Genosse Wang fragt - Cornelia Vospernik - E-Book

Genosse Wang fragt E-Book

Cornelia Vospernik

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Beschreibung

"Heute würde er es tun. Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben. Und auch keinen mangelnden Mut. Und keine Ausreden mehr. An dem, was er nun vorhatte, arbeitete er seit Jahren. Zu tun, was er wollte, würde heute noch Gelegenheit sein. Und es war das schwerste, was er sich je vorgenommen hatte: Der Journalist Genosse Wang würde eine Frage stellen." Genosse Wang ist Chinese - und Journalist. Eine unmögliche Kombination, wie dem fleißigen Schreiber des "Volksblattes" eines Tages bewusst wird. Als wäre es nämlich nicht schon schwer genug, als chinesischer Journalist bei einer Pressekonferenz eine "richtige" Frage stellen zu können, quälen den Genossen auch ständige Selbstzweifel, die er mit sich und vor sich herträgt. Zerrissen zwischen einem bösen Widersacher, dem Karrieristen Li, einem Chef mit Raubtieraugen und einer nach unschuldiger Seife riechenden Kollegin ist Genosse Wang der tragikomische Held in einem Leben voller Missverständnisse. "Genosse Wang fragt" ist eine skurril-komische Geschichte vor dem Hintergrund der heutigen chinesischen Realität in ihrem Zwiespalt zwischen Modernität und einem althergebrachten Propagandaapparat. Und ganz nebenbei regt Cornelia Vosperniks erster Roman auch dazu an, über die politische Realität in China, das Handwerk des Journalismus und die Grenzen menschlicher Kommunikation nachzudenken.

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Cornelia Vospernik

Genosse Wang fragt

Cornelia Vospernik

Genosse Wang fragt

Roman

Das ist ein fiktionales Werk. Die Handlung und die Personen dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen ist unbeabsichtigt und zufällig.

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00850-1 Copyright © 2012 by Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien unter Verwendung eines Gemäldes von Elisabeth Vospernik Typografische Gestaltung: Ekke Wolf, typic.at Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Für Johnny und Peking

Inhalt

1.

2.

3.

4.

5.

1.

HEUTE WÜRDE ER ES TUN. Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben. Und auch keinen mangelnden Mut. Und keine Ausreden mehr. Die Zeit war gekommen. Genosse Wang fühlte nur selten Anflüge solcher Sicherheit. Er wusste, wie kurz und flüchtig diese waren, und hatte begriffen, dass man solche Gelegenheiten ergreifen muss, wenn sie sich bieten. Mehr als das, man musste sie festhalten und augenblicklich umsetzen, woran man seit Langem dachte. An dem, was er nun vorhatte, arbeitete er seit Jahren, seit all den Jahren, in denen er schon für das Volksblatt schrieb. All die Jahre hatte er einen Vorsatz gehabt und strebte nach dieser einen Sache, die ihn nicht losließ. Aber Wang hatte nie den Mut aufgebracht, zur Tat zu schreiten. Nun aber war ihm, als fiele für Sekunden alle Schwere von ihm ab, als würde alles ganz klar. Alles, was er jetzt noch tun musste, war zu versuchen, aus diesen Sekunden Stunden zu machen. Denn zu tun, was er wollte, würde heute noch Gelegenheit sein. Und es war das Schwerste, was er sich je vorgenommen hatte.

Der Journalist Genosse Wang würde eine Frage stellen.

Endlich. Einfach so. Eine richtige Frage. Nicht mehr als das. Nicht weniger als das. Eindeutig. Er konnte es und sich schon genau vor sich sehen. Er hatte es schon so oft im Kopf durchgespielt.

Er würde aufstehen, langsam, aber bestimmt, er würde den Arm heben, nicht zu schnell, aber auch nicht zu zurückhaltend, er würde den Bauch einziehen und den Brustkorb nach vorne strecken, um sich selbst Mut zu machen und um größer zu erscheinen, er würde tief Luft holen, und dann würde er fragen. Er würde eine richtige Frage stellen. Ganz so wie ein echter Journalist. Aus seinem Mund würde sich ein Schwall an Worten ergießen, der nur deshalb ein Schwall wäre, weil seine Frage ihre Zeit in Anspruch nehmen würde, und nicht etwa deshalb, weil er sich in Details oder gar den Faden verlieren würde. Genosse Wang hatte an dieser Frage zu lange gefeilt, um das zu riskieren, und sie war auch zu wichtig, um in ihr den Faden zu verlieren oder gar nur ein Wort. Obwohl, nicht jedes Wort, das sich Genosse Wang zurechtgelegt hatte, schien präzise genug zu sein für sein großes Vorhaben. Nicht alles schien auf dem Punkt. Das machte ihn ängstlich und es machte ihn auch wütend. Wie nur konnte er, belesen und fleißig wie er war, ein Wort vermissen oder gar zwei? Wie war es möglich, dass er noch immer nicht alle Worte hatte? Nicht für diese eine Frage und nicht für all die anderen, die sich ihm stellen mussten, unweigerlich, früher oder später. Er hatte die Frage noch immer nicht, nach all der Zeit, die er damit verbracht hatte, an dieser Frage zu arbeiten. Nächtelang hatte er an ihr gefeilt. Und selbst wenn er nicht an ihr gefeilt hatte, war er wach gelegen, weil ihn die Ahnung, dass es das Wort doch irgendwo geben müsse, nicht schlafen ließ. Tagelang war er abwesend gewesen, weil die Suche nach dem Wort so von ihm Besitz ergriffen hatte, wie es bei seinen Kollegen nur Frauen und die Ahnung von ihren Körpern zu tun vermochten. Es hatte nicht geholfen. Genosse Wang war an der perfekten Frage fast verzweifelt. Er hatte über der perfekten Frage Stempel falsch aufgedrückt und Tinte vergossen. Er hatte Akten vergessen und sich die Rüge seines Chefs dafür eingeholt. Er hatte fehlerhafte Manuskripte abgegeben, so wie das nie vorgekommen war. Genosse Wang hatte Angst, über der Suche nach dem Wort für diese Frage verrückt zu werden. Nicht fragen zu können, hatte ihn verrückt gemacht. Ein Wort nicht zu finden, ließ ihn verzweifeln. Aber mehr als die Angst vor der verzweifelten Verrücktheit quälte ihn die für ihn unumstößliche Wahrheit, dass sein unaufhaltbar näher kommender Wahnsinn für jeden und immer sichtbar war. Er schämte sich für den Wahnsinn, der noch gar nicht gekommen war. Er schämte sich dafür, dass die anderen diesen Wahnsinn, gegen den er noch entschlossen anzukämpfen versuchte, gegen den er sich mit aller Kraft und allen Mitteln stellte, schon als gegeben ansehen würden. In seiner Vorstellung konnte er sie hinter seinem Rücken schon tuscheln hören über den grausamen Wahnsinn, der vom fleißigen Genossen Besitz ergriffen hatte, über den unweigerlichen Verfall dieses klugen Mannes, der nie anders aufgefallen war als durch zuverlässige Arbeit. Er konnte sie kichern hören. Er sah ihre spöttischen Gesichter und den kleinsten Anflug von Mitleid nur in den unwichtigsten Mitarbeiterinnen. Genossin Zhang, die ihm, ohne dazu aufgefordert zu werden, immer heißes Wasser in seine Tasse nachgoss und seine Akten mit der unaufdringlichen Perfektion einer wahrhaft guten Seele in Ordnung hielt, würde er sicher leidtun. Zumindest einen Augenblick lang. Aber auch Genossin Zhang würde nicht aussprechen, was offensichtlich wäre: dass hinter seinem ruhigen Gesicht der Wahnsinn tobte und er verrückt geworden war. Selbst Zhang würde sich abwenden. Jeder würde ihn meiden. Das durfte er seinen Ahnen nicht antun. Seine Asche würde wertlos, sein derzeitiges Leben keines, das ihn auf der Suche nach Vollkommenheit eine Stufe höher brächte, daher musste er sich dagegen stemmen. Denn er wusste, wenn er das nicht täte, würde eintreffen, was die Tuschelnden und Kichernden schon jetzt als gegeben ansahen: Genosse Wang würde wirklich durchdrehen. Irgendwann würde er aus Verzweiflung wegen der Unerreichbarkeit der Frage mit dem Kopf gegen eine Wand rennen, er würde sich die Stirn blutig schlagen an dem fehlenden Wort und an sich selbst, wenn er nicht endlich etwas täte. Er musste den Wahnsinn abwenden, nicht nur, weil er eine Schande war, sondern weil er nicht nachvollziehbar war. Wenn schon verrückt werden, dann aus einem erklärbaren Grund, dachte Genosse Wang, aber nicht so. Wie sollte er erklären, dass ihn nicht eine Frau, nicht seine Mutter, nicht der Alkohol und auch nicht die Unerreichbarkeit eines Kleinwagens chinesischer Bauart verrückt werden ließen, sondern allein die Möglichkeit der Frage und in ihr ein Wort? Wer sich mit der Suche nach einem Wort verteidigt, ist verdächtig. Und Verdächtigen, deren Motive nicht nachvollziehbar sind, kann nur eines blühen: Genauso wie die anderen nicht nachvollziehbar Sprechenden oder Schweigenden würde er wegen Subversion in Haft genommen werden. Und wer die Suche nach dem Wort oder gar das Wort selbst, so es denn doch gefunden würde, mitteilt, würde wegen Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt in Haft kommen. Das war das Los, das ihm blühen musste, so er es nicht endlich tat. Genosse Wang sah sich schon in einer finsteren Zelle, nach einem kurzen Prozess. Man würde ihm nicht die Milde der Umerziehung durch Arbeit angedeihen lassen, die das geringere Übel war, weil sie nicht in eine Vorstrafe mündete. Genosse Wang würde nicht die Ehre zuteil werden, in einem Umerziehungslager einen neuen Beruf zu erlernen und mit der Beschäftigung mit seinen Händen seinen Kopf und all die Fragen stillzulegen. Nein, ihm drohte Gefängnis. Ihm drohte die Isolation zwischen kalten Betonwänden und einem noch kälteren Betonboden, ihm drohten wenige Besuche und viele Appelle im Gefängnishof. Ihm drohte ein Prozess, der im Sinne der Anklage enden würde, das war völlig klar. Dass er seinen Anwalt davor nicht würde sehen können, war ohnehin gleichgültig. Sein schleichender Wahnsinn war subversiv. Und Genosse Wang sozusagen schon ein Krimineller. Diesen Gedanken konnte er nicht länger ertragen. Er musste die Frage stellen, er musste sie stellen, auch wenn ein Wort fehlte. Er musste es tun, um nicht verrückt zu werden. Denn es war verrückt, einen Beruf zu haben, der Fragen erforderte, und seit Jahren nicht zu fragen. Er würde es tun, genauso, wie er es sich schon so oft vorgestellt hatte, in seiner Euphorie vor dem Wahnsinn. Er würde fragen. Eine Frage stellen. Den Mund aufmachen. Genau das würde er tun. Genosse Wang war dazu entschlossen.

Er strich noch einmal die Krawatte glatt, die er sich säuberlich umgebunden hatte. Rot mit unmerklichem Muster, ein Muster, für das Genosse Wang wieder ein Wort fehlte. Noch eines. Denn Genosse Wang suchte ständig nach Worten und stellte immer wieder aufs Neue fest, dass es ihm an Worten fehlte, selbst ihm, jemandem, der nichts anderes tat, als Worte zu suchen und über ihnen zu grübeln. Auch für das Gefühl, das dieses Versagen in ihm auslöste, hatte er kein Wort. Sein Versagen nicht einmal benennen zu können, sinnierte Wang, muss das größte Versagen von allen sein. Vor allem aber hatte Genosse Wang in genau diesem Augenblick kein Wort für das Muster in seiner roten Krawatte. Aber sie war glattgestrichen. Und sie war sogar aus Seide. Er hatte sie bei einer Reise in den Süden erhalten, nach dem Abendessen und vor der Verabschiedung. Da sie aus Seide war, hatte sie ihn von Anfang an stutzig gemacht. Kader seiner Gehaltsgruppe erhielten für gewöhnlich keine Krawatten aus Seide. Seit mehr als einem Jahr, also schon seit er sie zum ersten Mal aus dem gelben Karton genommen hatte, hegte Genosse Wang den Verdacht, dass diese Krawatte eigentlich nicht für ihn bestimmt gewesen war, sondern vielmehr für Genossen Li, der zwar später zur Mannschaft gestoßen war, aber früher erkannt hatte, wonach dem Chef der Sinn wirklich steht. Li war derjenige gewesen, der sich mit kleinen Geschenken und geheimen Abendessen, die spät nachts in sogenannten Massagesalons ihr Ende fanden, Stück für Stück hochgearbeitet hatte. Er hatte gute Verbindungen und jetzt hatte er den Chef in der Hand. Beim Abendessen in Südchina war Genosse Wang durch eine unglückliche Verwechslung an dem Platz gelandet, der an der großen Tafel eigentlich für Genossen Li vorgesehen gewesen war. Um 18 Uhr, also zu dem Zeitpunkt, an dem die Delegation des Volksblattes laut dem seit drei Monaten feststehenden Programm bereits im Hotel Goldener Drache und im dortigen Lotussaal, 2. Stock, rechts, angekommen sein sollte, steckte der Kleinbus noch im Stau auf der Peking-Straße und noch nicht einmal in der Nähe des Volksplatzes. Die Delegation des Volksblattes kam ganze 15 Minuten zu spät an. Ein Affront sondergleichen. Genosse Wang wurde geradezu aus dem Bus gestoßen, als man endlich vor dem Hotel haltmachte, er wurde in den 2. Stock nach rechts in den Lotussaal geschubst, er wusste gar nicht mehr, von wem und wie. »Schnell, schnell«, war alles, was er noch in den Ohren hatte, vielleicht war es die fordernde und bestimmte Stimme des Chefs gewesen, aber jedenfalls rannte Wang in dieses Hotel und in diesen Saal, als renne er um sein Leben. Denn nichts konnte schlimmer sein, als in einer verspäteten Delegation der Letzte zu sein. Irgendjemand hatte ihn förmlich in diesen Sessel gedrückt, weil die ganze Delegation zu spät angekommen war und man sie eilig hinsetzen musste, da der lokale Parteisekretär mit seinem Gefolge schon im Anmarsch war. Nun war Genosse Li in der Hierarchie zwar über Genossen Wang, bei diesem Abendessen aber waren sie beide unbedeutend und nur Beiwerk für den großen Chef. Die Verwechslung der Plätze hatte keine großen Folgen, denn weder Li noch Wang mussten an diesem Abend jemanden begrüßen oder sich bei jemandem bedanken, sie mussten sich nur mehrere Male an diesem Abend erheben und mit allen möglichen anderen Männern, von denen der Großteil ebenfalls nur Beiwerk für den anderen großen Chef war, kleine Gläser Schnaps trinken. Den Männern, die neben ihnen zu sitzen gekommen waren, ging es genauso. Zur Rechten und zur Linken der Genossen Li und Wang saßen Herren, die weder einen Li noch einen Wang erwartet oder einen blassen Schimmer davon hatten, wer die Herren waren. Sie wussten nur: Das waren die Genossen der Redaktion aus der Zentrale. Und die lokalen Beiwerk-Herren, die höflich Visitenkarten zur Linken und Rechten verteilten, waren, ebenso wie Li und Wang, geübt darin, den ganzen Abend und die ganze Zeit über nichts zu sprechen, was auch nur annähernd von Gehalt wäre. Wang störte das nicht. Denn wenn er über nichts sprechen musste, fiel ihm weniger auf, dass ihm so viele Worte fehlen. Das Nichts war so wunderbar unpräzise, dass es keine Auseinandersetzung mit dem passenden oder unpassenden Wort erforderte. Bei Abendessen fühlte Wang nie diese wortlose Unzulänglichkeit, die er auch nicht benennen konnte. Einmal hatte er sich bei so einem Abendessen sogar den Spaß gemacht und die Wörter gezählt, die dabei gefallen waren. Er hatte eine hohe Frequenz von »Freundschaft« ausgemacht, die nur von einem Wort übertroffen wurde, genau genommen waren es zwei: ganbei, trockener Becher. Nach dem vierten Becher hatte Genosse Wang aufgehört, die Wörter zu zählen und säuberliche Striche auf seiner Hitliste zu machen, die er auf einer Serviette zu führen begonnen hatte. Wie viele Becher es bei dem Abendessen mit Li, der Delegation und dem Parteisekretär in Südchina gegeben hatte, wusste Wang auch nicht mehr. Er wusste aber noch genau, dass die Mädchen in ihren schönen roten qipao-Kleidern, die gegen Ende des Abendessens, also vor dem letzten ganbei, bei der Tür Position bezogen hatten, die Sitzordnung ganz genau studierten. Ein Mädchen hatte gelbe, längliche Kuverts aus Karton in der Hand, das andere hatte rote. An diesem schicksalhaften Abend bekam Genosse Wang, als er gerade versuchte, aufrecht aus diesem Raum zu gelangen, von einem lächelnden Mädchen mit der anmutigsten kleinen Verneigung eines der gelben Kuverts in die Hand gedrückt. Und Li, das wusste Wang noch genau, bekam vom anderen Mädchen mit einer nicht minder anmutigen Verneigung, die durch einen Knicks, der einen elfenbeinweißen Knöchel offenbarte, an Liebreiz nicht mehr zu übertreffen war, ein rotes Kuvert. Was in diesem gewesen war, beschäftigte Genossen Wang seit damals. Seit damals suchte er auch nach Indizien. Und er konnte sich ebenfalls seit damals nicht verzeihen, dass er in seiner Rivalität mit Li nur auf diesen geachtet und keine Erinnerung mehr daran hatte, welcher Farbe das Kuvert, das der Chef erhalten hatte, gewesen war. Zweifelsohne hätte bei der Wahl zwischen zwei Farben Stellvertreter Li in die Kategorie des Chefs gehört und Genosse Wang in die all der anderen. Aber man konnte nicht sagen, ob die Farben nach Hierarchie oder zufällig gewählt worden waren. Wang wusste nur: Der Chef war wenige Tage nach Ende der Reise in den Süden mit einer neuen Seidenkrawatte ins Büro gekommen, Li nicht. Und das konnte nur bedeuten, dass Li keine Krawatte erhalten hatte und folglich Wang jetzt eine Krawatte besaß, die rechtmäßig eigentlich seinem Rivalen zustand. Dieser Umstand bereitete Wang ebensoviel Genugtuung wie Sorge. Denn einerseits fühlte er sich stolz, eine Art Fetisch eines, wenn auch unfreiwilligen, Sieges über Li um den Hals zu tragen, andererseits aber fürchtete er die Konsequenzen, die eintreten würden, sollte die Krawattenverwechslung einmal auffliegen. Was, wenn der Chef Li seine Krawatte gezeigt und ihn gefragt hätte, ob er denn keine erhalten habe? Würde das Tragen einer Seidenkrawatte, die im Fall des Einkommens von Genosse Wang zweifellos nur ein Geschenk sein konnte und nicht ein normales Bekleidungsstück, das man sich als Zeitungskader gönnen kann, nicht eindeutig den Verdacht auf ihn lenken? Würde er nicht als Dieb dastehen? Oder gar als anmaßender Betrüger, der sich etwas um den Hals bindet, das seiner politischen Kragenweite nicht entspricht? Oder hatte der Chef womöglich die Verwechslung zwar bemerkt, musste aber darüber schweigen, um dem Genossen Li nicht das Gesicht zu nehmen? Oder ging der Chef gar so weit zu glauben, dass man Li im Parteisekretariat der südchinesischen Stadt absichtlich nicht die Krawatte, sondern das billigere Geschenk, von dem Wang so brennend gerne wissen wollte, was es denn gewesen sei, gegeben habe? War die Nichtkrawattenbeschenkung des Genossen Li die unverblümte, aber doch deutliche Art der südchinesischen Genossen, dem Chefredakteur mitzuteilen, dass er als Stellvertreter einen beschäftige, dessen Vater einst mit dem Parteisekretär der südchinesischen Stadt in der Frage des Immobilienprojektes Grüner Hain Ost auf den Gründen der alten Kooperative Nummer 22 in heftigen Streit geraten war? Wie konnte der Chefredakteur vergessen haben, dass Li’s Vater der Frau des Parteisekretärs diesen Auftrag einfach weggeschnappt hatte? Ausgerechnet ihr, die bereits die Projekte Grüner Hain Süd und Grüner Hain West zur vollsten Zufriedenheit der dort umgesiedelten Landbevölkerung, der Immobilienspekulanten, Banken und Investoren und vor allem mit größtem persönlichen Profit abgewickelt hatte! Sie war nicht nur wie geschaffen für dieses neue Projekt, sondern hatte dafür bei Banken und Investoren auch schon Geld aufgenommen. Wie dieser Coup möglich gewesen war, ist ohnehin schwer zu verstehen. Aber Li’s Vater kannte eben jemanden in der Nationalen Reform- und Entwicklungskommission, der das Projekt aus rechtlichen Gründen plötzlich gestoppt hatte. Dagegen konnte der Parteisekretär der Stadt dann nichts mehr tun, denn der Parteisekretär der Provinz wollte sich für ihn nicht einsetzen. Der Genosse Provinz-Parteisekretär hatte nämlich andere Sorgen als ein weiteres Immobilienprojekt in der südchinesischen Stadt. Er musste sich vielmehr für den nächsten Parteitag, der schon zwei Jahre später stattfinden sollte, in Position bringen. Nun hatte er seiner Meinung nach nämlich lange genug in der heißen südchinesischen Provinz gedient. Er wollte in das nächste Zentralkomitee gewählt werden, wenn nicht gar ins Politbüro. Und so ließ der Parteisekretär der Provinz den Parteisekretär der südchinesischen Stadt und dessen charmante Frau fallen. Und so wurde Grüner Hain Ost auf den Gründen der Kooperative 22 nicht etwa dauerhaft gestoppt, sondern mit druckfrischen und mit Stempeln übersäten Papieren der Nationalen Reform- und Entwicklungskommission versehen, die, nachdem im Plan für das Projekt Grüner Hain Ost die beiden Springbrunnen um jeweils zwei Meter versetzt worden waren, nun doch befand, dass das Projekt der Zielsetzung der harmonischen Entwicklung entsprach. Dass die Springbrunnen nur auf dem Plan verrückt worden waren, überprüfte niemand, und die Symmetrie der begabten Stadtentwickler, die dieses Anwesen im schönen »europäischen Stil« als Villen geplant hatten, wurde gewahrt. Nur wurden nun die Landbevölkerung, die Investoren und die Banken nicht von der Frau des Parteisekretärs beglückt, sondern von Genosse Li’s Vater, der unmittelbar nach dem Baustopp die Immobilienentwicklungsagentur Aufgehende Rote Sonne GmbH gegründet hatte, natürlich nicht als natürliche Person, sondern mit einem klugen Konstrukt, an dessen Spitze nun Frau Li stand, die das Projekt um einen Pappenstiel bekam und mit viel Profit an Immobilienspekulanten weiterverkaufen konnte. Herr Li war reich geworden, weil der Parteisekretär der südchinesischen Stadt nicht reicher werden durfte. Das könnte durchaus Stoff für Rache bieten, dachte Genosse Wang, der die rote Krawatte, deren Muster er noch immer nicht benennen konnte, nun in einem völlig anderen Licht sah. Wie er es auch drehte und wendete: Er gelangte zu dem Schluss, dass er am heutigen Tag genau diese Krawatte tragen musste und keine andere. Denn heute würde er es tun. Er würde eine Frage stellen.