Generation Angst - Jonathan Haidt - E-Book

Generation Angst E-Book

Jonathan Haidt

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Beschreibung

Drei technische Megatrends bestimmten die Nullerjahre: das iPhone, hyperviralisierte Social-Media-Plattformen und die Selfie-Kultur. Das Ergebnis: Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen verwandte mehrere Stunden am Tag darauf, um durch die Beiträge von Influencer:innen und Jugendlichen zu scrollen, statt mit anderen Menschen zu spielen, zu sprechen oder Blickkontakt aufzunehmen. Die Mitglieder der Generation Z wurden damit zu Testpersonen für das Aufwachsen in einer durch die Sozialen Medien radikal umgestalteten Umgebung. Was sind die Folgen dieses Experiments, und wie können wir ihnen begegnen? Diesen Fragen widmet sich Jonathan Haidt in «Generation Angst». Sein Buch richtet sich an alle, die verstehen wollen, wie die schnellste und allumfassendste Neuverdrahtung menschlicher Beziehungen es uns allen erschwert, klar zu denken, uns zu konzentrieren, uns um andere zu kümmern und enge Bindungen einzugehen. Es ist auch ein Buch darüber, wie wir ein menschliches Leben für unsere Kinder und für die Menschheit zurückgewinnen können.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jonathan Haidt

Generation Angst

Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen

 

 

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Jorunn Wissmann

 

Über dieses Buch

Drei technische Megatrends bestimmten die Nullerjahre: das iPhone, hyperviralisierte Social-Media-Plattformen und die Selfie-Kultur. Das Ergebnis: Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen verwandte mehrere Stunden am Tag darauf, um durch die Beiträge von Influencer:innen und Jugendlichen zu scrollen, statt mit anderen Menschen zu spielen, zu sprechen oder Blickkontakt aufzunehmen. Die Mitglieder der Generation Z wurden damit zu Testpersonen für das Aufwachsen in einer durch die sozialen Medien radikal umgestalteten Umgebung. Was sind die Folgen dieses Experiments, und wie können wir ihnen begegnen? Diesen Fragen widmet sich Jonathan Haidt in «Generation Angst». Sein Buch richtet sich an alle, die verstehen wollen, wie die schnellste und umfassendste Neuverdrahtung menschlicher Beziehungen es uns allen erschwert, klar zu denken, uns zu konzentrieren, uns um andere zu kümmern und enge Bindungen einzugehen. Es ist auch ein Buch darüber, wie wir ein menschliches Leben für unsere Kinder und für die Menschheit zurückgewinnen können.

Vita

Jonathan Haidt ist Professor für Sozialpsychologie an der New York University. Er erforscht die psychischen Grundlagen der Ethik und das Erscheinungsbild von Ethik in verschiedenen Kulturen. Er veröffentlichte mehrere erfolgreiche Bücher, darunter den New-York-Times-Bestseller «The Righteous Mind», erhielt bereits mehrere Auszeichnungen für seine Lehrtätigkeit und beweist auch in diesem Buch seine Kunst, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich und mitreißend zu vermitteln.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «The Anxious Generation» bei Penguin Press, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Anxious Generation» Copyright © 2024 by Jonathan Haidt

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Penguin Random House LLC, US

Coverabbildung David Cicirelli

ISBN 978-3-644-04691-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung Aufwachsen auf dem Mars

Teil I Eine Flutwelle

Kapitel 1 Anstieg des Leidens

Die Welle rollt an

Das Wesen der Welle

Was ist Angst?

Stimmt das alles wirklich?

Smartphones und die Schöpfung der Generation Z

Sind sie nicht zu Recht ängstlich und depressiv?

Die englischsprachige Welt

Die übrige Welt

Zusammenfassung

Teil II Die Hintergründe: Der Niedergang der spielbasierten Kindheit

Kapitel 2 Was Kinder in der Kindheit brauchen

Langsames Heranwachsen

Freies Spiel

Aufeinander eingehen

Soziales Lernen

Erfahrungssuchende Gehirne und sensible Phasen

Zusammenfassung

Kapitel 3 Entdeckungsmodus und die Notwendigkeit riskanter Spiele

Entdeckungsmodus versus Verteidigungsmodus

Studierende in der Defensive

Kinder sind antifragil

Antifragile Kinder brauchen riskante Spiele, um im Entdeckungsmodus zu bleiben

Der Anfang vom Ende der spielbasierten Kindheit

Furchtsame Erziehung im englischsprachigen Raum

Der Kult um die Sicherheit

Antifragilität und das Bindungssystem

Zusammenfassung

Kapitel 4 Pubertät und der blockierte Übergang ins Erwachsensein

Pubertät, Plastizität und Vulnerabilität

Erfahrungsblocker: Sicherheitskult und Smartphones

Übergangsriten

Warum blockieren wir den Übergang zum Erwachsensein?

Eine Leiter von der Kindheit bis zum Erwachsensein

Zusammenfassung

Teil III Die Große Neuverdrahtung: Der Aufstieg der smartphonebasierten Kindheit

Kapitel 5 Die vier Grundübel: Soziale Deprivation, Schlafmangel, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Abhängigkeit

Der Aufstieg der smartphonebasierten Kindheit

Soziale Medien und ihre Verwandlung

Die Opportunitätskosten einer smartphonebasierten Kindheit

Übel Nr. 1: Soziale Deprivation

Übel Nr. 2: Schlafmangel

Übel Nr. 3: Fragmentierung der Aufmerksamkeit

Übel Nr. 4: Abhängigkeit

Vom Nutzen sozialer Medien für Heranwachsende

Zusammenfassung

Kapitel 6 Warum soziale Medien Mädchen mehr schaden als Jungen

Soziale Medien schaden Mädchen: die Beweise

Ursache oder Korrelation?

Beeinflussen soziale Medien Gruppen genauso wie Individuen?

Mädchen nutzen soziale Medien stärker als Jungen

Agency und Communion

Vier Gründe, warum Mädchen besonders verletzlich sind

Quantität über Qualität

Zusammenfassung

Kapitel 7 Und was geschieht mit den Jungs?

Der lange Abstieg der Männer

Jungen, die den Absprung nicht schaffen

Kindheit ohne reale Risiken

Die virtuelle Welt begrüßt die Jungen

Die virtuelle Welt verschlingt ihre Nutzer

Pornografie

Videospiele

Immer am Bildschirm, nicht in der realen Welt

Technologie, Freiheit und Bedeutungslosigkeit

Zusammenfassung

Kapitel 8 Gewinn und Verlust an Spiritualität

Spirituelle Praktiken

Das Loch, in das nur Gott hineinpasst

Zusammenfassung

Teil IV Gemeinsam für eine gesündere Kindheit

Kapitel 9 Vorbereitungen für kollektives Handeln

Probleme kollektiven Handelns

Einige Anmerkungen

Kapitel 10 Was Regierungen und Tech-Unternehmen tun können

Hinab in die Tiefen des Hirnstamms

Was Regierungen und Tech-Unternehmen tun können, um den Wettlauf in die Tiefen des Hirnstamms zu beenden

Wie Regierungen Anreize für mehr und bessere Erfahrungen in der realen Welt geben können

Zusammenfassung

Kapitel 11 Was Schulen tun können

Smartphonefreie Schulen

Mehr Spiel

Das Let-Grow-Projekt

Bessere Pausen und Schulhöfe

Die Jungen wieder einbinden

Das Bildungsexperiment, das wir am dringendsten brauchen

Zusammenfassung

Kapitel 12 Was Eltern tun können

Für Eltern mit Kindern von null bis fünf Jahren

Für Eltern mit Kindern von sechs bis dreizehn Jahren

Für Eltern mit Teenagern von dreizehn bis achtzehn Jahren

Zusammenfassung

Schluss Lasst uns die Kinder zurück auf die Erde bringen

Den Mund aufmachen

Verbünden Sie sich

Um mehr zu erfahren

Dank

Literatur

Für die Lehrkräfte und Schulleitungen der P. S. 3, der LAB Middle School, der Baruch Middle School und der Brooklyn Technical High School, die ihr Leben der Erziehung von Kindern widmen, einschließlich der meinen.

EinleitungAufwachsen auf dem Mars

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Als Ihr erstes Kind, sagen wir ein Mädchen, zehn Jahre alt wird, wählt ein visionärer Milliardär, dem Sie niemals begegnet sind, es aus, sich den ersten Menschen anzuschließen, die dauerhaft auf dem Mars siedeln werden. Die schulischen Leistungen Ihrer Tochter – und eine Genomanalyse, zu der Sie Ihrer Erinnerung nach keine Einwilligung gegeben haben – sichern ihr einen Platz. Ohne Ihr Wissen hat sie sich selbst für die Mission angemeldet, weil sie das Weltall liebt und sich überdies all ihre Freunde angemeldet haben. Ihre Tochter bittet Sie, sie gehen zu lassen.

Bevor Sie Nein sagen, willigen Sie ein, mehr über das Projekt zu erfahren. Der Grund dafür, dass die Planer Kinder rekrutieren, ist, so erfahren Sie, dass Kinder sich an die ungewöhnlichen Bedingungen auf dem Mars, vor allem an die geringe Schwerkraft, besser anpassen werden als Erwachsene. Wenn Kinder auf dem Mars in die Pubertät kommen und den damit einhergehenden Wachstumsschub durchmachen, wird ihr Körper – anders als derjenige von Siedlern, die erst im Erwachsenenalter dorthin gehen – dauerhaft auf diesen neuen Lebensraum zugeschnitten sein. Zumindest ist das die Theorie.

Ob die an den Mars angepassten Kinder wieder auf die Erde zurückkehren können, ist ungewiss. Aber das ist nicht das Einzige, was Ihnen Angst macht. Zunächst ist da die Strahlung. Die irdische Fauna und Flora hat sich unter dem Schutzschirm der Magnetosphäre entwickelt, die einen Großteil der Solarwinde, der kosmischen Strahlung und anderer schädlicher Teilchenströme, die unseren Planeten unablässig bombardieren, blockiert oder ablenkt. Der Mars besitzt keinen solchen Schutzschirm, daher wird ein weitaus größerer Teil an Ionen durch die DNA in jeder Zelle Ihrer Tochter schießen. Zwar haben die Planer des Projekts auf der Basis von Studien an erwachsenen Astronauten, die nach einem Jahr Aufenthalt im Weltraum ein leicht erhöhtes Krebsrisiko haben, für die Marssiedlung Schutzschirme gebaut.[1] Das Risiko für Kinder ist jedoch höher, denn ihre Zellen entwickeln und diversifizieren sich rascher; daher sind Zellschäden häufiger. Haben die Planer das berücksichtigt? Haben sie überhaupt wissenschaftliche Studien zur Sicherheit der Kinder durchgeführt? Soweit Sie wissen, ist das nicht der Fall.

Und dann ist da die Schwerkraft. Die Evolution hat den Aufbau eines jeden Geschöpfs über Jahrmillionen optimal an die Schwerkraft auf unserem Planeten angepasst. Von Geburt an entwickeln sich Knochen, Gelenke, Muskeln und Kreislaufsystem eines jeden Lebewesens in Reaktion auf den unveränderlichen, in eine Richtung wirkenden Zug der Gravitation. Ohne diese ständige Zugwirkung verändert sich unser Körper grundlegend. Die Muskulatur von erwachsenen Astronauten, die Monate in der Schwerelosigkeit des Weltalls verbringen, verliert an Kraft, und die Knochendichte nimmt ab. Ihre Körperflüssigkeiten sammeln sich an Stellen, wo sie es nicht sollten, beispielsweise im Hirnschädel, was zu Druck auf den Augäpfeln führt und deren Form verändert.[2] Auch auf dem Mars gibt es eine Schwerkraft, doch sie beträgt nur rund 38 Prozent der Anziehungskraft, der ein Kind auf der Erde ausgesetzt ist. Kinder, die unter Einfluss der geringen Marsgravitation aufwachsen würden, hätten ein hohes Risiko, Fehlbildungen an Skelett, Herz, Augen und Gehirn zu entwickeln. Haben die Planer mitbedacht, dass Kinder hier besonders verletzlich sind? Soweit Sie wissen, nicht.

Würden Sie Ihre Tochter also gehen lassen?

Natürlich nicht. Kinder zum Mars zu schicken, die vielleicht niemals zur Erde zurückkehren können – rasch begreifen Sie, dass dies ein völlig verrückter Plan ist. Warum sollten Eltern so etwas erlauben? Das Unternehmen, das hinter dem Projekt steht, unternimmt alle Anstrengungen, seine Besitzansprüche auf dem Mars durchzusetzen, bevor ihm die Konkurrenz zuvorkommt. Die Führungskräfte wissen offenbar nichts über die Entwicklung von Kindern und kümmern sich keinen Deut um ihre Sicherheit. Schlimmer noch: Das Unternehmen hat keinen Beleg für die Einwilligung der Eltern verlangt. Die Kinder müssen nur ein Häkchen in der Checkbox machen, wo von der Erlaubnis der Eltern die Rede ist, schon können sie zum Mars abzischen.

Kein Unternehmen könnte uns jemals unsere Kinder wegnehmen und sie ohne unsere Erlaubnis in Gefahr bringen, ohne massive rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Das ist doch so, oder?

***

Um die Jahrtausendwende schufen Technologie-Unternehmen, die ihren Sitz an der Westküste der Vereinigten Staaten hatten, eine Reihe weltverändernder Produkte, die sich das rasch wachsende Internet zunutze machten. Damals herrschte ein weitverbreiteter Technikoptimismus; diese Produkte machten das Leben leichter, brachten Spaß und höhere Rentabilität. Einige von ihnen halfen Leuten, sich zu vernetzen und miteinander zu kommunizieren; daher nahm man an, sie würden ein Segen für die wachsende Zahl im Entstehen begriffener Demokratien sein. Diese Entwicklung, die kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einsetzte, erschien wie der Anbruch eines neuen Zeitalters. Die Gründer dieser Unternehmen wurden als Helden, Genies und Wohltäter der Menschheit gepriesen, die uns wie weiland Prometheus Gaben der Götter brachten.

Aber die Tech-Unternehmen verwandelten nicht nur die Welt der Erwachsenen, sondern bald auch das Leben der Kinder. Seit den 1950er-Jahren hatten Kinder und Jugendliche viel ferngesehen, doch die neuen Technologien ließen sich viel besser transportieren, waren viel personalisierter und viel fesselnder als alles, was es zuvor gegeben hatte. Eltern wurde das schnell bewusst, und so auch mir, als 2008 mein damals zweijähriger Sohn den Touchscreen meines ersten iPhones meisterte. Viele waren erleichtert, als sie herausfanden, dass ein Smartphone oder ein Tablet ein Kind stundenlang beschäftigen und ruhig halten konnte. Aber war das sicher? Niemand wusste es, doch da es alle machten, nahm man an, es sei in Ordnung.

Die Unternehmen hatten jedoch kaum oder keine Forschung dazu betrieben, wie sich ihre Produkte auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirkten. Ebenso wenig hatten sie Daten mit Forschern ausgetauscht, die diese gesundheitlichen Auswirkungen untersuchten. Angesichts zunehmender Belege dafür, dass ihre Produkte jungen Menschen schadeten, flüchteten sie sich in Leugnung, Verschleierung und Pressekampagnen.[3] Unternehmen, denen es darum ging, das «Engagement», die Interaktion mit dem Produkt, mithilfe psychologischer Tricks zu maximieren, gingen am skrupellosesten vor. Sie angelten sich Kinder in vulnerablen Entwicklungsstadien, in denen sich ihr Gehirn in Reaktion auf einlaufende Reize rasch neu verdrahtet. Dazu zählten Social-Media-Unternehmen, die besonders Mädchen großen Schaden zufügten, wie auch Videospielfirmen und pornografische Seiten, die ihre Krallen am tiefsten in die Jungen schlugen.[4] Indem diese Unternehmen ein Feuerwerk suchterzeugender Inhalte zündeten, die in Augen und Ohren der Kids eindrangen, und indem sie körperliches Spielen und eine Sozialisierung durch persönlichen Kontakt in den Hintergrund drängten, haben sie die Kindheit neu verdrahtet und die menschliche Entwicklung in einem fast unvorstellbaren Ausmaß verändert. Die intensivste Phase dieser Neuverdrahtung waren die Jahre zwischen 2010 und 2015, auch wenn die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, mit dem Aufstieg der ängstlichen und überbehütenden Erziehung bereits in den 1980er-Jahren begann und bis heute anhält.

Welche rechtlichen Grenzen haben wir diesen Tech-Unternehmen bisher gesetzt? In den Vereinigten Staaten, die letztlich die Normen für die meisten anderen Staaten setzen, ist die wichtigste Beschränkung der 1998 in Kraft getretene Children’s Online Privacy Protection Act (COPPA, «Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Kindern im Internet»). Dieses Gesetz legt fest, dass Kinder unter dreizehn Jahren die Einwilligung der Eltern benötigen, bevor sie einen Nutzungsvertrag mit einem Unternehmen abschließen und diesem beim Erstellen ihres Accounts Daten übermitteln und bestimmte Rechte einräumen können. Die effektive «Internet-Volljährigkeit» liegt damit bei dreizehn Jahren, und das aus Gründen, die wenig mit der Sicherheit von Kindern oder ihrer psychischen Gesundheit zu tun haben.[5] Das Gesetz verlangt von den Unternehmen jedoch nicht, dass sie das Alter ihrer Nutzer überprüfen; solange ein Kind eine Checkbox anklickt und versichert, es sei alt genug (oder das passende falsche Geburtsdatum einträgt), kann es fast überall ins Internet gelangen, ohne dass die Eltern es wissen oder einverstanden sind. Tatsächlich haben 40 Prozent der amerikanischen Kinder unter dreizehn Jahren Instagram-Accounts erstellt,[6] doch seit 1998 sind die Bundesgesetze nicht angepasst worden. (In Großbritannien sind hingegen einige erste Schritte unternommen worden, ebenso in einigen US-Bundesstaaten.)[7]

Einige dieser Unternehmen verhalten sich wie die Tabak- und die E-Zigaretten-Industrie, die ihre Produkte so entworfen haben, dass sie höchst suchterzeugend sind, und dann Gesetze verhinderten, die den Verkauf an Minderjährige begrenzten. Wir können sie auch mit den Ölfirmen vergleichen, die gegen das Verbot von verbleitem Benzin kämpften. Mitte des 20. Jahrhunderts begannen sich Beweise dafür zu häufen, dass die vielen Hunderttausend Tonnen Blei, die allein von amerikanischen Autofahrern jedes Jahr in die Atmosphäre geblasen wurden, die Gehirnentwicklung von zig Millionen Kindern störten, ihre kognitive Entwicklung beeinträchtigten und vermehrt zu antisozialem Verhalten führten. Dennoch fuhren die Ölfirmen fort, verbleites Benzin zu produzieren, auf den Markt zu bringen und zu verkaufen.[8]

Natürlich gibt es einen Riesenunterschied zwischen den großen Social-Media-Unternehmen von heute und beispielsweise den großen Tabakfirmen Mitte des 20. Jahrhunderts: Social-Media-Unternehmen stellen Produkte her, die nützlich für Erwachsene sind und ihnen helfen, Informationen, Jobs, Freunde, Liebe und Sex zu finden, die Einkaufen und politisches Organisieren erleichtern und das Leben auf tausenderlei Weise einfacher machen. Die meisten von uns würden gern in einer Welt ohne Tabak leben, aber soziale Medien sind weitaus wichtiger und hilfreicher, und viele Erwachsene möchten sicherlich nicht mehr auf sie verzichten. Zwar haben manche Erwachsene Suchtprobleme, was den Umgang mit sozialen Medien und andere Online-Aktivitäten angeht, aber wie bei Tabak, Alkohol oder Spielsucht überlassen wir es im Allgemeinen ihnen, in dieser Hinsicht ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Das gilt jedoch nicht für Minderjährige. Während die Belohnung suchenden Teile des Gehirns früher heranreifen, erreicht der frontale Cortex (Stirnlappen) – der wesentlich ist für Selbstkontrolle, Belohnungsaufschub und den Widerstand gegen Versuchungen – erst Mitte zwanzig seine volle Kapazität, und Kinder unter dreizehn Jahren befinden sich in einer besonders vulnerablen Phase ihrer Entwicklung. Wenn sie in die Pubertät kommen, fühlen sie sich oft sozial unsicher, lassen sich leicht vom Druck Gleichaltriger beeinflussen und zu Handlungen verleiten, die soziale Wertschätzung versprechen. Wir lassen Kinder unter dreizehn nicht rauchen, keinen Alkohol trinken und auch nicht ins Spielcasino gehen. Die gesundheitlichen Kosten, die bei der Nutzung sozialer Medien entstehen, sind für Heranwachsende im Vergleich zu Erwachsenen besonders hoch, der Nutzen ist hingegen minimal. Lassen wir unsere Kinder doch erst einmal auf der Erde aufwachsen, bevor wir sie zum Mars schicken.

***

Dieses Buch erzählt die Geschichte der Generation, die nach 1995 geboren wurde, allgemein als Generation Z (oder auch kurz Gen Z) bezeichnet, jener Generation, die auf die sogenannten Millennials (geboren 1981 bis 1995) folgte.[9] Einige Marketingfachleute behaupten, die Generation Z würde um das Geburtsjahr 2010 enden, und bieten uns die Bezeichnung «Generation Alpha» für die danach geborenen Kinder an, doch ich glaube nicht, dass die Generation Z – die ängstliche Generation – ein Enddatum hat, bis wir die Bedingungen für eine Kindheit verändern, die junge Menschen so ängstlich macht.[10]

Wie wir dank der bahnbrechenden Arbeiten der Sozialpsychologin Jean Twenge wissen, geht das, was die Generationen voneinander unterscheidet, über die im Kindesalter erlebten Ereignisse (wie Kriege und wirtschaftliche Krisen) hinaus und schließt Veränderungen in der Technologie ein, die in dieser Lebensphase benutzt wird (Radio, Fernsehen, PC, Internet, Smartphone).[11] Die ältesten Vertreter der Generation Z kamen um 2009 in die Pubertät, als mehrere Tech-Trends zusammenliefen: die rasche Verbreitung von schnellem Breitbandnetz in den 2000er-Jahren, die Einführung des iPhone 2007 und das neue Zeitalter hyperviralisierter sozialer Medien. Die letzte dieser Neuerungen war die Einführung der Like- oder Share-Buttons, die die soziale Dynamik der Online-Welt verwandelten. Vor 2009 bestand der Nutzen sozialer Medien vor allem darin, einfach Kontakt mit Freunden halten zu können, und mit weniger unmittelbaren und nachhallenden Feedback-Funktionen erzeugten sie viel weniger Toxizität als heute.[12]

Ein vierter Trend setzte nur ein paar Jahre später ein, und er traf Mädchen viel stärker als Jungen: die wachsende Bedeutung, die das Posten von Selfies bekam, nachdem Smartphones 2010 mit Frontkameras ausgerüstet wurden und Facebook 2012 Instagram erwarb, was dessen Popularität noch steigerte. Die Zahl der Jugendlichen, die sorgfältig bearbeitete Fotos und Videos über ihr Leben für Gleichaltrige und Fremde posteten, stieg rasant an, aber es ging nicht nur um das Betrachten, sondern – oder vor allem – um das Beurteilen.

Generation Z wurde die erste Generation in der Geschichte, die ihre Pubertät mit einem Portal in der Tasche durchlebte, das sie fort von den Menschen um sie herum in ein alternatives Universum rief, das aufregend, suchterzeugend, instabil und – wie ich zeigen werde – für Kinder und Heranwachsende ungeeignet war. Um in diesem Universum sozial erfolgreich zu sein, mussten die Jugendlichen einen Großteil ihrer bewussten Aufmerksamkeit – rund um die Uhr – dem widmen, was zu ihrer Online-Marke wurde. Es ging fortan darum, die Akzeptanz Gleichaltriger zu gewinnen, was der Sauerstoff der Adoleszenz ist, und Online-Shaming zu vermeiden, was der Albtraum der Adoleszenz ist. Teenager der Generation Z wurden dazu verführt, jeden Tag viele Stunden damit zu verbringen, durch die glücklich strahlenden Posts von Freunden, Bekannten und fernen Influencern zu scrollen. Sie schauten sich eine ständig wachsende Zahl von hochgeladenen Videos an und streamten Unterhaltung, die ihnen von Autoplay und Algorithmen angeboten wurde, gezielt so konstruiert, dass sie so lange wie möglich online blieben. Sie verwendeten weitaus weniger Zeit darauf, mit Freunden und Familienmitgliedern zu spielen, sich mit anderen zu unterhalten, sie zu berühren oder auch nur Augenkontakt mit ihnen aufzunehmen. Dadurch reduzierte sich ihr Anteil an körperlichen sozialen Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche menschliche Entwicklung unbedingt nötig sind.

Die Vertreter der Generation Z sind Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens, die weit entfernt ist von den Interaktionen kleiner Gruppen in der wirklichen Welt, in der sich Menschen im Lauf ihrer Evolution entwickelten. Man kann dies als die Große Neuverdrahtung der Kindheit bezeichnen. Es ist, als ob diese Kinder die erste Generation wären, die auf dem Mars aufwächst.

***

Bei der Großen Neuverdrahtung geht es nicht nur um Veränderungen in den Technologien, die den Tagesablauf und die Psyche von Kindern formen. Es gibt einen zweiten Handlungsstrang: das wohlmeinende, aber katastrophale Überbehüten von Kindern, durch das ihre Autonomie in der «wirklichen Welt» massiv eingeschränkt wird. Um zu gedeihen, brauchen Kinder viel freies Spiel. Das ist ein Imperativ, der sich quer über alle Säugerarten belegen lässt. Die kleinen Herausforderungen und Rückschläge, die während des Spiels auftreten, sind wie eine Impfung, die Kinder darauf vorbereitet, sich später viel größeren Herausforderungen zu stellen. Aus verschiedenen historischen und soziologischen Gründen begann das freie Spiel jedoch in den 1980er-Jahren zurückzugehen, ein Trend, der sich in den 1990er-Jahren noch beschleunigte. Erwachsene in den USA, Großbritannien und Kanada kamen zunehmend zu der Überzeugung, das Kind könne Kidnappern und Sexualstraftätern zum Opfer fallen, wenn sie es unbeaufsichtigt draußen herumlaufen ließen. Während unbeaufsichtigtes Spielen draußen immer stärker eingeschränkt wurde, wurden PCs immer häufiger und boten Kindern eine einladende Möglichkeit, ihre Freizeit zu Hause zu verbringen.[1]

Ich schlage vor, die späten 1980er-Jahre als Beginn des Übergangs von einer «spielbasierten Kindheit» zu einer «smartphonebasierten Kindheit» anzusehen, ein Übergang, der erst Mitte der 2010er-Jahre, als die meisten Jugendlichen ihr eigenes Smartphone besaßen, vollständig abgeschlossen war. Ich verwende «smartphonebasiert» im weitesten Sinne und meine damit alle mit dem Internet verbundenen persönlichen elektronischen Geräte, mit denen junge Leute ihre Zeit füllen, wie Laptops, Tablets, Videospielkonsolen und, am wichtigsten, Smartphones mit Millionen von Apps.

Wenn ich von einer spielbasierten oder smartphonebasierten «Kindheit» spreche, dann benutze ich auch diesen Begriff im weitesten Sinne. Er umfasst für mich Kinder ebenso wie Heranwachsende, also auch die Jugend. Für Entwicklungspsychologen kennzeichnet das Einsetzen der Pubertät den Übergang zwischen Kindheit und Adoleszenz, doch da die Pubertät bei Kindern zu unterschiedlichen Zeiten einsetzt und sich in den letzten Jahrzehnten allgemein nach vorn verschoben hat, ist es nicht mehr korrekt, die Adoleszenz mit den Teenagerjahren gleichzusetzen.[13] In diesem Buch definiere ich die Altersgruppen so:

Kinder: 0 bis 12 Jahre

Jugendliche: 10 bis 20 Jahre

Teenager: 13 bis 19 Jahre

Minderjährige: unter 18 Jahren. Ich verwende gelegentlich auch den Begriff «Kids», weil er weniger formell klingt als «Minderjährige».

Die Überlappung zwischen Kindern und Jugendlichen ist beabsichtigt: zehn- bis zwölfjährige Kinder stehen zwischen (englisch between) Kindheit und Adoleszenz und werden daher oft als Tweens bezeichnet. (Dieser Zeitraum wird häufig auch als frühe Adoleszenz bezeichnet.) Sie sind noch so verspielt wie jüngere Kinder, beginnen aber, die komplexe soziale und psychologische Struktur von Jugendlichen zu entwickeln.

Als der Übergang von der spielbasierten zur smartphonebasierten Kindheit weiter voranschritt, waren viele Kinder und Jugendliche rundum glücklich damit, drinnen zu bleiben und online zu spielen, doch dabei verloren sie den Zugang zu all den herausfordernden physischen und sozialen Erfahrungen, die alle jungen Säuger brauchen, um grundlegende Kompetenzen zu erwerben, angeborene Kindheitsängste zu überwinden und sich auf eine geringere Abhängigkeit von den Eltern einzustellen. Virtuelle Interaktionen mit Gleichaltrigen können diesen Erfahrungsverlust nicht völlig ausgleichen. Diejenigen, deren Freizeit und Sozialleben online ging, fanden sich überdies zunehmend in eigentlich Erwachsenen vorbehaltenen Räumen wieder, konsumierten Inhalte für Erwachsene und tauschten sich mit Erwachsenen in einer Weise aus, die für Minderjährige oft schädlich ist. Während Eltern also darauf bedacht waren, Risiko und Freiheit in der wirklichen Welt zu eliminieren, ließen sie ihren Kindern generell und oft, ohne sich dessen bewusst zu sein, volle Unabhängigkeit in der virtuellen Welt – zum Teil deshalb, weil die meisten Schwierigkeiten hatten zu verstehen, was da vor sich ging, womöglich gar nicht wussten, was sie einschränken und wie sie das anstellen sollten.

Meine zentrale These ist, dass diese beiden Trends – Überbehütung in der wirklichen Welt und Unterbehütung in der virtuellen Welt – die Hauptursachen dafür sind, dass nach 1995 geborene Kinder zur «ängstlichen Generation» wurden.

***

Ein paar Worte zur Terminologie. Wenn ich von der «wirklichen Welt» spreche, meine ich damit Beziehungen und soziale Interaktionen, die sich durch vier Eigenschaften kennzeichnen lassen, die seit Hunderttausenden von Jahren typisch sind:

Sie sind körperlich (embodied), das heißt, wir setzen unseren Körper zur Kommunikation ein, wir sind uns des Körpers anderer bewusst, und wir reagieren bewusst und unbewusst auf die Körper anderer.

Sie sind synchron, das heißt, sie geschehen gleichzeitig und enthalten subtile Hinweise für das richtige Timing und die Wechselseitigkeit.

Es geht dabei primär um eine Eins-zu-eins- oder eine Eins-zu-mehreren-Kommunikation, wobei zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils nur eine einzige Interaktion erfolgt.

Sie finden innerhalb von Gemeinschaften statt, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit nicht ohne Weiteres erwerben oder auch beenden können; daher sind die Betroffenen hochmotiviert, in Beziehungen zu investieren und Risse zu kitten, wenn solche auftreten.

Wenn ich hingegen von der «virtuellen Welt» spreche, meine ich damit Beziehungen und Interaktionen, die sich durch vier Eigenschaften kennzeichnen lassen, die erst seit ein paar Jahrzehnten typisch sind:

Sie sind entkörperlicht (disembodied), das heißt, dass kein Körper nötig ist, nur Sprache. Partner können Künstliche Intelligenzen (KIs) sein (und sind das häufig schon).

Sie sind höchst asynchron und erfolgen im Rahmen von textbasierten Posts und Kommentaren. (Ein Videoanruf ist etwas anderes, er ist synchron.)

Sie umfassen eine beträchtliche Anzahl von Eins-zu-mehreren-Kommunikationen und wenden sich potenziell an eine breite Öffentlichkeit. Zahlreiche Interaktionen können parallel ablaufen.

Sie finden in Gemeinschaften statt, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit ohne Schwierigkeiten erwerben oder beenden können, daher können Beteiligte andere blockieren oder die Gruppe einfach verlassen, wenn sie keine Lust mehr haben. Solche Gruppen sind meist kurzlebig und die entsprechenden Beziehungen oft austauschbar.

In der Praxis verschwimmen die Grenzen. Meine Familie ist sehr stark in der wirklichen Welt verwurzelt, auch wenn wir Facetime, SMS und E-Mails nutzen, um in Kontakt zu bleiben. Umgekehrt ähnelte der Austausch zwischen zwei Wissenschaftlern im 18. Jahrhundert, die einander nur aus ihrem Briefwechsel kannten, eher einer virtuellen Beziehung. Der entscheidende Faktor ist das persönliche Engagement, das nötig ist, damit die Beziehung funktioniert. Wenn Menschen in einer Gemeinschaft aufwachsen, der sie sich nicht so leicht entziehen können, tun sie, was unsere Vorfahren seit Hunderttausenden von Jahren getan haben: Sie lernen, wie man Beziehungen handhabt und wie man sich selbst und seine Gefühle kontrolliert, damit diese so kostbaren Beziehungen möglichst reibungslos weiterlaufen. Sicherlich gibt es viele Online-Communitys, die Wege gefunden haben, starke persönliche Bindungen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu schaffen, doch im Allgemeinen gilt: Wenn Kinder in multiplen, sich ständig wandelnden Netzwerken aufwachsen, in denen sie nicht ihren wirklichen Namen verwenden müssen und die sie jederzeit mit einem einfachen Tastendruck verlassen können, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Fertigkeiten erlernen.

***

Dieses Buch umfasst vier Teile: Teil I erläutert die Trends, die wir bei der psychischen Verfassung von Jugendlichen seit 2010 beobachten; in Teil II geht es um das Wesen der Kindheit und darum, wie wir sie verunstaltet haben; Teil III schildert die negativen Folgen, die aus der neuen, smartphonebasierten Kindheit resultieren; Teil IV zeigt auf, was wir nun tun müssen, um die angerichteten Schäden in Familie, Schule und Gesellschaft zu reparieren. Eine Veränderung ist möglich, wenn es uns gelingt zusammenzuarbeiten.

Teil I besteht aus einem einzigen Kapitel. Darin lege ich dar, wie sehr sich die psychische Gesundheit und das Wohlergehen von Teenagern im 21. Jahrhundert verschlechtert haben, und zeige, wie verheerend sich das rasche Umschalten auf eine smartphonebasierte Kindheit ausgewirkt hat. Diese Verschlechterung der psychischen Verfassung lässt sich an einer rapiden Zunahme von Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen erkennen, die Anfang der 2010er-Jahre einsetzte und Mädchen besonders stark betraf. Bei Jungen ist die Geschichte komplizierter. Die Zunahme fällt oft geringer aus (mit Ausnahme von Selbstmord), und sie beginnt manchmal etwas früher.

In Teil II geht es um die Hintergrundgeschichte. Die Krise der psychischen Gesundheit in den 2010er-Jahren wurzelt in der wachsenden elterlichen Ängstlichkeit und Überbehütung der 1990er-Jahre. Ich zeige, dass der Umgang mit Smartphones in Verbindung mit dieser Überbehütung wie eine «Erfahrungsblockade» wirkte, die es Kindern und Jugendlichen erschwerte, die sozialen Erfahrungen zu machen, die sie am nötigsten brauchten, von risikoreichen Spielen und kulturellem Lernen bis zu Übergangsriten und romantischen Beziehungen.

In Teil III stelle ich Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass eine smartphonebasierte Kindheit die kindliche Entwicklung in mehrfacher Hinsicht stört. Ich beschreibe vier grundlegende Übel: Schlafmangel, soziale Deprivation, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Suchtverhalten. Dann betrachte ich gesondert Mädchen.[2] Ich zeige, dass die Nutzung sozialer Medien nicht nur mit psychischen Erkrankungen korreliert ist, sondern sie verursacht, und lege empirische Befunde vor, die dies in vielfacher Hinsicht belegen. Ich zeige, wie die Große Neuverdrahtung zu der steigenden Rate von Jugendlichen beigetragen hat, die nicht «flügge» werden – die also den Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsensein und der damit einhergehenden Verantwortung nicht schaffen. Ich schließe Teil III mit Überlegungen, wie ein smartphonebasiertes Leben uns alle, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, verändert, indem es uns – anders kann ich es nicht ausdrücken – in spiritueller Hinsicht nach unten zieht. Und ich beschreibe sechs alte spirituelle Praktiken, die uns allen helfen können, heute besser zu leben.

In Teil IV lege ich dar, was wir heute tun können und tun müssen. Ich biete wissenschaftlich fundierten Rat an, der Tech-Unternehmen, Regierungen, Schulen und Eltern helfen soll, um aus einer Vielzahl von Problemen des kollektiven Handelns auszubrechen. Das sind Fallgruben, mit denen sich Sozialwissenschaftler schon lange beschäftigen und die dadurch gekennzeichnet sind, dass für ein Individuum, das allein handelt, hohe Kosten entstehen; wenn die Betroffenen sich jedoch absprechen und gemeinsam handeln, ist es einfacher, Maßnahmen zu ergreifen, die auf lange Sicht für alle von Vorteil sind.

Als Professor an der New York University, der Anfänger und fortgeschrittene Studierende unterrichtet und an vielen Highschools und Colleges spricht, habe ich festgestellt, dass die Generation Z große Stärken hat, die ihr helfen werden, positive Veränderungen herbeizuführen. Die erste Stärke besteht darin, dass die jungen Leute das Problem nicht leugnen. Sie wollen stärker und gesünder werden, und die meisten sind offen für neue Wege des Miteinanders. Ihre zweite Stärke ist, dass sie systemische Veränderungen bewirken wollen, um eine gerechtere und empathischere Welt zu schaffen, und sie sind geschickt darin, sich zu organisieren, um genau das zu tun (in der Tat auch mithilfe sozialer Medien). Seit etwa einem Jahr höre ich von immer mehr jungen Leuten, die sich intensiv mit der eigenen Ausbeutung durch die Tech-Industrie beschäftigen. Wenn sie sich organisieren, werden sie neue Lösungen jenseits derjenigen finden, die ich in diesem Buch vorschlage, und sie werden diese Lösungen auch durchsetzen.

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Ich bin Sozialpsychologe, kein Klinischer Psychologe oder Experte für Medienwissenschaften. Der Kollaps der psychischen Gesundheit von Jugendlichen ist ein dringendes und komplexes Problem, das wir nicht aus einer einzigen wissenschaftlichen Perspektive allein verstehen können. Ich beschäftige mich mit Moral, Emotion und Kultur. Dabei habe ich einige Instrumente und Blickwinkel kennengelernt, die ich bei der Untersuchung der Kindesentwicklung und der psychischen Gesundheit von Heranwachsenden einbringen werde.

Ich bin auf dem Gebiet der Positiven Psychologie seit ihren Anfängen in den späten 1990er-Jahren aktiv und beschäftige mich mit den Ursachen von Glück. Mein erstes Buch, The Happiness Hypothesis (Die Glückshypothese), untersucht zehn «große Wahrheiten», die antike Kulturen in Ost und West im Hinblick auf ein gelingendes Leben entdeckten.

Auf der Grundlage dieses Buches hielt ich als Psychologieprofessor an der University of Virginia (bis 2011) eine Lehrveranstaltung mit dem Titel Flourishing (englisch für «blühen», «gedeihen»); heute unterrichte ich Varianten davon an der Stern School of Business der New York University. Ich habe erlebt, wie Angstprobleme und Smartphonesucht zunahmen, als die Studenten von den Millennials mit ihren Klapphandys zur Generation Z mit ihren Smartphones wechselten. In offenen Diskussionen habe ich viel über ihre psychischen Probleme und ihr kompliziertes Verhältnis zur Technik erfahren.

Mein zweites Buch, The Righteous Mind, beschäftigte sich mit meiner eigenen Forschung über die psychologischen Grundlagen der Moral, die wir im Lauf unserer Evolution entwickelt haben. Mir ging es um die Frage, warum gute Menschen durch Politik und Religion entzweit werden, wobei meine besondere Aufmerksamkeit dem menschlichen Bedürfnis galt, in eine moralische Gemeinschaft eingebunden zu sein, die ihnen ein Gefühl von gemeinsamem Sinn und Zweck gibt. Soziale Netzwerke im Internet können Erwachsenen helfen, bestimmte Ziele zu erreichen, sie sind jedoch, wie ich erkannt habe, kein effizienter Ersatz für stabile Gemeinschaften in der wirklichen Welt, in denen Kinder seit Hunderttausenden von Jahren verwurzelt waren, geformt wurden und aufgewachsen sind.

Aber es war mein drittes Buch, das mich direkt zum Thema der psychischen Gesundheit von Heranwachsenden führte. Mein Freund Greg Lukianoff war einer der Ersten, denen auffiel, dass sich in den Hochschulen etwas sehr plötzlich verändert hatte: Studentinnen und Studenten fingen an, in genau dieselben verzerrten Denkmuster zu verfallen, die Greg nach einer schweren Depression 2007 im Rahmen einer Kognitiven Verhaltenstherapie zu erkennen und von sich zu weisen gelernt hatte. Greg ist Rechtsanwalt und Präsident der Foundation for Individual Rights and Expression, die seit Langem Studierenden hilft, ihre Rechte gegenüber einer zensorischen Universitätsverwaltung zu verteidigen. Im Jahr 2014 beobachtete er etwas Seltsames: Die Studierenden selbst begannen von den Universitäten zu verlangen, sie vor Büchern und Rednern zu schützen, die sie «verunsicherten». Greg war der Meinung, die Universitäten würden den Studierenden irgendwie beibringen, in kognitive Verzerrungen wie Schwarzmalerei, Schwarz-Weiß-Denken und emotionale Argumentation zu verfallen, und dies könne tatsächlich ursächlich dafür sein, dass sie depressiv und ängstlich reagierten. Im August 2015 stellten wir diese Idee in einem Aufsatz im Atlantic vor: «The Coddling of the American Mind» (etwa: «Das Verhätscheln des amerikanischen Geistes»).

Damit lagen wir nur teilweise richtig: Einige Universitätsveranstaltungen und neue akademische Trends[14] führten tatsächlich unbeabsichtigt zu kognitiven Verzerrungen. Bis 2017 war jedoch klar geworden, dass es in vielen Ländern zu einem Anstieg von Depressionen und Angststörungen kam, der Jugendliche aller Bildungsniveaus, sozialer Klassen und Ethnien betraf. Statistisch gesehen, unterschieden sich Menschen, die im Jahr 1996 oder später geboren waren, psychologisch von denjenigen, die nur ein paar Jahre früher zur Welt gekommen waren.

Wir entschlossen uns, unseren Atlantic-Artikel zu einem Buch mit demselben Titel auszubauen. Darin analysierten wir die Gründe für diese Krise der psychischen Gesundheit, wobei wir uns auf Jean Twenges Buch iGen (2017) stützten. Damals basierten allerdings fast alle Befunde auf Korrelationen. Bald nachdem Teenager Smartphones bekommen hatten, begannen sie vermehrt unter Depressionen zu leiden. Die intensivsten User litten am stärksten, während diejenigen, die mehr Zeit in realer Gemeinschaft verbrachten, beispielsweise beim Sport oder in religiösen Gemeinschaften, die gesundesten waren.[15] Da Korrelationen aber noch kein Beleg für Kausalität sind, rieten wir Eltern, auf der Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Befunde keine drastischen Maßnahmen zu ergreifen.

Mittlerweile aber hat sich die Datenlage – was experimentelle Befunde wie auch Korrelationen angeht – deutlich verbessert. Sie zeigt, dass soziale Medien Heranwachsenden Schäden zufügen, vor allem Mädchen in der Pubertät.[16] Bei der Recherche für dieses Buch habe ich auch festgestellt, dass die Ursachen für das Problem vielschichtiger sind, als ich zunächst angenommen hatte. Es geht nicht nur um Smartphones und soziale Medien, sondern um eine historische und beispiellose Transformation der menschlichen Kindheit.

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Wir haben mehr als ein Jahrhundert Erfahrung darin, die wirkliche Welt für Kinder sicher zu machen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Autos populär, und Zehntausende Kinder starben in ihnen, bis wir (in den 1960ern) Sicherheitsgurte und später (in den 1980ern) Kindersitze einführten.[17] Als ich Ende der 1970er-Jahre auf der Highschool war, rauchten viele meiner Mitschüler Zigaretten, die sie problemlos aus Automaten ziehen konnten. Schließlich verbannte Amerika diese Automaten, was für erwachsene Raucher lästig war, denn nun mussten sie ihre Zigaretten im Geschäft kaufen, wo ein Angestellter ihr Alter überprüfen konnte.[18]

Im Lauf vieler Jahrzehnte fanden wir Wege, Kinder zu schützen, während wir Erwachsenen weitgehend erlaubten zu tun, was sie wollten. Dann erschufen wir recht plötzlich eine virtuelle Welt, in der sich Erwachsene jedes spontane Bedürfnis erfüllen konnten, Kinder aber praktisch schutzlos blieben. Ist das ein guter Tausch, wenn sich doch die Hinweise häufen, dass eine smartphonebasierte Kindheit unseren Kindern psychisch schadet, sie sozial isoliert und höchst unglücklich macht? Oder werden wir irgendwann wie im 20. Jahrhundert erkennen, dass wir unsere Kinder manchmal vor Schäden schützen müssen, auch wenn das mit Unbequemlichkeiten für Erwachsene verbunden ist?

In Teil IV mache ich Vorschläge für eine Reform, die allesamt darauf abzielen, unsere beiden großen Fehler zu korrigieren: Kinder in der wirklichen Welt zu sehr zu behüten (wo sie aus direkter Erfahrung lernen müssen) und sie online zu wenig zu behüten (wo sie in der Pubertät besonders verletzlich sind). Sie basieren auf wissenschaftlichen Befunden, die ich in den Teilen I bis III vorstellen werde. Da die Befunde komplex und teilweise auch unter Forschenden umstritten sind, werde ich mich an manchen Stellen sicher irren, und ich werde mein Bestes tun, jedweden Irrtum durch Aktualisierung der Online-Ergänzung für dieses Buch[19] richtigzustellen. Dabei gibt es vier Reformen, die so wichtig sind und bei denen ich mir so sicher bin, dass ich sie fundamental nenne. Sie können eine Grundlage für eine gesündere Kindheit im digitalen Zeitalter liefern. Diese sind:

Kein Smartphone vor einem Alter von ca. vierzehn Jahren. Eltern sollten den Eintritt ihrer Kinder ins Rund-um-die-Uhr-Internet verzögern, indem sie ihnen nur einfache Geräte (Handys mit einer begrenzten Zahl von Apps und ohne Internetbrowser) in die Hand geben.

Keine sozialen Medien vor dem sechzehnten Lebensjahr. Lassen Sie Ihre Kinder durch die empfindlichste Phase ihrer Hirnentwicklung gehen, bevor sie Zugang zu einem Hexenkessel aus sozialem Wettbewerb und algorithmisch vorausgewählten Influencer-Inhalten bekommen.

Schulen ohne Smartphones. In allen Schulen, von der Grundschule bis zum Ende der weiterführenden Schule, sollten Schüler ihre Smartphones, Smartwatches und andere persönliche elektronische Geräte, die Texte senden oder empfangen können, während des Schultags in Schließfächern oder Ähnlichem verstauen. Nur so wird es ihnen möglich, sich auf ihre Mitschüler und Lehrer zu konzentrieren.

Weit mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit. So entwickeln Kinder auf natürliche Weise soziale Fähigkeiten, überwinden ihre Ängste und wachsen zu selbstbewussten jungen Erwachsenen heran.

Diese vier Reformen umzusetzen, ist nicht schwer – wenn viele von uns gleichzeitig am selben Strang ziehen. Sie kosten fast nichts. Sie funktionieren auch dann, wenn wir keine Hilfe vom Gesetzgeber erhalten. Wenn die meisten Eltern und Schulen in einer Gemeinde alle vier in Kraft setzten, dann würden sie meiner festen Überzeugung nach innerhalb von zwei Jahren erleben, wie sich die psychische Verfassung der Jugendlichen wesentlich verbessert. Angesichts der Tatsache, dass KI und räumliches Computing (wie Apples neue Vision-Pro-Brille) dabei sind, die virtuelle Welt noch weitaus immersiver und suchterzeugender zu gestalten, sollten wir lieber heute als morgen mit den Reformen beginnen.

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Beim Schreiben der Glückshypothese habe ich großen Respekt vor antiker Weisheit und den Erkenntnissen früherer Generationen entwickelt. Was würden die Weisen raten, um uns dabei zu unterstützen, unser smartphonebasiertes Leben zu meistern? Sie würden raten, die elektronischen Geräte beiseitezulegen, um wieder Kontrolle über unseren Geist zu gewinnen. So beklagte Epiktet im 1. Jahrhundert n.Chr. die menschliche Neigung, anderen die Kontrolle über unsere Gefühle zu überlassen:

Wenn jemand deinen Körper dem ersten Besten, der dir begegnet, ausliefern würde, dann wärest du entrüstet. Dass du aber dein Denken jedem Beliebigen auslieferst, sodass es beunruhigt und verstört wird, wenn er dich beleidigt – dessen schämst du dich nicht?[20]

Jeder, der seine «Erwähnungen» in den sozialen Medien checkt oder schon einmal von dem, was jemand über ihn gepostet hat, völlig umgehauen wurde, wird Epiktets Anliegen verstehen. Selbst diejenigen, die selten erwähnt oder kritisiert werden und einfach nur durch einen endlosen Feed scrollen, in dem es um das Treiben und die Bewertungen anderer Leute geht, werden Marc Aurels Rat (2. Jahrhundert n.Chr.) für sich selbst zu schätzen wissen:

Verschwende deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass du jemand damit ersprießlich sein kannst.

Du versäumst offenbar notwendigere Dinge, wenn dich nichts weiter beschäftigt, als was der und jener macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt.[21]

Bei Erwachsenen der Generation X und früherer Generationen hat es seit 2010 keinen bedeutenden Anstieg von klinischen Depressionen oder Angststörungen gegeben,[22] doch viele von uns verspüren aufgrund der neuen Technologien und ihrer ständigen Unterbrechungen und Ablenkungen ein immer stärkeres Gefühl der Erschöpfung. Da generative KI die Produktion von superrealistischen Fake-Fotos, -Videos und -Nachrichtenstorys erlaubt, könnte das Online-Leben noch viel verwirrender werden, als es jetzt schon ist.[23] Doch dazu muss es nicht kommen, denn wir können die Kontrolle über unseren Geist wiedergewinnen.

Dieses Buch ist nicht nur für Eltern, Lehrer und andere gedacht, die sich um Kinder kümmern und denen Kinder wichtig sind. Es richtet sich an alle, die verstehen wollen, wie diese schnellste Neuverdrahtung von Beziehungen und Bewusstsein in der menschlichen Geschichte es uns allen erschwert hat zu denken, uns zu konzentrieren, uns selbst so weit zu vergessen, dass wir uns um andere kümmern, und enge Bindungen aufzubauen.

Generation Angst ist ein Buch, in dem es darum geht, wie wir das menschliche Leben für menschliche Wesen aller Generationen zurückerobern können.

Teil IEine Flutwelle

Kapitel 1Anstieg des Leidens

Wenn ich mit den Eltern von Jugendlichen rede, kommt das Gespräch oft auf Smartphones, soziale Medien und Videospiele. Die Geschichten, die Eltern mir erzählen, weisen in der Regel einige Muster auf. Eines davon ist die Geschichte vom «ständigen Konflikt». Eltern versuchen, Regeln festzulegen und Grenzen zu ziehen und durchzusetzen, doch es gibt so viele elektronische Geräte, so viele Argumente dafür, dass die Regeln gelockert werden müssen, und so viele Möglichkeiten, die Regeln zu umgehen, dass das Familienleben mehr und mehr vom Streit um Technologien beherrscht wird. Familienrituale und grundlegende menschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten, kann sich anfühlen, als müsse man einer ständig steigenden Flut widerstehen, einer Flut, die Eltern wie auch Kinder verschlingt.

Bei den meisten Eltern, mit denen ich spreche, dreht sich die Geschichte nicht um eine diagnostizierte psychische Erkrankung. Vielmehr ist es die grundlegende Sorge, dass hier etwas Unnatürliches vor sich geht und ihre Kinder etwas – tatsächlich fast alles – verpassen, während sich ihre Online-Stunden häufen.

Doch manchmal haben die Geschichten eine noch düsterere Note. Die Eltern haben das Gefühl, dass sie ihr Kind verloren haben. Eine Mutter, mit der ich in Boston sprach, erzählte mir, wie sehr sie und ihr Mann sich bemüht hatten, ihre vierzehnjährige Tochter Emily[24] von Instagram fernzuhalten. Sie konnten klar erkennen, wie schädlich die Plattform für ihre Tochter war. Um Emilys Zugang einzuschränken, versuchten die Eltern mit verschiedenen Programmen, die Apps auf Emilys Smartphone zu kontrollieren und ihre Nutzung zu begrenzen. Das Familienleben artete daraufhin jedoch zu einem ständigen Kampf aus, und es gelang Emily immer wieder, die Restriktionen zu umgehen. Bei einem sehr verstörenden Vorfall verschaffte sich Emily Zugang zum Smartphone ihrer Mutter, setzte die Kontrollsoftware außer Betrieb und drohte sich umzubringen, sollten ihre Eltern sie wieder installieren. Ihre Mutter erzählte mir:

Es fühlt sich so an, als sei der einzige Weg, soziale Medien und Smartphones aus ihrem Leben zu verbannen, auf eine verlassene Insel zu ziehen. Sie verbrachte jeden Sommer sechs Wochen in einem Sommerlager, wo keine Smartphones erlaubt waren – überhaupt keine elektronischen Geräte. Jedes Mal, wenn wir sie vom Camp abholten, war sie ihr normales Selbst. Doch sobald sie wieder ihr Smartphone benutzte, verfiel sie in dieselbe Unruhe und gedrückte Stimmung. Letztes Jahr nahm ich ihr das Smartphone für zwei Monate weg und gab ihr ein Klapphandy, und sie war wieder ihr normales Selbst.

Wenn ich solche Geschichten über Jungen höre, geht es gewöhnlich weniger um soziale Medien als um Videospiele (manchmal auch um Pornografie), vor allem dann, wenn die betreffenden Jungen sich von Gelegenheitsspielern zu obsessiven Gamern entwickeln. Ein Zimmermann berichtete mir von seinem vierzehnjährigen Sohn James, der leicht autistisch war. Vor der COVID-19-Pandemie hatte James in der Schule und auch beim Judo gute Fortschritte gemacht. Aber als die Schulen geschlossen wurden – James war damals elf –, kauften ihm seine Eltern eine Playstation, um ihn zu Hause zu beschäftigen.

Zunächst verbesserte dies James’ Lebensqualität – er hatte viel Spaß an den Spielen und an den sozialen Kontakten, die sie ermöglichten. Als er jedoch anfing, immer längere Zeit Fortnite zu spielen, begann sich sein Verhalten zu verändern. «Da kamen all die Depressionen, die Wut und die Trägheit zutage. Da begann er, uns anzuschnauzen», erzählte mir der Vater. Um die plötzliche Verhaltensänderung zu korrigieren, nahmen er und seine Frau ihrem Sohn alle elektronischen Geräte weg. Daraufhin zeigte James Entzugserscheinungen, wie Reizbarkeit und Aggressivität, und weigerte sich, sein Zimmer zu verlassen. Zwar nahm die Intensität der Symptome nach ein paar Tagen ab, dennoch fühlten sich seine Eltern wie in der Falle. «Wir haben versucht, seine Konsolennutzung einzuschränken, aber er hat keine Freunde außer denjenigen, mit denen er online kommuniziert – wie stark können wir ihn davon abschneiden?»

Ganz egal, welchem Muster die Geschichte folgt, die sie erzählen, oder wie ernst sie ist – immer gleich ist die Ohnmacht der Eltern, die sich gefangen und machtlos fühlen. Die meisten Eltern wünschen ihren Kindern keine smartphonebasierte Kindheit, doch irgendwie hat sich die Welt auf eine solche Weise neu konfiguriert, dass jeder Vater, jede Mutter, die sich widersetzt, ihr Kind zu sozialer Isolation verdammt.

In diesem Kapitel werde ich Befunde vorlegen, die zeigen, dass sich im Leben junger Leute Anfang der 2010er-Jahre etwas Wichtiges ereignet hat, das ihre psychische Gesundheit äußerst negativ beeinflusste.

Die Welle rollt an

In den 2000er-Jahren gab es kaum Anzeichen dafür, dass die psychische Gesundheit von Jugendlichen bedroht war.[25] Dann, Anfang der 2010er-Jahre, änderte sich die Situation ganz plötzlich. Was psychische Erkrankungen angeht, so hat jeder Einzelfall mehr als eine Ursache; es gibt stets eine komplexe Hintergrundstory, bei der Gene, Kindheitserfahrungen und soziologische Faktoren eine Rolle spielen. Ich konzentriere mich auf die Frage, warum die Raten für psychische Erkrankungen zwischen 2010 und 2015 bei der Generation Z (und einigen späten Millennials) in so vielen Ländern anstiegen, während ältere Generationen viel weniger stark betroffen waren. Warum kam es international zu einem synchronen Anstieg von Angststörungen und Depressionen bei Jugendlichen?

Greg und ich beendeten unser Buch The Coddling of the American Mind Anfang 2018. Abbildung 1.1 basiert auf einer grafischen Darstellung in unserem Buch, die damals Daten bis 2016 berücksichtigte. Ich habe sie aktualisiert, um zu zeigen, was seitdem geschehen ist. In einer Erhebung, die alljährlich von der US-Regierung durchgeführt wird, stellt man Teenagern eine Reihe von Fragen, bei denen es hauptsächlich um ihren Drogenkonsum geht, aber am Rande auch um ihre psychische Gesundheit. So wird zum Beispiel gefragt, ob die Teens sich über längere Zeit «traurig, leer oder depressiv» gefühlt oder «das Interesse an den meisten Dingen verloren haben, die gewöhnlich Spaß machen». Diejenigen, die mehr als fünf der neun Fragen über Symptome einer schweren Depression mit Ja beantworteten, litten höchstwahrscheinlich im vorangegangenen Jahr unter einer «schweren depressiven Episode».

Schwere Depression bei Teenagern

Abbildung 1.1: Prozentualer Anteil von US-Teenagern (12 bis 17 Jahre), die mindestens eine depressive Episode im vorangegangenen Jahr hatten (Selbsteinschätzung, basierend auf einer Checkliste von Symptomen). (Quelle: U.S. National Survey on Drug Use and Health.)[26]

Man erkennt einen deutlichen Anstieg bei schweren depressiven Episoden, der um 2010 einsetzt. (In Abbildung 1.1 und in den meisten Diagrammen, die folgen, habe ich einen Bereich schattiert, um besser erkennbar zu machen, ob sich zwischen 2010 und 2015 etwas verändert hat oder nicht, also in der Periode, die ich als die Große Neuverdrahtung bezeichne.) Die Zunahme bei Mädchen war in absoluten Zahlen (Zahl der zusätzlichen Fälle seit 2010) viel größer als diejenige bei Jungen und zeigt in der Grafik viel deutlicher die Form eines Hockeyschlägers. Die Jungen starteten jedoch von einem niedrigeren Niveau als die Mädchen, daher war die Zunahme relativ gesehen (prozentuale Veränderung seit 2010, dem Jahr, das ich stets als Grundlinie nehme) bei beiden Geschlechtern gleich – rund 150 Prozent. Anders gesagt: Depressionen nahmen um rund das Zweieinhalbfache zu. Diese Zunahme betraf sämtliche Bevölkerungsgruppen und soziale Klassen.[27] Die Daten für 2020 wurden teils vor, teils nach den COVID-19-Lockdowns gesammelt, und zu diesem Zeitpunkt hatte jedes vierte amerikanische Teenager-Mädchen im vorangegangenen Jahr eine depressive Episode erlitten. Man erkennt auch, dass die Situation 2021 noch schlimmer wird; die Kurve steigt nach 2020 steiler an. Der größte Teil der Zunahme erfolgte jedoch vor der COVID-19-Pandemie.

Das Wesen der Welle

Was geschah mit den Teens Anfang der 2010er-Jahre? Wir müssen herausfinden, wer seit wann unter was litt. Es ist außerordentlich wichtig, diese Fragen präzise zu beantworten. Nur so können wir die Ursachen der Welle identifizieren und Möglichkeiten finden, sie umzukehren. Das war das Ziel, das mein Team sich gesetzt hat, und dieses Kapitel wird ausführlich darlegen, wie wir zu unseren Schlussfolgerungen kamen.

Wichtige Hinweise zur Lösung des Rätsels fanden wir, als wir uns eingehender mit Daten zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen beschäftigten.[28] Der erste dieser Hinweise ist, dass sich die Zunahme auf Störungen im Zusammenhang mit Angst und Depressionen konzentriert, die in der Fachsprache der Psychiatrie als «internalisierende Störungen» zusammengefasst werden. Betroffene verspüren starken negativen Stress (Disstress), und zwar innerlich; sie empfinden Emotionen wie Angst, Furcht, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Sie grübeln. Oft scheuen sie Sozialkontakte und ziehen sich zurück.

Im Gegensatz dazu versteht man unter «externalisierenden Störungen» solche, bei denen eine Person Disstress verspürt und die Symptome und Reaktionen nach außen trägt und sich gegen andere Menschen wendet. Diese Störungen umfassen Verhaltensstörungen, Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Wut, Tendenzen in Richtung Gewalt und extremes Risikoverhalten. Über alle Altersgruppen, Kulturen und Länder hinweg leiden Mädchen und Frauen häufiger an internalisierenden Störungen, Jungen und Männer hingegen öfter an externalisierenden Störungen.[29] Davon abgesehen, leiden beide Geschlechter an beidem, und beide Geschlechter erleben seit Anfang der 2010er-Jahre mehr internalisierende und weniger externalisierende Störungen.[30]

Man kann die steigenden Raten an internalisierenden Störungen in Abbildung 1.2 erkennen; sie zeigt den Prozentsatz von Studierenden, die angaben, verschiedene Diagnosen von Experten erhalten zu haben. Die Daten stammen aus standardisierten Erhebungen, die von Universitäten durchgeführt und von der American College Health Association[31] gesammelt werden. Die Kurven für Depressionen und Angststörungen starten mit viel höheren Werten als alle anderen Diagnosen und verlaufen anschließend steiler als sämtliche andere, relativ wie auch absolut. Fast alle neuen Fälle an psychischen Erkrankungen an Universitäten in den 2010er-Jahren waren neu gestellte Diagnosen, bei denen Angst und/oder Depressionen eine Rolle spielten.[32]

Psychische Erkrankungen bei Studierenden

Abbildung 1.2: Prozentualer Anteil von US-Studierenden im Grundstudium mit einer von mehreren psychischen Erkrankungen. Die Anzahl der Diagnosen verschiedener psychischer Erkrankungen nahm in den 2010er-Jahren unter Studierenden zu, vor allem im Hinblick auf Angststörungen und Depressionen. (Quelle: American College Health Association.)[33]

Ein zweiter Hinweis ist, dass die Welle sich auf die Generation Z konzentriert, wobei ein kleiner Teil zu den Millennials überschwappt. Das kann man in Abbildung 1.3 erkennen: Sie zeigt den Prozentsatz von Befragten in vier Altersgruppen, die berichteten, sich in den vergangenen Monaten «die meiste Zeit» oder «die ganze Zeit» ängstlich gefühlt zu haben. In keiner der vier Altersgruppen lässt sich vor 2012 ein klarer Trend erkennen, doch dann steigt die Kurve der jüngsten Generation (in die die Generation Z ab 2014 hineinzuwachsen beginnt) steil an. Die Kurve der nächstälteren Gruppe (überwiegend Millennials) steigt ebenfalls, wenn auch nicht so steil, während die Kurven der beiden ältesten Gruppen relativ flach verlaufen: ein leichter Anstieg bei Generation X (Jahrgänge 1965 bis 1980) und eine leichte Abnahme bei den Babyboomern (Jahrgänge 1946 bis 1964).

Prävalenz von Angst nach Altersgruppen

Abbildung 1.3: Prozentualer Anteil von erwachsenen US-Amerikanern, die von starken Angstgefühlen berichten, nach Altersgruppen. (Quelle: U.S. National Survey on Drug Use and Health.)[34]

Was ist Angst?

Angst ist mit Furcht verwandt, aber nicht dasselbe. Die englische Version des DSM-5-TR (deutsch: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) definiert Furcht als «emotionale Reaktion auf eine reale oder vermeintliche Gefahr, während Angst die Erwartung zukünftiger Gefahr ist».[35] Beides können gesunde Reaktionen auf die Wirklichkeit sein, doch im Übermaß können sie zu Störungen werden.

Angst und die mit ihr verbundenen Störungen sind offenbar die typischen psychischen Erkrankungen junger Leute von heute. Beim Blick auf die Vielzahl von Diagnosen psychischer Erkrankungen lässt sich in Abbildung 1.2 erkennen, dass Angststörungen am stärksten zunahmen, unmittelbar gefolgt von Depressionen. Eine 2022 durchgeführte Studie mit mehr als 37000 Studierenden in Wisconsin fand eine Zunahme in der Prävalenz (also dem Anteil der Erkrankten an der Gesamtbevölkerung) von Angststörungen von 34 Prozent 2012 auf 44 Prozent 2018, mit stärkeren Zunahmen bei Mädchen und LGBTQ-Teenagern.[36] In einer ähnlichen Studie 2023 berichteten 37 Prozent der befragten amerikanischen Studierenden, «immer» oder «die meiste Zeit» Angst zu haben, während zusätzliche 31 Prozent angaben, «etwa die Hälfte der Zeit» Angst zu verspüren. Das heißt, dass nur ein Drittel der Studenten und Studentinnen sagten, dass sie seltener als 50 Prozent ihrer Zeit oder nie Angst verspürten.[37]

Furcht ist im ganzen Tierreich zweifellos die wichtigste Emotion fürs Überleben. In einer Welt voller Prädatoren konnten die Individuen mit blitzschnellen Reaktionen am ehesten ihre Gene weitergeben. Tatsächlich sind schnelle Reaktionen auf Gefahren so wichtig, dass das Gehirn von Säugern eine Furchtreaktion auslösen kann, noch bevor eine Information von den Augen bis in die Sehrinde am hinteren Hirnpol gelangt ist, um dort vollständig verarbeitet zu werden.[38] Daher können wir eine Welle der Furcht verspüren oder vor einem sich nähernden Auto wegspringen, bevor uns richtig bewusst wird, was wir da sehen. Furcht ist eine Alarmglocke, die mit einem Rapid-Response-System (Schnellreaktionssystem) verbunden ist. Sobald die Gefahr vorüber ist, hört die Alarmglocke auf zu läuten, es werden keine Stresshormone mehr ausgeschüttet, und das Furchtgefühl schwindet.

Während Furcht das komplette Reaktionssystem im Moment der Gefahr aktiviert, triggert Angst Teile desselben Systems, wenn eine Gefahr lediglich möglich erscheint. Es ist gesund, Angst zu haben und wachsam zu sein, wenn man sich in einer Situation befindet, wo tatsächlich Gefahren lauern könnten. Wenn unsere Alarmglocke jedoch überempfindlich reagiert und immer wieder bei ganz gewöhnlichen Ereignissen anschlägt – auch solchen, die keine Gefahr darstellen –, hält sie uns in einem dauerhaften Zustand von Disstress. Dann wird aus einer gewöhnlichen, gesunden, temporären Angst eine Angststörung.

Wichtig ist auch zu wissen, dass sich unsere Alarmglocke nicht allein als Reaktion auf körperliche Bedrohung entwickelt hat. Unseren evolutionären Vorteil verdanken wir unserem großen Gehirn und unserer Fähigkeit, starke soziale Gruppen zu bilden; daher reagieren wir besonders empfindlich auf soziale Gefahren wie diejenige, ausgestoßen oder beschämt zu werden. Menschen – und vor allem Jugendliche – fürchten einen drohenden «sozialen Tod» häufig mehr als den physischen Tod.

Angst beeinflusst Psyche und Physis in vielfältiger Weise. Viele spüren Angst als Spannung oder Engegefühl und als Unbehagen in Bauch und Brusthöhle.[39] Emotional wird Angst als Schrecken, Sorge und nach einer Weile als Erschöpfung wahrgenommen. Was kognitive Prozesse angeht, so erschwert Angst oft das klare Denken und führt zu unproduktivem Grübeln; dies verursacht dann die kognitiven Verzerrungen, auf die sich die Kognitive Verhaltenstheorie (CBT) konzentriert, beispielsweise Schwarzmalerei, zu starke Verallgemeinerung und Schwarz-Weiß-Denken. Bei Menschen mit Angststörungen lösen diese verzerrten Denkmuster oft unangenehme körperliche Symptome aus, die dann wiederum Gefühle von Furcht und Sorge induzieren, und diese lösen weitere ängstliche Gedanken aus – ein Teufelskreis.

Die zweithäufigste psychische Erkrankung bei jungen Leuten unserer Tage ist Depression (siehe Abbildung 1.2). Die wichtigste psychiatrische Kategorie hier ist die schwere depressive Störung (Major Depressive Disorder, MDD) oder kurz schwere Depression. Die beiden Schlüsselsymptome sind eine depressive Verstimmung (ein Gefühl von Traurigkeit, Leere, Hoffnungslosigkeit) und ein Verlust an Interesse beziehungsweise Freude an fast allen Tätigkeiten.[40] «Wie ekel, schal und flach und unersprießlich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!», meint Hamlet, nachdem er kurz zuvor Gottes Verbot des «Selbstmords» beklagt hat. Damit eine MDD diagnostiziert wird, müssen diese Symptome mindestens zwei Wochen lang durchgängig anhalten. Sie gehen oft mit körperlichen Symptomen einher, darunter signifikanter Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme, deutlich mehr oder weniger Schlaf als normal sowie Erschöpfung. Zudem werden sie oft von kognitiven Problemen begleitet, wie der Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, einer ständigen Beschäftigung mit eigenen Verstößen oder Verfehlungen (was zu Schuldgefühlen führt) und den vielen anderen kognitiven Störungen, denen die CBT entgegenzuwirken sucht. Menschen, die unter einer depressiven Störung leiden, denken oft an Suizid, weil sie das Gefühl haben, ihr gegenwärtiges Leiden werde nie enden, und der Tod ist ein Ende.

Ein wichtiges Merkmal der Depression ist ihre Verbindung zu sozialen Beziehungen. Das Risiko für Depressionen steigt, wenn jemand sozial isoliert ist (oder das Gefühl hat, es zu sein) und aufgrund seiner psychischen Verfassung weniger interessiert oder in der Lage ist, soziale Beziehungen einzugehen. Wie bei der Angst ist dies ein Teufelskreis. Daher schenke ich Freundschaft und sozialen Beziehungen in diesem Buch große Aufmerksamkeit. Wir werden sehen, dass eine spielbasierte Kindheit solche positiven Beziehungen stärkt, während eine smartphonebasierte Kindheit sie schwächt.

Ich neige im Allgemeinen nicht zu Angst oder Depressionen, doch ich habe in drei Phasen meines Lebens unter anhaltenden Angstgefühlen gelitten, die eine Medikation erforderten. In einem dieser Fälle lautete die Diagnose «schwere Depression». Daher kann ich bis zu einem gewissen Maße nachempfinden, was viele junge Leute durchmachen. Ich weiß, dass junge Menschen mit Angststörungen oder Depressionen sich nicht einfach «zusammenreißen» können. Diese Störungen werden durch eine Kombination von Genen (manche Menschen sind anfälliger als andere), Denkmustern (die erlernt und wieder verlernt werden können) sowie sozialen und umweltbedingten Faktoren ausgelöst. Aber da sich unsere Gene zwischen 2010 und 2015 nicht verändert haben, müssen wir herausfinden, welche Denkmuster und sozialen/umweltbedingten Faktoren sich verändert haben, um diese Flutwelle von Angst und Depression auszulösen.

Stimmt das alles wirklich?

Viele Experten für psychische Gesundheit bezweifelten anfangs, dass die starke Zunahme an Angst und Depression eine echte Zunahme an psychischen Erkrankungen widerspiegelte. Am Tag nach der Veröffentlichung unseres Buches The Coddling of the American Mind erschien in der New York Times ein Artikel mit der Überschrift «Teenager-Angst – der große Mythos».[41] Darin erhob ein Psychiater mehrere Einwände gegen das, was er als wachsende moralische Panik rund um Teenager und Smartphones ansah. Er wies darauf hin, dass die meisten der Studien, die eine Zunahme psychischer Erkrankungen zeigten, auf «Selbsteinschätzungen» beruhten, wie die Daten in Abbildung 1.2. Eine Veränderung bei Selbsteinschätzungen hieß seines Erachtens nicht unbedingt, dass sich die zugrundeliegenden Raten von psychischen Erkrankungen tatsächlich verändert hatten. Vielleicht waren junge Leute eher zu einer Selbstdiagnose bereit oder eher gewillt, ehrlich über ihre Symptome zu sprechen? Oder vielleicht verwechselten sie auch leichte Angstsymptome mit einer psychischen Erkrankung?

Richtig ist, dass man sich zahlreiche Indikatoren ansehen muss, um herauszufinden, ob die Zahl psychischer Erkrankungen tatsächlich zunimmt. Eine gute Möglichkeit dazu besteht darin, sich Veränderungen bei Daten anzusehen, die nicht auf Aussagen von den Teens selbst beruhen. So fanden viele Studien beispielsweise Veränderungen bei der Zahl von Jugendlichen, die jedes Jahr in die psychiatrische Notaufnahme oder ins Krankenhaus eingeliefert wurden, weil sie sich absichtlich selbst verletzt hatten. Das kann bei einem Suizidversuch geschehen, oft durch eine Überdosis an Medikamenten, oder durch eine sogenannte nichtsuizidale Selbstverletzung, oft Schnittverletzungen, die eine Person sich zufügt, ohne sich dadurch umbringen zu wollen. Abbildung 1.4 visualisiert die Daten für das Aufsuchen von Notfallambulanzen in den Vereinigten Staaten, und sie zeigen ein ähnliches Muster wie die steigenden Raten von Depressionen, die wir in Abbildung 1.1 gesehen haben, vor allem bei Mädchen.

Notaufnahmen wegen Selbstverletzung

Abbildung 1.4: Rate pro 100000 Personen in der amerikanischen Bevölkerung, mit der Jugendliche (10 bis 14 Jahre) in der Notfallaufnahme von Krankenhäusern wegen nichttödlicher Selbstverletzungen behandelt wurden. (Quelle: U.S. Centers for Disease Control, National Center for Injury Prevention and Control.)[42]

Die Rate der Selbstverletzungen bei heranwachsenden Mädchen hat sich also zwischen 2010 und 2020 annähernd verdreifacht. Die Rate bei älteren Mädchen (Alter 15 bis 19) verdoppelte sich, während die Rate bei Frauen über 24 im selben Zeitraum sank.[43] Was also auch immer Anfang der 2010er-Jahre geschah, es traf Mädchen unter 13 und junge weibliche Teenager härter als jede andere Gruppe. Das ist ein entscheidender Hinweis.

Die absichtlichen Selbstverletzungen in Abbildung 1.4 umfassen nichttödliche Suizidversuche, die ein sehr hohes Niveau an Disstress und Hoffnungslosigkeit anzeigen, und nichtsuizidale Selbstverletzungen (NSSI) wie selbst zugefügte Schnittwunden. Letztere lassen sich besser als Bewältigungs- oder Coping-Verhalten verstehen, das manche Personen (vor allem Mädchen und junge Frauen) einsetzen, um besser mit lähmenden Angstzuständen und Depressionen fertigzuwerden.

Die Suizidraten bei Jugendlichen in den Vereinigten Staaten zeigen einen zeitlichen Trend, der dem von Depressionen, Angststörungen und Selbstverletzungen generell ähnlich ist, auch wenn der rasche Anstieg ein paar Jahre früher einsetzt. Abbildung 1.5 zeigt die Suizidrate, ausgedrückt als Zahl der Kinder im Alter von 10 bis 14 pro 100000 solcher Kinder in der amerikanischen Bevölkerung, die jedes Jahr durch Suizid starben.[44] Beim Suizid sind die Raten für Jungen in westlichen Nationen fast immer höher als die für Mädchen, während Suizidversuche und nichtsuizidale Selbstverletzungen bei Mädchen häufiger sind, wie wir oben gesehen haben.[45]

Suizidraten bei jungen Heranwachsenden

Abbildung 1.5: Suizidraten bei US-amerikanischen Jugendlichen im Alter von 10 bis 14 Jahren. (Quelle: U.S. Centers for Disease Control, National Center for Injury Prevention and Control.)[46]