Geplünderte Demokratie - Thomas Rietzschel - E-Book

Geplünderte Demokratie E-Book

Thomas Rietzschel

0,0

Beschreibung

Etwas ist faul im freien Europa. Lange wollte es niemand bemerken, jetzt ist es nicht zu übersehen: Die Demokratie verkommt zum Kuhhandel. Herrschaftlich agiert eine politische Kaste, der es nur um den Selbsterhalt geht. Der Steuerzahler unterhält sie aus Gewohnheit, nicht weil er sich viel von ihr erwarten würde. Das Volk darf den Politikern zusehen und dann für die Schäden aufkommen. In seinem neuen Buch beschreibt Thomas Rietzschel Zustände, vor denen wir gern die Augen verschließen. Er macht diejenigen namhaft, die sie verursachen. Ihr Widerpart sind die Bürger, die für die Demokratie auf die Straße gehen. Historisch fundiert und mit kritischer Schärfe analysiert Rietzschel Europa am Vorabend einer Revolution.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 239

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zsolnay E-Book
Thomas Rietzschel
Geplünderte Demokratie
Die Geschäfte des politischen Kartells
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05686-2
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014
Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke
»Eine durch langen Streit ermüdete Nation lässt sich bereitwillig betrügen, wenn man ihr nur Ruhe bringt, und die Geschichte lehrt, dass es alsdann, um sie zu befriedigen, genügt, im ganzen Lande ein gewisse Anzahl unbedeutender oder abhängiger Leute zusammenzuraffen und diese gegen Bezahlung vor den Augen der Nation die Rolle einer politischen Versammlung spielen zu lassen.«
Alexis de Tocqueville, »Der alte Staat und die Revolution«, 1856

Inhalt

Vorwort
Lügen haben kurze Beine
In den Schoß gefallen
Das Dilemma der geschenkten Demokratie
Angie räumt auf
Die Inszenierung der höfischen Demokratie
Europa über alles
Die Entfaltung der marktkonformen Demokratie
In Geschichte durchgefallen
Die Abschaffung der aufgeklärten Demokratie
Bürger proben den Aufstand
Die Entdeckung der wehrhaften Demokratie
Nachwort
Europa und die Welt

Vorwort:Lügen haben kurze Beine

Etwas ist faul im freien Europa. Munter wird mit der Demokratie Schindluder getrieben; politisch angeschlagen taumelt der Westen. Schwindler und Wortbrüchige, Versager und Aufschneider, schlichte Dummköpfe und verschlagene Zyniker, Verklemmte und Gehemmte haben die Politik zu ihrer Sache gemacht. Das Staatstheater, an dem sie dilettieren, soll ihnen die Welt bedeuten. Herrschaftlich herausgeputzt, behaupten sie ihre geliehene Herrschaft in der Stunde der Gaukler. »Die Menschen«, über die sie sich gesetzt fühlen, werden versorgt und »durchregiert«, dass es eine Art hat. Unversehens beschleicht den Bürger die Ahnung, er könne womöglich als Untertan missbraucht werden. Der Behauptung, »in Deutschland herrscht eigentlich keine echte Demokratie«, stimmte 2012 die Hälfte von eintausend Befragten zu. Eine »besondere Kompetenz« wollten den Parteivorständen ganze acht Prozent zuerkennen. Beinahe siebzig Prozent meinten, den Politikern gehe es »nur um die eigene Stimme«, sie kümmerten sich »nicht genügend um die Probleme der Bürger«. Statt dass sich die politische Wirklichkeit den staatsbürgerlichen Wünschen annäherte, entfernt sie sich zusehends von den gesellschaftlichen Erwartungen. In immer kürzeren Abständen treibt der demokratische Notstand Junge und Alte, besser und schlechter Gestellte auf die Straße. Vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main, auf dem Syntagma-Platz in Athen, in Paris, in Madrid, am Stuttgarter Bahnhof, überall flammt der Protest auf gegen das, was die Regierenden im Namen des Volkes beschließen. Dass die Inhaber der Macht überhaupt noch etwas tun könnten, wobei sie nicht zuerst den Machterhalt im Auge hätten, sondern dem Land, den Menschen, der Natur, der Zukunft, der Sicherheit dienen würden, wollen ihnen die Wähler nicht länger abnehmen, weder in Deutschland noch sonst irgendwo im westlich geprägten Europa.
»Es ist alles verrottet«, zitierte der französische Publizist Olivier Guez seines Volkes Stimme am 24. April 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die politische Klasse«, schrieb er, sei »diskreditiert«, sie habe sich »als unfähig erwiesen.« Das Bild, das sie abgibt, erinnerte den Kritiker an die monarchisch verkommenen Zustände früherer Zeiten, an den letzten Auftritt einer abgewirtschafteten Kaste. Ihr Selbstbewusstsein kann sie nur mehr aus der Selbstinszenierung herleiten, wie der Hofstaat ehedem am Ausgang des 18. Jahrhunderts, kurz vor der Französischen Revolution. Nur dass es jetzt nicht mehr die Schlösser und die Bälle sind, sondern die Amtssitze und die Gipfeltreffen, die der Herrschaft Bedeutung gegenüber dem Volk verleihen.
Ein deutsches Kanzleramt, größer als das Weiße Haus in Washington, ein diplomatischer Reisezirkus, der eine Gipfel-Show nach der anderen abzieht, heute hier, morgen da, in Berlin, in Brüssel, in Davos, in London und dann wieder in Berlin – all das ist großes Theater in bombastischer Kulisse, bildmächtig einschüchternd, medial aufgepeppt und zum Erbarmen inhaltsleer. Die Resultate sind, betrachtet man sie aus der Perspektive des jeweils nächsten Events, immer die gleichen: Außer Spesen nichts gewesen. Mehr als fünfzig Millionen Euro soll der G8-Gipfel im Juni 2013 im nordirischen Enniskillen gekostet haben – oder waren es sechzig, siebzig, vielleicht hundert? Was spielt das für eine Rolle? Das Treffen hätte so oder so stattgefunden, auch zum fünffachen Preis. Es gehörte zur Agenda einer Politik, die ihre Existenzberechtigung aus dem Ritual herleitet. Gipfel für Gipfel kreißen die Berge, um am Ende nicht einmal eine Maus zu gebären, keine Beschlüsse, die etwas bewegten, Hoffnung weckten. Im puren Nichts liegt der Sinn der Inszenierung; nur so lässt sie sich unentwegt fortsetzen. Und jedes Mal bekommt das Publikum dann die gleichen Floskeln als der politischen Weisheit letzten Schluss zu hören: »Wir werden alles tun, was nötig ist, um die Probleme zu lösen.« Gebetsmühlenhaft dreht sich die Leier, die Lügen laufen vom Band. Kaum ist etwas beschlossen, wird es revidiert, selbstredend mit der Versicherung, dass man das, was nun gelten soll, schon immer gesagt habe. Nur wer die Kunst der Kehrtwende aus dem Stand heraus beherrscht, kann sich in der politischen Manege behaupten. Von vornherein verloren ist, wer beim Lügen noch rot wird.
Wenn Wolfgang Schäuble, der Baron unter den Schwindlern, gefragt wird, warum er heute für etwas eintritt, das er gestern konsequent ablehnte, die Lockerung der Sparpolitik, die Homo-Ehe, den Schuldenschnitt für Griechenland oder was immer, fällt ihm die Erklärung nicht schwer. Weiß er doch: »Das eine hat mit dem andern nichts zu tun.« Der gewiefte Politiker kennt das kurze Gedächtnis seiner Pappenheimer. Ihm gefällt die Welt, wie sie ist. Die Zustände, sagt er, seien dem Menschen angemessen, »weil sie ihn moralisch nicht überfordern«. Gerne beruft er sich auf eine »sympathische Skepsis gegenüber dem Furor der abstrakten Vernunft«. Der Dumme in diesem Spiel ist zum Schluss stets der für dumm verkaufte Frager. Wieso kann er es nicht lassen, nach etwas zu forschen, das es nicht geben soll: nach der Wahrheit hinter den Phrasen.
Auf dem Schwindel basiert das Geschäft. Das ist die ganze und die ganz banale Wahrheit. Da hilft es nichts, wenn wir die fraglos Überforderten bedauern, ihre Hilflosigkeit angesichts der Probleme menschlich verständlich finden, wie es Hans Magnus Enzensberger einmal versuchte, als er den Politikern nachsagte, dass sie ständig »zu Entscheidungen gezwungen« seien, »deren Folgen nicht absehbar sind«. Da sie uns selbst unentwegt das Gegenteil versichern, wenn sie behaupten, alles im Griff zu haben, bleibt nur das eine, die nüchterne Feststellung von Betrug und Hochstapelei. In der Wirtschaft wäre das Verhalten gerichtsnotorisch. Wer als Geschäftsführer eines Unternehmens so handelte, wie es für Minister und Kanzler selbstverständlich ist, käme wegen betrügerischer Insolvenzverschleppung hinter Schloss und Riegel. Nicht so in der Politik. Dort kann ein deutscher Finanzminister süffisant erklären: »Auch wir bescheißen gelegentlich, auch wir verstoßen gegen Regeln.« Genauso wie Jean-Claude Juncker, der 2011 als Vorsitzender der Euro-Gruppe erklärte: »Wenn es ernst wird, muss man lügen.« Entsetzen wollten sich darüber in beiden Fällen nur wenige. Die Lacher standen eher auf Seiten der Geständigen: was für coole Typen! Der politische Betrug hat die Anrüchigkeit verloren. Schlimmstenfalls wird er als Kavaliersdelikt angesehen, bestenfalls als taktische Finesse respektiert, als Diplomatie womöglich. Denn ist der Ruf erst ruiniert, regiert sich’s völlig ungeniert.
Die Verhältnisse sind, um ein Wort aufzugreifen, dessen sich Hans-Dietrich Genscher gern bediente, wenn er seine Verhandlungspartner auf den Boden der Tatsachen zurückholen wollte, die Verhältnisse sind, wie sie sind, in unserem Fall verlottert und dominiert von Darstellern, die nicht darauf hoffen dürften, in einem Stadttheater in einer Nebenrolle besetzt zu werden. Waren es zu Zeiten eines Karl Kraus noch »Operettenfiguren«, die »die Tragödie der Menschheit spielten«, sind es heute bunt uniformierte Parteisoldaten, Schwarze, Rote, Grüne oder Gelbe, die in der fortlaufenden Telenovela des politischen Alltags reüssieren. Und wie im richtigen Fernsehen tut dabei jeder alles, um am Set zu bleiben. So wie sich der eine zum gelben Guido macht, indem er in den Farben seiner Partei – auf gelben Schuhsohlen – durch die Lande tourt, keilen sich die anderen zum Gaudium des Publikums in den Talkshows, während wieder andere ihr Glück machen, indem sie mütterlich lispeln oder brusttrommelnd »steinbrücken«, auf gut Deutsch mächtig auf den Putz hauen. Dass in dieser Herde schwarzer Schafe immer einmal wieder ein weißes auftaucht, eine ehrliche Haut wie der deutsche Euro-Kritiker Wolfgang Bosbach oder der Hamburger Bildungsbürger Klaus von Dohnanyi, der partout nicht glauben will, dass ein Wirtschaftsminister nichts von der Wirtschaft verstehen müsse, bestätigt wie jede Ausnahme doch nur die Regel. Es bleibt ein schwacher Trost, solange die übrigen Mitglieder der Truppe, präsidentenhaft gesetzte Heldendarsteller und lustige Personen mit der Begabung eines Gregor Gysi, zusammenstehen, um weiter mit Geld um sich zu werfen, mit Millionen und Milliarden, die ihnen nicht gehören.
Hebt doch mit jeder Wahl das gleiche Spiel von Neuem an. Um das Volk zu bestechen, ihm die Zustimmung zu dem, was man nicht zu bieten hat, abzukaufen, werden Versprechen auf Teufel komm raus gemacht. Wahlgeschenke werden in Aussicht gestellt, die nichts als ein Bubenstück sind: dreister Betrug. Denn alles, was man da zur Verlockung der Wähler aufbietet, muss den Beschenkten als Steuerzahlern wieder abgeknöpft werden, wenn es ihnen nicht schon vorher abgenommen wurde. Nach der vergangenen Bundestagswahl waren es, sauber gerechnet, in Deutschland zumindest vierzig Milliarden, die so von der einen in die andere Hosentasche wanderten. Der Bürger ist angehalten, für Zuwendungen dankbar zu sein, die er aus eigener Börse bezahlt, gereicht von Politikern, die ebenfalls auf seiner Gehaltsliste stehen – als Angestellte mit Zeitvertrag. Das Verfahren ist so absurd wie würdelos und in Deutschland unvereinbar mit dem Grundgesetz, dessen erster Artikel bestimmt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Wo aber bleibt die Würde, wenn der Souverän, der mündige Bürger, von seinen Beschäftigten zum Narren gehalten wird? Welcher Angestellte dürfte sich seinem Arbeitgeber gegenüber Ähnliches herausnehmen? Wie kommt der Schwanz dazu, mit dem Hund zu wedeln? Darf man bei einem solchen Gebaren noch davon ausgehen, dass unsere Volksvertreter je den Versuch unternommen haben könnten, den Sinn des Grundgesetzes zu erfassen?
Ebenso muss man sich freilich fragen, was dem Bürger selbst seine Würde wert ist, wenn er sich von den haltlosen Versprechungen einer politischen Klasse ködern lässt, die schon jetzt das Vermögen der kommenden Generationen vergeudet. Ist das unausweichlich? Würden wir sonst an den Bettelstab geraten? Oder bedarf es der politisch organisierten Illusion grenzenlosen Wachstums, um beim Wettkampf um die Macht zu obsiegen? Warum lassen wir uns auf diesen fortdauernden Kuhhandel ein? Weshalb lassen wir zu, dass sich die Angestellten der Demokratie aufführen wie die Potentaten ehedem, als Gönner und Zuchtmeister ihrer Untergebenen? Welches Spiel treibt die politische Klasse, was treibt sie an? Wissen ihre Vertreter noch, wer sie verpflichtet hat? War Recep Tayyip Erdoğan, ein demokratisch gewählter Regierungschef, noch klar im Kopf, als er das Volk davor warnte, gegen ihn auf die Straße zu gehen? In welcher Rolle sah sich der baden-württembergische Christdemokrat Stefan Mappus, als er Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzte, die seinem Größenwahn Einhalt gebieten wollten? Haben wir dieser Hybris Vorschub geleistet, indem wir den Politikern von vornherein eine Prominenz zubilligten, der sie sich, ginge es nach guter demokratischer Sitte, erst einmal mit Leistung würdig erweisen müssten? Haben die Deutschen ihre Republik zu einem Ersatzkönigtum verkommen lassen, angeführt von einer Kanzlerin, die die Medien lieber persönlich bewundern, als dass sie noch nach dem Ertrag ihrer Taten fragten?
Braucht die Demokratie, wie es das ZDF ausdrückte, einen »Popstar der Politik«, der sich bisweilen gnädig mitfühlend und umsichtig vorbereitet unter die Menschen mischt wie beim großen Hochwasser 2013? Nachdem das Schlimmste vorbei war, hatte sich die Kanzlerin damals im Katastrophengebiet filmen und fotografieren lassen. Um die Kulissen aufzubauen, scheute ihr Stab weder Mühe noch Kosten. Auf einer Straße, die bereits gereinigt worden war, wurde noch einmal vorsichtig Schlamm aufgeschwemmt, gerade so hoch, dass er der »Chefin« nicht in die Schuhe lief. Zwei Feuerwehrautos mussten mit Martinshorn auffahren, dazu einige Soldaten mit Schaufeln, damit »die geforderten Bilder« geschossen werden konnten. Gebraucht wurden sie für das Fernsehen und den eben anlaufenden Wahlkampf.
Was lässt sich das Volk hier vormachen, was lässt es sich bieten? Warum erdulden wir Lug und Trug achselzuckend, als ob die Rosstäuscherei zum politischen Geschäft gehörte? Eine Rosstäuscherei zudem, bei der nicht einmal ein guter Handel herausspringt, die immer nur dazu dient, über den zuvor angerichteten Schaden hinwegzusehen. Oder wer wollte ernsthaft behaupten, dass zum Beispiel bei der so ehrgeizig betriebenen Euro-Politik bisher mehr herausgekommen ist als ein finanzpolitisches Desaster, verbunden mit einer politischen Pleite, die die Länder gegeneinander aufbringt? Nicht allein der französische Philosoph Bernhard-Henri Lévy, Weltbürger durch und durch, befürchtet, »dass es um die Seele Europas, die wir so sehr brauchen, noch nie so schlecht bestellt war wie heute«. Wie konnten wir zusehen, wie die besoldeten Regierungen ein derartiges Chaos anrichteten? Welche Gleichgültigkeit hat sich da ausgebreitet, welches Obrigkeitsdenken hat sich eingeschlichen und wie hat das die Demokratie unterminiert?
Um sich über all das Klarheit zu verschaffen, soll hier Klartext geredet werden. Den absehbaren Vorwurf, er betreibe billige Politikerschelte, nimmt der Autor gern in Kauf. Der Angriff gehört zur Kritik. In Watte verpackt, verlöre sie ihre Wirkung. Dafür, dass er das Versagen als solches kenntlich macht und die Versager beim Namen nennt, muss sich der Kritiker nicht entschuldigen. Peinlich wird es erst, wenn er wie die Katze um den heißen Brei schleicht, weil er befürchtet, dass es ihm ergehen könnte wie den »kleinen Hundchen, die in die Stube kritisiert haben und die nun erwarten, dass man sie mit der Nase hineinstößt«. Gesagt hat das kein Geringerer als Kurt Tucholsky in einem Weltbühnen-Aufsatz aus bewegter Zeit, von 1931, wo weiter zu lesen steht: »Es gibt nur zwei eherne Gesetze in der Kritik: die Wahrheit zu respektieren und, von ganz seltenen Fällen abgesehen, das Privatleben des Kritisierten unberührt zu lassen.« Daran will ich mich halten, das erste Gebot befolgen und gegen das zweite nicht verstoßen, nach Möglichkeit. Mehr ist nicht zu beachten, schon gar nicht der fadenscheinige Einspruch, der Kritiker solle, was er bezweifelt, doch gefälligst besser machen.
Dieses vermeintliche Totschlagargument geht an der Sache vorbei. Denn erstens steht und fällt der Wert jeglicher Kritik damit, dass sie von außen, also unabhängig geübt werden kann, und zweitens können sich brauchbare Alternativen immer nur aus der kritischen Analyse des Bestehenden sowie des Vergangenen ergeben. »Erkennen wir in dem, was einst vollbracht wurde, das, was [heute] getan werden muss«, schrieb der Vordenker des bürgerlichen Zeitalters, Jean-Jacques Rousseau, 1762 in seinem berühmten »Gesellschaftsvertrag«. Der Philosoph berief sich auf die Geschichte, über die er verfügt, zurück bis zu den Anfängen. Selbst das Orakel von Delphi, das die alten Griechen befragten, wenn sie nicht weiter wussten, konnte seine Weissagungen nur aus der durchdrungenen Vergangenheit herleiten. Wer dagegen glauben möchte, das Neue und Bessere ließe sich aus der Luft greifen, geht den Ideologen auf den Leim. Zweimal schon hat das in den vergangen einhundert Jahren Unterdrückung, Leid und Elend nach sich gezogen. Im Nationalsozialismus wie im Kommunismus sollte nur die Verheißung zählen, während das freie Wort unter Strafe gestellt wurde. Zum Scheitern verurteilt war dieser geistige Terror von Anfang an.
Damit, dass man vom Kritiker verlangt, was man selbst nicht zu bieten hat, kann man sich die Kritik nicht vom Halse schaffen, in der Politik so wenig wie auf dem Theater, in der Kunst oder der Literatur. Allerdings waren es bisher auch nur die Dümmeren unter den Betroffenen, die das versuchten. Und es spricht nicht eben für unsere Zeit, dass es inzwischen beinahe Usus geworden ist, den zeitkritischen Kommentar mit der Frage nach den aufgezeigten Auswegen vom Tisch zu wischen.
Der Schriftsteller Salman Rushdie sprach nicht bloß von seiner indischen Heimat, als er am 2. Mai 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung feststellte: »Denjenigen, die zu anderen Zeiten für ihre Originalität und Unabhängigkeit gepriesen worden wären, wirft man nun vor, sie brächten Unruhe in die Gesellschaft.« Der Schriftsteller fand es überaus »merkwürdig«, »dass diejenigen, die ihre Stimme gegen Machtmissbrauch oder Dogmatismus erheben, auf Argwohn stoßen«. Wo, fragte sich Salman Rushdie, sind die kritischen Geister geblieben, warum haben sie sich domestizieren lassen?
Ein Problem mehr und nicht das geringste, das uns beschäftigen muss, geht es um den Fortbestand der Demokratie: Wie konnte es dahin kommen, zu der (un)heimlichen Kumpanei zwischen Politik und Öffentlichkeit? Haben die, deren Geschäft die Aufklärung sein sollte, vergessen, dass sie, so wieder Tucholsky, nur der »Wahrheit«, allein der Wahrheit und sonst nichts dienen sollten? Ist das Schnee von gestern? Gelten unterdessen andere Gesetze? Oder sind die Nachgeborenen als glücklich versorgte Kinder der Freiheit nur unbefangener, weniger skeptisch und sehr viel zutraulicher? Woher kommt ihr eigentümliches Verlangen, mit der Macht zu kuscheln? Warum glaubt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, als »europäischer Landbote« eine neue Demokratie verkünden zu müssen, ganz im Geiste der zentralistisch orientierten Parteien unserer Tage und deutlich geformt nach dem Vorbild des alten Josephinismus, der aufgeklärten Monarchie des 18. Jahrhunderts? Sollte diese aufgemöbelte Vergangenheit unsere Zukunft sein, die Herrschaft einer weisen Obrigkeit mit dem Dichter als beratendem Haushofmeister? Hatten wir das nicht schon des Öfteren, diese intellektuellen Überläufer, die den Verführungen der Macht erlagen, weil ihnen ein bisschen graute vor Lieschen Müller und dem sprichwörtlichen Mann auf der Straße? Haben sie noch immer nicht gelernt, bei ihren Leisten zu bleiben? »Wer schöne Gedichte schreibt«, sagt der Schriftsteller Mario Vargas Llosa, »kann bei seinen politischen Diagnosen ein Idiot sein.« Und in der Tat, wie geschichtsvergessen muss man sein, um unter Berufung auf die europäischen Werte administrativ oder geistig verbrämt Hand an die Demokratie in ihrer gewachsenen Form legen zu wollen?
Auch diese Versuchung wollen wir uns hier historisch zu erklären versuchen, umso mehr, als die Demokratie ein politisches Erbe Europas ist, an dem sich die freie Welt weiterhin ein Beispiel nehmen wird, ungeachtet aller kulturellen Besonderheiten anderer Erdteile. Wo die Globalisierung für eine Nivellierung der wirtschaftlichen Verhältnisse sorgt, lässt sich die Ausbreitung einer politischen Ordnung, ohne die der ökonomische Fortschritt undenkbar wäre, auf Dauer nicht aufhalten, chinesischer Kommunismus und arabischer Fundamentalismus hin oder her. Auf den Plakaten, die die Demonstranten während der »Arabellion«, des arabischen Frühlings, auf dem Tahrir-Platz in Kairo hochhielten, stand auch »Thank you, Europe«. Was hierzulande so selbstverständlich anmutet, dass sich manche schon wieder zum Experiment herausgefordert fühlen, weckt anderswo die größten Hoffnungen. Wer da, wo die Wirtschaft prosperiert wie in Istanbul, für mehr Demokratie auf die Straße geht, zählt nicht zu den ewig Gestrigen. Insofern darf der modische Diskurs über die letzten Tage der nationalen Demokratie und den Beginn einer postdemokratischen Epoche getrost als Geschwätz abgetan werden, was nicht heißt, dass damit kein Unheil anzurichten wäre. Wer die Geschichte bewusst oder aus Unwissenheit verhöhnt, kann der Zukunft durchaus schaden. Ebenso kann er freilich im Strudel der historischen Ereignisse untergehen. Das ist schon oft genug geschehen.
Natürlich stimmt es, dass sich die Geschichte nicht einfach wiederholt. Ein schnauzbärtiger Diktator steht uns so wenig ins Haus wie ein aufgeklärter Monarch. Die Historie kennt keine Vorsehung. Geschichte ergibt sich; allenfalls kann derjenige, der den Zug der Zeit erkennt, ihr etwas auf die Sprünge helfen. Dem Historiker Helmut Kohl ist das 1989 gelungen, als er die deutsche Wiedervereinigung vorantrieb. Da sich die Zukunft aber öfter noch aus der Unzulänglichkeit menschlichen Handelns ergibt, lassen sich immerhin wiederkehrende Konstellationen und Gefahren absehen. Man kann erkennen, dass sich die Menschheit über die Jahrtausende hin wiederholt in Situationen gebracht hat, aus denen sie glaubte, keinen Ausweg finden zu können. Die verhängnisvolle Sehnsucht nach der erlösenden Katastrophe begann das gesellschaftliche Bewusstsein zu durchdringen, bis die Masse bereit war, mit fliegenden Fahnen auf die Barrikaden zu steigen oder in den Krieg zu ziehen, obwohl das bis zuletzt kaum jemand glauben wollte, auch 1914 nicht. Die Gefahr, die man heraufbeschworen hatte, wurde zugleich ausgeblendet. Vor allem die politische Klasse ist dann wiederholt Opfer ihres Realitätsverlustes geworden. Da ereilte es Honecker und Genossen 1989 nicht anders als König Ludwig XVI. zweihundert Jahre zuvor, 1789 in Frankreich. Noch als ihre Macht in »den Fluten der Demokratie unterging«, fühlten sich der Monarch und die Seinen zur Herrschaft berufen. Zwar waren ihnen die Ideen der Aufklärung vertraut, sie hatten vielleicht Voltaire gelesen, doch hielten sie die bestehenden Verhältnisse gleichwohl für unabänderlich, weil naturgegeben – für »alternativlos«, um wieder in den Jargon unserer Tage zu verfallen. Der Fall, wie ihn Alexis de Tocqueville in der 1856 erschienenen Schrift »Der alte Staat und die Revolution« darstellt, ist beispielhaft. Er offenbart das klägliche Ende einer politischen Klasse, die nicht fassen kann, dass sie ihre Funktion verloren hat. Der Adel, in dessen Händen die gesellschaftliche Organisation über Jahrhunderte gelegen war, war schlichtweg überflüssig geworden. Der Zweck seines Handelns erschöpfte sich schließlich in der Behauptung seiner gesellschaftlichen Stellung. Nachdem sie abgewirtschaftet hatte, war die politische Klasse, das Ancien régime, zum teuren Kostgänger der Gesellschaft geworden.
Wozu das führte, ist bekannt. Es müsste den ausgehaltenen Politikern unserer Tage zu denken geben. Auch sie haben sich »in ihrer Macht verschanzt« und mit dem, was sie im Kampf ihrer Parteien um die Macht verschleudern, das Maß des Erträglichen längst überschritten. Milliarden versinken im Strudel des politischen Aktionismus, in Baugruben, mit deren schierer Größe sich die öffentlichen Bauherren gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, oder in Reformen, die nur angestrengt werden, um dem politischen Dasein Sinn zu verleihen. Das Karussell der Bildungsreformen bietet dafür das denkbar schlimmste Beispiel. Nicht zu reden von den Kosten, die die Verwirklichung der europäischen Großmachtträume verursacht. Wo sich der Sinn des politischen Handelns im Erhalt der politischen Klasse erschöpft, beginnt die Lotterwirtschaft der Verschwendung.
Nun ja, mag man jetzt, im fortgeschrittenen Stadium der Resignation, einwenden, so war es doch stets, erst recht in der Zeit, die wir selbst überblicken. Die christlichen, die sozialen und die liberalen Demokraten, sogar die Grünen, alle wollten sie an die Macht; und wenn sie sie hatten, konnten sie nicht von ihr lassen, koste es, was es wolle. Der Republikaner Richard Nixon versuchte seinen demokratischen Gegner abhören zu lassen. Es kam zur sogenannten »Watergate-Affäre«. Um sich im Amt des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein zu behaupten, brachte Uwe Barschel 1987 seinen Herausforderer Björn Engholm in den Verdacht, Steuern hinterzogen zu haben und AIDS-krank zu sein. Völlig entgeistert fragte Heide Simonis nach ihrer Abwahl als Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, 2005, was denn nun aus ihr werden solle. Noch als seine Niederlage feststand, erklärte der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder der Wahlsiegerin Angela Merkel vor dem versammelten Fernsehvolk, dass sie nicht im Traum annehmen dürfe, je auf seinen Posten nachrücken zu können. Die Realität wollte er so wenig wahrhaben wie die Monarchen vor ihm. Jeder für sich eine kleiner Sonnenkönig im Zentrum seines politischen Vorstellungsvermögens.
Allein, der Selbstbetrug ist kein sicheres Fundament. Er mag den Aufschwung befördern; über längere Distanz trägt er nicht. Lügen haben kurze Beine. Und nur deshalb, weil der anmaßende Auftritt zur Selbstverständlichkeit geworden ist, sind wir nicht dazu verdammt, den parteipolitischen Machtmissbrauch zu erdulden. Wir müssen nicht zusehen, wie uns die Demokratie unter den Händen wegstirbt, zumal sich die Anzeichen dafür mehren, dass es der Bürger leid ist, sich an der Nase herumführen zu lassen. 75 Prozent der Deutschen fühlen sich von den Politikern übergangen. Der Protest dagegen, dass einige Bäume gefällt werden sollen, kann sich leicht zu einem Aufstand gegen die Regierung ausweiten, im Istanbuler Gezi-Park wie in der Landeshauptstadt Stuttgart.
Davon, wie dieser Widerstand wächst, wie sich der Bürger zu wehren beginnt, wie er der Parteienwirtschaft den Kampf ansagt, wie er denen den Spaß verdirbt, die glauben, nur so zum Spaß regieren zu dürfen, und welche Aussichten das eröffnen könnte, kurzum, von der beginnenden Wiederentdeckung der wehrhaften Demokratie soll in diesem Buch die Rede sein. Es handelt von einer freiheitlichen Ordnung, die nur bestehen kann, solange die Bürger ihre Politiker nicht von der Leine lassen. Liegt es doch im Wesen der Sache, dass die praktische Politik bei der Umsetzung ihrer Pläne immer wieder an die Grenzen des demokratisch Erlaubten stößt. Zu reden ist deshalb sowohl von denen, die zielstrebig auf den politischen Super-Gau zusteuern, indem sie im Namen Europas der Demokratie den Garaus machen wollen, als auch von denen, die wachsam und mutig genug sind, den selbsternannten Führern Europas Paroli zu bieten, selbst wenn man sie dafür als »Populisten«, als »Professoren«, »Wutbürger« und »Europafeinde« verleumdet. Es geht um die Moralisten der Demokratie sowie um die Pragmatiker der Macht – um die bürgerliche Gesellschaft am Vorabend einer demokratischen Umwälzung.

In den Schoß gefallen:Das Dilemma der geschenkten Demokratie

Die Deutschen haben es gut getroffen. Ebenso wie die Österreicher sind sie Glückskinder der Geschichte. Die Demokratie, die ihnen grundgesetzlich verbrieft zusteht, mussten sie nicht erringen. Die politische Freiheit ist ihnen zugefallen. Sie wurde ihnen – Ironie der Geschichte – verordnet, nachdem sie einer Diktatur zugejubelt hatten, die Europa ins Verderben stürzte. Es waren die westlichen Siegermächte, Amerika, Frankreich und England, die uns, Deutschen wie Österreichern, den demokratischen Wandel nach der Niederlage des Nationalsozialismus verschrieben haben. Das Verfahren glich einer therapeutischen Maßnahme. Wie so viele Therapien musste sie zunächst gegen den Widerstand derer, denen sie helfen sollte, durchgesetzt werden. Und wer weiß, wie dieser Diktatur-Entzug ausgegangen wäre, hätte der verlorene Krieg die Völker nicht so erschöpft, dass sie sich zur Gegenwehr nicht mehr aufraffen konnten. Der Einsicht eigenen Versagens verdankte sich die Annahme demokratischer Verhältnisse nicht überwiegend.
Noch 1988 brach ein Sturm der Entrüstung los, weil der Schriftsteller Thomas Bernhard es gewagt hatte, in seinem Stück »Heldenplatz« an den frenetischen Beifall zu erinnern, mit dem die Österreicher fünfzig Jahre zuvor den Einzug ihres Landsmannes Adolf Hitler in Wien feierten. In der Alpenrepublik passte dieses provozierte Aufleben verdrängter Schuld so wenig zum historischen Selbstverständnis wie in Deutschland die Erinnerung daran, dass Hitler 1933 keinen Putsch anzetteln musste, um an die Macht zu kommen. Sie war ihm für trügerische Versprechen schlichtweg versteigert worden. Den Weg dazu hatte eine Öffentlichkeit bereitet, in der sich niemand genierte, der Monarchie nachzutrauern, einem Flotten-Kaiser, der das Parlament der Bürger, den Reichstag, als »Quatschbude« diffamierte. Heinrich Manns Erinnerung, der zufolge in der Weimarer Republik nachgerade französische Zustände geherrscht hätten, »weil in ihrer Exekutive einige sich selbst achteten«, der Geist dem Staat etwas gegolten habe, war die Erinnerung eines Hoffenden, die eines Realisten war sie nicht.
Der »Machtergreifung«, von der die Nationalsozialisten nachher sprachen, hatte es gar nicht bedurft. Vielmehr nutzten die Deutschen die Möglichkeiten der Demokratie, um die Demokratie in freier Wahl schnell wieder abzuschaffen. Eine Tatsache, die wir uns bei aller Anerkennung der statistisch belegten Zahlen und ungeachtet der dokumentarischen Aufarbeitung des Dritten Reichs, unzähliger Filme über Hitlers Frauen, Architekten, Generäle, Bauherren und Hunde, nur ungern bewusst machen. Lieber schlagen wir uns auf die Seite derer, die im Nachhinein versicherten, sie hätten nicht absehen können, was ihre Wahlentscheidung nach sich ziehen würde, obwohl doch gleichzeitig Tausende untertauchen und emigrieren mussten, weil sie vor den Folgen warnten, vor der Diktatur, der Verfolgung Andersdenkender, vor dem Krieg nicht zuletzt. Über diese Flucht ins Vergessen wäre weiter kein Wort zu verlieren, wir könnten die Angelegenheit den Historikern überlassen, wären Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Oberflächlich betrachtet scheint das sogar der Fall zu sein. Wo immer ein versprengter Trupp stampfender Neonazis aufmarschiert, stößt er auf die Übermacht antifaschistischer Demonstranten. »Rock gegen rechts« versammelt die Menge, in der Masse zeigen die Bürger Flagge. Geht es dagegen um die individuelle Herausforderung, werden sie vorsichtiger. Mit dem Verständnis, das die Nachgeborenen für das Arrangement ihrer Väter und Mütter mit der Diktatur aufbringen, wenn sie feststellen, »ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte«, beziehen sie abermals die familiär vertrauten Positionen. Hinter der geübten Nachsicht steckt schon die vorsorgliche Entschuldigung eigenen Versagens. Weil man seiner Überzeugung nicht zu trauen wagt, optiert man dafür, im Ernstfall selbst nichts für die Verteidigung der Demokratie tun zu müssen.
Ein Eingeständnis politischer Unreife, das vielen umso leichter fallen mag, als es der kleinere Teil der Mitläufer war, der die Strafe für das Unheil absitzen musste, das der gewählte Nationalsozialismus angerichtet hatte. Nur jene, die das Pech hatten, auf dem Gebiet der DDR zu leben, wurden buchstäblich dafür in Haft genommen, über vierzig Jahre lang. Nach der braunen waren sie noch einer zweiten Diktatur ausgesetzt, der roten, für die sie sich nicht mehr freiwillig hatten entscheiden können. Die Demokratie, die der alten Bundesrepublik nach 1945 in den Schoß fiel, mussten sie sich 1989 auf der Straße erkämpfen. Was sie dabei riskierten, kann nur ermessen, wer erlebt hat, wie die Diktatur mit denen umspringt, die sie ablehnen. Unverständlich bleibt es den anderen. Ein Vorwurf ist ihnen daraus nicht zu machen. Für ihr Glück müssen sich die Glücklichen nicht rechtfertigen. Zu sehen ist nur, dass auch die gute Erfahrung den Horizont beschränken kann, den politischen in erster Linie. Wie sonst sollten wir uns die ablehnende Verblüffung des Westens erklären, als der Ostdeutsche Joachim Gauck nach der Wahl zum Bundespräsidenten die Verteidigung der Freiheit zu einem Leitthema seiner Amtszeit machen wollte.