Glaubens entgegensetzen.

Die Kirche in der Postmoderne ist angesichts der dominant werdenden Beliebigkeit auch als ethische Institution gefordert. Nur wenn ihre Mitglieder einen glaubwürdigen, nachhaltigen und dialogbereiten Lebensstil vorweisen können, wird sie noch gehört werden. Beruft sie sich dabei auf die in der Bibel verbriefte Offenbarung Gottes, wird sie nicht nur Widerspruch hervorrufen, sondern auch ein Leuchtturm der Orientierung sein. Denn die Postmoderne bringt ja gerade die Auflösung aller überkommenen Werte mit sich. Die Tatsache, dass wir den Begriff der Postmoderne benutzen, zeigt an, dass das Ende der Moderne eingeläutet ist. Die Postmoderne an sich ist aber alles andere als eine Lösung des Problems der Moderne. Die Moderne zersetzte in einem langen Prozess traditionelle Werte und setzte an ihre Stelle die autonome Vernunft. Die Postmoderne verlängert diesen Prozess und führt ihn mit letzter Konsequenz weiter. So gesehen ist die Postmoderne eher als Spätmoderne zu bezeichnen (Küng 1999, 877). Küng fragt, ob postmoderne Beliebigkeit, Spaß und Anarchie das Dilemma der Moderne etwa überwinden könnten und antwortet: „Die Moderne in ihren Widersprüchen wird auf diese Weise nicht wirklich überwunden, sondern nur noch einmal in überdrehter Form wiederholt“ (Küng 1999, 877).

Wenn wir Christen einen für das 21. Jahrhundert relevanten Lebensstil und Gemeinschaftssinn entwickeln, werden wir fähig sein einen Beitrag zur Weltgestaltung zu leisten. Nichts weniger als das ist unsere Aufgabe, denn wir sollen das Salz der Erde und das Licht der Welt sein. Ein Lebensstil der moralischen Glaubwürdigkeit ist in der Postmoderne ein fester Halt im Chaos einer durch Beliebigkeit auseinanderdriftenden Gesellschaft. „Die Reformation mit ihrer Betonung, dass die Bibel in allem, was sie lehrt, die Offenbarung Gottes darstellt, schuf der Gesellschaft eine Freiheit und auch eine Ordnung. Daher bestanden in den Reformationsländern Freiheiten (wie die Welt sie vorher noch nie gekannt hatte), ohne dass diese Freiheiten zu einem Chaos führten – weil sowohl die Gesetze als auch die Ethik von einem Konsens umgeben waren, der auf der Lehre der Bibel beruhte“ (Schaeffer 1984, 56). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts besteht dieser Konsens nicht mehr. Die traditionelle christliche Auffassung ist in der Postmoderne eine Position der Minderheit. „Die Freiheit, die sich einst auf den biblischen Konsens und eine christliche Besinnung gründete, ist zu einer autonomen Freiheit geworden, die sich aller Zwänge entledigt hat … Hier liegt auch der Grund dafür, warum in jedem Lebensbereich ein moralischer Zusammenbruch zu verzeichnen ist. Die gigantischen Freiheiten, die wir einst genießen konnten, sind von ihren christlichen Beschränkungen abgetrennt worden und entwickeln sich zu einer zerstörerischen Gewalt, die ins Chaos mündet“ (Schaeffer 1984, 27). Schaeffer stellt weiter fest, dass die ruhigen Zeiten der Evangelikalen der Vergangenheit angehören und „nur ein fester Blick auf die Bibel wird es uns ermöglichen, dem alles durchdringenden Druck einer Kultur zu widerstehen, die sich auf den Relativismus und auf relativistisches Denken gründet“ (Schaeffer 1984, 57).

In Anbetracht dieser Situation ist es wichtig, sich der Tatsache zu stellen, dass die Kirche gemäß Joh 17,16–18 in der Welt ist (am Leben der Menschen teilnimmt und sich mit ihnen identifiziert), sich gleichzeitig aber nicht als von der Welt erweist (nicht nach der Art der Welt lebt). Der Rückzug ins christliche Getto ist einfach keine Lösung. So wie Christus völlig in die Welt des 1. Jahrhunderts eintauchte, sollten auch wir teilnehmen an den großen gesellschaftlichen Diskussionen und zu Lösungen beitragen. Eine Kirche, welche sich auf die Bibel als Norm für Glauben und Leben stützt und sich damit in Widerspruch zur Welt setzt, ist eine gesellschaftlich relevante Kirche, wenn sie zugleich durch authentische Gemeinschaft und hingebungsvollem Dienst an der Gesellschaft auffällt.

Globalisierung

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist die Welt der Globalisierung. Es ist eine Tatsache, dass wir heute global leben. Wir konsumieren Güter des täglichen Bedarfs aus aller Herren Länder und fliegen um die ganze Welt herum für einen Sprachaufenthalt, eine Geschäftsreise oder einen Sommerurlaub. Die Globalisierung macht es uns in den Ländern des Westens möglich, Bedarfsgüter wie Kleider oder Nahrungsmittel günstig zu erwerben. Für die Menschen in den Billiglohnländern ist die Globalisierung hingegen zur Falle geworden. Es ist eine neue Schicht von sklavereiähnlicher Lohnarbeit entstanden, welche die Menschen um Würde und Leben bringt. Es wird in Zukunft nicht mehr möglich sein, ethisch zu leben ohne die Mechanismen der Globalisierung zu hinterfragen. Denn der Globalisierung liegt ein Todesmechanismus zugrunde, welcher die wenigen zu Gewinnern und die vielen zu Verlierern macht. Zu den Gewinnern gehören Sie und ich, die wir uns günstig ein Paar in Vietnam oder Indonesien produzierte Schuhe kaufen können. Zu den Verlierern gehören die Arbeiterinnen in der asiatischen Textilindustrie, die von ihrer Arbeit kaum leben können und die keine Arbeitsrechte besitzen. Die Verlierer, das sind die Arbeiter in den chinesischen Spielzeugfabriken, die Plüschtiere für den Weihnachtsverkauf und Kinderspielzeuge für McDonald’s herstellen. Es sind auch die Indianer in Peru, deren Boden durch den extensiven Bergbau vergiftet wird, sodass sie ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.

Bis in die jüngste Zeit fiel der Ertrag der Globalisierung in Form wirtschaftlicher Gewinne gewöhnlich im Norden an, während das Leid in Form von Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskräften im Süden anfiel. Diese Gesetzmäßigkeit hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts an Gültigkeit verloren (Sachs & Santarius 2005, 13ff). Die Verwerfungen der Globalisierung machen sich zunehmend auch im Norden bemerkbar. Schwellenländer wie China und Indien machen den Industrienationen Arbeitsplätze streitig. Politische Flüchtlinge und Wirtschaftsemigranten drängen in die Wohlstandsfestung Europa und bedrohen den sozialen Frieden. Umweltsünden gefährden das Klima – auch zum Schaden des Nordens. Steigt der Meeresspiegel an, wird Europa in wenigen Jahrzehnten von Umweltflüchtlingen überschwemmt. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen in Europa und den Vereinigten Staaten. Die Geister des Wohlstands, des Konsums und des ungebremsten Wachstums, die Europa im Kielwasser von Kolumbus Ausfahrt in die Welt hinaussandte, kehren vagabundierend ins christliche Abendland zurück.

Die Globalisierung ist im Grunde genommen kein neues Phänomen. Sie begann im Mittelalter mit dem Befahren der Weltmeere. Die Welt rückte merklich zusammen. Es wurde möglich, global mit Gütern zu handeln. Einen ersten Höhepunkt erlebte der globale Welthandel in der Zeit des Kolonialismus und im Sklavenhandel. Besonders lukrativ war der sogenannte Dreieckshandel: Von Europa wurden Alkohol und Waffen als Tauschmittel für Sklaven nach Afrika verschifft. In Afrika wurden von lokalen Häuptlingen und weißen Sklavenjägern Sklaven gekauft. Sie wurden in die Karibik verfrachtet, wo sie verkauft und auf den Zuckerrohrplantagen innerhalb weniger Jahre zu Tode geschunden wurden. „Die Karibik war ein Schlachthaus“, stellt Hochschild (2007, 88) in seiner bemerkenswerten Studie über die Sklaverei fest. Von der Karibik wurden Zucker und andere Güter nach Europa verschifft. Dieses magische Dreieck verhalf Europa zu immensem Reichtum.

Im 20. Jahrhundert versetzte das Ende des Kommunismus der Globalisierung einen kräftigen Schub. Mit seinem Abgang war die Idee der staatlich gelenkten Wirtschaft gescheitert. Der Wirtschaftsliberalismus, welcher den schrankenlosen Welthandel predigt, setzte sich durch. In der gleichen Zeit wurde die Globalisierung durch den Faktor Internet beschleunigt. Es erlaubt international tätigen Firmen – sogenannten multinationalen Konzernen – globale Imperien zu schaffen, in denen Gewinne geschickt verschoben werden und billig produziert wird. Durch ihre schiere Größe sind sie zu globalen Playern in der Wirtschaftspolitik aufgestiegen. Es ist eine Machtverschiebung im Gange, weg von den Nationalstaaten hin zu multinationalen Konzernen. Diese kämpfen für Steuersenkungen, Privatisierungen und Deregulierungen und nehmen damit den nationalen Regierungen ihre Machtinstrumente weg (Clarke 2002, 112). Es ist nicht übertrieben, wenn Mander (2002, 9) sagt: „Die wirtschaftliche Globalisierung hat wahrscheinlich die fundamentalste Umstrukturierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf unserem Planeten mindestens seit der Industriellen Revolution zur Folge.“ Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, wie gefährlich nahe am Abgrund sich der deregulierte Finanzsektor befindet und wie wenig es braucht, dass dieser die Weltwirtschaft in eine globale Depression stürzt.

Was bedeutet es angesichts der Globalisierung, in Gottes geliebter Welt Salz und Licht zu sein?

Unsere globale Lebensweise mit ihren sozialen Verwerfungen verlangt nach einer Neudefinierung des Begriffs „Nächstenliebe“. Die Frage „Wer ist mein Nächster?“ stellt sich angesichts einer global vernetzten Welt anders als in der jüdischrömischen Welt des Neuen Testamentes. Mein Nächster – das ist die Näherin, die in Bangladesh das T-Shirt näht, das ich ab Stange kaufen kann; es ist der Bauer mit seinem Kleinbetrieb in Zentralamerika, der die Kaffeebohnen anbaut, die ich in meiner Kaffeemaschine mahle; es ist die Familie auf den Fidschi-Inseln, die nach einer neuen Heimat sucht, weil der von mir mit verursachte Klimawandel ihr Land überflutet und versalzt.

Das Modell der wirtschaftlichen Globalisierung mit ihrem grenzenlosen Handel ist nicht zukunftsfähig, weil es nicht auf Gerechtigkeit beruht. Ungerechtigkeit aber gebiert Unfrieden. Die Errungenschaften der Moderne im Bereich der Menschenrechte (Religionsfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit) müssen konsequent weiter verfolgt werden. Nun ist aber gerade die Globalisierung ein Angriff auf die Menschenrechte und die Menschenwürde. Millionen von Arbeitern in den Billiglohnländern werden ausgebeutet. Das Menschenrecht auf Versammlungsfreiheit (etwa in der Form des Zusammenschlusses zu Betriebsräten oder Gewerkschaften) wird beschnitten. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Die Finanzkrise hat auf einen Schlag Millionen von Menschen in der Zwei-Drittel-Welt noch ärmer gemacht, weil die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellten – unter anderem wegen spekulativer Geschäfte an den Warenterminbörsen.

Die Kirche sollte die Avantgarde der Gerechtigkeit sein. Denn eine gerechte Verteilung des Wohlstands, die Sicherung von Menschenrechten und eine gerechte Nutzung der ökologischen Ressourcen werden Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts sein. Was die Schaffung von Gerechtigkeit und Freiheit betrifft, hat sich die Kirche in den vergangenen Jahrhunderten keine Auszeichnungen geholt. Sie ist den Menschenrechten, welche die Aufklärung erkämpfte, weit hinterhergehinkt. Meier (2009, 1) gibt zu bedenken:

„Ist Freiheit nicht vor allem ein Wert der Aufklärung, der Leitwert des mit ihr verbündeten Liberalismus? Nur allzu oft füllen auch Theologen das Wort ‚christlich‘ mit Freiheit und Freiheitsrechten wie Glaubens- und Gewissensfreiheit. So geht kollektiv vergessen, dass die Freiheits- und Menschenrechte ihren Ursprung im Humanismus der Aufklärung haben – und sich nicht dank, sondern trotz der Kirche durchsetzen konnten. Noch die Päpste des 19. Jahrhunderts verurteilten Religionsfreiheit, Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung in Bausch und Bogen. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts lehnten die Großkirchen beider Konfessionen die liberalen Menschenrechte ab, weil sie das Freiheitsstreben des Individuums als sündhaftes Streben nach Autonomie, als Rebellion gegen Gott verstanden.“

Meier (2009, 1) weist darauf hin, dass die Kirchen sich erst dann mit den Menschenrechten anfreundeten, als diese bereits anerkannte Grundlage des Rechtsstaates geworden waren. Der Fehler der Kirchen bestehe darin, dass sie die Menschenrechte im christlichen Glauben für angelegt hielten. Dieses Urteil wird noch zu prüfen sein. Wir können aber schon jetzt sagen: Das Evangelium von Jesus Christus ist befreiend. Mit Verweis auf das Evangelium kann man die Verweigerung der Menschenrechte nicht erstreiten, ohne sich in Widerspruch zu dieser Guten Nachricht zu setzen. Der frühe Evangelikalismus – ehe Teile von ihm vom Weltverneinenden Fundamentalismus aufgesogen wurden –, erkannte dies deutlich. Hilborn (2004, 9–35) zeigt auf, dass die Evangelical Alliance von ihrer Gründung im Jahre 1846 an eine soziale Agenda entwickelte und sich insbesondere für Religionsfreiheit einsetzte. Einen ähnlich visionären Blick brauchen die Evangelikalen auf das 21. Jahrhundert, wenn sie Vorkämpfer des Schlüsselthemas „Gerechtigkeit“ sein wollen.

Klimawandel

Eine der fatalen Auswirkungen der Globalisierung und des ungebremsten Wachstums ist der Klimawandel. Dieser wird in der Welt des 21. Jahrhunderts eine so bedeutende Rolle spielen, dass es sich lohnt ihn gesondert zu behandeln.

Klimaforscher sind sich einig, dass der Klimawandel eine Tatsache ist und dass er hauptsächlich vom Menschen verursacht wird. Die Erderwärmung ist extremer und vollzieht sich schneller als alle bisher beobachteten zwischeneiszeitlichen Erwärmungen. Die dafür maßgeblichen Treibhausgase sind in der größten je gemessenen Konzentration vorhanden und steigen weiter an. In den evangelikalen Kirchen ist das Malen von Schreckenszenarien mitunter als Effekthascherei abgetan worden und man betonte, die Forscher seien sich nicht einig, ob überhaupt ein Klimawandel stattfinde. Das hat verhindert, dass das Thema ernsthaft thematisiert wurde.

Der WWF hat unter dem Titel „im Treibhaus wird es ungemütlich“ vorgerechnet, was es uns kostet, wenn die weltweite Durchschnittstemperatur um zwei Grad ansteigt.3 Etwa die Hälfte der Menschheit wäre Wasserknappheit ausgesetzt. Allein in Indien wären 500 Millionen Menschen betroffen, weil die gewaltigen Gletscher des Himalaja weniger Schmelzwasser abgeben würden. In Nordafrika könnte die Regenmenge um gegen die Hälfte abnehmen. Die Folgen wären Dürre, Armut und Flüchtlingsströme. An anderen Orten würde es deutlich mehr regnen als heute, weil sich das Klima in verschiedenen Regionen unterschiedlich entwickeln würde. Stürme, Überschwemmungen und Taifune nähmen an Häufigkeit und Intensität dramatisch zu. Wegen der unsicheren Klimaverhältnisse würden Missernten stark ansteigen und in manchen Regionen zu Hungersnöten führen. Es wäre weiter zu erwarten, dass Zecken und Mücken und mit ihnen verschiedene Krankheiten, insbesondere Malaria, weitere Verbreitung finden würden. Ein Drittel aller Pflanzenarten wäre vom Aussterben bedroht, weil sich der Regenwald des Amazonas zur Savanne wandeln würde. Schon heute werden chinesische Großstädte im Sommer von Wüstenstürmen heimgesucht, weil sich auf dem chinesischen Festland die Steppe ausbreitet.

Man kann sich darüber streiten, ob dieses Szenario überspitzt ist oder nicht. Unleugbare Tatsache ist, dass die Menschheit gegenwärtig um den Faktor 1,5 über der biologischen Kapazität der Erde lebt. Der Klimawandel führt vor Augen, dass eine grenzenlose wirtschaftliche Globalisierung auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Sachs und Santarius vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie formulieren deutlich:

Es ist hohe Zeit, das Wohlstandsmodell der Industriemoderne auf den Prüfstand zu stellen. Mehr Gerechtigkeit in dieser Welt ist auf dem Verbrauchsniveau der Industrieländer nicht zu erreichen. Eine Wirtschaftsentwicklung konventionellen Stils, die einer wachsenden Weltbevölkerung insgesamt einen westlichen Lebensstandard bescheren möchte, wird ökologisch nicht durchzuhalten sein. (Sachs & Santarius 2005, 44)

In der modernen Wirtschaftsgeschichte ging man bisher davon aus, dass Wachstum mehr Wohlstand für alle bedeute.

Bei wirtschaftlichem Aufstieg werde sich darum – so die geläufige Antwort – die Frage der Gerechtigkeit auf Dauer von selber lösen. Diese Ankoppelung von Gerechtigkeit an wirtschaftlichem Wachstum war nach dem Zweiten Weltkrieg zum konzeptuellen Eckstein des Entwicklungszeitalters geworden. Seit jedoch die Endlichkeit der Biosphäre zutage tritt, also seit wenigen Jahrzehnten, steht dieser Eckstein auf schwankendem Boden. In einem begrenzten Umweltraum kann konventionelles Wachstum keine Gerechtigkeit mehr schaffen – es sei denn um den Preis einer zerrütteten Biosphäre (Sachs & Santarius 2005, 41).

Was bedeutet es angesichts des Klimawandels, dass Christen das Salz der Erde und das Licht der Welt sein sollten?

Es steht außer Zweifel, dass das Überleben der Menschheit einen nachhaltigen Lebensstil verlangt. So wichtig das Thema des einfachen Lebensstils ist, so ist doch klar, dass mit Genügsamkeit allein das Klima nicht zu retten ist. Unternehmen, Institutionen und Individuen müssen eine nachhaltige Existenz anstreben. Die Evangelikalen sollten daran arbeiten, dass dies eine ihrer Kernkompetenzen im 21. Jahrhundert wird. Dazu müssten sie eine biblisch fundierte Theologie der Welt entwickeln, welche eine Theologie der Ökologie einschließt. Diese Theologie der Ökologie hätte eine dreifache Aufgabe:

Erstens müsste sie biblisch fundiert sein und sich nicht dem theologischen Liberalismus anbiedern. Eine Theologie der Ökologie darf nicht auf Kosten der Evangelisation oder der Jüngerschaft gehen. Es kann nicht darum gehen, eine Einnivellierung des biblischen Evangeliums mit liberalen Theologien zu erreichen. Es muss vielmehr um die Ganzheitlichkeit der Guten Nachricht gehen, die eben nicht nur die Seele des Menschen und sein ewiges Heil betrifft, sondern auch den natürlichen Lebensraum des Menschen als von Gott geliebte Welt. Die Theologie der Ökologie müsste bei der Schöpfung in Gen 1 ansetzen und nicht erst beim Sündenfall in Gen 3 (Gnanakan 1999, 40–41).

Zweitens müsste die zu entwickelnde Theologie der Ökologie in den Sendungsauftrag der Kirche integriert werden. Es müsste klar werden, dass es beim Umweltbewusstsein nicht um ein Lieblingsthema einiger grün angehauchter Nachfolger von Jesus geht, sondern dass die Umwelt die Kirche als Ganzes angeht. Auf diese Weise würde die Kirche ernst damit machen, dass sie in dieser Welt existiert, dass sie mit dieser Welt auf Gedeih und Verderb verbunden ist und dass Gott sein Heil in dieser Welt verwirklichen will. Ökologisches Bewusstsein müsste konkret in das evangelikale Missionsverständnis eingebunden werden und den richtigen Platz zugewiesen bekommen.

Drittens müsste eine evangelikale Theologie der Ökologie konkrete Handlungsanweisungen für einen nachhaltigen Lebensstil enthalten. Das würde bedeuten, dass der nachhaltige Lebensstil ein Thema der Jüngerschaft und der Heiligung wird. Es würde um nichts weniger als eine weltliche Heiligkeit gehen. Die Kirche könnte eine Senfkornrevolution in Gang setzen, wenn es ihr gelänge, mit ihren Mitgliedern einen nachhaltigen, den Frieden fördernden und sozial gerechten Lebensstil zu entwickeln. Das eine wird in Zukunft ohne das andere nicht zu haben sein.

Evangelikale auf dem Weg zu einem neuenmissionarischen Paradigma

Zweifellos: Die Evangelikalen befinden sich auf dem Weg zu einem neuen missionarischen Paradigma. Doch was ist unter einem Paradigma zu verstehen und wie findet ein Paradigmenwechsel statt?

Ein Paradigma ist nach der Definition des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn eine Gesamtkonstellation von Überzeugungen, Werten und Verfahrensweisen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft geteilt werden (Küng 1999, 145). Kuhn schlägt vor, dass die wissenschaftliche Erkenntnis sich nicht kumulativ verändert, also nicht dadurch zu neuen Erkenntnissen zur Lösung eines Problems gelangt, indem sie immer auf alten Erkenntnissen aufbaut, sondern dadurch, dass sich neue Erkenntnisse durch Revolutionen Bahn brechen. So bewerten etwa einige wenige Wissenschafter ein Problem oder eine Fragestellung qualitativ anders als dies gemeinhin der Fall ist. Sie suchen nach einer neuen Lösung, nach neuen Denk- und Verfahrensweisen und geben so den Anstoß zu einem neuen Paradigma (Bosch 1991, 183–185).

Der katholische Theologe Hans Küng wendet in seinem Buch Das Christentum Kuhns Paradigmentheorie auf die Kirchengeschichte an und zeigt auf, wie sich in einem langen Prozess verschiedene kirchliche Paradigmen entwickelten. Er unterscheidet 6 Paradigmen:

1. Das urchristlich-apokalyptische Paradigma des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, welches die Zeit des Neuen Testamentes und die nachapostolische Periode umfasst.

2. Das altkirchlich-hellenistische Paradigma der frühen Kirche, das sich bis in die frühmittelalterliche Zeit erstreckte und durch den Frühkatholizismus und die Kirchenväter geprägt war.

3. Das mittelalterlich-römisch-katholische Paradigma, das bis zum Anbruch der Reformation galt und durch das Papsttum, die Machtentfaltung der katholischen Kirche und die scholastische Theologie dominiert war.

4. Das reformatorisch-protestantische Paradigma, das mit der Reformation einsetzte und sich auf die unbedingte Autorität der Bibel als Wort Gottes berief.

5. Das aufgeklärt-moderne Paradigma, welches mit der Aufklärung einsetzte, durch Vernunftdenken und Fortschrittsglaube charakterisiert war und die liberale Theologie hervorbrachte.

6. Das zeitgenössisch-ökumenische Paradigma, dessen Beginn auf die Mitte des 20. Jahrhunderts anzusetzen ist.

Küngs Modell ist aus mehreren Gründen hilfreich: Es ermöglicht die Darstellung einer geschichtlichen und theologischen Entwicklung, ohne bereits Urteile über die Richtigkeit dieser Entwicklung zu fällen. Die unvoreingenommene Beschäftigung mit der Kirche wird dadurch erleichtert. Es ermöglicht, die grundlegenden Konstanten und die entscheidenden Variablen der unterschiedlichen Paradigmen herauszuarbeiten. Und es ermöglicht die Wahrnehmung des kontextuellen Charakters eines bestimmten Paradigmas, indem die theologischen Entwicklungen in ihrem geschichtlichen Kontext erfasst werden (Küng 1999, 90).

Ein Paradigma ist kirchengeschichtlich gesehen eine umfassende theologische Überzeugung, welche eine bestimmte Weltauffassung als Grundlage und zur Folge hat. Küng (1994, 90) spricht auch von einer „epochalen Gesamtkonstellation“, welche ein Paradigma ausmacht. Zweifellos existieren verschiedene Mikroparadigmen zur selben Zeit. Sie können sich voneinander unterscheiden oder zusammen zu einem Makroparadigma beitragen (Küng bezeichnet die von ihm unterschiedenen Paradigmen als Makroparadigmen).

Beleuchtet man die evangelikale Theologie durch Küngs Brille, kann gesagt werden: Der Evangelikalismus bildet ein selbstständiges Mikroparadigma, das Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den von Küng identifizierten Paradigmen aufweist. Die evangelikale Bewegung ist stark vom reformatorischen Paradigma geprägt. Der Evangelikalismus fußt auf der reformatorischen Vorrangstellung der Heiligen Schrift. Das Verhältnis zum Paradigma der Aufklärung ist distanzierter. Der Evangelikalismus unterscheidet sich insofern vom Vernunftdenken, als er sich erfolgreich gegen die liberalen Auswüchse einer aufgeklärten Theologie stemmte. Übernommen wurde der Fortschrittsglaube, der sich im 19. Jahrhundert in der Überzeugung niederschlug, das Evangelium habe einen weltweiten Siegeszug angetreten. Diese Fortschrittsgläubigkeit wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine pessimistische Eschatologie gebrochen und durch die beiden Weltkriege nachhaltig erschüttert. Wesentliche Elemente des reformatorisch-protestantischen und des aufgeklärt-modernen Paradigmas sind vom Evangelikalismus also aufgenommen worden und werden ihn weiterhin prägen. Parallel dazu deuten einige grundlegende Veränderungen, in denen sich der Evangelikalismus gegenwärtig befindet, den Eintritt in ein neues Paradigma an. Die These dieses Buch ist: Die evangelikale Missionstheologie befindet sich gegenwärtig im Übergang vom eurozentrisch-kolonialen Paradigma des Aufklärungszeitalters zum missional-ganzheitlichen Paradigma der Postmoderne. Ich werde den verbleibenden Platz in diesem Kapitel darauf verwenden das Charakteristische an diesem postulierten Umbruch zu skizzieren.

Europa und der Rest der Welt

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Christentum durch die Augen Europas definiert. Europa war das Christentum und das Christentum war Europa. Die aufgeklärte liberale Theologie Europas – und die evangelikale Theologie mit ihr – nahmen sich als neutrale Größe wahr, welche den christlichen Glauben für die ganze Welt definierte. Die Mission segelte im Windschatten der Unterwerfung der Völker und profitierte vom kolonialen Weltgefüge. Die Theologie in Europa vermochte sich eines Gefühls der Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen nicht zu erwehren. Die evangelikale Theologie kämpfte zwar erfolgreich gegen die Auflösung traditioneller Glaubensinhalte, war von der Epoche der Aufklärung aber insofern angetan, als sie den Fortschrittsgedanken und die Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Kultur übernahm. Mission zeigte sich über weite Strecken auch als Kulturimperialismus.

Dieses eurozentrisch-koloniale Paradigma hatte seine ungebrochene Gültigkeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit der Entkolonialisierung bekam dieses feste Gefüge Risse. In den 1960er- und 70er-Jahren zeigte sich auf Kongressebene, dass die Stimmen aus dem Süden an Gewicht zunahmen. Historisch fassbar wird das durch den Kongress für Weltevangelisation in Lausanne, 1974. Waren die bis zu jenem Zeitpunkt stattfindenden Kongresse der Evangelikalen fast vollständig durch Vertreter aus Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika dominiert gewesen, nahmen in Lausanne die Vertreter aus der Zwei-Drittel-Welt erstmals als gleichberechtigte Partner teil. Die weltweite evangelikale Bewegung war in Lausanne repräsentativ vertreten. Von den 2500 Teilnehmern aus 150 Nationen stammte je die Hälfte aus dem Westen und aus der Zwei-Drittel-Welt (Hardmeier 2008, 25–26). Den Stimmen aus dem Süden wurde Gehör geschenkt und das führte dazu, dass die soziale Verantwortung und die politische Betätigung gleichermaßen wie die Evangelisation zur Pflicht der Christen gerechnet wurden. In der am Kongress verabschiedeten Lausanner Verpflichtung heißt es in Artikel 5: