Geocaching - Tödliche Weihnacht in Oberstdorf (NEUFASSUNG) - Dieter Krampe - E-Book

Geocaching - Tödliche Weihnacht in Oberstdorf (NEUFASSUNG) E-Book

Dieter Krampe

0,0

Beschreibung

Ex-Hauptkommissar Robert Schibulsky wird während seines Weihnachtsurlaubs gebeten, Nachforschungen zum Selbstmord des beliebten Kaplans der katholischen Gemeinde in Oberstdorf anzustellen. Schnell wird klar, dass die zuständigen Kommissare aus Kempten sehr oberflächlich zu Werke gegangen sind. Eine Investorengruppe, bestehend aus einem Pharmakonzern und einem Internethandel, treibt im Untergrund Pläne zu einem neuen Erlebnispark voran. Dem entgegen steht der kaum bekannte, aber mächtige Verein der RECHTLER, dem das angestrebte Bauland gehört. Kurz vor dem Jahreswechsel findet im Ort eine Charity statt, bei der während einer Geocaching-Suche hohe Preise ausgelobt sind. Hierbei können alte Rechnungen beglichen werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tödliche  Weihnacht  in  Oberstdorf

( 2013 )

GEOCACHING

in

47.407562  /10.277967

Oberstdorf

Gedächtnisprotokoll

des pensionierten Hauptkommissars

Robert Schibulsky

-  Teil 1  -

Neufassung

Autor:  Dieter Krampe

gewidmet:

Kommissar Kluftinger

(Klüpfel/Kobr)

Impressum

Copyright: © 2014 Dieter Krampe

Vorwort:Krankenhaus Bielefeld 19.01.2014, abends

Ich muss noch einige Tage hier im Evangelischen Krankenhaus in Bielefeld bleiben. Das Rumliegen ist zum Kotzen langweilig. Aber warum musste ich mich auch dem Entführer in den Weg stellen?

Vor zwei Wochen bin ich mit meinem Sohn, der einen schweren Skiunfall hatte, per Liegetransport aus der Klinik Oberstdorf hierhin in meinen Heimatort Bielefeld verlegt worden. Die Schmerzen, die ich durch mehrere Lungen- und Rippenquetschungen bei einem Zusammenstoß mit einem flüchtenden Motorradfahrer erlitten haben, schmerzen kaum noch. Aber der vermaledeite Oberschenkelhalsbruch am rechten Bein verheilt nur sehr langsam. Schuld ist bestimmt mein Diabetes mellitus. Zum Glück kann ich schon hier einige REHA-Übungen machen, so dass ich hoffe, bald wieder voll auf dem Damm zu sein.

Während meines diesjährigen Aufenthalts in Oberstdorf ist einiges Ungewöhnliches geschehen, das ich noch weiter verarbeiten muss. Um mein Weltbild wieder neu justieren zu können, schreibe ich diese Zeilen auf, vielleicht kannst du mir bei der Einordnung helfen. Denn ich weiß es besser als diese hochnäsigen, oberflächlichen Kommissare aus Kempten. Aber ich bin auf ewig dankbar, dass alles sich so geklärt hat.

PS:

Mein alter Freund Toni Endras, den ich seit einer REHA in Oberstdorf vor über fünf Jahren kenne, hat mir eine ganze Reihe seiner Heimatzeitungen, der Allgäuer Rundschau, zugeschickt. Er schrieb:

„Damit du auf dem Laufenden bleibst. Im Übrigen, auch die besten Grüße und ein dickes Dankeschön von meinem Sohn Peter, er ist gerade zum Polizeihauptmeister (PHM) mit Besoldungsstufe A 9 befördert worden.

Mit großem Interesse habe ich diese drei Artikel gelesen:

04.01.2014: Entführer der Witwe zu Hohenstein von Scharfschützen getötet.

06.01.2014: KHK Riethmüller klärt die drei Oberstdorf-Morde auf. Es gab nur einen Täter.

16.01.2014: Brandstiftung beim Hotel „Dolde“?

Zum letzten Bericht hat Toni eine keine Notiz geheftet.

„Ich könnte mir vorstellen, dass die Ursache nicht ein Heizofen war. Ich habe gehört, dass der Jungbauer des Kutschbetriebs und Ponyhofes Dominik Steingasser sehr sauer darüber sein soll, dass sein Vater Xaver beim neuen Kulturprojekt ungerechterweise verunglimpft worden sein soll.

Kapitel 1   -   Café  Gundlach            19.12., nachmittags

Sonne, keine Wolke, 12 Uhr Mittag, das Thermometer zeigt 31°C. Wenn die Bergwelt um den Marktflecken nicht von glitzernder Schneepracht bedeckt wäre, könnte man sich in den Tropen wähnen.

Der pensionierte Hauptkommissar Robert Schibulsky hat es sich nach dem Frühstück auf dem Balkon seiner Ferienwohnung im MONTANA Haus an der Trettachstraße gemütlich gemacht und die warmen Sonnenstrahlen genossen. Weihnachten muss er immer in den Bergen sein, das bedeutete seit fünfzehn Jahren:  Oberstdorf – ich komme.

Oberstdorf, das ist der südlichste Ort Deutschlands, dem im Jahre 1495 Kaiser Maximilian auf Wunsch des Fürstbischofs Friedrich von Augsburg die Marktrechte verlieh.

Vom nahen Kirchturm der Katholischen Pfarrkirche St. Johannes Baptist schlägt es drei. Die Sonne geht so langsam hinter dem Söllereck im Südwesten unter. Sprungartig meldet sich der Winter zurück, die Kälte brennt sofort auf Roberts Haut, und er verzieht sich nach drinnen.

Schibulsky war fast vierzig Jahre bei der Kripo in Bielefeld und hatte mehrere Abteilungen durchlaufen. Zuletzt war er bei der Mordkommission und brachte viele Täter vor den Kadi. 87% Erfolgsquote, ein Mann mit Spürnase eben.

Seinen Diabetes mellitus hatte er fahrlässig unterschätzt. Das kostete ihn vor fünf Jahren drei Zehen seines rechten Fußes. Seither bekam er nur noch ein paar neue Schuhe pro Jahr, allerdings konnte er diese stolz „orthopädisch“ nennen. Solche Überheblichkeit kostet dann schon mal schlappe 1800 €.

Nach mehreren Operationen und einem Jahr Pause stieg Schibulsky als Schwerbehinderter mit 70% wieder bei der Kripo Bielefeld ein. Seine Kollegen waren nett und hatten ihn noch nicht vergessen. Sie machten sich auch große Sorgen, dass er überbelastet werden könnte. So blieb für ihn plötzlich nur noch Schriftkram und Aktenarbeit.

Ein Klumpfuß ist sprichwörtlich wirklich ein Klotz am Bein. Und mit dem fühlte er sich sehr bald als besserer Hausmeister. Noch wurde er auf der Dienststelle geduldet. Doch so konnte es nicht weiter gehen. Und er ergriff vor gut drei Jahren die nächste und gleichzeitig letzte Möglichkeit, der Arbeitswelt frühzeitig „ade“ zu sagen. Schwerbehinderte bis Geburtsjahr 1951 konnten noch mit 63 Jahren in Rente. Folglich reichte er den Antrag auf Pensionierung zum 60. Geburtstag ein und nahm somit eine Kürzung seines Ruhegehalts von 10,8% in Kauf. Sein Engagement wurde ihm daraufhin per Urkunde bestätigt. Am letzten Arbeitstag gab es noch den obligatorischen Strauß Blumen. Seine Bürotür zierte aber schon ein neuer Name: PHK Rigobert Zurgeißel.

Aus den Augen, aus dem Sinn.

In den letzten zwei Jahren war Schibulsky sehr oft auf Reisen, vornehmlich Kreuzfahrten. Mallorca wurde seine zweite Heimat. Mal reiste er mit, mal ohne Kerstin. „Ich fahre, solange ich das mit meinem Fuß noch kann!“

Kerstin ist erst 58 und seit fast vierzig Jahren seine Frau. Zwar plagen sie zuletzt immer häufiger Schmerzen hier und Schmerzen da. Während ihrer letzten Island-Kreuzfahrt mit der AIDA dachte sie sogar laut darüber nach, ob und wie sie vielleicht auch vorzeitig in Rente gehen könnte. Sie geht aber noch zu sehr in ihrem Beruf als Erzieherin in einem Kinderheim auf. Zudem ist sie auch abends meist unterwegs: Frauenturnen, Osteoporose-Gruppen bei der VHS und was man noch so seinem Mann angeben kann. Ruhestand kommt für sie noch nicht in Frage.

Vor zwei Jahren hat Kerstin eine Wohnung im MONTANA Haus gegenüber der Klinik Oberstdorf gekauft. Nach dem Oberstdorfer Modell teilen sich dort elf verschiedene Besitzer eine Wohnung. Als eine betagte Dame aus Köln ihren Anteil vom 15. Dezember bis zum 15. Januar verkaufen wollte, schlug Kerstin zu. Neben der Wohnung im 2. Stock kann sie jetzt auch ein Schwimmbecken, eine Sauna, einen Fitnessraum und eine Kneippanlage im Keller des Hauses nutzen.

Robert wollte in diesem Jahr die gesamte Belegungszeit ausnutzen. Daher reiste er gestern schon vor Weihnachten mit dem Zug an. Über zehn Stunden ging es quer durch Deutschland. 

Nach dem Sonnenbad hat er sich nun telefonisch mit seinem alten Freund verabredet. Toni Endras war bis vor fünf Jahren der Dorfpolizist  hier in Oberstdorf gewesen. Der 70-jährige wohnt seit seiner Geburt im Ortsteil Reute an der Bundesstraße B19 zum Kleinwalsertal.

Die beiden hatten sich während Roberts REHA-Zeit kennengelernt. Seitdem treffen sie sich regelmäßig im Café Gundlach in der Metzgerstraße oder zu Wanderungen in einem der Täler.

Als Robert im Café eintrifft, diskutiert Toni schon angeregt mit dem Konditormeister Josef Gundlach, der den 1957 gegründeten Betrieb nun in dritter Generation übernommen hat. Zur Erinnerung  ziert den Gastbereich im 1. Stock das riesige Schwarz-Weiß-Foto des Heimatortes aus genau diesem Gründungsjahr.

„Ich sag dir, mit dem Selbstmord vom Kaplan stimmt was nicht“, ereifert sich der Toni.

„Mach´ mal halb lang, Toni. Du siehst doch schon wieder Gespenster.“ Der Konditor drückt seine Hände beruhigend auf Tonis Schulter. Der nimmt in diesem Augenblick Robert wahr und wendet sich rasch dem erwarteten Freund zu. Die beiden ausrangierten Gesetzeshüter umarmen sich herzlich.

„Na, Toni, wie geht´s dir? Gut schaust du aus.“ Der Alte muss sich eine winzige Träne verkneifen.

„Schön, Robert, dich zu sehen.“ Toni betrachtet Robert anerkennend und mit einem breiten Grinsen. „Wie immer: typisch Urlauber, braun gebrannt und ganz entspannt. Dich haben sie auch zu früh aus dem Dienst gelassen.“ Toni zeigt deutlich seine Missachtung, schüttelt aber, um nicht missverstanden zu werden, lächelnd den Kopf.

Die beiden lassen den Konditor unbeachtet links stehen und gehen zu ihrem Stammtisch.

„Du sagtest am Telefon, dass du allein gekommen bist. Was ist denn mit der Kerstin?“

„Alles in Ordnung. Zuerst wollte sie ja auch gleich am 15. Dezember mitfahren. Aber dann hat sie ihr Heimleiter doch wie immer so lange bequatscht, dass sie jetzt doch wieder die Weihnachtsfeier und die Messe für die Heimkinder gestaltet. Sie kommt am 1. Weihnachtstag mit unserem Twingo nach.“

„Ach, habt ihr jetzt auch einen Hund? Du wolltest doch nie einen.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na, Twingo ist doch bestimmt ein Hundename, bestimmt so ein putziges Schoßhündchen, oder? So wie unser Bingo.“

„Scherzbold, das ist doch unser Wagen. Echte französische Wertarbeit, mit Schiebedach.“

„Und deshalb bist du gestern mit der Bahn gekommen?“

„Genau, alte Spürnase. Nachdem klar war, dass Kerstin nicht vor Heiligabend fährt, habe ich mir im Internet schnell noch ein Sparticket für 29 Euro besorgen können. Und so bin ich schon hier und bleibe fast vier Wochen.“

Die beiden tauschen danach ihre Krankheitsgeschichten aus und genießen ihre Marzipantorte. Als Diabetiker hat Robert schon in weiser Voraussicht ein paar Einheiten Insulin mehr gespritzt.

Jetzt kreist ihm aber immer wieder das Gespräch im Kopf herum, das sein Freund mit dem Cafébesitzer bei seiner Ankunft geführt hatte. Bei seinem zweiten Bissen platzt es deshalb aus ihm heraus, nicht ohne einen Teil der Torte dabei auf das Tischtuch zu spucken:

„Geh´, Toni, hast du vorhin …. „Entschuldigung!“ Er wischt den Kuchenspritzer mit der rechten Hand vom Tisch und schaut seinen Freund mit verkniffenen Augen an.

„Dafür ist der Kuchen aber zu teuer, um ihn auszuspeien“, freut sich Toni.

 „Hast du vorhin über den jungen Kaplan hier aus Oberstdorf gesprochen, der bei Pfarrer Altmayer angefangen hat, als ich vor fünf Jahren hier zur REHA war?“

„Über genau den?“

„Wie hieß der gleich noch mal.“

„Teuffel, Marc Teuffel, der war gerade mal 30 Jahre.“

„Und der soll Selbstmord begangen haben?“

„Pst, Robert, leise, leise.“ Toni schaut sich dabei vorsichtig im Raum um, ob einer der Gäste etwas mitbekommen hat. Er flüstert weiter: „Hier im Dorf weiß eigentlich noch keiner, woran der Teuffel gestorben ist.“

Robert nickt verständnisvoll und flüstert zurück: „Ich erinnere mich, dass er aus Weißrussland stammte, oder irre ich mich?“

„Der Altmayer will die Geschichte möglichst unter der Decke halten. Und der Kommissar aus Kempten geht genauso wie mein Sohn Peter von Selbstmord aus.“

„Ja, aber der Kaplan war doch ein äußerst lebenslustiger Mensch mit offen zur Schau gestellter Lebensfreude.“

„Siehst du, Robert, dasselbe sag´ ich ja auch. Zumal ich ihn noch kurz vor seinem Tod gesehen habe. Teuffel hielt vor zwei Wochen die Messe in der Kapelle St. Maria Loretto. Ich war dabei. Mit strahlenden Augen hatte der Kaplan in seiner kurzen Predigt die Besucher zu mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern aufgerufen. Und zwei Stunden später war er dann tot. – Am nächsten Morgen wurde er natürlich im Pfarrhaus vermisst, und gegen Mittag haben sie den toten Kaplan hinter der Krippenwand in der kleinen Appachkapelle gefunden. Mit einem Pistolenschuss in den Mund saß er wohl auf einem Stuhl neben dem Holzkreuz, mit der Pistole in der rechten und einem Abschiedsbrief in der linken Hand.“

Robert wundert sich: „Verdorri nochmal, Toni, woher weißt du das denn alles? Warst du etwa dabei?“

„Von meinem Sohn halt, mein Peter ist doch Polizeiobermeister hier im Ort.“

Robert denkt an seine positiven Begegnungen mit dem Kirchenmann und schüttelt den Kopf. Er sieht den Kaplan leiblich vor sich stehen, wie er gerade die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde begeistert und aktiviert hat. Sie kamen zu seinen Jugendtreffs, insbesondere zum kostenlosen Internet-Café, das der Kaplan schon sofort nach seinem Amtsantritt in der Pfarrei eingerichtet und mit den Jugendlichen selbst aufgebaut hatte. Marc Teuffel machte allen Blödsinn mit den Kindern mit, spielte sogar Fußball mit ihnen oder ging mit zum Jogging.

„Aber du hast Zweifel, dass es sich um Selbstmord handelt?“ Robert studiert dabei den Gesichtsausdruck seines Freundes.

„Ich bin mir sicher, dass da was nicht stimmt. Das sagt mir mein Gefühl, und das hat mich ein Leben lang nur ganz selten betrogen.“ Toni erhebt zaghaft die rechte Hand mit drei gestreckten Fingern, wie zu einem Schwur, und schaut seinem Freund ebenso tief in die Augen.

Kapitel 2  -  Bielefeld           19.12., abends

Sebastian hat den ganzen Nachmittag Mathematik gebüffelt. Der 19-Jährige geht seit drei Jahren in die Oberstufe des Max-Planck-Gymnasiums in Bielefeld; seine Fachoberschulreife mit Qualifikation hat er zuvor wie seine ältere Schwester Britta in der Hauptschule gemacht. Morgen steht noch die dritte Arbeit der Abiturklasse an. Analysis – wann soll man das denn mal gebrauchen können?  

„Ätzend!“, denkt Sebastian, „dasselbe wie in jedem Jahr, immer kurz vor den Ferien. Eine Arbeit folgt der anderen. Wahrscheinlich haben die Pauker sonst über Weihnachten nicht genug Beschäftigung.“

Jetzt sitzt er vor seinem Laptop und chattet mit anderen Kids aus seiner Klasse. „Haste schon gehört?“, lautet jeder vierte Eintrag, und dann wird auf Teufel komm raus mit neuen Wortschatzerweiterungen des Internets herumgeworfen: like oder lol!

 „Ätzend“, denkt Sebastian wieder, „wie die alten Schwimmerinnen, die früh morgens in breiter Front ihre Bahn im Hallenbad ziehen. Da geht’s dann auch immer: „Habense schon gehört?“

Im Wohnzimmer im Parterre rumort sein Stiefvater herum. Frederik. Der ist gerade aus der Firma nach Hause gekommen. MERCEDES UNGERN  – Autos mit dem Stern – na das ist ja ein Super-Slogan, steht sogar auf dem Firmenlogo. Bei diesem Gedanken muss Sebastian stets zwangsläufig kopfschüttelnd lachen. Peinlich, peinlich.

Frederik ist jetzt 40 Jahre alt, schaut sogar noch jünger aus. Er hat ursprünglich Studienrat werden wollen, hat aber nach seinem ersten Praktikum schnell erkannt, dass er mit Schülern überhaupt nicht klar kommt. Er hat schnell die Reißleine gezogen und eine Lehre bei Mercedes als Einzelhandelskaufmann abgeschlossen. Dann gewann er das Herz der sechs Jahre älteren Tochter seines Chefs, die von ihrem ersten Mann mit zwei Kindern sitzen gelassen worden war.

Als Frederik bei der ihm angetragenen Hochzeit allerdings auch den Nachnamen seiner Braut annehmen sollte, streikte er und sagte stets: „Ungern würde ich Ungern heißen, mir reicht da schon der Firmenname.“

„Du, Basti, bist du mit den Schularbeiten fertig? Und hast du deinen Koffer schon gepackt?“, schreit Frederik plötzlich in die Stille. Sebastian hört es, aber kann sich noch nicht zu einer Antwort durchringen.

„Hörst du, Basti?“

Mühsam bewegt Sebastian seinen Kopf weg vom Bildschirm hin zur halb geöffneten Tür. „Klaro, wir schreiben morgen früh noch ´ne Mathe-Klausur. Deswegen haben wir nur wenig für Latein und Englisch aufgekriegt.“

„Du meinst aufbekommen!“

Sebastian mault leise: „Klaro, aufbekommen. Vatterns Pädagogik-Studium kommt wieder durch!“, aber laut erwidert er: „Du hast Recht; es muss aufbekommen heißen! Ich schreibe es zehnmal, mit Unterschrift der Eltern, einverstanden?“

„Würdest du bitte für uns mal im Internet nachschauen, welche  Veranstaltungen unser Urlaubsort für die Weihnachtszeit zu bieten hat?“

„Geht klar, Chef! Wo hält Opa sich jetzt noch mal auf?“

„Ach Basti, das weißt du doch. Über Weihnachten sind wir alle doch immer in Oberstdorf im Allgäu. Und am Samstagmorgen fahren wir los. Also, pack deine Sachen bald!“

„Klaro, tote Hose in Oberstdorf! Hoffentlich bringen die grauen Panther wenigstens scharfe Mädels mit,“ lächelt Sebastian. Nachdem er sich bei seinen Chat-Partnern verabschiedet hat, geht er auf die Seite „www.oberstdorf.de“. Er kopiert alles, was er für seine alten Herrschaften für interessant hält.

Plötzlich entdeckt er auf der Homepage, was ihn die nächsten Tage nicht mehr loslässt. Ein Plakat mit einer Einladung der örtlichen Geocaching-Gruppe zu einer Jubiläums-Charity:

GEOCACHING-Charity

in

OBERSTDORF

Jubiläumsrallye der „ALLGÄU-PIRATEN“

zum fünfjährigen Bestehen

am Montag, 30.12.2013

EINLADUNG

an alle Geocaching-Clubs Deutschlands,

besonders auch an die Feriengäste in Oberstdorf

Teilnahme: 250.- €/Person

Hauptpreis:  DREI PFUND GOLD

Zusätzlich:    3.000 €

Beginn:  17:17 Uhr             Ende: 20:59 Uhr

Jeder Teilnehmer erhält zu diesem Zeitpunkt eine Email mit den GPS-    Koordinaten und den Aufgaben an der 1. Station.

   Anmeldung:  a) bis zum 23.12.2013:

per Einzahlung auf das Konto:

   „ALLGÄU-PIRATEN“

   Konto:   999 875 222 0

   BLZ:      733 500 00

   Sparkasse Allgäu

Stichwort:   GPS mit „Name“ und „Email-Adresse“

     b)bis zum 28.12.2013: 

per Barzahlung im Oberstdorf Haus

   Let`s find the cache …..

Sebastian druckt seine Recherchen aus und springt die Treppe hinunter. Seine Mutter Vera ist inzwischen auch aus der Firma zurück und betrachtet sich kritisch im Flurspiegel.

„Schlank? – Ja. Jung? – Nein. Begehrenswert?“ Zum Glück begrüßt sie ihr Sohn, bevor sie die Antwort formulieren kann.

„Hallo, Muttern.“ Er küsst sie auf ihre rechte Wange. „Ich habe euch ein paar Veranstaltungen in Oberstdorf und Umgebung herausgesucht.“

Vera sieht abgespannt und wirklich urlaubsreif aus. „Schön, schön, Basti. Habt ihr was zu essen gemacht?“

„Es müsste noch Pizza im Gefrierschrank sein.“

Frederik erscheint in der Wohnzimmertür. „Ach lasst mal die blöde Pizza. Ich habe uns einen Tisch bei Mövenpick reservieren lassen.“

Vera nickt teilnahmslos: „Schön, schön. Aber ich brauche erst mal ein heißes Bad.“ Sie dreht sich zur Treppe und will nach oben gehen.

„Ach, habt ihr schon Weihnachtsgeschenke für Britta und mich?“, fragt der Pennäler spitzbübisch.

Frederik blickt fragend zu Vera hinüber: „Haben wir?“

Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Natürlich haben wir! Warum fragst du?“

Sebastian druckst herum und flüstert fast: „Auf der Oberstdorf-Seite im Internet kündigen die ein Gewinnspiel für Schatzsucher zu Wohltätigkeitszwecken an. Die Teilnahme kostet allerdings 250 €.“

Vera  steigt die Treppe hinauf. „Und du meinst, ich soll dir die Teilnahme finanzieren, richtig, Basti?“

„Ätzend, dass ich so ´ne schlaue Mutter habe. Und Britta will doch bestimmt auch mitmachen.“

Kapitel 3  -  Loretto                     20.12., morgens

Die Sonne lacht weiterhin von einem fast makellos blauen Himmel. In der Nacht war die Temperatur auf - 5° C herunter gegangen. Raureif hat sich wieder auf die Dächer und Gärten der Nachbarschaft gelegt.

Kurz vor zehn Uhr verlässt Robert Schibulsky seine Wohnung in der Nähe des Oberstdorfer Bahnhofs. Nach wenigen Minuten erreicht er gerade noch den Bus nach Birgsau. Dicht gedrängt quetschen sich schon jetzt die Skifahrer mit ihren Brettern und Stöcken in den Bus, der sie zur Fellhornbahn bringt. Nicht einmal zehn Minuten später steht der Hauptkommissar AD vor den drei Lorettokapellen im Süden des Marktortes. Diese bilden laut Broschüre der Kirchengemeinde „ein einzigartiges Ensemble der süddeutschen Sakralarchitektur“. Rechts, das bedeutet im Süden, befindet sich die jüngste und größte der drei Kapellen: die Josefskapelle, die 1671 errichtet wurde.

Robert öffnet die unverschlossene Holztür. Doch nach drei Schritten versperrt ein Eisengitter seinen Weg in die rechteckige Kapelle. Sein Blick schweift kurz von rechts nach links. Er erkennt den wertvollen Palmesel aus dem Jahr 1729, der erst seit gut hundert Jahren aus der Pfarrkirche im Ort hierher gebracht und aufbewahrt wird, und den Hochaltar an der gegenüberliegenden Nische mit der Abbildung der Heiligen Familie, bei der neben der Jungfrau Maria der heilige Josef ins Zentrum rückt. Über dem Bild erinnert Robert eine Inschrift an den eigentlichen Grund seines morgendlichen Ausflugs: „MORTEM MORIENDO DESTRUXIT“ – „Durch seinen Tod hat er den Tod vernichtet.“

Robert  verlässt die Kapelle und biegt nach rechts zur mittleren Kapelle, die diesem Ort den Namen gegeben hat: Maria Loretto. Die Flur, auf der die Gotteshäuser gebaut wurden, soll der Überlieferung nach einer vornehmen Dame namens Loretha gehört haben.

„Hier bist du richtig!“, denkt sich Robert. Eine weiße Tafel vor dem Eingang bestätigt ihn.  Sie verkündet allen Interessierten, dass in dieser Marienkapelle samstags um 9:00 Uhr und dienstags um 19:00 Uhr die Messe gelesen wird. Erwartungsfroh betritt er durch eine niedrige Seitentür einen Vorraum, von dem man eine stets geschlossene Tür zum Inneren der mittleren Kapelle aufdrücken kann.

Der Innenraum der 1657 errichteten Kapelle ist sonnendurchflutet durch die großen Fenster, deren Eisengitter ihre Schatten auf den Mittelgang werfen. Die Form eines regelmäßigen Achtecks ist gut zu erkennen. Rechts und links des Ganges stehen je acht Reihen Holzbänke; die insgesamt zirka hundert Gläubigen Platz bieten. Am Ende des Mittelganges versperrt ein massives und reich geschmiedetes Eisengitter den Zugang zum Altarraum. In der Mitte befindet sich eine Tür, die jetzt mit einem dicken Schloss gesichert, aber während einer Messe sicherlich geöffnet wird. Dahinter erstrahlt der prachtvolle Rokokohochaltar von 1741. Zentral ist das altehrwürdige Gnadenbild eingefügt, die bekleidete Madonnenfigur, die ursprünglich um 1500 entstand und auf dem Altar der benachbarten älteren Appachkapelle stand.

Schibulsky schaut sich anschließend intensiv im Zuhörerbereich um. Da die Kapelle seit dem Tod des Kaplans nicht mehr gereinigt worden zu sein scheint, hofft er, vielleicht noch etwas Verdächtiges zu finden. Trotz Einsatz von Taschenlampe und Handfeger, den der Kommissar im Vorraum gefunden hat, stellt sich als einzige Ausbeute einige unter die Bänke geklebte Kaugummis, eine wohl aus Versehen herausgerissene Ecke einer Gebetbuchseite 126/127 und ein grüner Schraubverschluss einer kleinen Flasche ein, die er in der rechten vorderen Ecke fand, über der auf einem Gemälde die seit 1665 stattfindende Wallfahrt aus dem Tiroler Lechtal dargestellt ist.

Der Kommissar füllt alle Fundstücke in kleine Plastiktüten, die er stets dabei hat, eine seiner Marotten, die er aus seiner aktiven Zeit wie eingebrannt übernommen hat, und steckt sie in seine Jackentasche.

Er schaut grimmig und schüttelt ungläubig den Kopf. Wenn sein alter Freund Endras mit seinem Mordverdacht Recht habe sollte, hätte er sich doch zum Beispiel Schleifspuren oder andere Indizien gewünscht. Fehlanzeige.

Enttäuscht verlässt Robert die Marienkapelle und stapft durch den Restschnee hinüber zur allein stehenden Appachkapelle, in der der tote Kaplan gefunden worden war. Der Name leitet sich vom Wort „Abbach“ ab. Der mittlere der drei Quellflüsse der Iller, also die Stillach, war im Mittelalter oft verheerend über ihr Flussbett getreten und hatte die Felder des Oberstdorfer Ösch und die Ernten zerstört. Da gelobten die Oberstdorfer eine Kapelle zu errichten, wenn der Fluss einen anderen Ablauf nehmen würde. Dies trat tatsächlich nach einem Bittgang mit Kreuz und Fahne ein.

Die Appachkapelle ist viel, viel kleiner als die beiden anderen. Sie wurde nachweislich bereits im Jahr 1493 geweiht. Ihr Grundriss ist ein unregelmäßiges Achteck mit Wandmalereien an drei ihrer Innenwände, die allerdings nach einigen Übertünchungen nur schwer erkennbar sind.

Zu Roberts Erstaunen ist die Eingangstür hier offen. Er betritt den nur ca. 6 m großen Raum, der in der Mitte durch drei Krippenbilder von ca. 1,50 m Höhe geteilt ist, die aus der Zeit um 1725 stammen und auf ganzer Breite den Durchgang zur barocken Holzskulptur eines Auferstehungschristus versperrt.

Direkt hinter den  Stellwänden ragen drei Tannenbäume bis fast unter die Holzdecke. Robert versucht die Holzwände des Krippenbildes von der Mauer zu bewegen. Am rechten Bild, auf dem einer der drei heiligen Könige das neu geborene Jesuskind in Händen hält, hat er Erfolg. Diese Tafel lässt sich in die Mitte des Raumes drehen. Hinter der Wand hat ein einfacher Stuhl kaum Platz neben den Tannen und dem kleinen Altartisch mit einem gekreuzigten Christus am Holzkreuz.

Der Kommissar muss diese Skulptur noch einmal genau betrachten. Richtig, das ist ja der sogenannte „Auferstehungschristus“, der vor zwei Jahren gestohlen und dank seines Eingreifens wieder zurückgebracht worden war. Ein wenig Stolz steigt in ihm auf, dann setzt er seine Untersuchung fort.

Hinter dem Stuhl befindet sich ein riesiger Blutfleck, deren Spritzer sich bis hoch zum südöstlichen Fenster erstrecken. Dieser hat fast die Form eines Heiligenscheins, allerdings nicht golden wie auf fast allen Gemälden des Mittelalters. Hier muss zweifelsohne der tödliche Schuss erfolgt sein.

Robert sucht auch in dieser Kapelle nach Gegenständen, die mit dem Tod des Kaplans in Zusammenhang stehen könnten. Auf den braunen Bodenfliesen findet er genau auf der Kreuzabbildung ein ausgespucktes Kaugummi. An der rechten Stellwand hängt ein Stückchen Stoff. Beides verschwindet wieder in Roberts Folientütchen. 

Das Licht seiner starken Taschenlampe zeigt auch vor den Krippenbildern leichte Blutspuren, die auf weggewischte Schuhabdrücke schließen lassen.

Kapitel 4   -   Schattenberg        20.12., morgens

Dorothea Schneider muss jetzt aus dem Sattel gehen. Die aktuelle Mountainbike-Vizeeuropameisterin der EM in Bern fährt den Wanderweg von der Oybele Festhalle hinauf zur Gaststätte „Kühberg“. Trotz des strahlenden Sonnenscheins ist die 25-Jährige dick vermummt mit Pudelmütze und Handschuhen.

Oben angekommen fährt sie weiter Richtung Oytal, biegt dann nach links ab und nimmt die Zufahrtsstraße zu den Skischanzen oberhalb der Erdinger Arena. Kurz vor der historischen Sportstätte, auf der jährlich, wie auch in der übernächsten Woche, das Eröffnungsspringen der Internationalen Vierschanzen-Tournee ausgetragen wird, lenkt sie ihr Spezialrad einen schmalen 21% steilen Pfad den Schattenberg hinauf. Nach 100 m führt der Weg dann nach Norden. Anschließend rast sie den Berg todesmutig wieder hinunter und stellt ihr Rad am Fahrstuhl zur Großschanze ab.

Die deutsche Nationalmannschaft der Skispringer trainiert gerade auf der Schanze, bevor die Athleten und ihre Betreuer über die Weihnachtstage für vier Tage frei bekommen. Das Oberstdorfer Nachwuchstalent Karl Geiger grüßt flüchtig zu ihr herüber. Dorothea interessiert sich im Augenblick allerdings nicht für die Sportler. Sie wartet am Fahrstuhl und macht einige Lockerungsübungen.

Um kurz vor elf nähert sich ein BMW X6 in Midnight Blue metallic. Die Luxuskarosse biegt kurz vor den Schanzen auf den Parkplatz am Hüttendorf, in dem jede Nation ihre eigene Hütte für die Springer und die Service-Leute für die Zeit der Tournee bezieht. Die drei Insassen des Fahrzeugs steigen gemächlich aus. Alle drei schauen sich in alle Richtungen um, gerade so, als fürchten sie sich beobachtet zu werden.

Und sie werden beobachtet. Dorothea hat aus ihrem Minirucksack, den sie auf den Rücken geschnallt trägt, eine kleine LUMIX-Kompaktkamera hervorgezaubert. Per Teleobjektiv sieht sie die drei Herren scharf und klar vor dem BMW und schießt ein Foto, als alle praktisch unbewusst direkt in die Kamera schauen.

Der Fahrer ist noch blutjung. Nico Winterscheid, 1,88 m groß, drahtige Figur, lange blonde Haare mit einer größeren grauen Strähne an der linken Schläfe. Mit seinen 24 Lenzen ist er Juniorchef des EUROMIX-TECHNOLOGY-Konzerns in Lindau am Bodensee. Ihn kennt Dorothea schon, er hat sich in ihren GEOCACHING-Club eingekauft, und zwar so nachdrücklich, dass er bei der letzten Wahl zum Vorsitzenden mit zwei Drittel Mehrheit gewählt wurde.

Bei dem älteren Herrn im eleganten anthrazitfarbenen Lodenmantel handelt es sich um den Justiziar der Familie zu Hohenstein und des EUROMIX Konzerns, Dr. Werner Brandenburg. Seine von einem schmalen Haarkranz umgegebene Glatze blitzt ihr richtig entgegen. Mit seinem Gamsbarthut, dem hellgrauen Leinenjanker und den unvermeidliche dunkelgrünen Haferlschuhen erkennt die BMX-Fahrerin sofort Korbinian Einödhofer, den 1. Bürgermeister der Gemeinde Oberstdorf.

Die drei verschwinden gerade im Glaszelt, das während der Wintermonate zwischen den beiden Schanzen aufgebaut ist und zu Veranstaltungen gebucht werden kann. Dorothea läuft den Hügel zum Parkplatz hinunter, bis sie die drei hinter den Glaswänden sehen kann. Sie sitzen an einem ebenfalls gläsernen Tisch,  diskutieren angeregt und orientieren sich dabei ständig auf einer Landkarte. Sie hält auch das im Bild fest.

Nach fünfzehn Minuten kommen die drei wieder heraus. Dorothea kann sich gerade noch hinter die Hütte der Norweger zwängen. Am Rand des Parkplatzes bleiben die drei stehen. Winterscheid führt jetzt das Wort, Einödhofer antwortet meistens nur kurz, allerdings versteht Dorothea nur einige Wortfetzen:

„  ein großes Ding…...Steuereinnah……..steht zur Verfügung……Flächennutzungs…..kein Problem….  Parkplatz unten…. Trettach……Seilbahn für zehn……Touristen in…… ganzen Jahr….“

Dorothea Schneider hat genug gehört und vor allem gesehen. Sie läuft den Hügel hoch zum Fahrstuhl, verstaut die Kamera und schwingt sich auf ihr Mountainbike. In rasender Fahrt passiert sie mit fünfzig Metern Abstand die drei, die sie gar nicht wahrnehmen, und strebt über die Oytalstraße dem Dorfzentrum entgegen.

Kapitel 5  -  Pfarrhof           20.12., mittags

Schibulsky überlegt kurz, ob er für den Rückweg ins Dorf wieder den Bus nehmen soll. Der fährt allerdings nur halbstündlich und kommt erst in zwanzig Minuten. Deshalb macht er sich zu Fuß auf den Weg. Die Loretto- und anschließend die Prinzenstraße führen ihn direkt zum Ortszentrum: die katholische Kirche St. Johannes Baptist und das Oberstdorf Haus. Der Spaziergang in der frischen Luft tut ihm sichtlich gut, und er kann seine Gedanken sortieren. Doch ihm ist jetzt schon klar, sein Freund Toni hat Recht. Selbstmord ist wirklich äußerst unwahrscheinlich. 

Aber wer sollte diesen liebenswürdigen und beliebten Kirchenmann umgebracht haben und vor allem warum? Roberts Interesse war durch das gestrige Gespräch im Café geweckt worden, jetzt hatte er sprichwörtlich Blut geleckt. Seine Kombinationskompetenz ist angesprochen, und er bekommt augenblicklich das kaum zu beschreibende Gefühl von Selbstsicherheit und Verantwortung zurück, das ihn früher bei seiner Polizeiarbeit stets begleitet hat.

Die Uhr der katholischen Kirche zeigt elf Uhr und die Glocke bestätigt die Zeit durch vier Viertelstundenschläge und nachfolgenden elf Stundenschläge auch akustisch.

„Vielleicht ist der Pfarrer daheim“, kommt es Robert plötzlich in den Sinn. „Der hat den Kaplan schließlich gefunden und kann vielleicht mehr Klarheit in dieser nebulösen Angelegenheit bringen.“

Am Oberstdorf Haus angekommen nimmt Schibulsky den Weg durch den Kurpark zur Oststraße. Das Pfarramt liegt direkt hinter dem Chor der Kirche. Beide haben ihr heutiges Aussehen nach dem Wiederaufbau der Pfarrkirche und des Pfarrhofes nach dem großen Brand von 1865 erhalten, dem zwei Drittel des Ortes zum Opfer gefallen waren.

Schibulsky drückt zweimal die Türschelle. Da auch nach dreißig Sekunden nichts von innen zu hören ist, wendet er sich zum Gehen und steigt die drei Treppenstufen hinab. Er hat sich schon einige Schritte entfernt, da öffnet sich langsam die Haustür des Pfarramts. Eine gebrechliche, nach vorn gebeugte alte Frau fragt ihn mit leiser Fistelstimme: „Sie wünschen?“

„Entschuldigen Sie die Störung, Frau ….“

„Eva-Maria Brutscher. Ich bin hier die Haushälterin, seit fast fünfzig Jahren.“

„Ich will mich nur erkundigen, ob der Herr Pfarrer wohl zu sprechen ist.“

„Dr. Altmayer? Er sitzt bei dem Wetter draußen im Gärtchen und bereitet den Weihnachtsgottesdienst vor. Ob ich ihn dabei stören kann, muss ich erst mal sehen.“

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Frau …“

„Brutscher.“ Sie schlurft durch den Flur davon. Ihre Flüsterstimme kann er noch hören: „So jung, und schon so vergesslich.“

Schibulsky schaut sich im Flur um. Nichts deutet auf einen Trauerfall in diesem Haus hin. Kein Bild des verstorbenen Kaplans, obwohl dessen Beerdigung erst eine Woche zurückliegt. Die 71-jährige Alte kommt zurück, bittet ihn herein und führt ihn durch ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer auf die Terrasse. Dort klappt der vollschlanke Pfarrer von St. Johannes Baptist gerade seinen Laptop zusammen.

Als er den Gast erkennt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

„Ja, grüß Gott, lieber Kommissar.“ Er umarmt ihn.  „Sind Sie wieder bei uns im Ort? Wie geht es Ihnen und Ihrer lieben Frau?“

Schibulsky ist überrascht, dass sich Dr. Georg Altmayer mit seinen 64 Jahren so gut an das Touristenpaar aus Bielefeld erinnern kann. „Meine Frau hat noch in ihrem Heim mit den Weihnachtsvorbereitungen zu tun. Aber sie wird dann am 1. Weihnachtstag nach Oberstdorf nachkommen. Ich bin ja schon seit vorgestern im Ort. – Dass Sie sich noch an mich erinnern können, Herr Pfarrer.“

„Aber, aber, Herr Kommissar, ich werde doch nicht den Mann vergessen, der uns unseren geliebten „Auferstehungschristus“ gerettet hat.“ Der Pfarrer schwärmt weiter: „Wie Sie den Kunsträuber überlistet und überführt haben, einfach toll.“

Schibulsky errötet leicht. „Vielleicht kann ich Ihrer Kirche noch einmal helfen. Ich habe vom Tod Ihres Kaplans gehört. Sie kennen meinen Freund und Ex-Kollegen Endras aus Reute. Der sprach von Selbstmord und dass er sich das bei dem lebenstüchtigen Marc Teuffel überhaupt nicht vorstellen kann.“

Dr. Altmayers Miene verdüstert sich mit jedem Wort. „Das konnte ich auch nicht, aber lieber Kommissar, ich habe es selber gesehen.“

„Und genau deshalb bin ich bei Ihnen. Ich würde gerne hören, was Sie gesehen haben.“

Altmayer bittet Schibulsky, Platz am Gartentisch zu nehmen. Er schaut, ob seine Haushälterin in der Nähe ist. Dann setzt auch er sich und beginnt:

„Marc, ich meine Kaplan Teuffel, hat für mich den Gottesdienst am Dienstagabend vor zwei Wochen draußen in Loretto übernommen. Ich hatte kurzfristig ein Treffen mit unserem Bürgermeister. Ich habe ihn abends nicht mehr gesehen. Als er aber am nächsten Morgen nicht zur Frühmesse hier in St. Johannes Baptist erschien, habe ich in seiner Wohnung nebenan im Pfarrheim nachgeschaut. Sein Bett war allerdings nicht angerührt. Ich machte mir deshalb Sorgen und bin nach der Frühmesse mit dem Pkw zur Lorettokapelle gefahren. Sein postgelber Uralt-Käfer Baujahr 1980 stand tatsächlich noch auf dem Parkplatz in der Nähe der drei Kapellen. Aber Marc war weder in der Sakristei, noch in der Marienkapelle zu finden, in der stets der Gottesdienst abgehalten wird. Ich schaute anschließend noch in die Appachkapelle. Hier war er aber auch nicht. Als ich die Kapelle wieder verlassen wollte, fiel mir auf, dass der rechte der drei Tannenbäume, die hinter den drei Krippentafeln standen, nach links gekippt war. Ich trat ganz dicht an die Bilder heran, sah einen riesengroßen Blutfleck an der weißen Kapellenwand. Und dann sah ich ihn. Ich versuchte das rechte Bild beiseite zu schieben, um nach hinten an ihn herankommen zu können. Mit etwas Kraft ließ sich das Gemälde nach vorne umklappen.“

Schibulsky hört dem Pfarrer aufmerksam zu. Jetzt unterbricht er ihn. „Dr. Altmayer, stand das Bild ein wenig vor, oder war der Durchgang total versperrt? Versuchen Sie sich genau zu erinnern.“

Der Pfarrer besinnt sich einen Augenblick. Man sieht, dass er angespannt denkt. „Nein, Kommissar, weil Sie mich jetzt fragen,“ er zögert noch einmal, „aber da bin ich mir jetzt absolut sicher, das Bild war bis an die Wand herangezogen und dahinter stand sofort ein Holztisch, an dem das Bild befestigt war.“

„Und glauben Sie, Dr. Altmayer, dass der Kaplan das Bild von hinten hätte wieder zuziehen können?“

Der Pfarrer lässt sich erneut Zeit: „Wenn ich es recht überlege, eigentlich nicht.“

„Sehen Sie, das ist mir auch aufgefallen, als ich in der Appachkapelle war. – Aber ich habe Sie unterbrochen, Entschuldigung.“

Dr. Altmayer versucht, den Faden seiner Erinnerung wieder aufzunehmen. „Ich habe sofort erkannt, dass niemand mehr Marc helfen konnte. Er saß auf einem Holzstuhl, den ich dort noch nie gesehen habe. Zusammengesackt. Mit offenem Mund, den Kopf leicht nach rechts gebeugt und mit einem großen Loch im Hinterkopf. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole, die zum geöffneten Mund gerichtet war. In der linken Hand war ein Stück Papier.“

„Sagen Sie, Herr Pfarrer, haben Sie gesehen, ob etwas auf dem Zettel stand?“

„Ja, natürlich, ich konnte Buchstaben erkennen. Aber nach einer Schrecksekunde bin ich sofort aus der Kapelle gerannt und habe unsere Polizeistation hier im Ort angerufen. Wachtmeister Endras.“

Schibulsky blickte den Pfarrer plötzlich erstaunt an. Aber der fährt beruhigend fort: „Nein, nicht Ihr Freund, sondern sein Sohn, der war auch schon zehn Minuten später in Loretto. Er schaute sich den Ort des Geschehens nur kurz an und nahm den Zettel, nachdem er sich Gummihandschuhe angezogen hatte. Er las und sagte mir, dass es sich um einen Abschiedsbrief handele und wollte ihn mir geben. Aber das wollte ich nicht. Ich bat den Wachtmeister, mir eine Kopie davon zu machen.“

Dr. Altmayer macht eine Pause. Schibulsky lässt ihm einige Sekunden. „Und wurde die Kapelle und der Platz, an dem der Kaplan saß, gründlich untersucht?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe gehört, dass Endras die Kriminalpolizei in Kempten angerufen hat. Er sagte mir, dass er das machen müsste, auch wenn die Todesursache so klar wie Kloßbrühe sei wie in diesem Falle. Ich bin jedenfalls dann sofort zurück zum Pfarrhof gefahren.“

„Danke, Herr Pfarrer, für Ihre detaillierte Schilderung. Zwei Dinge noch: Haben Sie die Kopie des Briefes bekommen?“

Dr. Altmayer nickt. „Können Sie mir eine Kopie davon machen?“

„Natürlich, Herr Kommissar, aber sie muss bei Ihnen bleiben. Ich möchte keine unnötige Unruhe in der Gemeinde.“

„Das ist hoch und heilig versprochen.“

Dr. Altmayer nimmt ein Blatt aus seinem Sekretär und kopiert es auf dem Fotokopierer, der neben seinem Schreibtisch steht. Dann gibt er dem Kommissar die Kopie. Der verbeugt sich höflich, fast ehrerbietig.

„Danke, Herr Pfarrer, und zweitens möchte ich einen Blick in das Zimmer des Kaplans werfen.“

Der Pfarrer steht auf, Schibulsky folgt ihm, durch den Flur, zur Haustür und nach draußen. Sie gehen zum Nachbargebäude, dem Johannisheim im Haus Nr. 2a. Altmayer schließt die Haustür auf, deutet auf die nächste Tür, geht aber nicht mit hinein, sondern bleibt auf der Türschwelle stehen.

Robert Schibulsky betritt den kleinen Raum, der neben einem Bett und einem alten verzierten Holzschrank als Möbel nur noch einen großen Schreibtisch mit einem aufgeklappten Laptop aufweist, samt modernem Bürostuhl. Er registriert, dass der Kaplan computertechnisch auf dem neuesten Stand gewesen zu sein scheint. Internetanschluss, Drucker, Scanner, Kamera, alles da. Spartanisch wirkt dagegen das schmale Bücherregal, auf dem gerade mal zwanzig Bücher Platz finden.

Kapitel 6  -  Bielefeld/München               20. 12., nachmittags

„Hallo, Schwesterherz, wann kommst du in Oberstdorf an?“ Sebastian hat sich soeben mit seiner älteren Schwester Britta per Internet verbunden. Britta studiert zurzeit Informatik in München. Die beiden skypen mehrmals in der Woche.

„Ich fahre mit dem „alex“ am Sonntag um ca. 15:00 Uhr ab München HBF.“

„Ätzend, ich dachte, du kommst alleine!“, winselt Sebastian enttäuscht.

„Na, komm´ ich doch auch.“

„Und wer ist dann Alex?“

„Blödmann, das weißt du doch. Das ist natürlich der „Alpen-Express“, der alle zwei Stunden die Strecke München – Oberstdorf fährt.“

„Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Klaro. Das ist der Zug mit den grünen Wagons, nicht. -  Und wann bist dann da?“

„Ich glaube kurz nach fünf. Kannst du mich abholen?“

„Natürlich. Schreib´ mir aber kurz vorher noch ´ne SMS.

„Weißt du schon, welches Hotel die Alten diesmal ausgesucht haben?“

„Muttern hat diesmal so ein Wellness-Resort ausgesucht. „Parkhotel Frei“, fünf Sterne, liegt, glaub´ ich, ein bisschen außerhalb.“

„Das ist bestimmt wieder so´n Schickimicki-Laden wie das Sarotti am Marktplatz. Am liebsten würde ich ja bei Oma und Opa wohnen; aber das ist leider zu klein. – Wann fahrt ihr denn?“

„Das Autohaus ist morgen noch bis 12:00 Uhr auf. Danach fahren wir sofort los. Hoffentlich ist die Autobahn dann nicht mehr so voll. – Du Britta, hast du mal auf die Internetseite von Oberstdorf geschaut?“

„Nee, Basti, ist mir ziemlich egal, welche Veranstaltungen die dort anbieten. Ich will in erster Linie meine Ruhe haben und entspannt Snowboard fahren am Fellhorn.“

„Der Geocaching-Club vom Allgäu macht nächste Woche ´ne große Promi-Charity. Es gibt drei Barren Gold zu gewinnen. Ich hab´ Muttern schon überredet, dass wir uns dort anmelden dürfen. Kostet 250 Euro pro Teilnehmer.“

„Ich kenne den Club. Den hat damals der Dorfpfarrer mit seinem Kaplan aufgebaut. Aber da machen doch nur so´n paar Nerds mit, die haben doch gar kein Geld.“

„Für die gibt´s ´ne Extrarallye in der Woche nach Neujahr, glaub´ ich. Für lau! Diese Jubiläumsrallye ist vor allem auch für die Feriengäste gedacht.“

„Ach, jetzt verstehe ich. Was meinst du, wie viele aus unseren Seminaren hier aus München dahin kommen?

„Keinen Schimmer.“

„Die Charity ist von der Bundesvereinigung „Geocaching Germany Community“ in ganz Deutschland publik gemacht worden.“

„Ätzend. Also machst du doch auch mit, Britta, oder? Das wird bestimmt ´ne coole Sache. Lies dir mal den Artikel der Oberstdorf Zeitung durch.“

„Ok, Basti, lass uns jetzt Schluss machen, ich muss noch was waschen und dann packen. Also tschüss!“

„Tschüss, Britta, und halt die Ohren steif.“

„Basti, Basti, du quatscht schon wie Vattern.“

Kapitel 7  - MONTANA Haus                   20. 12., nachmittags

Schibulsky hat sich nach dem Besuch beim Pfarramt in seiner Wohnung im MONTANA Haus drei Pellkartoffeln gekocht und dazu Sahneheringe aus dem Plastikbecher von Lidl gemacht. Für das Spülen hat er jetzt keine Zeit. Er ist zu aufgeregt und möchte endlich die zwei Zettel untersuchen, die er vom Pfarrer mitgebracht hat.

Er bügelt zuerst das zerknüllte Blatt, dann nimmt er sich eine Lupe zur Hand, legt die Schriftstücke untereinander und betrachtet sie durch die Lupe, die er eigentlich immer wegen seiner Briefmarkensammelwut bei sich trägt.

„Ja, Kruzitürken! Das sieht doch ein Blinder mit ´nem Krückstock. Das hat doch niemals ein und dieselbe Person geschrieben. Der sogenannte Abschiedsbrief ist ja eher von einem Kind geschrieben. Und diese Kringel auf dem i. Außerdem steht da Oberstdorf ohne t, also so wie die meisten es sprechen. Außerdem hat der Kaplan seinen Pfarrer doch geduzt, wenn ich mich an das Gespräch mit Dr. Altmayer richtig erinnere.“

Robert betrachtet den Brief noch einmal genau und führt die Lupe in die rechte obere Ecke. „Ist das tatsächlich ein Fingerabdruck mit blutigem Daumen. Soll das etwa eine Unterschrift sein? Aber dann wäre der Kaplan ja schon tot gewesen.“

Kapitel 8  -   Dummelsmoos           20.12., abends

Dominik Steingasser sitzt vor dem Fernseher. Krimi im ZDF: Die „Garmisch-Cops“, einer von unzähligen Serien im deutschen Fernsehen.

„Wo bleibt die Doro bloß?“ Der Jungbauer hat seine fünfundvierzig Milchkühe längst gemolken. Den Stall sauber gemacht. Jetzt sitzt er geschniegelt und gestriegelt wie auf heißen Kohlen.

Sein Vater Xaver kommt ins Wohnzimmer. Er hatte heute zwei Kutschfahrten: morgens nach Spielmannsau und nachmittags nach Karatsbichl. Die Einnahmen waren gut, verrät zumindest sein Gesicht.

„Du bist ja noch hier, Bub,“ knurrt der Alte. „Ich denk´, du hattest keine Zeit, mir beim Ausspannen der Gäule zu helfen. – Dabei sitzt du hier vor der Glotze.“ Xaver zeigt sein Unverständnis und schüttelt bedauernd den Kopf. Der 55 Jahre alte Bauer hat seinen Hof vor einigen Jahren ganz auf Milchwirtschaft und Tourismus umgestellt.

In der alten Scheune haben die Steingassers vier Ferienwohnungen eingerichtet, die jetzt für die Festtage bis Mitte Januar ausgebucht sind. Er kümmert sich um den Kutschbetrieb und seine neun Ponys, eine Attraktion für die Kinder der Feriengäste, aber auch für die Kinder aus der Marktgemeinde.

Maria, seine Frau, ist eine der Schwestern des Bürgermeisters Einödhofer. Sie versorgt den Haushalt und betreut die Ferienwohnungen. Besonders beliebt sind ihre Brote und Semmeln aus dem Holzofen, die sie an die Feriengäste und einige Haushalte aus der Nachbarschaft verkauft.

Xaver wirkt trotz seiner 59 Jahre eher jugendlich. Seine langen blonden Haare und seine sportliche Kleidung tragen maßgeblich zu dieser Täuschung bei. Und schon ist er wieder unterwegs: Heute Abend ist Stammtisch des Vereins der RECHTLER in der Alten Sennhütte. Mit Riesenschritten nimmt er den Fußweg entlang der Trettach.

Dorothea Schneider fährt endlich auf den Hof. Dominik springt sofort auf, als er die Scheinwerfer ihres Toyotas aufblitzen sieht. Er schnappt sich seinen olivfarbenen alten Bundeswehrparka, schaltet noch den Fernseher aus und sprintet zur Haustür.

„Bin dann mal weg“, ruft er in Richtung Küche.

Dorothea ist im Toyota sitzen geblieben, Dominik reißt die Beifahrertür auf und springt seiner Freundin ohne Rücksicht auf Verluste entgegen. Der Begrüßungskuss fällt heute mal heiß und innig aus.

Er ergreift zuerst das Wort: „Hey, wo warst du denn solange. Ich hab´ schon gedacht, es ist dir was passiert?“

„Du weißt doch, meine Mama hat mir immer gesagt, die Mannsleut´ muss man immer etwas zappeln lassen, dann freuen sie sich noch mehr, einen zu sehen.“

Dominik stößt sich ruckartig von ihr ab und empört sich:“ Geh´, Doro, so einen Scheiß brauchst mit mir aber nicht machen.“

Aber Dorothea glättet den plötzlichen Anfall, indem sie seinen Kopf sacht wieder zu sich heranzieht. Und der lange Kuss versöhnt den Bauernsohn ganz schnell wieder.

„Spaß kann der aber wirklich nicht ertragen“, denkt Dorothea in die Stille hinein, während sich seine Gedanken hörbar abschalten.

„So, nun aber los“, sagt sie laut und startet gleichzeitig den Wagen.

„Wo sollen wir denn heute hin?“

„Ich denk´, wir fahren zur „Schnatossibar“ beim Hotel „Dolde“, da müssten eigentlich schon ´ne Menge Touris sein.“

„Ach geh´, Doro, da is´ dann wieder Highlife.“

„Genau das, was ich jetzt brauche.“

Dominik löst sich von ihr und schaut teilnahmslos zu seinem Seitenfenster hinaus. Nach kurzem Überlegen fällt Dorothea etwas ein, dass Dominik vielleicht wieder aufheitern lässt:

„Heute Mittag habe ich übrigens deinen Onkel gesehen.“

Dominik dreht sich gelangweilt zu ihr: „Welchen denn, ich hab´ davon ja vier Stück?“

„Na, unseren Bürgermeister. Der hat sich oben an der Schanze mit zwei Typen getroffen, die einen richtigen Angeberschlitten gefahren haben.“

Das Wort „Angeberschlitten“ regt sofort Dominiks Interesse.

„Ich glaub´, die haben sich tatsächlich das Gebiet südlich der Schanzen an der Oytalstraße angeguckt, als wenn sie dort was bauen wollten.“

„Wieso tatsächlich?“

„Ich hab´ von den Jungs vom Computerclub gehört, dass dieses Meeting da heute stattfinden soll?“

„Und dann warst du wirklich oben am Kühberg?“

„Ich wollte bei dem Wetter sowieso mit dem Bike zum Training. Da habe ich dann auch gleich schöne Fotos von der Landschaft gemacht.“ Dabei zeigt Dorothea aufs Handschuhfach. Dominik öffnet es und nimmt ihre Kompaktkamera heraus. Interessiert bestaunt er die letzten Bilder auf dem Display.

„Aber das is´ doch absoluter Quatsch, da oben kann doch keiner was bauen. Das gehört doch den RECHTLERN. Und denen ist es verboten, was von ihrem Eigentum zu verkaufen!“, wendet Dominik jetzt mit Zeitverzögerung ein.

Aber Dorothea hat ihm nicht richtig zugehört. „Und? Kannst du deinen Onkel erkennen?“

„Bingo, Doro, das ist eindeutig Onkel Korbinian“, aber sein intensiver Blick gilt mehr dem Auto im Hintergrund. „Das ist ja ´n nagelneuer BMW X6!“

Kapitel 9  -  Eissportzentrum             20.12., abends

Schibulsky sitzt in der „Strafbank“, dem Restaurant über dem Eissportzentrum und kann durch eine dicke Glasscheibe auf die Eisfläche der Eishockeyhalle schauen.  In einer Stunde wird das Spiel der EISBÄREN Oberstdorf gegen die AIBDOGS aus Bad Aibling angepfiffen. Daher liegt die Halle jetzt noch im Dunkel. Nur zwei Strahler beleuchten die Kletterwand an der gegenüberliegenden Seite.

Robert hat sich per Handy mit seinem Ex-Kollegen und dessen Sohn hier verabredet. Stolz betrachtet er sein Nokia 3310, das er sich vor dreizehn Jahren notgedrungen zulegen musste, damit er im Dienst immer möglichst sofort erreichbar war.

„Ob ich den Toni noch mal anrufen soll? Sein Sohn ist seit zwei Jahren Trainer der EISBÄREN, vielleicht ist ihm unser Termin doch zu kurzfristig.“

Aber da betreten Toni und Peter Endras mit einer Riesensporttasche, Marke „Adidas“, das Restaurant. Der Ex- und der jetzige Dorfpolizist gehen zu Schibulskys Tisch und begrüßen ihn. Sie setzen sich. Toni stellt seinen Sohn vor:

„Das ist also der Peter. Wie du weißt, ist er in meine Fußstapfen getreten und ist jetzt POM- Polizeiobermeister.“

Robert erhebt sich kurz und reicht dem aktiven Ordnungshüter die Hand.