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„Wenn sie geht, bleibt ihr nichts, als der Weg.“ Dieser Roman erzählt eindrucksvoll in Episoden das Leben von Enni. Die Ich-Erzählerin schildert dabei Erlebnisse aus ihrer Kindheit in Finnland. Mit gerade mal 17 Jahren bricht sie von dort aus auf nach Deutschland in eine ungewisse Zukunft und erzählt ihre Beobachtungen an den vielen verschiedenen Orten und den interessanten Arbeitsstellen, bis sie schließlich ein Studium an der Universität aufnimmt. Es ist ein Buch über die Schwierigkeit des Lebens und über die Spannungen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dabei bringt jede neue Episode eine Person aus Ennis Umgebung ins Zentrum des Geschehens, die Enni allmählich zu einer charakterstarken Person formt, die sie heute ist. Ohne Berufsausbildung kämpft sie sich mutig durchs Leben. Der Text durchläuft mehrere Zeitebenen und beschreibt eindrucksvoll den Mut, die Neugierde und die Gedankenwelt der Erzählerin. So ist eine nahezu dokumentarische Schilderung von 1960 bis zum Jahr 2000 entstanden.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Michael
Hellevi Rebmann (1943, Finnland) studierte Kunstgeschichte und Slawistik in Freiburg i. Br.
Sie war im Kunstverein in Freiburg tätig und veröffentlichte Artikel über Austellungen in Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland und Tschechien. Sie schrieb Beiträge in Kunstkatalogen und veröffentlichte die Bücher: „Neviditelná skulptura. O Josephu Beuysovi“ (Die unsichtbare Skulptur. Über Joseph Beuys), Votobia, 1998, sowie „Ani den bez počasí“ (Kein Tag ohne Wetter), Univerzita Palackého, Olomouc, Tschechien, 2015. Hellevi Rebmann war Lektorin für finnische Sprache und Literatur an der Palacký-Univesität in Olomouc/Tschechien. Heute lebt sie in Berlin.
Hellevi Rebmann ist als Herausgeberin des Lyrikbandes von Michael Rebmann „Rückkehr zur Erde. Gedichte: 2019-2021“ (BoD, 2021) erwähnt.
Vorwort: Die Autorin zu ihrem Text
1948
Die »Kiesgrube«
1948
Leo
1948
Laubhüttenspiele
1949
Der Tod der Katze
1949
Sommer
1949
Matti
1949
Am Heiligabend
1950
Die Schule am See
1950
Schulalltag der Erstklässlerin
1950
Weihnachtsferien
1950
In den Weihnachtsferien
1950
Anni Maria und Viktor
1952
Mamma
1954
Mummo und Ukki
1955
Der Hund
1959
Pappa
1960
Marita
1960
Haustochter in Mainz
1961
Der Ungar in Stockholm
1961
Was willst du hier?
1961
Die zweite Reise nach Deutschland
1961
Die Kinderstation
1961
Mitgliedschaften
1961
Heimzahlung
1962
Die Schwesternschülerin
1962
Die Frauenstation
1963
Frau Franke
1963
Konrad
1963
Trudel und Quiscardo
1963
Paul
1964
Die zwei Frauen
1964
Merzhausen
1964
In der Garnfabrik
1966
Das Institut
1966
Gudrun
1967
Weil
1967
Konrad mit dem Rad nach Weil
1967
Die Verlobung
1967
Ester
1968
Gundelfingen
1968
Ein richtiges Leben
1968
Die Hochzeit
1970
Hanna-Maria
1970
Wildtal
1971
Die Röntgenabteilung
1971
Tante Elisabeth
1975
Die Stuttgarter Wohnungsauflösung
1976
Brüsseler Spitzen
1977
Das Begräbnis
1987
Die Studentin
1991
Vater
Namensregister der wichtigen Personen
Mit 78 Jahren habe ich das Manuskript zu diesem Buch abgeschlossen. Es handelt sich um einen autofiktiven Roman, der ein Leben in Episoden erzählt.
Die Ich-Erzählerin Enni erinnert sich an Ereignisse, Erlebnisse, Geschehen aus ihrer Kindheit in Finnland, sie erzählt davon, wie sie nach Deutschland aufbricht, über ihre Erlebnisse und Beobachtungen an vielen Orten und Arbeitsstellen.
Scham, Verluste, Gewalt, aber auch Gelingen, Schutz und Liebe wären Kennworte, die den Inhalt des Buches bezeichnen könnten. Enni erzählt über Spannungen des Alltags und der zwischenmenschlichen Beziehungen lebhaft, auch erschütternd. Jede neue Episode bringt eine Person aus Ennis Umgebung ins Zentrum des Geschehens. Die Beziehungen zwischen Menschen, der Einfluss anderer Menschen auf einen selbst, nehmen hier einen zentralen Stellenwert im Leben ein. Es offenbart sich, wie leicht man, folgt man seinen Gefühlen, sich täuschen kann und dann enttäuscht wird.
Jedes Kapitel deutet auf eine negative Wendung der Geschichte, dennoch stellt sich am Ende des Ganzen heraus – es hat mich selbst überrascht –, dass die Summe aller Episoden keineswegs negativ empfunden werden kann.
Hellevi Rebmann, 2021
Als ich fünf war, zogen wir um. Die »Kiesgrube«, wie sie halboffiziell genannt wurde, war eine Eisenbahnersiedlung, wo ausschließlich Familien mit Kindern in einer Art »Übergangslösung« wohnten. Alle Väter und Mütter waren nämlich fleißig dabei, sich ein eigenes Haus zu bauen.
Die »Kiesgrube« war entstanden gleich in den Jahren nach dem Krieg, als in der Gegend Eisenbahnschienen gelegt wurden, dort entlang, wo die Kämpfe ganze Streckenverbindungen zerstört hatten. Auch baute man zum Saimaasee-Hafen neue Sandstraßen. Auf dem Saimaa war ein reger Schiffsverkehr wieder aufgenommen worden.
Die Kiesgrube grub sich immer mehr in die Breite und Tiefe mitten im Wald. Nahe dem verwundeten Rand des Waldes streckte sich ein aus roten Ziegelsteinen gemauerter Wasserturm weit über die Kiefernwipfel. Die eine Hälfte der schon ausgebeuteten Grube war mit kleinen Doppelhäusern besiedelt. Diese waren aus hölzernen Fertigteilen zusammengesetzt, teerbraun. Es waren sieben oder acht niedrige Behausungen, jeweils mit nur zwei Zimmern, Küche und einer kleinen Veranda. Die andere Hälfte der Kiesgrube diente weiterhin als Kies-, Sand- und Gerölllieferant. Hier füllten sich die tiefen Senken, aus denen die Erde ausgehoben war, mit Grundwasser. Im Winter hatten wir dann eine Eisbahn fast gleich vor der Haustür.
Vater verbrachte ganze Wochen in Helsinki, wo er Fortbildungskurse besuchte, kam aber zwischendurch für einige Wochen nach Hause in die ostfinnische Kleinstadt am Saimaasee. Auch unsere Eltern hatten begonnen, ein Eigenheim zu bauen. Hoch oben, auf einem Granitfelsen, mitten in einem Kiefernwald, einige Kilometer von der »Kiesgrube« entfernt, hatten sie ein Grundstück bekommen. Viele Steinbrocken, wenig Humus auf den Felsen. So baute Vater an dem Haus in Imatra und besuchte die Fortbildungsschulung in Helsinki.
Es war ein warmer und sonniger Frühsommertag, als wir in die »Kiesgrube« umzogen, aus einer noch kleineren Mietwohnung in einem alten, roten Blockhaus am Fluss Vuoksi. Die Fuhre mit dem wenigen Hausrat und den Möbeln wurde von einem tüchtigen braunen Pferd gezogen. Auf unserem Hof angekommen, ließ es gleich eine dampfende Pferdeapfelpyramide auf den Rasen fallen. Ich saß, ebenfalls gerade angekommen – womit eigentlich? –, auf einem mittelgroßen Stein, einem Granitfindling, der vor unserer Haushälfte im Gras thronte. Die Knie vor die Brust hochgezogen, die Hände auf die Knie gelegt, beobachtete ich unsere Eltern und einige Helfer beim Ausladen und Hineinschleppen unseres Hausrats. Das Pferd mampfte Hafer aus einem Futtersack, der ihm am braunen Hals baumelte.
Ein Junge, etwa so alt wie ich, trat zögernd zu dem Stein, auf dem ich saß. Er schaute mich mit großen Augen an, blieb vor mir stehen und maß mich mit seinem Blick. »Kannst du einen Kopfstand machen?«, fragte er. – »Noch nicht«, sagte ich. »Dann kannst du auch nicht auf den Händen laufen?« – »Nein.« »Willst du es lernen? Ich könnte es dir beibringen, falls du Interesse hättest.« – »Ja, das könnte ich vielleicht ausprobieren«, sagte ich und zog den Rocksaum hinunter bis zu den Knöcheln. »Dann komm herunter! Ich zeig’s dir!« Der Junge freute sich offensichtlich über das Interesse, das ich zeigte.
Er hieß Leo, war etwas kleiner als ich, obwohl doch ein Jahr älter, wie ich bald erfuhr. Leos Haare waren sehr dick und dunkel, seine Augen blau wie Heidelbeeren. Leo schien muskulös zu sein. Er trug ausgewaschene Shorts und ein kariertes kurzärmeliges Baumwollhemd, dessen Saum er unter das Gummi der Shorts gestopft hatte.
Leo hatte einen älteren Bruder und eine Schwester, die schon erwachsen und sogar verlobt war, wie Leo mir später erzählte. Die Schwester arbeitete im Sommer bei der Post, ging aber noch auf das Gymnasium. Sie trug Dauerwellen im Haar, das blond war. Leos Eltern waren ebenfalls »Eisenbahner« wie die unseren, älter als die unseren, sehr freundlich. Leos Vater hielt zwei Hunde, denn er war ein Jäger. Hasen und Füchse hingen kopfüber, tot, hinten an der Wand des Holzschuppens bei ihnen auf dem Grundstück. Der kleinere der Hunde, ein Bracke, verbrachte seine Tage im Zwinger, es hieß, er sei böse. Der größere Hund lief in der ganzen Siedlung frei herum; meist lag er aber vor unserer Eingangstreppe oder in unserem kleinen Erdbeerbeet vor dem Küchenfenster. Leo wohnte nur zehn, zwanzig Meter über den Hof, gleich uns gegenüber. Es gab keine Zäune zwischen den Häusern in der Siedlung.
Der Rock hing mir von der Taille herunter, behinderte meine Sicht. Die kurzen Haare störten beim Kopfstand. Mit den Beinen strampelnd gelang es mir jedoch ziemlich schnell, einige Sekunden auf dem Kopf zu stehen. Leo zeigte mir gleich noch die Technik des Auf-den-Händen-Laufens, nachdem ich den Kopfstand, ziemlich wackelig, beherrschte. Am Ende des Sommers stand ich kopf, so lange, bis er mir rot anschwoll und ich beinahe das Bewusstsein verloren hätte. Ächzend erhob ich mich, strich den ewig gleichen Rock glatt. Ein herrlicher Schwindel im Kopf, ein Wanken in den Beinen. Auf den Händen konnte ich schon vier, fünf Schritte laufen, die braunen Arme zitternd, das Kreuz bog sich durch und ich plumpste in das kühle Herbstgras. Atemlos, mit glühendem Gesicht.
Leo und ich wurden von dem Tag an, als wir in die »Kiesgrube« umgezogen waren, fast unzertrennlich. An heißen Sommertagen hockten wir an dem kleinen Teich, der eigentlich eine ausgebaggerte Vertiefung nahe der sandigen Durchgangsstraße war. Sein Ufer wuchs langsam mit Weiden- und Erlengebüsch zu.
Schmetterlinge und Libellen – in herrlichen Farben und vielen Größen – flatterten dort in Scharen, setzten sich kurz uns auf den Arm oder auf die Haare. Die Libellen konnte man als Brosche an der Brust einige Sekunden lang tragen. Kaulquappen waren ganz leicht an seichten Stellen im Uferwasser mit der bloßen Hand zu greifen. Die einzigen Fische, Karauschen, die in einem solchen Tümpel schwammen, angelten wir mit einer Wurmangel. Die Karauschen fraß nicht mal die Katze, sie galten als die geringsten aller Fische.
Es kam der Winter. Auf der schmalen Dorfstraße erfroren die Rossäpfel zu Eisklumpen. Den Teich überzog eine dicke Eisschicht von den Rändern bis zur Mitte. Wir Kinder gingen auf das Eis, so lange noch kein Schnee gefallen war.
Die steilen Kiesgrubenwände bedeckte dann auf einmal der tagaus, tagein fallende Schnee. Wurzelkrallen von Bäumen ragten aus dem brutal ausgehobenen Kies hervor, wo der Wald begann. Die Schürffläche hatte sich in ein vortreffliches Skigelände verwandelt. Die Grubenwände waren jäh abschüssig, großartig für tollkühne Abfahrten mit den Skiern und dem Schlitten. Meine Holzskier brachen einige Male in diesem Winter in der Mitte entzwei, so steil waren die Hänge der Grube. Der Vater nagelte sie mit Blechstücken wieder zusammen. Die weniger Mutigen bei uns in der Siedlung sausten die Grubenhänge in einem mehrschichtigen Papiersack (aus der nahegelegenen Mühle am Bahndamm) hinunter, bis zum Hals in den Mehlsack gekrochen fuhren sie den Hang nach unten, bis der Sack völlig durchgescheuert war. Einmal blieb ich alleine in meinem Sack am Hang, sogar den Kopf hatte ich versteckt. Die großen Jungs hatten alle anderen Kinder weggelockt. Leos großer Bruder hatte den »bösen« Bracken vom Zwinger geholt, der rannte glücklich frei herum in der Grube. Ich war kaum unten am Hang angekommen, sprang der Hund um mich herum, schnupperte, schnaufte, begeistert befeuchtete er mir die Stirn mit langen Schleimfäden. Ich starb fast vor Schreck. Schnell stellte ich aber fest, dass der Hund offenbar gar nicht böse war. Er freute sich maßlos über das ungewohnte Spiel. Leo hatte diesen Plan der großen Jungs im Voraus gekannt, mir aber nicht verraten. Trotz der unzertrennlichen Freundschaft kam es hin und wieder vor, dass Leo mich verriet. Einmal hatte ich eine besonders schöne Schachtel der Seifenmarke »Lux« von meiner Mutter bekommen. Darin sammelte ich meiner Meinung nach ausgefallene, schöne, seltene Blüten und ordnete sie nach einem System, das etwas eigenwillig war. Leo beklagte sich bei seiner Mutter, ich hätte die Schachtel von ihm geklaut. Er war neidisch, neidisch! »Wann hast du die Seifenschachtel von Leo weggenommen?«, fragte mich seine Mutter. Damit meinte sie »gestohlen«. Daraufhin eilte meine Mutter mit flatterndem Kopftuch über den gemeinsamen Hof zu Leos Mutter. Es half nichts. Nicht einmal das Versprechen meiner Mutter, Leo die nächste freiwerdende »Lux«-Seifenschachtel zu schenken, konnte Leo von seiner Lüge abbringen. In meinen Augen war das Klauen überhaupt die Schlimmste von allen Übeltaten.
Als unsere Familie dann wieder umzog, in das neue Eigenheim im Wald, und ich just an dem Tag auch eingeschult wurde, haben Leo und ich uns nicht mehr auf dem Schulhof gekannt. Nie mehr haben wir ein Wort miteinander gewechselt. Dann irgendwann sahen wir uns auch nicht mehr.
Du solltest dich was schämen«, sagte mit süßlicher Stimme Tante Anna, die die beste Freundin unserer Mutter war. Ich war sehr irritiert und schämte mich schrecklich. Auf dem Rand des Sandkastens, der auf dem dürftig eingerichteten Spielplatz unweit des gemeinsamen Saunagebäudes lag, saßen einige Mütter aus der Siedlung »Kiesgrube«. Tante Anna hatte mich zu sich auf den Schoß gezogen. Andere Kinder buddelten im Sand, stritten sich, glotzten mich und die Tante an. Einige Mädchen betteten ihre mitgeschleppten Puppen in den Puppenwagen um. Es war ein warmer und sonniger Sonntagmorgen. Ich schwankte zwischen Vertrauen und Argwohn. Anna hatte mich freundlich lächelnd mit sanfter Stimme zu sich gerufen. Jetzt hielt sie mich an meinen Unterarmen fest und hörte nicht auf zu lächeln.
Die größeren Jungs der Siedlung hatten über den ganzen Sommer im nahen, die Häusergruppe von der Durchgangsstraße des Ortsteils trennenden Wald an einer Laubhütte gebaut. Zum Schluss bekam der Bau ein Dach aus riesigen sattgrünen Farnfächern. Eine wunderbare, dichte, geräumige Laube im Versteck von Erlenbäumen.
Auch die kleinen Kinder wie ich, die die ganz kleine Schwester Asta im Schlepptau hatte, stümperten an einem Hüttenbau herum. Die Jungs bauten zu fünft. Einige von ihnen gingen bereits aufs Gymnasium. Als ihre Hütte prächtig, grellgrün und gut duftend unter den Erlen fertig geworden war, luden sie uns zwei, Asta und mich, zur Besichtigung ein. Auch Nachbars Leo war eingeladen worden. Ich, die erst fünf war, ergriff die kleine, rundliche Hand meiner Schwester und kroch mit ihr in das grüne Halbdunkel. Leo saß am Boden in der Laube, als wir Mädchen hineinkrochen.
Leo hatte mir am ersten Tag unseres Einzugs in die »Kiesgrube« (vor mehreren Wochen) den Kopfstand beigebracht. Der Rock hatte mir über das Gesicht gehangen, ich hatte Kopf gestanden in rosa Unterhosen im Gras, bis Leo gerufen hatte: »Es reicht!« – »Ihr habt sicher keine Ahnung, was man in einer Laube so macht«, stellte einer der Großen fest. »Enni, leg dich auf den Rücken, da auf den Boden. Die Farne sind weich. Und du, leg dich auf Enni«, kommandierte der große Junge, der hier das Sagen zu haben schien.
Wir sollten »Eltern« nachahmen. Es duftete, die Luft war schwer, sodass ich leicht betäubt auf den Farnen lag. Gleichzeitig fühlte ich mich ziemlich unbehaglich. »Jetzt, Leo, jetzt musst du sie küssen. Auf den Mund!«, befahl der Große und bückte sich herunter zu uns. Ich lag unbequem unter Leo, der nicht sonderlich schwer war. Plötzlich drückte er mir einen schlapprig-nassen Kuss irgendwohin auf das Gesicht. Danach durften wir aufstehen, ich schämte mich entsetzlich und es sah so aus, dass auch Leo sich schämte.
»Olli zeigt euch jetzt was Komisches und Spannendes! Er hat nämlich einen ganz großen Pimmel und schon Haare da unten«, rief der Chef. Olli ließ seine kurze Hose herunter bis an die Knöchel gleiten. Ich musste hinschauen, obwohl es mir in dem grünlichen Raum immer unbehaglicher wurde. Der Pimmel von Olli sah wirklich komisch aus an dem schmalbrüstigen, dünnbeinigen, kleinen Vierzehnjährigen. Und er machte Angst.
Von da an rochen pubertierende Jungs für mich lange Jahre später nach frischen Farnfächern. Nach verbotenen, heimlichen Spielen. »So etwas machen nur die Erwachsenen«, schalt mich Tante Anna auf dem Sandkastenrand. Asta und Leo beachtete sie gar nicht, sie zählten jetzt hier nicht.
Am Samstagabend hatte Marita beim Abendtee in unserer Küche geprahlt und wichtig getan mit Erlebnissen, an die ich mich nicht mehr erinnere, aber ich habe damals am Tisch, um ebenfalls wichtig zu tun, über die Laubhütte und unser »Elternspiel« erzählt. Lydia, unsere Mutter, war am Herd gestanden, hatte unserem Geplapper gelauscht, wie sie immer mit Vergnügen tat. Sie hatte den Kochlöffel beiseitegelegt, hatte ihre Schürze losgebunden von den breiten Hüften und an einen Haken zu den Handtüchern neben der Küchentür aufgehängt. Sie hatte sich den Kamm geschnappt, sich vor dem Wandspiegel ihre Dauerwellenfrisur geglättet, und war hinausgegangen.
Vor fast siebzig Jahren ist es gewesen, oder war es gestern, als die Katze umgebracht wurde? Im Grunde war es ein ziemlich gewöhnliches Ereignis in unserer Kindheit gewesen. Väter hatten allgemein die Aufgabe, Katzen, Hasen, Hühner und sogar Hunde umzubringen. Die Rede ist hier nicht vom Schlachten der Haustiere in Bauernhöfen, sondern vom Umbringen häuslicher Kuscheltiere.
Mein Vater hatte an dem warmen, sonnenvollen Samstag einen freien Tag. Sein bester Freund, unser Wandnachbar Bengt, war an dem Tag einfach zu Hause geblieben. Ob er auch frei hatte, wusste ich nicht. Vielleicht machte er blau, weil er verkatert aufgestanden war, denn er fuhr hin und wieder mit dem Fahrrad nach Immala, wo inmitten von einem lichten Kiefernwald eine öde aussehende Gastwirtschaft mit riesigen Fenstern einfaches Essen und Alkohol anbot. Der Vater begleitete Bengt ziemlich oft dorthin. Sie trafen andere Männer des Ortes und blieben meist sogar über die Nacht, für uns Kinder wie verschollen. Gardinen und dicke Vorhänge, die zugezogen vor den großen Glasscheiben waren, verbargen die Geheimnisse in den Räumlichkeiten des Wirtshauses. Dort betranken sich Männer (und es hieß, auch einige Frauen!) gehörig, wobei der Wochenlohn manches Papierfabrikarbeiters vertrunken wurde. In der Umgebung der berühmten Fabrik, die einer der wichtigsten Brotgeber der Familien in unserer Stadt war, lebten fast ausschließlich Leute aus der Fabrik. Bengt und Vater gehörten zu dem zweiten großen Arbeitgeber der Stadt, nämlich, sie lernten bei den finnischen Eisenbahnen, beide waren zu der Zeit noch Heizer, doch ihr Berufsziel Lokomotivführer stand ihnen fest vor den Augen.
An jenem Samstagvormittag war der Vater ganz bestimmt nicht verkatert, obwohl er traurig und irgendwie weich an Gemüt gewirkt hatte. Er hatte nur mit Widerstreben »ja« gesagt, als Lydia redete und redete und behauptete, die Katze würde eines Tages dem Säugling im Kinderwagen die Luft abschnüren. Mirri kuschelte sich neuerdings gerne in die hellblaue Wolldecke des Kindes im Wagen, auch wenn der kleine Bruder Matti darin schlief. Könnte ja sein, dass die Katze sich auf das Gesicht des Kindes legen würde. Ich hörte die Eltern reden, leise, aber mit Nachdruck die Mutter, sehr leise sagte der Vater »ja«.
Ich erinnere mich, wie der Vater und sein verkaterter Freund Bengt an einem nachlässig aufgehäuften Steinmäuerchen direkt am Waldrand hinter den Häusern unserer Siedlung «Kiesgrube« standen und eine »Saimaa«-Papirossa rauchten. Es war heiß, Insekten summten in Wiesenblumen und in den Bäumen. Die Luft sang ebenfalls voll von ihrem Gesumm. Es muss im Juli gewesen sein, denn das Gras war trockengelb, die Vormittagshitze flimmerte über dem Steingeröll und ließ die Kiefernreihen dahinter am Waldrand zittern. Meine Schwester Marita und ich kauerten und lauerten hinter einem größeren Granitfindling, der uns Schutz bot. Wir spähten hinter die Lichtung, wo zwischen den Stämmen der Wald schon dämmerig und schattig wurde und wo zwei Männer ihr grausiges Geschäft verrichteten. Die Männer hielten einen Jutesack zu zweit in den Händen, in dem Sack miaute Mirri, strampelte und schrie entsetzlich. Direkt vor meinen Augen sonnte sich auf einem bemoosten Stein eine graue Eidechse. Woher hatten die Männer nur diesen Jutesack? Es waren bei uns nämlich nur Papiersäcke zu haben, mehrschichtig und reißfest, die wir Kinder in der nahegelegenen rotgestrichenen Mühle uns zum »Schlittenfahren« holten. Durchgescheuert und zerfetzt landeten diese irgendwann dann im Saunaofen.
In dem Jutesack schreit und tobt unsere Katze Mirri. Vater schwingt den braunen Kartoffelsack über seinen Kopf und lässt die Last hinuntersausen auf einen Stein auf der Halde. Danach nimmt Bengt den Sack, schlägt ihn wütend mit voller Wucht auf die gleiche Stelle. Der Sack ist schon blutig, aber lebendig. Immer noch lebendig.
»Es ist deine Schuld«, sagt Marita. »Hättest du Mirri nicht in dem Kinderwagen mitgeschleppt, würde sie jetzt nicht totgeschlagen«, sagt sie. Mirri ist ihre Katze, aber irgendwann hatte sie begonnen, mir stets nachzulaufen und sich an meinen Waden zu reiben.
»Du hast dir einen Bruder gewünscht, herbeigebetet! Und deswegen muss Mirri jetzt sterben!«
Marita hatte recht, ich glaubte ihr sofort. Mirri schrie, bis der Sack sich dunkel verfärbte und dann war es still.
Marita und ich mussten uns die Finger gegen den Mund drücken. Ich kann nicht mehr sagen, was ich bei dem, was ich sah, empfand. Wir wagten es nicht, aufzukreischen.
Die Männer stehen an einem Steinhaufen im Dämmerlicht. Sie heben größere Brocken von dem Hügel zur Seite. Die Steine rollen gegen andere auf einen Haufen. Vater gräbt mit einer eisernen Schaufel eine Grube zwischen den Steinen und Mirri gleitet aus dem blutigen Sack, verschwindet in dem Loch. Der Sack fällt hinterher in das Katzengrab. Bengt fängt an, Steine darauf zu schichten. Beiden Männern läuft der Schweiß bis unter den Hemdkragen. Vater sieht ganz anders aus als gewöhnlich, wenn er sein grimmiges Alltagsgesicht zeigt. Er sieht erschüttert aus. Marita und ich entfernen uns vom Ort des Entsetzens, Marita wollte nie mehr mit mir etwas zu tun haben.
Ich habe nach diesem Ereignis nicht geweint. Das Gefühl von Verrat, von Hoffnungslosigkeit hatte mich erfasst.
Den restlichen Tag war ich verschwunden. Ich bin am Teich herumgesessen, der sich gebildet hatte, als an unserer Siedlung vorbei eine neue Eisenbahnstrecke bis zum Hafen am Saimaa-See gebaut wurde. Für den Schienenstrang war Sand ausgebaggert worden. Die Ufer des kleinen Baggersees waren schnell mit Schilf, mit Weiden- und Erlenbüschen, mit Wasserpflanzen bewuchert, bequeme flache Steine ragten aus dem stillen Wasser am Ufer. Ich hockte auf den Steinen, versuchte eine Libelle zu fangen und sie dann als eine glitzernde grüne Brosche an mein Kleid zu setzen.
Kaulquappen waren bereits zu kleinen Fröschen mutiert. Ich hielt sie auf der flachen Hand und streichelte sie.
Am frühen Abend stand der Kinderwagen unter dem
Küchenfenster leer. Das Kind wurde im Schlafzimmer gefüttert. Vater und Bengt waren noch am Nachmittag verschwunden. Sie waren mit ihren Rädern in den Wald gefahren. Sie kamen erst spät in der Nacht nach Hause. Beide waren betrunken.
Vater brachte einige Tage später ein hellgelbes Küken nach Hause. Er holte das wollige Bällchen aus der Brusttasche seiner karierten Jacke. Das Küken tapste überall frei herum in unserer
Wohnung. Am Abend des gleichen Tages lag es plötzlich leblos auf der Türschwelle zwischen Küche und Wohnzimmer. Vater hatte das Vögelchen aus Versehen zwischen Tür und Angel zerquetscht.
Ende April, Anfang Mai kamen die Lastwagen. Sie luden auf die offene Ladefläche Sand und Geröll aus der Kiesgrube, nahe an den Häusern. Ihre Last ließen sie dann wieder herunterrasseln in irgendeiner Baustelle. Im Ort wurden neue Straßen gebaut, es wurden auch Eisenbahnschienen zum Hafen am Saimaa-See erneuert. Kriegsschäden, sagten die Leute.
Ich fuhr mit. Einer der Lastwagenfahrer ließ mich auf den heißen Beifahrersitz klettern. War das hoch! Der Sitz war aus rotem Leder, durchgesessen, etwas zerrissen, die Polsterung quoll stellenweise heraus. Es roch stark nach altem Leder, besonders wenn die Sonne durch die dreckigen Scheiben darauf prallte. Ich durfte mitfahren, hin und her. Der Benzingeruch, der Staub, alles gefiel mir. Der Fahrer hatte die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Auch das gefiel mir.
Auf dem Rasen zwischen den Häusern baute Vater ein hölzernes Spielhäuschen für uns. Das Holz war aus den aussortierten Abfällen auf irgendeiner Arbeitsstelle ausgelesen. Die Inneneinrichtung für unsere Behausung haben wir Mädchen selbst aus der Siedlung zusammengetragen. Es wurde gemütlich und stickig drinnen in dem Spielhäuschen. Dort spielten wir vor allem Hausfrau und Hausvater. Wir hatten Kinder und bekamen sehr oft Besuch. Einmal oder vielleicht zweimal fand eine Puppengeburt auf der alten Matratze, die an einer Wand des einzigen Raumes lag, statt. War ich die Geburtshelferin? Wer war die Gebärerin? Vielleicht haben wir uns in den Rollen abgewechselt. Wie auch immer, das Geburtsspiel wurde bald verboten. Jemand hatte durch das winzige Fenster von außen hineingeschaut und dann uns bei den Erwachsenen verpetzt. Danach vermieden wir die Spielhütte ganz. Nur manchmal stahl ich mich hinein, alleine, und betrachtete die Bilderbücher, die dort lagen und langsam feucht und schimmelig wurden. Der Ort war verdorben worden.
»Die Katze springt ständig auf die Decke in Mattis Wagen.« Lydia schaute aus dem Fenster heraus, unter dem Matti in seinem Kinderwagen schlief. Mirri hatte sich angewöhnt, auf Mattis Decke mit ihm im Wagen zu liegen, seit ich die beiden die Sandstraßen entlang geschoben hatte. »Die Katze muss weg. Sie erstickt das Baby noch«, sagte Lydia.
Einige Tage, nachdem ich sechs geworden war, trugen Vater und Nachbars Bengt Mirri in einem Kartoffelsack an den nahen Waldrand. Marita und ich folgten ihnen heimlich. Mirri war Maritas Katze, die allerdings ständig mir folgte, wohin ich auch ging. Sie schlief meist bei mir im Bett und spielte mit uns Kindern wie ein Hund. Ich hatte mir immer einen eigenen Hund gewünscht, aber nie, nie bekam ich einen.
Mirri war groß, weiß-rot-schwarz, an ihren breiten Backen wuchsen lange weiße Schnurrbarthaare. Ihre gelben Augen lagen schief im Gesicht. Eine schöne, bunte Katze war sie. Marita hatte die Katze schon als Kleinkind bekommen und liebte sie innig. Nur ärgerlich, dass Mirri mir nachlief.
Weiche Luft wehte durch das Fenster in die Küche. Lydia hatte Tee, Emmentaler-Käse, Butter und Knäckebrot auf den großen Tisch aufgetragen. Es würde noch Stunden hell bleiben. Vom entfernten See hörte man Kinder rufen und lachen. Wir mussten früh am Abend im Haus sein. Vater war nicht da. Er war mit Bengt sofort nach der Mordtat verschwunden. Die beiden Männer hatten sich auf ihre Fahrräder geschwungen und waren erst an der bekannten Kneipe abgestiegen. Ich hatte beobachtet, wie Vater weinte, als sie die totgeschlagene Mirri mit Steinen zudeckten.
Die Sommertage schienen sich endlos fortzusetzen. Ich lernte das Fahrradfahren mit dem großen schwarzen Rad der Mutter. Die Sandstraße, die sich an unserer Siedlung vorbeischlängelte, war hügeliger, als gedacht. Auf einem der Hügel »gab ich Gas«, fuhr tollkühn die Schotterstraße hinunter, hielt das Gleichgewicht allein kraft der Geschwindigkeit. Als ich dann auf eine längere flache Strecke gelangte, musste ich kräftig in die Pedale treten.
Bis zum Sattel reichte ich bei weitem nicht, trat stehend auf die Tretkurbel, abends, glücklich im Bett, ging ich die Strecke so oft in Gedanken durch, bis ich selig eingeschlafen war. Ich konnte Fahrrad fahren!
Obwohl ich schon Rad fahren konnte, durfte ich damit nicht auf die Baustelle im Wald kommen, sondern ging weiterhin zu Fuß dahin. Die Eltern hatten ein Baugrundstück auf einem fast nacktem Granitfelsen mitten im Wald, ein Paar Kilometer von der »Kiesgrube« entfernt, erstanden. Es wurde gebaut; der Vater war jede freie Stunde des Tages, manche Nachtstunde dazu, auf der Baustelle. An den hellen Abenden hörten wir im ganzen Ort ein Klingen und Klopfen der Hämmer auf vielen Hausbaustellen. Die Väter der Ortschaft bauten mit eigenen Händen ihre Häuser. Mein Vater fällte viele Kiefern, die auf dem mageren Waldboden auf dem Felsengrundstück wuchsen, die Stämme brachten er und Lydia mit dem Fahrrad zur nahen Sägerei am Seeufer. Die gesägten Bretter kamen auf dem gleichen Weg wieder auf die Baustelle zurück. Fünf oder sechs Freunde des Vaters kamen das Fundament gießen. Sie gossen den Sockel für unser Haus in einem einzigen Tag. Lydia teilte Erbsensuppe, Brot und Hefezopf mit Kaffee in den Pausen aus. Wir Kinder hüteten Matti in seinem Kinderwagen und machten Bekanntschaft mit Helga und Leena, den Nachbarsmädchen, die im gleichen Alter zu sein schienen wie wir. Mir fiel gleich auf, dass die Mädchen beide dicke, lange mittelhelle Zöpfe trugen. Unsere Mutter hätte uns nie erlaubt, solche wachsen zu lassen: die Arbeit damit morgens, die verfilzten Haare und das Geheul!
Sobald der Sockelbau getrocknet war, konnte das Bauen der Holzrahmen des Hauses beginnen. Aus den Brettern, die mit Mörtel verdreckt worden waren, starrten Nägel heraus. Ich durfte sie mit einem Nageleisen herausziehen, sie waren lang und krumm. Mit einem richtigen Hammer versuchte ich die verbogenen Nägel gerade zu hämmern. Oft traf der Schlag mich auf die Finger.
Auf der Baustelle verbrachten wir, die ganze Familie, den langen, schönen Sommertag. Matti schlief oder krähte in seinem Wagen, wurde herausgehoben, bekam die Brust; zu langweilen brauchte er sich nicht. Ich saß mit ihm auf dem Schoß im Gras und erzählte ihm über meine Freundin, eine »Frau Polin«, die eine von mir ausgedachte Schlange war und im Weidengebüsch mich erwartete, wenn ich die Straße entlang kam, oder ich schilderte Matti die Farben der Libellen am Teich mit den Weiden und Erlen entlang des Bahndamms.
Mein Bruder Matti war Anfang April geboren worden. Das Wetter war in der Nacht ruhig gewesen, der Schnee lag noch einen halben Meter hoch auf unserem Hof und war so harsch, dass ich darauf laufen konnte, ohne einzubrechen. Das Thermometer fiel nachts noch bis auf -7°C.
Mein Glück hatte keine Grenzen gekannt, ein halbes Jahr davor, vor Weihnachten, hatte ich im Zentrum unseres Ortsteils die dortige Apotheke besucht und mich nach »Bubensamen« erkundigt. Obwohl der Apotheker mir keine »Bubensamen« mitgegeben hatte, war Mutter im Winter schon sichtbar schwanger. Sie trug zum Ausgehen eine dicke türkisfarbige Winterjacke mit einer braunen Fellmütze, ihre Füße steckten in beigefarbigen, halbhohen Winterstiefeln.
»Ich denke, wir bekommen einen Jungen«, sagte sie eines Tages zu mir und lächelte.
Die allgemein bekannte Hebamme Wilma war im Laufe der vergangenen Wochen oft zu uns gekommen und war mit Mutter ins Wohnzimmer verschwunden. Meine Eltern schliefen damals dort im Wohnzimmer in einem ausziehbaren roten Plüschsofa. Ein richtiges Schlafzimmer gab es nicht in den kleinen Wohnungen der Eisenbahnsiedlung. Die Möblierung des Zimmers war kärglich: unter dem einzigen Fenster im Raum stand eine braune, lackierte Kommode, wie ein Untier so breit. Auf der Kommode hatten wir den Radioapparat stehen. Aus dem Radio erfuhr ich früh, dass es außer Finnland auch noch Länder wie Polen, die Sowjetunion oder Schweden gab. Ich hörte, dass in Amerika ein Präsident Eisenhower regierte, in Deutschland ein Konrad Adenauer. Die zwei Namen brachte ich dauernd durcheinander. Donnerstagabends um halb sechs lauschte ich der Kindersendung »Onkel Markus«. An irgendeinem anderen Abend wurde das Fortsetzungshörspiel »Die Abendteuer des Kalle-Kustaa Korkki und des Pekka Lipponen« ausgestrahlt. Spannend!
Vor dem Sofa im Wohnzimmer standen ein kleiner niedriger Tisch und zwei Armsessel. Über dem Sofa schmückte die helle Tapete ein Wandteppich, der abstrakte Muster in Braun und Beige zeigte. Überhaupt waren die Farben im Zimmer in schlammfarbigem Braun gehalten. In einer Ecke des Raumes stand ein rundgeformter, hoher Ofen, der mit Holz geheizt wurde. Der Ofen war mit hellgrauem Blech ummantelt und reichte bis an die Zimmerdecke.
Spät an einem Abend, es war Anfang April, war die Hebamme Wilma ganz außerhalb der üblichen Besuchszeit zu uns ins Haus gekommen. Ich hatte in der Küche gesessen. Nachts wachte ich auf, die Katze Mirri lag auf meinem Bauch. Ich schlief wieder ein, bis dann morgens, sehr früh, Matti geboren wurde. Ich hatte hinter der Tür zum Geburtswohnzimmer gestanden. Dann wurde die Tür aufgerissen, die Hebamme Wilma streckte ihren schwarzen Kopf heraus, lachte, als sie mich da auf der Schwelle stehen sah, verschwand aus der Türöffnung, kam zurück und hielt mir das Baby hin, bot es mir an, legte es mir auf meine kurzen, ausgestreckten Arme. Der Bruder schrie.
Matti war bis zu seiner Einschulung ein ängstliches Kind gewesen, das leicht weinte. Er blieb stets bei uns Mädchen, in unserer Nähe, wenn wir spielten. Keine anderen Buben durften mit uns spielen. Wir, seine Schwestern, und dann noch höchstens vier oder fünf Nachbarsmädchen (Helga, Leena, Marja und AnnaLiisa) schleppten den kleinen Matti überallhin mit, wohin wir wollten. Am meisten fürchtete er sich vor den großen, braunen Ameisen auf einem Waldpfad. Dann musste ich ihn immer auf dem Arm oder auf meinem Rücken tragen, an den Ameisenbauten vorbei, die beindruckend und meterhoch am Wegesrand ragten. Vor Spinnen fürchtete sich Matti beinahe so stark wie vor Ameisen.
Einige Wochen nach seiner Geburt durfte ich Matti im Kinderwagen durch die Siedlung »Kiesgrube« schieben. Die Katze Mirri sprang auf die hellblaue Babydecke in den Wagen, wo das Kind in einen Schlafsack gepackt schlief. Ich schob denkleinrädrigen Kinderwagen im tiefen Schneematsch von Haus zu Haus, läutete die Türglocken aller Nachbarn und rief: »Ich habe einen Bruder bekommen!«, und stapfte glücklich weiter, bis alle Nachbarn benachrichtigt waren. Sie alle taten erstaunt.
Wir wohnten schon seit anderthalb Jahren in der »Kiesgrube« nahe am See, mitten im Wald. Weihnachten war da. Der Schnee schimmerte am Heiligabend rosa in der fahlen Mittagssonne. Der Himmel hellte sich dann kurz türkisfarbig auf. Es war sehr kalt geworden.
Für das Schaf, das im engen Stall im Stroh hauste, hinter den gemeinsamen Toiletten in der Siedlung, hatte ich mit Marita rascheltrockene Erlenlaubbündel gebracht. Die hat es am liebsten gefressen, seitdem es kein frisches Gras oder keine grünen Äste mehr gab. Das Schaf war das einzige Tier, das wir noch besaßen, denn Mirri war im Sommer davor erschlagen und unter ein Steingeröll geworfen worden. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Es waren dann nur einige Tage danach vergangen, nachdem der Vater und Nachbars Bengt Mirri getötet hatten, als der Vater aus der Brusttasche seiner karierten Jacke ein gelbes Küken herausgezogen hatte. Es sollte ein Trost für den Verlust der Katze sein. Ich war auch sofort in den Winzling verliebt. Der Vater hat noch am selben Abend aus Versehen das Küken zwischen Küchentür und Angel übersehen, es knackte leise und das Tierchen war tot.
Die Heiligabendvorbereitungen waren abgeschlossen, bis auf das Decken des Tisches am Abend. In der kleinen Mietwohnung war die Küche der einzige Ort, wo ein Esstisch Platz gefunden hatte. Hinter den Fensterscheiben war der Abend tintenschwarz geworden. In jenem Jahr hatte bis kurz vor Weihnachten kaum Schnee gelegen. Nässe, dann Frost, tagelang trübes Wetter. Zu Weihnachten hatte es nun geschneit, man hatte sich in Acht zu nehmen vor dem dunklen Eis unter der dünnen Schneedecke. Der Himmel war endlich wolkenfrei mit Sternen, die leuchteten und funkelten in der Dunkelheit.
Matti saß vor dem Geschirrschrank auf dem bunten Flickenteppich. Das Kind war im vergangenen April auf die Welt gekommen. Unsere ganze Familie hatte sich jetzt in der Küche versammelt und wir Kinder saßen mit noch feuchten Haaren nach der Weihnachtssauna in dem warmen Raum. Alle dufteten nach der Sauna und Frostluft von draußen, unsere Wangen glühten vor Freude. Der Weihnachtsmann wurde in jeder Minute erwartet. Wo mochte er in der Nachbarschaft gerade unterwegs sein? Halt!