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Sinn und Glück im Leben zu finden ist keine Glückssache – Sie können etwas dafür tun! Jonathan Haidt zeigt Ihnen, worauf es dabei ankommt und wie Sie Ihr Denken, Ihre Beziehungen und Ihre Arbeit als Quellen für Ihr persönliches Lebensglück nutzen können. Also nur ein weiteres Buch mit platten Glücksrezepten nach dem Motto "Man nehme.?" – Nein! Dieser Autor ist ein Glücksfall: • Er schöpft aus einem riesigen Wissensschatz und kennt die Weisheitslehren der Antike ebenso gut wie die Studien der modernen Glücksforschung. Hier zieht er das Fazit aus den Erkenntnissen von Historikern, Philosophen und Schriftstellern, von Biologen, Psychologen und Gehirnforschern. • Jonathan Haidt vereint die gründliche Recherche und Kritik des Wissenschaftlers mit dem Betrachten eigener Erfahrungen und der Ableitung praktischer Lebenshilfe und Orientierung. Ein genialer Schreiber, der auch Schwieriges eingängig formuliert, mit alltäglichen, lebendigen Beispielen. Er macht nachdenklich und vermittelt Ihnen Ideen, die Ihr Leben verändern könnten – hin zum Glück. • So spannend und manchmal so witzig und humorvoll schreibt dieser Psychologieprofessor, dass Sie das Buch nur ungern aus der Hand legen und es am liebsten in einem Zug zu Ende lesen würden. Er formuliert oft so spielerisch leicht, als säße er Ihnen im Sessel gegenüber und erzählte von seinen Reiseabenteuern. Und tatsächlich berichtet er von dem Abenteuer, für sich selbst ein glückliches Leben zu gestalten. Jonathan Haidt nimmt Sie mit auf die faszinierende Suche nach dem Geheimnis des Glücks, nach all seinen Wurzeln und Facetten. Kommt Glück von außen oder von innen? Ist es das Ergebnis moralischen Verhaltens oder nur das Produkt einer Hormonausschüttung? Haidt findet mit traumwandlerischer Sicherheit zu ausgewogenen Urteilen und inspiriert Sie zu einer neuen Sicht auf das eigene Leben. Das ganz andere Glücksbuch, ein Buch mit Tiefgang, das schon beim Lesen Glücksgefühle weckt.
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Titel der amerikanischen Originalausgabe:The Happiness Hypothesis. Finding Modern Truth in Ancient Wisdom © Jonathan Haidt, 2006 ISBN 978-0-465-02801-6This edition published by arrangement with Basic Books, an imprint of Perseus Books LLC, a subsidiary of Hachette Book Group, Inc., New York, USA. All rights reserved.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
VAK Verlags GmbH Eschbachstraße 5 79199 Kirchzarten Deutschland www.vakverlag.de
(ISBN der Paperback-Auflagen 3-6: 978-3-86731-096-3) Übersetzung: Isolde Seidel Lektorat: Norbert GehlenUmschlag: Markus Weber, Guter Punkt, MünchenSatz: Goar Engeländer, www.dametec.deDruck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, RegensburgPrinted in GermanyISBN 978-3-86731-256-1 (Paperback)ISBN 978-3-95484-315-2 (ePub)ISBN 978-3-95484-317-6 (PDF)
Einführung: Zu viel Weisheit
Kapitel 1: Das geteilte Selbst
Kapitel 2: Seine Sicht der Dinge ändern
Kapitel 3: Gegenseitigkeit um jeden Preis?
Kapitel 4: Die Fehler der anderen
Kapitel 5: Das Streben nach Glück
Kapitel 6: Liebe und andere Bindungen
Kapitel 7: Vom Nutzen der Widrigkeiten
Kapitel 8: „Tugendhaftigkeit“ als Weg zum Glück?
Kapitel 9: Transzendenz – mit oder ohne Gott
Kapitel 10: Glück kommt von „dazwischen“
Schlusswort: Das Gleichgewicht finden
Danksagung
Quellen und Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Für Jayne
Was soll ich tun, wie soll ich leben und wie soll ich mich entwickeln? Viele von uns stellen sich solche Fragen und so wie das Leben heute nun einmal ist, brauchen wir nach den Antworten nicht lange zu suchen. „Weisheit“ ist heutzutage so billig und im Überfluss vorhanden, dass sie uns geradezu überschwemmt: auf Kalenderblättern, Teebeuteln und Postkarten oder in Ketten-E-Mails, die wohl meinende Freunde an uns weiterleiten. In gewisser Weise sind wir wie die Bewohner der Bibliothek von Babel – so der Titel einer Erzählung von Jorge Luis Borges; diese Bibliothek ist grenzenlos und ihre Bücher enthalten jede nur mögliche Buchstabenkombination; deshalb muss auch irgendwo erklärt sein, warum es die Bibliothek gibt und wie man sie benutzt. Doch Borges’ Bibliotheksbewohner argwöhnen, dass sie dieses Buch in dem kilometerlangen Unsinn nie finden werden.
Unsere Aussichten sind da besser. Nur wenige unserer möglichen Quellen der Weisheit sind unsinnig, viele davon sind absolut seriös und zuverlässig. Doch weil auch unsere „Bibliothek“ letztlich grenzenlos ist – kein Mensch kann je mehr als einen winzigen Ausschnitt lesen –, stehen wir vor dem Paradox des Überflusses: Die Quantität untergräbt die Qualität unseres Engagements. Da uns eine so umfangreiche und wunderbare Bibliothek offensteht, überfliegen wir die Bücher oft oder lesen nur die Rezensionen. Vielleicht wären wir schon auf die großartigste Idee gestoßen, die eine Erkenntnis, die uns verwandelt – wenn wir nur richtig davon gekostet, sie uns zu Herzen genommen und in unserem Leben umgesetzt hätten.
Dieses Buch handelt von zehn großartigen Ideen aus der Weltgeschichte. Jedes Kapitel versucht, eine dieser Ideen zu würdigen, die verschiedene Kulturen der Welt entdeckt haben; und jedes Kapitel versucht, diese Idee vor dem Hintergrund heutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zu hinterfragen und die Lehren daraus zu ziehen, die heute noch für unser Leben gelten.
Ich bin Sozialpsychologe und versuche mit Experimenten eine Nische des Soziallebens der Menschen zu erforschen. Meine Nische beinhaltet die Ethik und die moralischen Gefühle. Außerdem bin ich Hochschullehrer. Ich mache eine Einführungsveranstaltung im Fach Psychologie, in der ich die ganze Psychologie mit 24 Vorlesungen zu erklären versuche. Ich muss Tausende von Forschungsergebnissen zu allen Themen vorstellen: vom Aufbau der Augennetzhaut bis dahin, wie Liebe funktioniert, und hoffe dabei, dass meine Studenten das alles verstehen und behalten.
Als ich in meinem ersten Jahr als Dozent mit dieser Herausforderung kämpfte, stellte ich fest, dass mehrere Ideen in verschiedenen Vorlesungen immer wieder auftauchten und dass frühere Denker diese Ideen oft sehr beredt formuliert hatten. Ich könnte die Idee, dass mentale Filter, durch die wir die Welt betrachten, unsere Emotionen, unsere Reaktionen auf Ereignisse und einige Geisteskrankheiten hervorrufen, nicht prägnanter ausdrücken als Shakespeare: „Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.“1 Ich begann, meinen Studenten solche Zitate als Merkhilfe für bedeutsame Ideen in der Psychologie an die Hand zu geben, und fragte mich, wie viele solcher Ideen es eigentlich geben mochte.
Um das herauszufinden, las ich Dutzende Werke über antike Weisheitslehren, hauptsächlich aus den drei bedeutenden Regionen klassischen Denkens: aus Indien (etwa die Upanishaden, die Bhagavad Gita, die Aussprüche Buddhas), China (die Analekte des Konfuzius, also die Lehrgespräche, das Tao Te King, die Schriften des Mengzi) und aus den Kulturen um das Mittelmeer (Altes und Neues Testament, griechische und römische Philosophen, Koran). Außerdem las ich vielfältige andere philosophische und literarische Werke der letzten 500 Jahre. Wann immer ich auf eine psychologische Behauptung stieß – eine Aussage über das Wesen des Menschen oder das Wirken von Geist und Herz –, habe ich sie aufgeschrieben. Wann immer ich feststellte, dass eine Idee an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten notiert wurde, betrachtete ich sie als bedeutsame Idee. Allerdings stellte ich nicht nur rein mechanisch die zehn am weitesten verbreiteten und wichtigsten psychologischen Gedanken der Menschheit zusammen, sondern wertete Stimmigkeit höher als Häufigkeit. Ich wollte über mehrere zusammenpassende Ideen schreiben, die aufeinander aufbauen und eine Geschichte darüber erzählen, wie Menschen im Leben Sinn finden und glücklich sein können.
Genau das nämlich – Menschen darin zu unterstützen, Sinn und Glück im Leben zu finden – hat sich die neue Richtung „Positive Psychologie“2 zum Ziel gesetzt; und auf diesem Gebiet bin ich tätig.3 Daher geht es in diesem Buch gewissermaßen um die Wurzeln der Positiven Psychologie in antiken Weisheitslehren und ihre Anwendung heute. Die meisten Untersuchungen, die ich erwähne, haben Wissenschaftler durchgeführt, die sich nicht als „Positive Psychologen“ bezeichnen würden. Dennoch stütze ich mich auf zehn antike Ideen und vielfältige moderne Forschungsergebnisse und will, so gut es mir möglich ist, darlegen, wie Menschen ihr Potenzial leben können und welche Stolpersteine wir unserem Wohlergehen selbst in den Weg legen.
Zuerst beschreibe ich, wie der menschliche Geist funktioniert. Natürlich beschreibe ich das nicht im Detail, es gilt nur zwei klassische Wahrheiten zu verstehen, damit Sie mithilfe der modernen Psychologie Ihr Leben verbessern können. Auf der ersten basiert dieses ganze Buch:
Der menschliche Geist besteht aus verschiedenen Anteilen oder Instanzen, die einander manchmal widersprechen.
Wie jemand, der auf einem Elefanten reitet, kann der bewusste, vernunftbetonte Teil des Geistes das Verhalten des Elefanten nur sehr eingeschränkt kontrollieren. Heute kennen wir die Gründe für die Unterteilungen und einige Möglichkeiten, dem Reiter und dem Elefanten zu helfen, als Team besser zusammenzuarbeiten. Die zweite Idee lautet etwa so:
Unser Denken macht die Dinge so, wie sie uns erscheinen. (Shakespeare)
Oder: Unser Leben ist eine Schöpfung unseres Geistes. (Buddha) 4
Doch wir können diese alte Vorstellung heute noch etwas weiterführen, indem wir erklären, warum die meisten Menschen dazu neigen, Bedrohungen zu sehen und sich unnütz Sorgen zu machen. Wir können auch einiges unternehmen, um diese Neigung zu ändern, und zwar mithilfe von drei Techniken, die uns glücklicher machen, einer alten und zwei ganz neuen.
Im zweiten Schritt der Geschichte beschreibe ich unser gesellschaftliches Leben, wiederum nicht umfassend, sondern anhand zweier Wahrheiten, die zwar weithin bekannt sind, aber nicht ausreichend gewürdigt werden. Die eine heißt:
Goldene Regel: Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist der beste Weg, mit anderen Menschen gut auszukommen.
Ich zeige Ihnen, wie Sie mit dieser Regel Ihre Probleme lösen und es vermeiden können, von Menschen ausgenutzt zu werden, die dieses Prinzip gegen Sie verwenden. Doch Gegenseitigkeit ist mehr als nur ein Werkzeug. Sie gibt auch Hinweise, wer wir Menschen sind und was wir brauchen; und diese Hinweise sind wichtig, um die Intention der ganzen Geschichte zu verstehen. Die zweite Wahrheit in diesem Abschnitt der Geschichte lautet:
Wir alle sind gleichsam von Natur aus kleine Heuchler; deshalb fällt es uns so schwer, uns ohne Hintergedanken an die Goldene Regel zu halten.
Neue psychologische Untersuchungen haben die Mechanismen in unserem Denken entdeckt, mit denen wir so leicht die kleinsten Splitter im Auge unseres Nachbarn sehen und so schwer die Balken in unserem eigenen. Wenn Sie wissen, worauf Ihr Geist aus ist und warum Sie die Welt so leicht durch die verzerrende Brille von Gut und Böse sehen, können Sie Schritte unternehmen, um Ihre Selbstgerechtigkeit abzubauen. Dadurch geraten Sie seltener in Konflikte mit anderen, die von der Richtigkeit ihrer Sichtweise gleichermaßen überzeugt sind.
An diesem Punkt in der Geschichte sind wir dann bereit für die Frage: Woher kommt Glücklichsein? Es gibt dazu mehrere unterschiedliche „Glückshypothesen“. Eine von ihnen besagt:
Glück rührt daher, dass man bekommt, was man haben möchte.
Doch wir alle wissen (und die Forschung bestätigt es), dass solche Glücksgefühle kurzlebig sind. Schon mehr Erfolg verspricht da die folgende Hypothese:
Glück kommt von innen und kann nicht dadurch erlangt werden, dass man die Welt dazu bringt, den eigenen Wünschen zu entsprechen.
Diese Ansicht war in der Antike weit verbreitet: Buddha in Indien und die Stoiker im antiken Griechenland und Rom rieten den Menschen, ihre emotionalen Anhaftungen an Menschen und Ereignisse loszulassen – denn diese sind immer unvorhersehbar und unkontrollierbar – und stattdessen eine Haltung der Akzeptanz zu entwickeln. Diese antike Auffassung verdient Respekt und es ist sicher richtig, dass man mit Frustrationen wirkungsvoller umgehen kann, indem man seine Intentionen und Gedanken ändert, statt die Welt verändern zu wollen. Dennoch werde ich Belege dafür anführen, dass diese zweite Fassung der Glückshypothese falsch ist. Die moderne Forschung belegt, dass es bestimmte Dinge gibt, nach denen es sich zu streben lohnt: Es gibt äußere Lebensbedingungen, die uns dauerhaft glücklicher machen können – eine davon ist Verbundenheit, Bindung, das meint die Bindungen, die wir mit anderen eingehen und eingehen müssen. Ich werde Ihnen Untersuchungen vorstellen, die zeigen, woher Liebe kommt, warum leidenschaftliche Liebe immer abflaut und welche Form von Liebe „wahre“ Liebe ist. Ich schlage vor, die Glückshypothese Buddhas und der Stoiker zu erweitern:
Glück kommt von innen und von außen. Wir sollten uns sowohl von der antiken Weisheit als auch von der modernen Wissenschaft leiten lassen, um zwischen inneren und äußeren Faktoren ein Gleichgewicht zu finden.
Im anschließenden Abschnitt der Geschichte wollen wir die Bedingungen für Wachstum und Entwicklung des Menschen betrachten. Wir alle haben schon einmal gehört, dass uns das, was uns nicht „umbringt“, stark macht, doch diese allzu grobe Vereinfachung birgt Gefahren. Vieles von dem, was uns nicht umbringt, kann uns für unser ganzes Leben schaden. Neue Forschung zum Thema „posttraumatisches Wachstum“ zeigt, wann und warum Menschen sich aufgrund von Widrigkeiten weiterentwickeln und was Sie selbst tun können, um einer möglichen Verletzung gefasst begegnen zu können oder um mit einer solchen umzugehen, die bereits passiert ist.
Ebenso gut kennen wir alle die wiederkehrenden Ermahnungen, in uns selbst die guten Anlagen zu kultivieren, weil sie in sich selbst Belohnungen sind – doch auch das ist allzu grob vereinfacht. Ich werde darlegen, wie sich die Konzepte von Tugendhaftigkeit und Ethik im Laufe der Jahrhunderte verändert haben und enger wurden und wie antike Vorstellungen über Tugend und moralische Entwicklung auch für uns heute noch vielversprechend sind. Ich verrate Ihnen, wie die Positive Psychologie dieses Versprechen einzulösen beginnt, indem Sie Ihnen Möglichkeiten anbietet, Ihre eigenen Stärken und Tugenden zu „diagnostizieren“ und zu entwickeln.
Der Schluss unserer Geschichte handelt von der Sinnfrage: Warum finden manche Menschen Sinn, Bestimmung und Erfüllung im Leben, andere jedoch nicht? Ich beginne dabei mit der in vielen Kulturen verbreiteten Ansicht, dass es im menschlichen Leben eine „vertikale“ oder spirituelle Dimension gebe. Ob man diese nun Erhabenheit, Moralität oder Göttlichkeit nennt und ob Gott nun existiert oder nicht – Tatsache ist, dass Menschen nun einmal etwas Heiliges, Göttliches oder eine unbeschreibliche Güte oder Schönheit in anderen oder in der Natur wahrnehmen. Ich werde meine eigenen Untersuchungen über moralische Gefühle wie Ekel, Erbauung und Ehrfurcht vorstellen und erklären, wie diese vertikale Dimension wirkt und warum sie so wichtig ist, um religiösen Fundamentalismus sowie den Krieg politischer Kulturen und die Sinnsuche der Menschen zu verstehen.
Ich untersuche auch, was Menschen meinen mit der Frage: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Und ich werde eine Antwort auf diese Frage geben – und zwar eine, die sich der antiken Vorstellung vom Lebenszweck bedient; gleichzeitig beziehe ich in meine Antwort die moderne Forschung mit ein, um über die antiken oder alle anderen Ideen, auf die Sie wahrscheinlich schon gestoßen sind, hinauszugehen. Dabei verändere ich die Glückshypothese noch ein letztes Mal. Diese endgültige Version könnte ich hier zwar in wenigen Worten beschreiben, würde ihr allerdings in dieser kurzen Einführung nicht gerecht werden. Worte der Weisheit, der Sinn des Lebens, vielleicht sogar die Antwort, die Borges’ Bibliotheksbewohner suchten – sie alle plätschern täglich über uns hinweg, aber sie haben nur wenig Wert für uns, wenn wir nicht eine Kostprobe davon nehmen, uns auf sie einlassen, sie hinterfragen, verbessern und in unser Leben integrieren. Darum geht es mir in diesem Buch.
Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, sodass ihr nicht immer imstande seid, das zu tun, was ihr wollt.
PAULUS, BRIEF AN DIE GALATER (5,17)1
Wenn die Leidenschaft lenkt, dann lasst die Vernunft die Zügel halten.
BENJAMIN FRANKLIN2
Zum ersten Mal ritt ich 1991 im Great Smoky National Park in Nordcarolina. Als Kind war ich zwar auch einige Male geritten, während ein Teenager das Pferd am Führstrick hatte, doch 1991 war ich erstmals mit einem Pferd allein, wurde also nicht geführt. Ich war nicht wirklich allein, um mich herum saßen noch acht andere Personen auf Pferden, eine davon war der Park Ranger – deshalb verlangte mir der Ritt nicht viel ab. Ein Moment allerdings war schwierig. Wir ritten einen Weg an einem steilen Hang entlang, zu zweit nebeneinander, und mein Pferd, eine Stute, lief außen, etwa einen Meter vom Abgrund entfernt. Dann machte der Weg eine scharfe Linkskurve und mein Pferd lief geradewegs auf den Abgrund zu. Ich erstarrte. Ich wusste, ich musste das Pferd nach links wenden, doch links von mir lief ein anderes Pferd, mit dem ich nicht zusammenstoßen wollte. Ich hätte um Hilfe rufen oder schreien können: „Pass auf!“; aber ein Teil von mir zog das Risiko, den Abhang hinabzustürzen, der Gewissheit vor, sich zu blamieren. Deshalb erstarrte ich nur. Während dieser entscheidenden fünf Sekunden, in denen mein Pferd und das Pferd zu meiner Linken ganz ruhig von selbst nach links drehten, machte ich gar nichts.
Als meine Panik nachließ, lachte ich über meine lächerliche Angst. Die Stute wusste ganz genau, was sie tat. Sie war diesen Weg schon Hunderte Male gegangen und sie wollte genauso wenig in den Tod stürzen wie ich. Ich brauchte ihr nicht zu sagen, was sie tun sollte, ja, die wenigen Male, die ich es versuchte, schien sie sich nicht sonderlich darum zu kümmern. Ich hatte das alles ganz falsch verstanden, weil ich die letzten zehn Jahre nur Auto gefahren, nicht aber geritten war. Autos stürzen sehr wohl Abhänge hinunter, wenn man es nicht verhindert.
Wir Menschen denken in Metaphern. Wir verstehen neue oder komplexe Dinge in Beziehung zu uns bereits bekannten.3 Beispielsweise ist es schwierig, über das Leben im Allgemeinen nachzudenken; sobald man aber die Metapher „Das Leben ist eine Reise“ heranzieht, liegen einige Folgerungen nahe: Man sollte sich mit dem Terrain vertraut machen, sich eine Richtung aussuchen, ein paar gute Reisebegleiter finden und die Reise genießen, denn die Straße könnte auch im Nichts enden. Ebenso schwierig ist es, über den Geist nachzudenken, doch eine Metapher kann unser Denken lenken. Seit Beginn der Geschichtsschreibung haben Menschen mit Tieren gelebt und versucht, diese im Zaum zu halten; und diese Tiere haben ihren Weg in alte Metaphern gefunden. Buddha beispielsweise verglich den Geist mit einem wilden Elefanten:
Früher schweifte dieser Geist viel umher, wohin auch immer das Verlangen ihn führte; doch jetzt halte ich ihn achtsam zurück, so wie der Wächter den wilden Elefanten.4
Platon verwendete eine ähnliche Metapher, in der das Selbst (oder die Seele) ein Wagen ist und der ruhige, rationale Teil des Geistes die Zügel hält. Platons Wagenlenker muss zwei Pferde im Zaum halten:
Das eine also von den beiden, das sich in besserem Zustande befindet, ist von geradem Wuchs und wohl gegliedert, hält den Nacken hoch, hat eine leicht gebogene Linie …, es zeigt Ehrliebe mit Besonnenheit und Schamhaftigkeit, ist ein Gefährte der wahren Meinung und wird ohne Schläge, nur durch Ermahnungen und Worte gelenkt. Das andere dagegen ist krumm, klobig …, ein Gefährte von Übermut und Prahlerei, zottig um die Ohren, stumpf und kaum der stachelbesetzten Peitsche nachgebend.5
Für Platon sind einige Emotionen und Leidenschaften gut (etwa die Ehrliebe bzw. das Streben nach Ehre) und sie lenken das Selbst in die richtige Richtung, andere Emotionen hingegen sind schlecht (etwa die Begierden und Lüste). Ziel der platonischen Erziehung und Bildung war es, dem Wagenlenker dabei zu helfen, beide Pferde vollkommen unter Kontrolle zu bringen. 2300 Jahre später stellte uns Sigmund Freud ein ähnliches Modell vor.6 Freud sagte, der Geist bestehe aus drei Anteilen: dem Ich (dem bewussten, rationalen Selbst); dem Über-Ich (dem Gewissen, bisweilen eine zu starre Anlehnung an die gesellschaftlichen Regeln) und dem Es (dem Verlangen nach Lust, und zwar ganz viel Lust und lieber früher als später). In meinen Vorlesungen über Freud verwende ich die Metapher vom Geist als einem Pferd und einem Einspänner (einem Wagen der viktorianischen Zeit), in dem der Wagenlenker (das Ich) sich verzweifelt abmüht, ein hungriges, lüsternes und ungehorsames Pferd (das Es) zu bändigen, während der Vater des Lenkers (das Über-Ich) im Einspänner sitzt und dem Lenker sagt, was er falsch macht. Für Freud bestand das Ziel der Psychoanalyse darin, diesem bedauernswerten Zustand zu entkommen, indem man das Ich stärkt und ihm so zu mehr Kontrolle über das Es verhilft sowie zu mehr Unabhängigkeit vom Über-Ich.
Freud, Platon und Buddha lebten alle in einer Welt mit vielen gezähmten Tieren. Darum war ihnen das Ringen darum vertraut, ein Lebewesen, das viel größer ist als man selbst, dem eigenen Willen gefügig zu machen. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts ersetzten Autos die Pferde und mithilfe der Technik konnten die Menschen ihre materielle Umgebung immer besser kontrollieren. Auf der Suche nach Metaphern sahen sie im Verstand den Fahrer eines Autos oder ein Computerprogramm. So wurde es möglich, alles über Freuds Unbewusstes zu vergessen und nur die Mechanismen des Denkens und der Entscheidungsfindung zu untersuchen.
Genau das haben Sozialwissenschaftler im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts getan: Sozialpsychologen haben Theorien zur „Informationsverarbeitung“ aufgestellt, um alles zu erklären, vom Vorurteil bis zur Freundschaft. Ökonomen entwickelten Modelle über die „rationale Wahl“, um zu erklären, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Bei den Sozialwissenschaften insgesamt findet man die folgende Idee als die verbindende: Menschen sind rational Handelnde, die sich Ziele setzen und sie intelligent verfolgen, indem sie verfügbare Informationen und Ressourcen nutzen.
Warum aber machen Menschen dann immer noch unsinnige Dinge? Warum schaffen sie es nicht, sich zu kontrollieren, und tun weiterhin Dinge, die ihnen, wie sie ja wissen, nicht gut tun? Ich zum Beispiel bringe leicht die Willenskraft auf, beim Lesen in einer Speisekarte alle Nachspeisen zu ignorieren. Doch wenn ein Dessert einmal auf dem Tisch steht, kann ich nicht widerstehen. Oder ich kann beschließen, mich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und nicht eher aufzustehen, bis ich sie erledigt habe, doch irgendwie ertappe ich mich dann auf dem Weg in die Küche oder bei einem anderen Versuch, die Sache aufzuschieben. Ich kann mich dazu entschließen, um 6 Uhr aufzustehen, um zu schreiben; doch habe ich erst einmal den Wecker abgestellt, bleiben meine wiederholten Aufforderungen an mich selbst, doch endlich aufzustehen, wirkungslos und ich verstehe, was Platon meinte, wenn er das schlechte Pferd als „taub“ beschrieb.
Erst bei einer wichtigeren Lebensentscheidung, nämlich bei der Partnersuche, erkannte ich das wahre Ausmaß meiner Machtlosigkeit. Ich wusste genau, was ich hätte tun müssen, und auch als ich meinen Freunden davon erzählte, war sich ein Teil in mir vage bewusst, dass ich das nicht tun würde. Schuld-, Lust- oder Angstgefühle waren oft stärker als meine Vernunft. (Andererseits war ich recht versiert darin, Freunden in ähnlichen Situationen Ratschläge zu erteilen, was gut für sie sei.) Der römische Dichter Ovid hat meine Situation bereits viel früher perfekt erfasst. In seinen Metamorphosen ist Medea hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Jason und ihrer Pflicht ihrem Vater gegenüber. Sie klagt:
Aber wider meinen Willen reißt mich eine unbekannte Macht dahin. Zum einen rät mir mein Verlangen, die Vernunft zum anderen. Ich sehe das Bessere, finde es gut – und strebe doch nach dem Schlechteren.7
Moderne Theorien über rationale Entscheidungen und Informationsverarbeitung erklären Willensschwäche nicht angemessen. Die alten Metaphern, die vom Bändigen von Tieren sprechen, treffen es genau. Als ich mich über meine Schwäche wunderte, sah ich mich in einem inneren Bild auf dem Rücken eines Elefanten reiten: Ich halte die Zügel in meiner Hand und kann, indem ich in die eine oder andere Richtung ziehe, den Elefanten dirigieren, sich zu drehen, anzuhalten oder weiterzugehen. Ich kann die Dinge schon steuern, allerdings nur dann, wenn der Elefant keine eigenen Wünsche hat. Falls der Elefant etwas wirklich will, dann bin ich ihm nicht gewachsen.
Mit dieser Metapher habe ich mein eigenes Denken zehn Jahre lang gelenkt und als ich dieses Buch zu schreiben begann, erschien mir das Bild eines Reiters auf einem Elefanten geeignet für dieses erste Kapitel über das geteilte Selbst. Doch diese Metapher hat sich dann für jedes Kapitel als nützlich erwiesen. Für das Verständnis der wichtigsten psychologischen Konzepte muss man wissen, wie der Geist aus verschiedenen Anteilen zusammengesetzt ist, die bisweilen miteinander kämpfen. Wir gehen zwar davon aus, dass sich in jedem einzelnen Körper nur eine einzige Person befindet, doch in gewisser Weise ähneln wir (jeder von uns) eher einem Komitee, dessen Mitglieder zusammengewürfelt wurden; sie sollen gemeinsam eine Aufgabe erledigen, stellen jedoch fest, dass sie häufig entgegengesetzte Interessen vertreten.
Unser Geist weist vier verschiedene Unterteilungen auf, die ich im Folgenden beschreibe. Die vierte Unterteilung ist die wichtigste, denn sie entspricht am stärksten dem Reiter und dem Elefanten; doch auch die anderen drei tragen dazu bei, dass wir Versuchung, Schwäche und innere Konflikte erleben.
Wir sprechen manchmal davon, dass der Körper über seine eigene Weisheit verfüge; der französische Philosoph Michel de Montaigne ging sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, dass jeder Körperteil seine eigenen Emotionen und seine eigene Agenda habe. So war Montaigne etwa von der „Unabhängigkeit“ seines männlichen Glieds äußerst fasziniert:
Doch man hat durchaus recht, den häufigen Ungehorsam dieses Glieds zu rügen, das sich die Freiheit herausnimmt, gerade dann sich schamlos vorzudrängen, wenn wir keinerlei Gebrauch dafür haben, und ebenso schamlos zu erschlaffen, wenn wir es am nötigsten brauchen; so macht es herrisch unserem Willen die Herrschaft streitig …8
Montaigne bemerkte auch, wie unser Gesicht unsere Gedanken zum Ausdruck bringt; oder unsere Haare stellen sich auf; unser Herz rast; unsere Zunge verweigert das Sprechen; unser Darm und der Afterschließmuskel „erweitern und verengen sich selbständig, ohne, ja gegen unsere Weisung.“ Einige dieser Reaktionen steuert das autonome Nervensystem, wie wir jetzt wissen – dieses Nervennetzwerk kontrolliert die Organe und Drüsen unseres Körpers und entzieht sich dem Einfluss unserer Wünsche und Absichten völlig. Doch der letzte Punkt auf Montaignes Liste – der Darm – zeigt das Wirken eines zweiten „Gehirns“:
Unsere Därme sind von einem riesigen Netzwerk aus über 100 Millionen Nervenzellen durchzogen; diese sorgen dafür, dass alles reibungslos läuft, sodass die Nahrung verarbeitet wird und die Nährstoffe aus der Nahrung aufgenommen werden.9 Dieses „Bauchgehirn“ ähnelt einer regionalen Verwaltungsbehörde, die sich mit den Dingen befasst, mit denen das „Kopfgehirn“ sich nicht befassen kann. Man würde erwarten, dass das Bauchgehirn seine Anweisungen vom Gehirn im Kopf erhält und sie einfach ausführt. Doch das Bauchgehirn ist in hohem Maß unabhängig und funktioniert auch dann weiter, wenn der Vagusnerv, der die beiden Gehirne verbindet, durchgetrennt ist.
Die Unabhängigkeit des Bauchgehirns macht sich auf vielerlei Art bemerkbar: Es verursacht das Reizdarmsyndrom, wenn es „entscheidet“, die Därme einmal durchzuspülen. Es löst im Kopfgehirn Angst aus, wenn es Infektionen im Darm entdeckt, sodass wir uns, sobald wir krank sind, zu Recht vorsichtiger verhalten.10
Das Bauchgehirn reagiert auch ganz unerwartet auf alles, was seine wichtigsten Neurotransmitter beeinflusst, etwa Acetylcholin und Serotonin. Deshalb kommt es bei Fluoxetin und anderen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zu solchen Nebenwirkungen wie Übelkeit und veränderter Verdauung. Wenn man versucht, die Funktion des Kopfgehirns zu verbessern, kann man damit direkt die des Bauchgehirns stören. Das „Eigenleben“ des Bauches und der Genitalien trug wahrscheinlich zu den alten indischen Theorien bei, wonach sich im Abdomen die drei unteren Chakren befinden – das sind Energiezentren, die mit dem Dickdarm, den Sexualorganen und dem Bauch korrespondieren. Dem Solarplexus-Chakra sollen sogar Bauchgefühl und Intuition entspringen, also Ideen, die von irgendwo außerhalb des eigenen Verstandes aufzutauchen scheinen. Als Paulus den Kampf zwischen Fleisch und Geist beklagte, meinte er sicher die gleichen Einteilungen und Frustrationen, die auch Montaigne erlebte.
Eine zweite Unterteilung stellte man in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eher zufällig fest, als ein Chirurg begann, menschliche Gehirne der Länge nach auseinander zu schneiden. Dafür hatte dieser Chirurg, Joe Bogen, einen guten Grund: Er wollte Menschen helfen, deren Leben häufige und massive epileptische Anfälle stark beeinträchtigten. Das menschliche Gehirn besteht aus zwei Hemisphären, die durch ein großes Nervenfaserbündel, das Corpus callosum (oder den Balken), verbunden sind. Epileptische Anfälle beginnen an einer Stelle im Gehirn und breiten sich dann auf das umliegende Gewebe aus. Wenn ein solcher Anfall den Balken durchquert, kann er sich auf das gesamte Gehirn auswirken und unkontrollierbar kreisen. Wie ein militärischer Befehlshaber eine Brücke sprengen kann, um den Feind daran zu hindern, sie zu überqueren, so wollte Bogen den Balken durchtrennen, damit sich Anfälle nicht weiter ausbreiteten.
Auf den ersten Blick erschien diese Taktik „wahnsinnig“. Der Balken ist das absolut größte Nervenfaserbündel des ganzen Körpers, deshalb muss er sicherlich eine wichtige Aufgabe erfüllen. Das tut er auch: Über ihn können die beiden Gehirnhälften miteinander kommunizieren und ihre Aktivitäten koordinieren. Doch bei Untersuchungen an Tieren stellte man fest, dass die Tiere wenige Wochen nach der Operation praktisch wieder ihren Ausgangszustand erreicht hatten. Deshalb probierte Bogen die Operation an Menschen und sie führte zum „Erfolg“: Die epileptischen Anfälle ließen in ihrer Stärke enorm nach.
Doch gingen dadurch wirklich keine Fähigkeiten verloren? Um das herauszufinden, zog das Operationsteam einen jungen Psychologen hinzu, Michael Gazzaniga, der auf Nachwirkungen dieser „Split-brain“-Operation achten sollte. Gazzaniga machte sich die Tatsache zunutze, dass das Gehirn sein Verarbeiten der Welt auf zwei Hemisphären aufteilt, die linke und die rechte. Die linke Gehirnhälfte nimmt die Informationen der rechten Hälfte der Welt auf (das heißt, es empfängt die Nervenimpulse vom rechten Arm und Bein, dem rechten Ohr und der linken Hälfte jeder Netzhaut, die das Licht von der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes empfängt), und auf ihren Befehl hin bewegen sich die Glieder der rechten Körperhälfte. Die rechte Gehirnhälfte ist in dieser Hinsicht das Spiegelbild der linken, sie nimmt Informationen von der linken Seite der Welt auf und steuert die Bewegungen der linken Körperseite.
Niemand weiß, warum die Signale sich so kreuzen; sie tun es eben. Doch in anderer Hinsicht haben sich die beiden Gehirnhälften auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert: Die linke ist zuständig für Sprachverarbeitung und analytische Aufgaben. Bei visuellen Aufgaben kann sie die Details besser wahrnehmen. Die rechte Gehirnhälfte kann Muster im Raum besser verarbeiten, darunter auch das allerwichtigste Muster, das Gesicht. (Daher stammt die bekannte und allzu stark vereinfachende Vorstellung, wonach Künstler „rechtshirnig“ und Wissenschaftler „linkshirnig“ seien.)
Gazzaniga nutzte die Arbeitsteilung des Gehirns, um jeder Gehirnhälfte separat Informationen zu präsentieren. Er bat Patienten, auf einen Punkt auf einer Leinwand zu schauen, blendete dann ein Wort oder das Bild eines Gegenstandes direkt rechts oder links neben dem Punkt so schnell ein, dass die Patienten nicht genug Zeit hatten, dorthin zu schauen. Wenn das Bild eines Hutes gleich rechts neben dem Punkt erschien, registriert die linke Hälfte jeder Netzhaut oder Retina es (nachdem das Bild durch die Hornhaut oder Cornea gewandert ist und gedreht wurde); und die Retina sendet ihre Informationen zurück in die bildverarbeitenden Areale der linken Hemisphäre. Gazzaniga fragte dann: „Was haben Sie gesehen?“ Denn die linke Gehirnhälfte verfügt über die Sprechfertigkeit. Die Patienten antworteten dann leicht und schnell: „Einen Hut“.
Wenn das Bild des Hutes links neben dem Punkt zu sehen war, wurde es nur zur rechten Gehirnhälfte zurückgesandt, die nicht für Sprache zuständig ist. Wenn Gazzaniga dann fragte: „Was haben Sie gesehen?“, sagten die Patienten, die von der linken Gehirnhälfte aus reagierten: „Nichts“. Doch wenn Gazzaniga die Patienten bat, mit der linken Hand auf das richtige Bild auf einer Tafel mit mehreren Abbildungen zu deuten, zeigten sie auf den Hut. Obwohl die rechte Gehirnhälfte den Hut also tatsächlich gesehen hatte, konnte sie über dieses Bild nicht verbal Auskunft geben, weil sie keinen Zugriff auf die Sprachzentren der linken Hemisphäre hatte. Das war so, als ob in der rechten Gehirnhälfte eine eigene Intelligenz eingeschlossen war, die sich nur mittels der linken Hand ausdrücken konnte.11
Die Situation wurde verworrener, wenn Gazzaniga beiden Gehirnhälften unterschiedliche Bilder zeigte. Einmal zeigte er das Bild einer Hühnerkralle rechts und ein schneebedecktes Haus und Auto links. Dem Patienten wurde dann wieder eine Bildertafel gezeigt und er sollte auf das deuten, was zu dem passte, was er gesehen hatte. Mit seiner rechten Hand deutete der Patient auf das Bild des Huhns (das der Hühnerkralle entsprach, die die linke Gehirnhälfte gesehen hatte), doch die linke Hand deutete auf das Bild einer Schaufel (die mit der Schneelandschaft assoziiert wurde, die die rechte Hemisphäre gesehen hatte). Als der Patient gebeten wurde, seine beiden Reaktionen zu erklären, sagte er nicht etwa: „Ich habe keine Ahnung, warum meine linke Hand auf die Schaufel zeigt, das muss etwas mit dem zu tun haben, was Sie meiner rechten Gehirnhälfte gezeigt haben.“ Vielmehr lieferte die linke Hemisphäre sofort eine plausible Erklärung. Ohne zu zögern, meinte der Patient: „Ach, das ist ganz einfach. Die Hühnerkralle entspricht dem Huhn und man braucht eine Schaufel, um den Hühnerstall sauber zu machen.“12
Diesen Befund, dass Menschen gerne Gründe erfinden, um ihr eigenes Verhalten zu erklären, bezeichnet man als „Konfabulation“. Dieses Phänomen tritt bei Split-brain-Patienten und bei anderen Patienten mit Gehirnschaden so häufig auf, dass Gazzaniga die Sprachzentren in der linken Hemisphäre als das Interpretationsmodul bezeichnet, dessen Aufgabe es ist, jegliche Handlung des Selbst laufend zu kommentieren, selbst wenn es die wahren Gründe oder Motive dieses Verhaltens nicht kennt. Angenommen, vor der rechten Gehirnhälfte leuchtet das Wort „gehen“ auf, dann steht der Patient eventuell auf und geht weg. Wenn man ihn fragt, warum er aufstehe, antwortet er möglicherweise: „Ich hol mir mal einen Kaffee.“ Das Interpretationsmodul ist gut darin, Erklärungen abzugeben, aber es weiß nicht, dass es sie erfunden hat.
Die Wissenschaftler haben noch Seltsameres entdeckt. Bei einigen Split-brain-Patienten oder bei Patienten, deren Balken geschädigt ist, scheint die rechte Hemisphäre aktiv mit der linken zu kämpfen; dieses Phänomen bezeichnet man als das „Fremde-Hand-Syndrom“. In diesen Fällen handelt eine Hand, meist die linke, aus eigenem Antrieb und scheint ihre eigene Agenda zu haben. Die fremde Hand hebt vielleicht den klingelnden Telefonhörer ab, weigert sich dann aber, ihn an die rechte Hand weiterzugeben oder an ein Ohr zu führen. Die Hand verweigert die Entscheidungen, die die Person gerade getroffen hat, etwa ein Hemd wieder ins Regal zu legen, das die andere Hand gerade herausgenommen hat. Sie packt das Handgelenk der anderen Hand und will verhindern, dass der Mensch seine bewussten Handlungsabsichten umsetzt. Manchmal greift die „fremde Hand“ derselben (der eigenen) Person an den Hals und versucht sie zu würgen.13
Seltene Spaltungen des Gehirns verursachen solche Spaltungen des Geistes. Das Gehirn normaler Menschen ist nicht gespalten. Dennoch waren die Split-brain-Untersuchungen in der Psychologie wichtig, weil sie auf so schaurige Weise zeigten, dass der Geist eine Art Konföderation, ein Bund oder Zusammenschluss von Modulen ist, die unabhängig voneinander funktionieren, ja manchmal sogar gegeneinander arbeiten können. Für dieses Buch sind die Untersuchungen bedeutsam, weil sie so drastisch zeigen, dass eines dieser Module gut darin ist, überzeugende Erklärungen für unser Verhalten zu erfinden, selbst wenn es die Gründe dafür gar nicht kennt. Gazzanigas „Interpretationsmodul“ ist, im Großen und Ganzen, der „Reiter“ in unseren Metaphern. In späteren Kapiteln werden Sie dem Reiter immer wieder beim Konfabulieren begegnen.
Falls Sie in einem relativ neuen Haus am Stadtrand wohnen, dann wurde Ihr Haus wahrscheinlich in weniger als einem Jahr gebaut und die Räume wurden von einem Architekten geplant, der bestrebt war, die Bedürfnisse der Bewohner zu erfüllen. Die Häuser in meiner Straße wurden jedoch alle um 1900 gebaut und seitdem sind sie nach hinten erweitert worden. Terrassen wurden angebaut, dann mit einer Mauer umgeben und danach in Küchen umgewandelt. Über diesen Anbauten errichtete man zusätzliche Zimmer und fügte diesen dann noch Badezimmer hinzu.
Als die Säugetiere immer größer wurden und ihr Verhalten immer vielfältiger wurde (nachdem die Dinosaurier ausgestorben waren), ging der Umbau des Gehirns weiter. Bei den eher sozialen Säugetieren bildete sich, vor allem bei den Primaten, eine neue Schicht von Nervengewebe und breitete sich so aus, dass sie das alte limbische System einschloss. Dieser Neokortex (Lateinisch für „neue Rinde“) ist die für das menschliche Gehirn charakteristische graue Substanz. Der vordere Bereich des Neokortex ist besonders interessant, denn Teile davon sind anscheinend (!) nicht für spezifische Aufgaben zuständig (wie etwa für das Bewegen eines Fingers oder die Verarbeitung von Geräuschen). Stattdessen steht er uns zur Verfügung, damit wir neue Assoziationen herstellen, denken, planen und Entscheidungen treffen – also für mentale Prozesse, die einen Organismus von der Begrenzung befreien können, nur auf die gerade aktuelle Situation zu reagieren.
Mit diesem Wachstum des frontalen Kortex lässt sich die Unterteilung, die wir in unserem Geist erleben, anscheinend vielversprechend erklären. Vielleicht sitzt im frontalen Kortex unsere Vernunft: Er ist Platons Wagenlenker, Paulus’ Geist. Und er hat die Kontrolle des primitiveren limbischen Systems übernommen, von Platons minderem Pferd, vom „Fleisch“ des heiligen Paulus – allerdings nicht vollständig. Wir können diese Erklärung als das „Prometheus’sche Drehbuch“ der menschlichen Evolution bezeichnen, benannt nach der Gestalt in der griechischen Mythologie, die den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen brachte. Nach dieser Sage waren unsere Vorfahren nur Tiere, die von primitiven Emotionen und Trieben des limbischen Systems gesteuert wurden, bis sie von den Göttern die Vernunft geschenkt bekamen, untergebracht in eben diesem Neokortex.
Das Prometheus’sche Drehbuch ist erfreulich, weil es uns so nett über alle anderen Lebewesen erhebt und diese Überlegenheit mit unserer Rationalität rechtfertigt. Gleichzeitig wird uns bewusst, dass wir noch keine Götter sind – dass das Feuer der Rationalität noch neu für uns ist und wir es noch nicht völlig beherrschen. Diese Sage passt auch gut zu einigen wichtigen frühen Erkenntnissen über die Rolle des limbischen Systems und des frontalen Kortex. Erregt man einige Stellen des Hypothalamus direkt mit einem leichten elektrischen Stromreiz, so kann man beispielsweise bei Ratten, Katzen und anderen Säugetieren Gefräßigkeit, Gewalttätigkeit oder Hypersexualität hervorrufen; das lässt vermuten, dass viele unserer Grundinstinkte vom limbischen System gesteuert werden.14 Umgekehrt reagieren auch Menschen, wenn ihr frontaler Kortex geschädigt ist, bisweilen verstärkt sexuell und aggressiv, weil der frontale Kortex eine wichtige Rolle spielt für die Fähigkeit, Verhaltensimpulse zu unterdrücken oder zu hemmen.
Es gab solch einen Fall einmal im Krankenhaus der Universität von Virginia:15 Ein Lehrer in seinen Vierzigern begann auf einmal Prostituierte aufzusuchen, im Internet zu Seiten mit Kinderpornografie zu surfen und jungen Mädchen eindeutige Angebote zu machen. Kurz darauf wurde er wegen sexueller Belästigung von Kindern verhaftet und verurteilt. Am Tag vor der Urteilsverkündung begab er sich in die Notaufnahme des Krankenhauses, weil er rasende Kopfschmerzen und ständig den Drang hatte, seine Vermieterin zu vergewaltigen. (Seine Frau hatte ihn Monate vorher aus dem Haus geworfen.) Sogar während er mit dem Arzt sprach, bat er vorbeigehende Krankenschwestern, mit ihm zu schlafen.
Bei einer Gehirnuntersuchung wurde ein riesiger Tumor im frontalen Kortex festgestellt, der auf das ganze umliegende Gewebe drückte, sodass der frontale Kortex seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen konnte, unangemessenes Verhalten zu unterdrücken und über die Folgen nachzudenken. (Wer würde schon, solange er bei Verstand ist, am Tag vor dem Urteil eine solche Show abziehen?) Nachdem der Tumor entfernt war, verschwand auch seine Hypersexualität. Ja, als sich im darauf folgenden Jahr erneut ein Tumor entwickelte, traten auch die Symptome wieder auf; und als die Geschwulst entfernt wurde, verschwanden auch die Symptome wieder.
Der orbitofrontale Kortex spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, in einer bestimmten Situation die mögliche Belohnung oder Bestrafung einzuschätzen; die Neuronen dieses Gehirnbereichs feuern massiv, sobald Lust oder Schmerz, Verlust oder Gewinn unmittelbar bevorstehen.17 Wenn eine Speise, eine Landschaft oder eine attraktive Person Sie anzieht oder wenn Sie ein totes Tier oder ein schlechtes Lied abstoßend finden, dann ist Ihr orbitofrontaler Kortex intensiv damit beschäftigt, Ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass Sie näher kommen oder weg wollen.18 Der orbitofrontale Kortex scheint deshalb ein geeigneterer Kandidat für das Es oder für das „Fleisch“ des heiligen Paulus zu sein als für das Über-Ich oder den göttlichen Geist.
Wie wichtig der orbitofrontale Kortex für Emotionen ist, haben weitere Forschungen über Gehirnschädigungen gezeigt. Der Neurologe Antonio Damasio hat Menschen untersucht, die aufgrund eines Schlaganfalls, eines Tumors oder eines Schlages auf den Kopf verschiedene Teile ihres frontalen Kortex verloren hatten. In den neunziger Jahren stellte Damasio fest, dass die Patienten einen Großteil ihres emotionalen Lebens verlieren, wenn bestimmte Teile des orbitofrontalen Kortex geschädigt sind. Solche Menschen berichten, dass sie nichts fühlen, wenn sie Emotionen empfinden sollten, und Untersuchungen ihrer autonomen Reaktionen (wie sie bei Tests mit dem Lügendetektor verwendet werden) bestätigen, dass bei ihnen normale Körperreaktionen ausbleiben, die wir Übrigen beim Beobachten wunderschöner oder abstoßender Szenen erleben. Vernunft und logisches Denken dieser Patienten sind jedoch völlig intakt. Testet man die Intelligenz und das Wissen um gesellschaftliche Regeln und moralische Prinzipien, dann schneiden sie ganz normal ab.19
Was passiert also, wenn diese Menschen hinausgehen ins Leben? Da sie nicht von Emotionen abgelenkt werden: Verhalten sie sich dann nicht übermäßig logisch und können durch den Dunstschleier der Gefühle hindurchsehen, der dem Rest von uns den Weg vollkommener Rationalität verdeckt? Genau das Gegenteil trifft zu. Sie sind nicht in der Lage, einfache Entscheidungen zu treffen oder sich Ziele zu setzen, und ihr Leben bricht zusammen. Wenn sie in die Welt hinausschauen und sich fragen: „Was soll ich jetzt machen?“, dann erkennen sie Dutzende von Wahlmöglichkeiten, aber sie spüren keine Vorliebe oder Abneigung! Sie müssen die Vor- und Nachteile jeder Variante mit ihrem logischen Denken untersuchen, doch ohne ein Gefühl dazu sehen sie wenig Sinn darin, das eine oder das andere zu tun. Wenn wir übrigen Menschen uns die Welt anschauen, dann hat unser „emotionales Gehirn“ sofort und automatisch die Möglichkeiten eingeschätzt. Eine Option springt uns meist ganz offensichtlich als die beste an. Wir brauchen unsere Vernunft nur, um die Vor- und Nachteile abzuwägen, wenn zwei oder drei Möglichkeiten gleich gut erscheinen.
Die menschliche Rationalität hängt ganz entscheidend von einer hoch entwickelten Emotionalität ab. Nur weil unser emotionales Gehirn so gut funktioniert, kann auch unsere Vernunft funktionieren. Platons Bild von der Vernunft als dem Wagenlenker, der das „dumme Tier“ der Leidenschaft bändigt, bewertet vielleicht nicht nur die Vernunft zu hoch, sondern auch den Einfluss des Wagenlenkers. Die Metapher des Reiters auf dem Elefanten passt besser zu Damasios Befunden: Vernunft und Emotion müssen zusammenarbeiten, damit wir intelligent handeln, doch die Emotion (ein größerer Teil des Elefanten) erledigt den Großteil der Arbeit. Als der Neokortex entstand, konnte sich auch ein Reiter entwickeln, aber das machte gleichermaßen den Elefanten klüger.
Als ich in den neunziger Jahren für mich selbst die Metapher von Elefant und Reiter entwickelte, gelangte die Sozialpsychologie zu einer ähnlichen Sichtweise des Verstandes. Nachdem die Psychologen lange in die Modelle der Informationsverarbeitung und in Computermetaphern vernarrt gewesen waren, erkannten sie nach und nach, dass in unserem Geist ständig zwei Verarbeitungssysteme aktiv sind: das kontrollierte und das automatische.
Nehmen Sie einmal an, Sie hätten sich freiwillig als Versuchsperson für folgendes Experiment20 gemeldet:
Zuerst gibt Ihnen die Leiterin des Experiments einige Wortaufgaben mit der Bitte, sich wieder bei ihr zu melden, sobald Sie damit fertig sind. Die Aufgaben sind einfach: Ordnen Sie Gruppen von fünf Wörtern und bilden Sie Sätze, in denen vier dieser Wörter vorkommen. Ein Beispiel: „sie, dich, ärgern, sehen, gewöhnlich“ wird entweder zu „Sie sehen dich gewöhnlich“ oder zu „Sie ärgern dich gewöhnlich". Ein paar Minuten später, wenn Sie mit dem Test fertig sind, gehen Sie wie gebeten in den Gang hinaus. Die Leiterin ist da, aber sie unterhält sich gerade mit jemand anderem und nimmt keinen Blickkontakt mit Ihnen auf. Was glauben Sie, wie Sie sich verhalten werden? Nun, wenn die Hälfte der Sätze, die Sie geordnet haben, mit Rohheit oder Unhöflichkeit zu tun hatten (Wörter wie ärgern, unverfroren, aggressiv), dann werden Sie sie wahrscheinlich im Laufe von ein bis zwei Minuten unterbrechen und fragen: „Hallo, ich bin fertig. Was soll ich jetzt machen?“ Haben Sie hingegen Sätze geordnet, in denen „grobe“ Wörter durch „freundliche“ ersetzt waren (sie, dich, respektieren, sehen, gewöhnlich"), dann stehen die Chancen gut, dass Sie nur bescheiden dasitzen und darauf warten, dass die Leiterin Sie zur Kenntnis nimmt – nach zehn Minuten.
Ein ähnliches Phänomen: Setzt man Leuten Wörter vor, die mit dem Alter und älteren Menschen zu tun haben, so neigen sie dazu, langsamer zu gehen. Wörter, die mit der Lebenswelt von Professoren zu tun haben, lassen Leute in dem Spiel Trivial Pursuit besser abschneiden und Wörter, die Fußballhooligans betreffen, machen Leute dümmer.21 Diese Wirkung hängt nicht einmal davon ab, dass man die Wörter bewusst liest; sie kann auch auftreten, wenn die Wörter unterschwellig eingeblendet werden, also nur für wenige hundertstel Sekunden auf einem Bildschirm erscheinen – zu kurz, als dass der bewusste Verstand sie registrieren könnte. Doch ein Teil des Geistes sieht die Wörter und löst Verhaltensweisen aus, die Psychologen messen können.
Nach John Bargh, dem Pionier dieser Forschung, zeigen solche Experimente, dass die meisten Denkprozesse unbewusst ablaufen, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen oder kontrollieren müssen. Die meisten automatischen Prozesse sind völlig unbewusst, wenn uns auch einige davon teilweise bewusst werden. Beispielsweise sind wir des „Bewusstseinsstroms“22 gewahr, der ständig vorüberzufließen scheint und dabei seinen eigenen Assoziationen folgt, ohne dass das Selbst das Gefühl hat, sich anstrengen oder ihn lenken zu müssen.
Den automatischen Prozessen stellt Bargh die kontrollierten gegenüber, die Art zu denken, die etwas Mühe kostet, schrittweise vor sich geht und immer im Zentrum unseres Bewusstseins stattfindet. Wann beispielsweise müssten Sie Ihr Haus verlassen, damit Sie um 6.26 Uhr einen Flug nach London erreichen könnten? Darüber müssen Sie bewusst nachdenken: Sie wählen zuerst das Verkehrsmittel, das Sie zum Flughafen bringt, kalkulieren dann die Fahrzeit aufgrund des Verkehrsaufkommens, bedenken das Wetter und die Gründlichkeit des Bodenpersonals am Flughafen … Wenn Sie nur auf eine ungefähre „Ahnung“ bauen, werden Sie nicht wie gewünscht abfliegen können. Doch wenn Sie selbst im Auto zum Flughafen fahren, läuft auf dem Weg dahin fast alles automatisch ab – atmen, Blinker betätigen, Sitzposition verändern, tagträumen, Abstand halten, ja sogar wenn Sie finster dreinschauen und über die langsameren Fahrer fluchen.
Kontrollierte Verarbeitung ist begrenzt – wir können jeweils nur über eine Sache bewusst nachdenken –, doch automatische Prozesse laufen parallel dazu ab und bewältigen viele Aufgaben gleichzeitig. Wenn im Geist Hunderte von Vorgängen pro Sekunde ablaufen, dann müssen alle außer einem automatisch erledigt werden. In welchem Verhältnis stehen also die kontrollierten zu den automatischen Prozessen? Ist die kontrollierte Verarbeitung der weise Chef, der König oder Vorstandsvorsitzende, der sich mit den wichtigsten Fragen befasst und weitsichtig Richtlinien festlegt für die geistlosen automatischen Prozesse, die auszuführen sind? Das würde uns direkt zur Sage des Prometheus und der göttlichen Vernunft zurückführen. Um diese Version ein für alle Mal ad acta zu legen, ist es hilfreich, die Zeit zurückzudrehen und zu schauen, warum wir diese beiden Verarbeitungsmodi, also einen kleinen Reiter und einen großen Elefanten, überhaupt haben.
Als die ersten Neuronengruppen vor über 600 Millionen Jahren die ersten Gehirne bildeten, müssen diese Zellen ihren Organismen einen Vorteil gebracht haben, weil sich das Gehirn seitdem ständig erweitert hat. Das Gehirn ist anpassungsfähig, weil es Informationen von den verschiedenen Körperteilen des Lebewesens integriert, um rasch und automatisch auf Bedrohungen und günstige Gelegenheiten in der Umgebung zu reagieren. Vor ungefähr drei Millionen Jahren wimmelte es auf der Erde nur so von Tieren mit außerordentlich komplexen automatischen Fähigkeiten, etwa Vögeln, die sich an der Position von Sternen orientierten, Ameisen, die sich zusammenschließen konnten, um gemeinsam Krieg zu führen und Pilze zu züchten, sowie verschiedene Arten von Hominiden, die begonnen hatten, Werkzeuge herzustellen. Viele dieser Lebewesen besaßen Kommunikationssysteme, doch keines davon hatte Sprache entwickelt.
Kontrollierte Verarbeitung erfordert Sprache. Gedankenfetzen kann man durchaus mit Bildern haben, aber wir brauchen Wörter, um etwas Komplexes zu planen, die Vor- und Nachteile verschiedener Wege abzuwägen und um die Ursachen früherer Erfolge oder Niederlagen zu analysieren. Niemand weiß, vor wie viel Jahren die Menschen genau die Sprache entwickelten; doch die meisten Schätzungen liegen zwischen zwei Millionen Jahren, als das Gehirn der Hominiden viel größer wurde, und erst 40 000 Jahren, also der Zeit der Höhlenmalerei und anderer Artefakte, die unverkennbar von einem erweiterten menschlichen Gehirn zeugen.23
Welches Ende dieser Zeitspanne Sie auch bevorzugen – Sprache, Vernunft und bewusstes Planen entstanden erst im letzten „Augen-Blick“ der Evolution. Sie sind wie neue Software. Der Bereich Sprache funktioniert gut, doch in den Programmen Vernunft und Planen sind noch zahlreiche Programmierfehler.24 Automatische Prozesse hingegen haben Tausende von Produktzyklen hinter sich und sind fast perfekt. Diese unterschiedliche Ausgereiftheit automatischer Prozesse einerseits und kontrollierter Prozesse andererseits erklärt unter anderem, warum wir billige Computer haben, die logische, mathematische und Schachprobleme besser lösen können als irgendein Mensch (die meisten von uns haben damit ihre Schwierigkeiten), und warum doch keiner unserer Roboter, egal wie aufwendig oder teuer, so gut durch Wälder laufen kann wie ein durchschnittliches sechsjähriges Kind. (Unsere Wahrnehmung und unser motorisches System sind hervorragend.)
Die Evolution schaut nie voraus. Sie kann nicht den besten Weg planen, um von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Stattdessen treten in bestehenden Formen kleine Veränderungen auf (durch genetische Mutation) und breiten sich in der Population in solch einem Maße aus, dass sie den Organismen helfen, wirkungsvoller auf die gegebenen Bedingungen zu reagieren. Als sich die Sprache entwickelte, wurde das menschliche Gehirn nicht „überarbeitet“, damit dem Reiter (dem bewussten verbalen Denken) die Zügel der Macht übergeben werden können. Die Dinge liefen ja schon recht gut und die Sprachfähigkeit erweiterte sich so stark, dass sie dem Elefanten half, etwas Wichtiges besser zu tun. Der Reiter entwickelte sich, um dem Elefanten zu dienen. Wo auch immer Sprache ihren Ursprung hat, sie war, als wir sie erst einmal hatten, ein wirkungsvolles Instrument, das sich auf neue Weise nutzen ließ, und die Evolution selektierte dann diejenigen Individuen, die die Sprache am besten benutzten.
Ein Vorteil der Sprache besteht darin, dass sie die Menschen teilweise von der Steuerung durch Stimuli (Reize) befreite. Behavioristen wie B. F. Skinner konnten das Verhalten von Tieren großenteils mit diversen Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen erklären. Einige dieser Verbindungen sind angeboren, etwa dass der Anblick oder der Geruch der natürlichen Nahrung eines Tiers Hunger und Fressen auslöst. Andere Verbindungen sind erlernt, wie beim Pawlow’schen Hund demonstriert, der mit Speichelfluss reagierte, wenn die Glocke ertönte, die vorher immer Fressen angekündigt hatte.
Die Behavioristen betrachteten Tiere als Sklaven ihrer Umgebung und ihrer Lerngeschichte, die blind auf die Bestätigung all ihrer Erfahrungen reagieren. Die Behavioristen glaubten ferner, dass sich Menschen von Tieren nicht unterschieden. Es ist sicher kein Zufall, dass wir sinnliche Freuden so befriedigend finden. Unser Gehirn ist, wie dasjenige von Ratten, so verschaltet, dass Essen und Sex in uns zu kleinen Dopaminausschüttungen führen – mit diesem Neurotransmitter Dopamin sorgt unser Gehirn dafür, dass wir Aktivitäten mögen, die zum Überleben unserer Gene beitragen.25 Platons „minderes“ Pferd ist wesentlich daran beteiligt, uns zu Aktivitäten hinzuziehen, die unseren Vorfahren dabei halfen, zu überleben und unsere Vorfahren zu werden.
Doch bei den Menschen lagen die Behavioristen nicht ganz richtig. Die kontrollierte Verarbeitung gestattet Menschen, über langfristige Ziele nachzudenken und so der Tyrannei des Hier und Jetzt zu entkommen, dass wir uns automatisch in Versuchung geführt fühlen, wenn wir reizvolle Objekte sehen. Menschen können sich Alternativen vorstellen, die sie nicht direkt vor Augen haben; sie können langfristige Gesundheitsrisiken gegen momentane Vergnügungen abwägen und sie können in Gesprächen erfahren, welche Wahlmöglichkeiten Erfolg und Ansehen bringen. Dummerweise lagen die Behavioristen bei Menschen aber auch nicht ganz falsch. Denn auch wenn die kontrollierte Verarbeitung nicht den behavioristischen Regeln entspricht, so hat sie doch relativ wenig Macht, Verhalten auszulösen.
Die automatische Verarbeitung entwickelte sich durch natürliche Selektion, um schnelles und zuverlässiges Handeln zu ermöglichen, und bei ihrer Arbeit greift sie auf Gehirnbereiche zu, die uns Lust und Schmerz fühlen lassen (wie der orbitofrontale Kortex) und den Überlebenswillen auslösen (wie der Hypothalamus). Die automatische Verarbeitung hat ihren Finger auf dem Knopf für die Dopaminausschüttung. Die kontrollierte Verarbeitung dagegen betrachtet man besser als einen Berater. Sie ist ein Reiter, der auf dem Rücken des Elefanten sitzt und diesem hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Der Reiter kann weiter in die Zukunft blicken und er kann wertvolle Informationen dadurch bekommen, dass er sich mit anderen Reitern unterhält oder Landkarten liest, aber der Reiter kann den Elefanten nicht gegen dessen Willen herumkommandieren. Ich glaube, der schottische Philosoph David Hume kam der Wahrheit näher als Platon, als er sagte: „Die Vernunft ist und sollte auch nur der Sklave der Leidenschaften sein, und sie kann nie zu einer anderen Aufgabe herangezogen werden als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“26
Zusammenfassend gesagt ist der Reiter ein Berater oder Diener, kein König, kein Präsident oder Wagenlenker, der die Zügel fest in der Hand hält. Der Reiter ist Gazzanigas Interpretationsmodul, das bewusste, kontrollierte Denken. Der Elefant hingegen ist alles andere. Zum Elefanten gehören Bauchgefühl, instinktive Reaktionen, Emotionen und Ahnungen, die die automatische Verarbeitung großenteils ausmachen. Elefant und Reiter haben jeweils ihre eigene Intelligenz, und wenn sie gut zusammenarbeiten, kann die einzigartige Genialität der Menschen zutage treten. Das tun sie allerdings nicht immer. Nachstehend gehe ich auf drei Alltagsmarotten ein, die das bisweilen komplexe Verhältnis zwischen Reiter und Elefant verdeutlichen.
Stellen Sie sich vor, es ist das Jahr 1970 und Sie nehmen als vierjähriges Kind an einem Experiment teil, das Walter Mischel an der Stanford Universität durchführt. Sie werden in einen Raum in Ihrer Vorschule geführt, in dem Ihnen ein netter Mann Spielsachen gibt und eine Weile mit Ihnen spielt. Dann fragt der Mann Sie, ob Sie Marshmallows mögen, oder sagen wir: Eiskugeln (ja, die mögen Sie!), und als Nächstes, ob Sie lieber den Becher hier mit einer Eiskugel möchten oder den Becher dort mit zwei Eiskugeln (natürlich wollen Sie diesen). Dann sagt Ihnen der Mann, dass er jetzt für einen Moment aus dem Zimmer gehen müsse und dass Sie die zwei Eiskugeln haben könnten, falls Sie warten könnten, bis er zurückkomme. Falls Sie nicht warten wollten, könnten Sie eine Glocke läuten, dann komme er sofort zurück und Sie könnten dann den Becher mit der einen Eiskugel haben; in diesem Fall können Sie also die zwei Eiskugeln nicht haben. Dann geht der Mann. Sie starren die Eiskugeln an. Das Wasser läuft Ihnen im Mund zusammen. Sie möchten sie so gerne essen. Sie kämpfen gegen diesen Wunsch an. Falls Sie wie die meisten Vierjährigen sind, können Sie nur wenige Minuten warten. Dann läuten Sie die Glocke.
Machen wir nun einen Sprung ins Jahr 1985. Mischel hat Ihren Eltern einen Fragebogen geschickt, in dem diese Auskunft über Ihre Persönlichkeit geben sollen, über Ihre Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben und mit Frustration umzugehen, und über Ihre Leistungen in den Aufnahmeprüfungen für das College. Ihre Eltern schicken den Fragebogen zurück. Mischel stellt fest, dass die Anzahl der Sekunden, die Sie 1970 damit warteten, die Glocke zu läuten, nicht nur vorhersagt, was Ihre Eltern über Sie als Teenager sagen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, mit der Sie zu einer Spitzenuniversität zugelassen werden. Kinder, die 1970 die Reizkontrolle überwinden und die Belohnung einige Minuten länger aufschieben konnten, die konnten als Teenager Versuchungen besser widerstehen, sie konnten sich besser auf ihr Studium konzentrieren und hatten sich besser im Griff, wenn die Dinge nicht nach Wunsch liefen.27
Was war ihr Geheimnis? Es war hauptsächlich eine Strategie – die Art, wie Kinder ihre begrenzte mentale Kontrolle einsetzten, um ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Bei späteren Untersuchungen stellte Mischel fest, dass diejenigen Kinder Erfolg hatten, die von der Versuchung wegschauen oder an andere vergnügliche Aktivitäten denken konnten.28 So zu denken ist ein Aspekt emotionaler Intelligenz – die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle und Wünsche zu verstehen und zu lenken.29 Ein emotional intelligenter Mensch hat einen geschickten Reiter, der weiß, wie er den Elefanten ablenken und ihm gut zureden kann, ohne sich auf ein direktes Kräftemessen des stärkeren Willens einlassen zu müssen.
Die kontrollierte Verarbeitung kann die automatische allein durch Willenskraft kaum schlagen; es ist wie bei einem ermüdeten Muskel, die kontrollierte Verarbeitung ermüdet rasch und bricht zusammen, die automatische läuft wie von selbst, mühelos und endlos.30 Sobald Sie die Macht der Reizkontrolle verstehen, können Sie sie nutzen, indem Sie die Reize in Ihrer Umgebung verändern und unerwünschte vermeiden; oder, falls sich das nicht machen lässt, indem Sie sich weniger verlockende Aspekte ins Bewusstsein rufen. Um beispielsweise das sinnliche Anhaften am eigenen Körper (und dem Körper anderer) zu brechen, hat der Buddhismus Methoden entwickelt, bei denen über Leichen im Stadium der Verwesung meditiert wird.31 Indem man sich entscheidet, etwas anzuschauen, vor dem die automatische Verarbeitung sich ekelt, kann der Reiter nach und nach die künftigen Wünsche des Elefanten verändern.
Edgar Alan Poe wusste um den geteilten Geist. In seiner Erzählung Der Alb der Perversheit(The Imp of the Perverse) führt Poes Protagonist den perfekten Mord aus, erbt das Vermögen des Toten und genießt jahrelang in bester Gesundheit seine unrechtmäßig erworbenen Güter. Wann immer Gedanken an den Mord am Rande seines Bewusstseins auftauchen, murmelt er sich selbst zu: Ich bin sicher. Alles geht gut, bis er eines Tages sein Mantra umformuliert in: Ich bin sicher, ja, falls ich nicht töricht genug bin, ein offenes Geständnis abzulegen. – Mit diesem Gedanken zerbricht er. Er versucht, den Gedanken an ein Geständnis zu unterdrücken, doch je intensiver er es versucht, desto hartnäckiger wird der Gedanke. Er gerät in Panik, rennt umher, die Leute beginnen ihn zu verfolgen, er fällt in Ohnmacht und als er wieder zu sich kommt, sagt man ihm, dass er alles gestanden habe.
Ich liebe diese Geschichte, vor allem schon wegen ihres Titels. Wann immer ich auf einer Klippe, einem Dach oder einem hohen Balkon stehen, flüstert mir der Alb der Perversheit ins Ohr: „Spring!“ Es ist kein Befehl, nur ein Wort, das in meinem Bewusstsein auftaucht. Wenn ich bei einer Abendgesellschaft neben jemandem sitze, den oder die ich respektiere, dann gibt der Alb sich alle Mühe, die unangemessensten Dinge vorzuschlagen, die ich sagen könnte. Wer oder was ist dieser Alb? Dan Wegner, einer der „perversesten“ und kreativsten Sozialpsychologen, hat den Alb ins Labor geschleppt und ihm das Geständnis entlockt, dass er ein Aspekt der automatischen Verarbeitung ist.
Bei seinen Untersuchungen fordert Wegner die Teilnehmer auf, sich zu bemühen, nicht an etwas zu denken, etwa einen weißen Bären, Essen oder ein Stereotyp. Das ist schwierig. Noch wichtiger aber ist Folgendes: In dem Moment, in dem man damit aufhört, den Gedanken zu unterdrücken, taucht er wieder auf und ist noch schwerer zu verscheuchen. Mit anderen Worten, in seinem Labor erzeugt Wegner kleinere Zwänge, indem er die Versuchspersonen anweist, nicht zwanghaft an etwas zu denken. Wegner erklärt diese Wirkung als einen „ironischen Prozess“ mentaler Kontrolle.32 Wenn die kontrollierte Verarbeitung versucht, einen Gedanken zu beeinflussen („Denke nicht an einen weißen Bären!“), dann setzt sie ein klares Ziel. Und wann immer man ein Ziel anstrebt, verfolgt ein Teil des Verstandes automatisch den Fortschritt, sodass er Korrekturen anordnen kann oder weiß, wann man erfolgreich war.
Solange man einen Vorgang in der Alltagswelt anstrebt (etwa: rechtzeitig am Flughafen zu sein), funktioniert dieses Feedbacksystem gut. Ist das Ziel jedoch mental, so geht der Schuss nach hinten los. Die automatische Verarbeitung prüft ständig: „Denke ich auch nicht an einen weißen Bären?“ Und gerade der Vorgang des Überwachens, ob der Gedanke auch nicht da ist, führt diesen eben herbei und man muss sich intensiver bemühen, sein Bewusstsein davon abzulenken. Automatische und kontrollierte Prozesse arbeiten letztlich gegeneinander und feuern sich gegenseitig an, sich noch mehr ins Zeug zu legen. Doch weil die kontrollierten Prozesse rasch nachlassen, laufen die unermüdlichen automatischen Prozesse letztendlich ungehindert ab und beschwören ganze Herden weißer Bären herauf. Der Versuch, einen unangenehmen Gedanken zu verbannen, garantiert diesem Gedanken also einen Platz auf der Liste der häufig „wiedergekäuten“ Gedanken.
Noch einmal zurück zu mir und meiner Abendgesellschaft: Mein einfacher Gedanke „Mach dich nicht zum Narren“ löst automatisch einen Prozess des Suchens nach „Narreteien“ aus. Ich weiß, dass es dumm wäre, Bemerkungen über das Muttermal auf der Stirn zu machen, eine Liebeserklärung abzugeben oder Obszönitäten hinauszuposaunen. Trotzdem tauchen in meinem Bewusstsein drei Gedanken auf: Mach eine Bemerkung über das Muttermal oder sag: „Ich liebe dich“, oder schreie Obszönitäten herum. Es sind keine Befehle, nur Ideen, die mir durch den Kopf gehen. Freud hat seine Theorie der Psychoanalyse großenteils auf solche mentalen Einmischungen und freie Assoziationen gegründet und er stellte fest, dass sie oft sexuellen oder aggressiven Inhalts sind.
Doch Wegners Untersuchungen bieten eine einfachere und unschuldigere Erklärung: Automatische Prozesse produzieren täglich Tausende von Gedanken und Bildern, häufig durch zufällige Assoziation. Und von ihnen bleiben genau die hängen, die uns besonders schockieren, die wir zu unterdrücken oder zu verleugnen versuchen. Und wir unterdrücken sie nicht deshalb, weil wir tief in unserem Inneren glauben, dass sie wahr sind (wenngleich einige durchaus wahr sein können), sondern weil sie uns Angst machen oder wir uns ihrer schämen. Doch haben wir sie erst einmal vergeblich zu unterdrücken versucht, können sie zu genau den zwanghaften Gedanken werden, die uns die Freud’sche Vorstellung eines dunklen und bösen Unbewussten glauben machen.
Denken Sie einmal über die folgende Geschichte nach:
Julie und Mark sind Geschwister und gehen aufs gleiche College. In ihren Sommerferien reisen sie zusammen durch Frankreich. Eines Nachts bleiben sie allein in einer Blockhütte nahe am Strand. Sie kommen gemeinsam auf die Idee, dass es interessant sein und Spaß machen könnte, miteinander zu schlafen. Zumindest wäre es für beide eine neue Erfahrung. Julie nimmt bereits die Pille und dennoch benutzt Mark zusätzlich ein Kondom, um auf Nummer sicher zu gehen. Beide genießen dieses Erlebnis, beschließen aber, es nicht noch einmal zu tun. Diese Nacht bleibt ihr besonderes Geheimnis, wodurch sie sich einander nur noch näher fühlen.
Halten Sie es für akzeptabel, dass zwei mündige Erwachsene, die zufällig Geschwister sind, miteinander schlafen? Falls Sie so sind, wie die meisten Teilnehmer an meinen Untersuchungen, werden Sie sofort mit Nein antworten.33
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