Germanische Götter- und Heldensagen - Felix Dahn - E-Book

Germanische Götter- und Heldensagen E-Book

Felix Dahn

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Beschreibung

Der Sammelband »Germanische Götter- und Heldensagen« gewährt einen umfassenden Einblick in die Mythologie der Germanen. Felix und Therese Dahn stellen zunächst die wichtigsten Gestalten der germanischen Mythologie im Zusammenhang vor. Das Wirken der zentralen Akteure Thor, Odin, und Loki sowie der zahlreichen anderen mythologischen Gestalten wie Kobolden, Elfen, Zwergen, und Riesen wird ausführlich erläutert. Abgerundet wird die Sammlung durch eine Auswahl der schönsten Heldensagen.

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Germanische Götter- und Heldensagen

Germanische Götter- und Heldensagen: Die Mythologie der Germanen Felix und Therese Dahn ERSTE ABTEILUNG: EINLEITUNGErstes Buch. Allgemeiner Teil I. Die Grundanschauungen: Entstehung der Welt, der Götter und der übrigen Wesen. II. Die Welten und die Himmelshallen. III. Die goldene Zeit und die Unschuld der Götter. Deren Schuldigwerden; Kämpfe mit den Riesen; Verluste und Einbußen. Tragischer Charakter der germanischen Mythologie. Bedeutung der Götterdämmerung. Zweites Buch. Besonderer Teil - Die einzelnen Götter. Elben, Zwerge, Riesen. Andere Mittelwesen. I. Odin-Wotan. II. Thor-Donar. III. Tyr-Ziu. IV. Freyr-Frô. V. Baldur-Forseti. VI. Loki-Loge. VII. Hel-Nerthus VIII. Freya und Frigg. IX. Die Nornen. X. Die Walküren. XI. Andere Götter und Göttinnen. XII. Mittelwesen: Elben, Zwerge, Riesen. Drittes Buch. Die Götterdämmerung und die Welterneuerung. I. Vorzeichen und Vorstufen der Götterdämmerung: Verschuldungen, Verluste und Vorkehrungen der Götter. II. Die Götterdämmerung. III. Die Erneuerung. ZWEITE ABTEILUNG: HELDENSAGENErstes Buch. Die Wölsungen. I. Sigi. Rerir. Wölsung. II. Sigmund und Sinfiötli. III. Helgi Hundingsbani (d. h. Hundings-Töter). IV. Sinfiötlis und Sigmunds Ende. V. Sigurd. VI. Sigurd und die Giukungen. VII. Der Giukungen Ende. VIII. Swanhild und ihre Brüder. Zweites Buch. Beowulf. I. Von den Schildingen. II. Beowulf. III. Der Feuer-Drache. Drittes Buch. Kudrun. I. Hettel und Hagen. II. Kudrun. Viertes Buch. Aus verschiedenen Sagenkreisen. I. Von den Wilkins und ihrem Reiche. II. Wieland der Schmied. III. Walther und Hildgund. Fünftes Buch. Aus den Sagenkreisen von Dietrich von Bern und von den Nibelungen. I. Dietrichs Jugend. II. Dietrich, König von Bern. III. Etzels Krieg mit den Russen. IV. Dietrichs Zug gegen Ermenrich. V. Dietrich von Bern und die Nibelungen VI. Dietrichs Heimkehr. Impressum

Germanische Götter- und Heldensagen: Die Mythologie der Germanen

Felix und Therese Dahn

ERSTE ABTEILUNG: EINLEITUNG

Der Götterglaube der Germanen war ein Lichtkult, eine Verehrung der wohltätigen, dem Menschen segensreichen Mächte des Lichts, wie sie im Himmel, in der Sonne, den Gestirnen, dem Frühling oder Sommer gegenüber den schädlichen, unheimlichen Gewalten der Nacht, der Finsternis erschienen; auch Heiliges und Böses, Leben und Tod stellte sich ihnen als dieser Gegensatz von Licht und Finsternis dar.

Diese Religion war nicht ausschließlich den Germanen eigen, sondern ihnen gemein mit den übrigen Völkern der arischen (oder kaukasischen oder indo-europäischen) Rasse, zu welcher außer den Germanen noch die Inder, Perser, Armenier, die Kelten, Gräko-Italiker und Letto-Slaven zählten; auch Sprache, Sitte, Recht war ursprünglich diesen Ariern gemeinsam gewesen, als sie noch ungeteilt in Westasien als Gruppen eines Volkes lebten; seitdem sie aber auseinander wanderten, traten auf allen diesen Gebieten unter den nun getrennten Völkern sehr erhebliche Abweichungen ein, auf welche Klima, Landesbeschaffenheit der neuen Wohnsitze, Berührungen mit andern Völkern großen Einfluss übten.

So ward z. B., wie Leben und Sitte, auch Recht und Religion der Inder völlig umgestaltet, nachdem dieses Volk von dem Indus hinweg in den erschlaffenden Himmelsstrich und die phantastische Natur des Ganges gewandert war.

Und so wurden denn ohne Zweifel auch die religiösen Vorstellungen der Germanen sehr erheblich beeinflusst durch die Eindrücke, welche sie bei der Wanderung aus Asien nach dem Nordosten von Europa durch die großartige, aber raue Natur der neuen Heimat empfingen. Ja, man darf annehmen, dass, wie der Volkscharakter, so auch die Religion der Nordgermanen oder Skandinavier (Dänen, Schweden, Norweger, später auch Isländer) durch die so starken Eindrücke der nordischen Natur und die hier notwendige, oft einsame und meist kampfreiche Lebensweise ganz wesentlich anders gestaltet und gefärbt wurde als die Anschauungen der Südgermanen, der späteren deutschen Völker, welche allmählich bis an und über Rhein und Donau nach Westen und Süden vordrangen und zwar auch das raue Leben eines Waldvolkes, aber doch unter ungleich milderem Himmelsstrich führten. Schon deshalb und schon hier muss daher ausgesprochen werden, dass man keineswegs die ganze nordgermanische skandinavische Götterwelt ohne weiteres auch bei den Südgermanen, den Deutschen, unverändert wieder anzutreffen voraussetzen darf. Die Grundanschauungen, ja auch die wichtigsten Götter und Göttinnen finden sich freilich, wie die Sprachvergleichung beweist, bei Nord- und Süd-Germanen übereinstimmend, wie ja vermöge der ursprünglichen arischen Gemeinschaft solche Übereinstimmung nicht nur unter den germanischen Völkern, sondern sogar unter Germanen, Griechen, Römern usw. besteht.

So kehrt die Dreiheit der obersten Götter bei Griechen, Italikern, Germanen wieder:

Zeus

Hephaistos

Ares

Jupiter

Vulkan

Mars

altnordisch:

Odin

Thôrr

Tyr

althochdeutsch:

Wotan

Dinar

Ziu.

Gleichwohl fehlt es auch hierbei nicht an Abweichungen; so führt bei Griechen und Italikern der oberste Gott den Blitzstrahl, den Donnerkeil, während bei Germanen und andern Ariern neben dem Götterkönig ein besonderer Gott des Gewitters steht, der dann wieder manche Züge mit Herakles-Herkules gemein hat, während der Feuergott Loki (Loge) sich mit Hephaistos-Vulkan berührt.

Was nun die Quellen unsrer Kenntnis von dem Götterglauben unsrer Ahnen betrifft, so sind die leider sehr dürftig, dazu sehr ungleichartig, großenteils späten Alters der Aufzeichnung (wenn auch nicht der Entstehung) und getrübt durch fremde Zusätze.

Schriftliche Mitteilungen über den Glauben, von den Heiden selbst verfasst, hat es nie gegeben; denn die Germanen haben das Schreiben in unserm Sinn erst spät von Römern und Griechen gelernt; die heiligen »Runen«, welche übrigens die Wissenschaft unsrer Tage als aus dem lateinischen Alphabet entlehnt oder ihm nachgebildet dargewiesen hat, dienten nicht zum Schreiben nach unsrer Weise, sondern für heilige Handlungen, für Losung, Befragung des Götterwillens, Zauber. – Unsre Kenntnis der griechischen und römischen Götterwelt wird in höchst anschaulicher, lebendiger Wirkung ergänzt und bereichert durch die zahlreichen Denkmäler der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks, welche in Marmor, Erz, in Wandgemälden, auf Vasen, auf allerlei Gerät Bilder aus den Mythen oder Kulthandlungen darstellen; gar mancher dunkle zweiflige Satz der Schriftsteller ist durch solche Darstellungen erklärt oder auch berichtigt werden. Solcher Denkmäler entraten wir, mit verschwindend geringfügigen Ausnahmen, für die germanische Religion völlig.

Der Kulturgrad war viel rauer, einfacher als der der Hellenen und Italiker zu der Zeit, aus welcher auch die ältesten der antiken Bildwerke stammen; Sinn und Talent unsres Volks für bildende Kunst und Kunsthandwerk sind – und waren noch mehr bei der Armut der Lebensverhältnisse und unter dem rauen Himmelsstrich des Nord-Lands – erheblich geringer als bei Griechen und Italikern. So gab es nur sehr wenige Tempel; nur bei Nordgermanen sind sie für späte Zeit häufiger bezeugt; – an ihrer Stelle galten heilige Haine, mit Schauern der Ehrfurcht erfüllende Wälder als Wohnstätten der Himmlischen; – zwar fehlte es nicht ganz an heiligen Baumsäulen (Irmin-Sul s. unten), an Altären, an Opfergerät (wie großen ehernen Kesseln); auch Götterbilder werden manchmal erwähnt; aber, von jeher selten, wurden sie von den christlichen Priestern bei ihrer ersten Belehrungsarbeit oder später, nach durchgeführter Christianisierung, gemäß Beschlüssen der Konzilien und Verordnungen der Bischöfe planmäßig zerstört.

Nun sind uns allerdings christliche Aufzeichnungen von Götter- und Helden-Sagen erhalten, welche, in Ermangelung besserer Quellen, unschätzbaren Wert für uns tragen; die ältere und die jüngere Edda und andre Sagen-Sammlungen in Skandinavien.

Allein diese stellen lediglich die nordgermanische Überlieferung dar; und wir sahen bereits, dass man diese durchaus nicht ohne weiteres auf die »Südgermanen«, die späteren Deutschen, übertragen darf.

Dazu kommt nun aber, dass die Aufzeichnung der alten Sagen erst in sehr später Zeit geschah, von Männern, welche Christen waren, nachdem das Christentum samt seiner Vorstufe, dem Alten Testament, nachdem auch die klassische Kultur, die griechisch-römische, soweit sie erhalten war, durch Vermittlung der bekehrenden Kirche in den Norden eingedrungen war.

Es kann daher in sehr vielen Fällen zweifelhaft werden, ob der an sich freilich uralte Inhalt, der Stoff der Sage, bei der späten Aufzeichnung durch christliche Geistliche nicht in der Form, in der Färbung christliche Einwirkung erfahren habe, wie z. B. Saxo Grammatikus (gestorben 1204) aus den Göttern menschliche Helden, aus Asgard Byzanz gemacht hat.

Wir würden daher ratlos der trümmerhaften Überlieferung einzelner, in Ermangelung des Zusammenhangs unverständlicher Bruchstücke der germanischen Götterwelt gegenüberstehen, böten nicht die Sage, dann der Aberglaube und allerlei Sitten und Gebräuche, welche sehr oft als ein Niederschlag alter Göttergestalten und gottesdienstlicher Handlungen seit grauester Vorzeit bis heute in unserm Volke fortleben, hoch willkommene Erklärung und Ergänzung in geradezu staunenerregender Fülle.

Und es ist das unsterbliche Verdienst eines großen deutschen Gelehrten, der aber zugleich die poetische Anschauung und die mitfühlende Ahnung einer echten Dichternatur in sich trug, es ist die Tat Jakob Grimms, die reichen Schätze uralter Überlieferung, welche in jenen Sagen und Sitten ruhten, mit der Hand des Meisters empor ans Licht gehoben und von den Spinnweben des Mittelalters gesäubert zu haben.

Denn die christlichen Priester hatten, teils unbewusst, teils in guter Absicht, an den im Volke noch fortlebenden Überlieferungen viele durchgreifende Veränderungen vorgenommen.

Diese Priester bestritten ja durchaus nicht das Dasein der heidnischen Götter und Göttinnen; nur sollten diese nicht, wie die Germanen sie aufgefasst, schöne, gute, wohltätige, den Menschen freundliche Schutzmächte sein, sondern hässliche Teufel, Dämonen, verderbliche Unholde, welche den Menschen auf Erden zu schaden oder sie in ihren Dienst zu locken suchen und sie dann im Jenseits, in der Hölle peinigen.

Anderseits hat aber die Kirche auch in kluger Anpassung altheidnische Feste und Gebräuche mit christlichen zusammengelegt, z. B. das Jul-Fest, die Wintersonnenwend-Feier, mit Weihnachten, das Fest des Einzugs der Frühlingsgöttin, Ostara, mit Ostern, die Sommersonnenwende mit dem Fest Johannes des Täufers; und endlich sind vom Volke viele Geschichten und Züge der Götter auf christliche Heilige übertragen worden.

Jakob Grimm hat nun mit ebenso tiefer Gelehrsamkeit wie poetischer Ahnung aus den kirchlichen Legenden die Götter und Göttinnen Walhalls wieder herausgewickelt; er hat in den Heiligenlegenden Übertragungen von Göttergestalten aufgefunden (so waren z. B. Wotan zu Sankt Martin, Freyr zu Sankt Leonhard, Baldur zu Sankt Georg, Frigg und Freya zur Madonna geworden); er hat endlich in zahllosen Spielen, Aufzügen, Festen, Gebräuchen und abergläubischen Vorstellungen des Volks, in Sage, Märchen, Schwank die Spuren der bald gewaltig schreitenden, bald leise schwebenden Germanengötter dargewiesen.

Und so hat er denn unsre ehrwürdigen Götter, welche anderthalb Jahrtausende vergessen und versunken unter dem Schutte gelegen, wieder herausgegraben und aufgestellt in leuchtender Herrlichkeit.

Denn das Gewaltigste und das Zarteste, das Heldenhafteste und das Sinnigste, ihren tragischen Ernst und ihren kindlich heitern Scherz, die Tiefe ihrer Auffassung von Welt und Schicksal, von Treue und Ehre, von freudigem Opfermut für Volk und Vaterland, ihr ganzes so feines und inniges Naturgefühl haben unsre Ahnen in ihre Götter und Göttinnen, Helden, Zwerge, Riesen hineingelegt; weil ja auch die Germanen ihre Götter und Göttinnen nach dem eignen Bilde geschaffen haben; wie Zeus, Hera, Apollo, Athena hellenische Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen, nur ins große gemalt, idealisiert, eben vergöttlicht sind, so erblicken wir in Odin und Frigg, in Baldur und Freya nur die Ideale unsrer Ahnen von Weisheit, Heldentum, Treue, Reinheit, Schönheit und Liebe.

Und dies ist die hohe, ehrfurchtwürdige Bedeutung, welche dieser Götterwelt auch für uns verblieben ist; diese Götterehre ist das Spiegelbild der Herrlichkeit unsres eignen Volkes, wie dies Volk sich darstellte in seiner einfachen, rauen, aber kraftvollen, reinen Eigenart; in diesem Sinn ist die germanische Götter- und Heldensage ein unschätzbarer Hort, ein unversiegender »Jungbrunnen« unsres Volkstums; das heißt, wer in rechter Gesinnung darein niedertaucht, der wird die Seele verjüngt und gekräftigt daraus emporheben; denn es bleibt dabei; das höchste Gut des Deutschen auf Erden ist: – sein deutsches Volk selbst.

Erstes Buch. Allgemeiner Teil

I. Die Grundanschauungen: Entstehung der Welt, der Götter und der übrigen Wesen.

Die Germanen dachten sich die Welt nicht als von den Göttern oder von einem obersten Gott geschaffen, sondern als geworden; und in ihr, mit ihr auch die Götter als geworden.

Als ewig stellten sie sich nur vor den unendlichen Raum, den »gähnenden Abgrund«. »Nicht Sand, noch See, noch kühle Wogen, nicht Erde fand sich, noch Himmel oben, (nur) ein Schlund der Klüfte, aber Gras nirgend.« 

Allmählich bildete sich am Nordende dieses ungeheuren leeren Raumes ein dunkles, kahles Gebiet: Niflheim (Nebelheim) genannt, am Südende ein heißes und helles Gebiet: Muspelheim, die Flammenwelt. Mitten in Niflheim lag ein Brunnen, Hwergelmir, der rauschende Kessel. Aus diesem ergossen sich zwölf Ströme, die »Eliwagar«, und füllten den leeren Raum; sie erstarrten im Norden zu Eis; aber der Süden ward mild durch die Funken, die von Muspelheim herüberflogen; nach der Mischung von geschmolzenem Reif und von Glut entstand aus den Dunst-Tropfen eine Gestalt menschenähnlicher Bildung; das war Ymir (Brauser) oder Örgelmir, »der brausende Lehm«, der gärende Urstoff, der noch unausgeschieden, ineinander vermischt liegenden und durcheinander wogenden Elemente. Aus Frost und Hitze entstand also der erste Organismus; er war ein »Reif-Riese« (Hrimthurs) und aller späteren Reifriesen Vater.

Im Schlafe wuchsen dem Riesen unter dem Arme Sohn und Tochter hervor, – eine Vorstellung, welche sich in den Sagen vieler Völker findet, – von denen dann alle anderen Reifriesen abstammen.

Neben dem Riesen Ymir war auch eine Kuh entstanden, Audumbla (d. h. die Schatz-feuchte, Reich-saftige?); aus ihrem Euter flossen vier Milchströme; aus salzigen Eisblöcken leckte diese einen Mann hervor, Buri (der Zeugende), schön, groß und stark; sein Sohn – die Mutter wird nicht genannt – hieß Bör (der Geborene); dieser nahm Bestla, die Tochter eines Riesen Bölthorn (Unheilsdorn), zur Frau. Dieses Paares drei Söhne hießen Odin, Wili und Wê, die drei obersten Götter. So stammen also die Götter selbst auf der Mutterseite von den Riesen ab; eine Erinnerung daran, dass die Riesen ursprünglich nicht als böse galten, sondern selbst Götter waren, nur eben Götter einer roheren, einfacheren Zeit, einer früheren Kulturstufe, bloß Naturgewalten, welchen die Vergeistigung der späteren Götter, der Asen, fehlt; ähnlich wie bei den Griechen die Titanen der olympischen Götterwelt vorhergehen. Aber auch die Asen entbehren einer Naturgrundlage nicht (Odin hat zur Naturgrundlage die Luft, Thôr das Donnergewitter); das drückt ihre Abstammung von einer riesischen Mutter aus. Wili und Wê (Wille? und Weihe?) verschwinden bald wieder; sie sind nur als gewisse Seiten von Odin selbst zu denken.

Börs Söhne erschlugen Ymir; vergeistigte höhere Götter können die bloße Naturgewalt nicht in Herrschaft und Leben lassen. In dem unermesslichen Blut, das aus seinen Wunden strömte, ertranken alle Reifriesen bis auf ein Paar, das sich in einem Boote rettete; von diesem Paar, Bergelmir und seinem Weibe, stammt dann das jüngere Geschlecht der Reifriesen ab.

Dies ist also die germanische Fassung der bei sehr vielen Völkern (z. B. den Griechen) begegnenden Sage von einer »ungeheuren Flut«, welche alles Leben auf Erden bis auf ein Paar oder eine Familie verschlang; diese Flut heißt die Sintflut, d. h. die allgemeine, große Flut; erst aus Missverständnis hat man später daraus eine »Sündflut«, d. h. eine zur Strafe der Sünden verhängte Flut, gemacht.

Die Götter warfen nun den ungeheuren Leib des toten Riesen mitten in den leeren Raum und bildeten aus den Bestandteilen desselben die Welt; aus dem Blut alles Gewässer, aus dem Fleisch die Erde, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen Fels und Stein, aus dem Gehirn, das sie in die Luft schleuderten, die Wolken; aus seinem Schädel aber wölbten sie das allumfassende Dach des Himmels. An dessen vier Ecken setzten sie die vier Winde: Austri, Westri, Nordri, Sudri; es waren dies Zwerge (über dessen Entstehung s. unten).

Die Feuerfunken aus Muspelheim aber setzten sie als Gestirne an den Himmel, dort oben und auf Erden zu leuchten, und stellten für jeden Stern seinen Ort und seine Bahn fest, danach die Zeit zu berechnen. Das Meer legten sie kreisrund um die Erde (wie den Griechen der Okeanos die Erde gleich einem Gürtel umzog); die Riesen nahmen Wohnung an den Küsten; für die Menschen aber erhöhten die Asen die Erde, stützten sie auf die Augenbrauenbogen Ymirs, sie gegen Meer und Riesen zu schützen; Midgard, althochdeutsch Mittila-gart, die »Mittelburg« hieß sie daher. Auch diese Sage, dass die Welt aus den Bestandteilen eines Riesenleibes gebildet wird, wie dass umgekehrt bei Erschaffung des Menschen alle Bestandteile der Erde verwendet werden, begegnet bei vielen Völkern, teils urgemeinsam, teils entlehnt, teils ohne jeden Zusammenhang gleichmäßig entstanden.

Unter den Gestirnen leuchten Sonne und Mond hervor; sie entstanden folgendermaßen. Ein Mann hatte zwei strahlend schöne Kinder, einen Sohn Mani und eine Tochter Sol, dieses Mädchen vermählte er mit Glanr (Glanz); aber die Götter straften den Übermut der allzu stolz gewordenen und versetzten die Geschwister an den Himmel; Sol muss fortab den Sonnenwagen führen, der aus Muspels Funken geschaffen ward; zwei Hengste, Arwakr und Alswidr (Frühwach und Allgeschwind), ziehen ihn; ein Schild Swalin (der Kühle) ist vorn angebracht, auf dass die Glut nicht das Meer austrockne und die Berge verbrenne.

Die Vertiefungen und Schatten, welche man im Monde wahrnimmt, haben die Einbildungskraft der Völker oft beschäftigt; man mühte sich, Gestalten darin zu erblicken; die Nordleute fanden darin die Gestalten von zwei Kindern, welche samt dem Eimer, den sie an der Eimerstange vom Brunnen hinwegtrugen, in den Mond versetzt wurden; in der späteren deutschen Sage erblickte man darin die Gestalt eines Waldfrevlers, der zur Strafe samt seinem Reisholzbündel (mit seinem Hund) in den Mond versetzt ward (der sogenannte »Mann im Mond«) oder ein Mädchen, das im heiligen Mondlicht oder am Feiertag gesponnen. Da Sonne und Mond, dem gemein-arischen Lichtkult gemäß, den Menschen und allen guten Wesen wohltätige Mächte sind, werden sie von den Riesen, den Feinden der Götter und der Menschen, verfolgt. Zwei Wölfe riesischer Abstammung, Sköll und Hati, Stösser und Hasser, jagen unablässig die vor ihnen fliehenden beiden Gestirne; manchmal holen die Verfolger dieselben ein und fassen sie an einer Seite, sie zu verschlingen; das sind die Sonnen- und Mondfinsternisse; viele Völker teilen diese Vorstellung und erregen daher, wann die unheimliche Verdüsterung eintritt, Lärm, die Unholde zu erschrecken, dass sie die Ergriffenen wieder fahren lassen. Das gelingt denn auch; aber dereinst, bei dem Untergang der Welt, bei der Götterdämmerung, wird es nicht mehr gelingen; alsdann werden die beiden Wölfe Sonne und Mond verschlingen (s. unten).

Loki

/

\

Nörwi

Hel

|

Nacht (Nôtt)

Jedoch nicht nur jene beiden Gestirne, auch Tag und Nacht wurden personifiziert; die Nacht, Tochter Nörwis, eines Riesen und Sohnes von Loki (s. unten), ist als Riesentochter und als Nichte der Göttin der Unterwelt, Hel, einer Tochter Lokis, schwarz wie Hel selbst; aber vermählt mit dem von den Göttern stammenden Dellingr ward sie die Mutter des Tages (Dag), der hell ist wie seine asischen Ahnen. Aus einer früheren Ehe mit Anar (= Odin?) hatte die Nacht eine Tochter Jörd, die Erde. Odin gab der Nacht und dem Tag je einen Wagen, je mit einem Rosse bespannt, Hrimfaxi (Reifmähnig) der Nacht, Skinfaxi (Glanzmähnig) dem Tag, auf welchen sie die Erde umfahren; morgens fällt aus dem Gebiss von Hrimfaxi Schaum; das ist der Reif; aus Skinfaxis Mähne aber strahlt Licht, Luft und Erde erleuchtend.

Der Sommer (ein asisches oder licht-elbisches Wesen? Sein Vater, Svâsudr [lieblich], hat allem Lieblichen den Namen gegeben) hat zum Feind den Winterriesen, den Sohn des »Windbringers« oder »Windkalten«. Der Wind, d. h. der schädliche Nordwind, der zerstörende Sturmwind, ist selbstverständlich ebenfalls ein Riese; Hräswelgr, »Leichenschlinger«; er sitzt am Nordende des Himmels in Adlergestalt; hebt er die Schwingen zum Flug, so entsteht der (Nord)-Wind; vielleicht ist er selbst als der Vater des Winters zu denken.

Das lebhafte Naturgefühl des Waldvolks, welches ja bei den noch wenig behaglichen Wohnräumen, bei der noch sehr einfachen Kultur überhaupt unter dem im Norden so lange währenden und so strengen Winter viel stärker als wir heute Lebenden zu leiden hatte, sehnte mit einer Ungeduld die Wiederkehr des Sommers, d. h. des Frühlings, der warmen, milden Jahreszeit herbei, feierte mit so allgemeiner, tiefer, allerfüllender Freude den Sieg des Sommers über seinen dunkeln und kalten Feind, dass dieses Gefühl noch spät im Mittelalter den Grundton sehr vieler Volkslieder, Dichtungen, Spiele abgibt. In Ermangelung eines Kalenders bestimmte der Volksglaube gewisse Zeichen, die erste Schwalbe, den ersten Storch, das erste Veilchen, das Schmelzen des Baches als Frühlingsanfang, als Botschaft und Beweis, dass die lichten Götter, welche während der Herrschaft der Nacht auf Erden von dieser gewichen waren, dass zumal der Frühlings- oder Sonnengott wieder zurückgekehrt sei.

Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen eilten dann in feierlichem Aufzug in das Freie, den rückkehrenden Sonnengott, der wohl auch mit dem Lichtgott Baldur (s. unten), oder mit der Frühlingsgöttin Ostara (s. unten) verwechselt wurde, einzuholen, zu empfangen, und heute noch wird in vielen Gauen Deutschlands in dramatischen Kämpfen zwischen dem lichten Sommer und dem Winter in Drachengestalt der Sieg des Gottes über den Riesen gefeiert (s. unten Freyr; Drachenstich zu Furth im bayerischen Walde).

Die Schöpfung der Menschen wird, wie in den meisten Religionen, auf die Götter zurückgeführt. Die drei Söhne Börs (s. oben; oder nach andrer Fassung Odin, Hönir, Loki; die Götter von Luft, Meer, Feuer) fanden, an der Meeresküste hinschreitend, zwei Bäume, Askr und Embla, Esche und Ulme (oder Erle?), aus welchen sie Mann und Weib bildeten. Von diesen stammen die Menschen, welchen »Midgard« von den Göttern zur Wohnung gegeben ward. Dass die ersten Menschen auf oder aus Bäumen gewachsen, ist eine auch bei andern Völkern weitverbreitete Sage. Schon vorher hatten die Asen die Zwerge geschaffen oder ihnen doch, nachdem sie in Ymirs Fleisch wie Maden entstanden waren, menschenähnliches Aussehen und Denken gegeben.

II. Die Welten und die Himmelshallen.

Es ist ein vergebliches Bemühen, vereinbaren zu wollen die widerstreitenden Überlieferungen von dem Aufbau der verschiedenen Welten, von dem »Systeme« der wie Stockwerke eines Hauses erhöhten »Reiche«; diese Anschauungen bildeten eben ein »System« nicht; sie wechselten nach Zeiten und Stämmen und nach Darstellungen einzelner Sagenüberlieferer; nur das Wesentliche steht fest, und nur das Feststehende teilen wir hier mit.

Eine Grundanschauung nicht nur der Nordgermanen, auch der späteren »deutschen« Stämme war es, sich das ganze Universum als einen großen Baum, als eine ungeheure Esche, vorzustellen; »Yggdrasil« heißt sie nordisch; d. h. doch wohl: »Träger (drasil) des Schreckens, des Furchtbaren (Yggr)«; dies ist einer der vielen Namen des obersten Gottes Odin, der sich nicht nur selbst eine »Frucht des Weltbaumes« nennt, der auch als hoch auf dem Wipfel dieses kosmischen Baums thronend gedacht werden mag.

Die Zweige der Esche breiten sich über das All, sie reichen in die Himmel empor; ja, seine über Walhall emporragenden Wipfel werden auch als ein besonderer Baum mit eignem Namen Lärad (Stille spendend) bezeichnet.

Die drei Wurzeln reichen zu dem Urdar-Brunnen bei den Nornen, zu den Reifriesen und Mimirs-Brunnen und nach Niflheim zu Hel und dem Brunnen Hwergelmir herab.

Die tiefernste, ja tragische (aber durchaus nicht »pessimistische«; denn dies ist keineswegs gleichbedeutend) Grundanschauung der Germanen, welche wir alsbald als bezeichnend für ihre Mythologie kennen lernen werden und welche in der Ahnung von der Götterdämmerung nur ihren großartigsten und abschließenden, keineswegs aber ihren einzigen Ausdruck findet, spricht sich nun auch aus in den vielen Gefahren und Nachstellungen, welche den »Weltbaum«, d. h. alles Leben, unablässig bedrohen.

Zwar besprengen die Nornen (die Schicksalsgöttinnen, s. unten) täglich die Esche mit dem heiligen Wasser aus dem Brunnen Urds, der Norne der Vergangenheit, um sie vor Welken und Fäulnis zu bewahren. Aber diese treue Mühung der Pflege kann das unvermeidlich von fernher drohende Verderben nur hinauszögern, nicht es abwenden; ganz ähnlich, wie die Kämpfe der Götter gegen die Riesen, obzwar siegreich, den endlichen Untergang der Asen und aller Wesen nur hinausschieben, nicht verhindern mögen.

Alles Lebende ist vergänglich, ist unrettbar dem Tode verfallen; deshalb wird gesagt, eine Seite des Weltbaums ist bereits angefault. Und überall sind feindliche Wesen tätig, an ihm zu zehren; an seiner einen Wurzel in Hel nagen der Drachenwurm Nid-höggr (der mit Ingrimm Hauende), der sich von Leichen nährt, und viele Schlangen; vier Hirsche, deren Namen auf die Vergänglichkeit sich beziehen, beißen die Knospen der Zweige ab; ein Adler horstet im Wipfel, ein Eichhorn, Rata-wiskr (»Huscher an den Zweigen«), huscht geschäftig hin und der, des Adlers Worte zu dem Drachen niedertragend. Dagegen soll es wohl nicht Bedrohung des Weltbaums bedeuten, sondern nur dessen allernährende Fruchtbarkeit, dass an den Zweigen ein andrer Hirsch äset, aus dessen Geweih Tropfen fließen, welche die Ströme der Unterwelt bilden; zumal aber, dass die Ziege Heid-Run sich davon nährt, deren Milch die Walhallgenossen, die Einheriar Odins, ernährt; diese Ziege erhält den Walhallhelden ihre Eigenart, ihre »Heid« (ein altes Hauptwort, das in Schön-heit, Rein-heit, Krank-heit usw. noch forttönt).

Die Vorstellung des Weltbaums, der großen, allgemeinen, alles-tragenden Säule war auch bei Südgermanen tief eingewurzelt; die Irmin-Sul der Sachsen hängt damit zusammen.

Wie nun auf den Stamm des Weltbaums die Mehrzahl von Welten sich verteilt, welche als Gebiete verschiedener Wesen angeführt werden, das ist ohne Widerspruch nicht zu entscheiden; vielleicht sah diese Reihe von Vorstellungen von dem Bilde des Baums völlig ab. Zutiefst unter der Erde liegen Niflhel (auch Hel), ganz der Sonne fern, wo die Ruchlosen ihre Strafe leiden, eine Steigerung von Niflheim; in der Mitte über diesem Svart-alfaheim; erstere beiden sind die germanischen, nicht heißen und nicht hellen, sondern kalten und finstern »Höllen«, d. h. Straforte für Seelen von Verbrechern oder doch freudloser Aufenthalt für Seelen von Weibern und von Männern, welche nicht den freudigen und ruhmvollen Schlachtentod gestorben und so nicht als Einheriar zu Odin nach Walhall aufgefahren, sondern an Krankheit auf dem Siechbett den »Strohtod« gestorben und zu Hel, der hehlenden, bergenden Todesgöttin der Unterwelt (s. unten), hinabgesunken waren. »Svart-alfaheim« ist die Heimat der Dunkel-Elben, zu welchen die Zwerge zählen, die in Bergen und Höhlen, im Schosse der Erde wohnen. An den äußersten Rändern der Erde, welche gegen das kreisartig erd-umgürtende Meer abfallen, – man mag sich dies vorstellen wie einen umgestürzten Teller – hausen die Riesen in Jötunheim; oberhalb desselben in »Midgard«, in »Manheim«, auf der erhöhten Mitte der Erde, wohnen die Menschen. Oberhalb der Erde im lichten Äther schweben die Licht-Elben in Ljos-Alfaheim, endlich oberhalb dieser thronen die Götter, die Asen, in As-gard; zweifelhaft bleibt die Lage von Muspelheim, der heißen Welt der Feuerriesen (nur dass sie im Süden der Welt zu suchen, steht fest; doch wohl als der Südteil von Jötunheim), und von Wana-heim (s. unten).

In Asgard selbst werden nun zwölf Burgen oder Hallen einzelner Götter und Göttinnen unterschieden; von manchen dieser Wohnungen sind uns nur die Namen, nichts weiteres überliefert; diese Bezeichnungen gehören zum Teil wohl nur der Kunstdichtung der Skalden, nicht dem Volksglauben an; sie werden sehr verschieden erklärt.

So ist Gladsheim (»Froh-heim«), Odins Burghalle, bald als ein Walhall umfassendes größeres Ganzes gedacht, bald nur als der Hof, in welchem die zwölf Richterstühle der Götter stehen; von Gladsheim und Walhall heißt es:

Gladsheim heißt die fünfte (Halle), wo golden schimmert Walhalls weite Halle. Da kiest sich Odin alle Tage vom Schwert erschlagene Männer. Leicht erkennen können, die zu Odin kommen, den Saal, wenn sie ihn sehen; mit Schäften ist das Dach besteckt, überschirmt mit (goldenen) Schilden (statt der Schindeln), mit Brünnen sind die Bänke belegt .... Ein Wolf hängt vor dem Westen-Tor, über ihm aber ein Aar. Fünfhundert Türen und viermal zehn wähn’ ich in Walhall; achthundert Einheriargehen aus einer, wann es dem Wolf zu wehren gilt. Die Einheriar alle in Odins Saal kämpfen Tag für Tag; sie kiesen den Wal und reiten vom Kampfe heim, mit den Asen Äl (Bier) zu trinken und, Sährimnirssatt, sitzen sie friedlich beisammen. Andhrimnir lässt in Eldhrimnir Sährimnir sieden, das beste Fleisch; doch wenige wissen, wie viele Einheriar (dort) essen.

In der Mitte Walhalls, vor Heervaters, d. h. Odins Saal, ragt der Wipfel der Weltesche, Lärad; die Holzgehöfte der Germanen waren manchmal um einen mächtigen Baum gebaut, dessen Wipfel durch das durchbrochene Dach ragte (s. unten Wölsungensage).

Jedenfalls sind Walhall und Gladsheim nur als Teile Asgards zu deuten; und nach Asgard emporwölbt sich von der Erde der Regenbogen als die Brücke Bif-röst, die »bebende Rast« (die leicht erzitternde, schwanke Strecke), auf welcher eben nur die Götter sich Asgard nähern können; die Riesen oder andre Feinde würden den roten Mittelstreifen des Bogens, der in hellem Feuer brennt, nicht überschreiten können. An der Regenbogenbrücke hält die getreue Wacht Heimdall, mit dem Giallar-horn (dem gellenden Horn), mit welchem er das Warnzeichen gibt, wann Gefahr nahe schreitet. Aber wir werden sehen: einst kommt der Tag, da mag den leuchtenden Asgardbewohnern nicht die flammende Brücke frommen und nicht des wackeren Wächters treue Hut. –

Vor dem Tore Walhalls steht der Hain Glaser, dessen Blätter von rotem Golde sind. Die übrigen uns genannten Wohnungen von Göttern sind: Fensalir, Friggs Hausung, Thrudheim (oder Thrudwang) Thors (ein ganzes Land, darin die Halle Bilskirnir [rasch aufleuchtend] mit fünfhundertundsechzig Gemächern), Ydalir Ullrs, Söckwabek (Sinkbach) der Göttin Saga, Walaskialf (mit Silber gedeckt, abermals Odins Saal; hier erhebt sich dessen alle Welten überschauende hohe Warte; Hlidskialf), Thrymheim Skadis, Breidablick Baldurs, Himinbiörg Heimdalls, Volkwang Freyas, Glitnir (silbern, das Dach auf goldenen Säulen ruhend) Forsetis, Noatun Niördrs, Landwidi Widars Halle.

Außer den im Himmel, in den Himmelsburgen wohnenden Hauptgöttern, den Asen, deren Zahl auf zwölf angegeben wird und welche wir alsbald einzeln betrachten werden, steht die Gruppe der Wanen, ebenfalls Götter, aber nicht asische; zu ihnen zählen vor allem Freya und deren Bruder Freyr. Die verschiedenen Versuche, die Eigenart der Wanen gegenüber den Asen zu bestimmen, sind wenig befriedigend; am meisten dürfte noch die Vermutung für sich haben, dass die Wanen Götter einer besonderen Gruppe von Völkern waren, aber ebenfalls germanischer; man nimmt an, der suebischen Stämme an der Seeküste (Götter des Wassers, des Handels, der bereichernden Seefahrt?). Der Name wird auf ven- (venustus), schön, zurückgeführt. Der Gegensatz von Asen und Wanen steigerte sich einmal bis zum Krieg; aber im Friedensschluss wurden der »reiche« Wane Njördr mit seinem Sohne Freyr und seiner Tochter Freya den Asen, der Ase Hönir, Odins Bruder, den Wanen gegeben; zunächst wurden sie wohl als Geiseln, später aber als gleichberechtigte Genossen aufgenommen und betrachtet.

Außer den Asen und Wanen sind nun (neben den Menschen) Elben (Zwerge) und Riesen als besondere Reiche bildend zu unterscheiden (über diese s. unten Buch II, letztes Kapitel).

III. Die goldene Zeit und die Unschuld der Götter. Deren Schuldigwerden; Kämpfe mit den Riesen; Verluste und Einbußen. Tragischer Charakter der germanischen Mythologie. Bedeutung der Götterdämmerung.

Um das Wesen, den Grundcharakter der germanischen Mythologie richtig zu erfassen, müssen wir das Wesen der heidnischen Religionen überhaupt untersuchen.

Auch die heidnischen Religionen, welche Himmel und Hölle, Luft und Feuer, Wasser und Erde, mit Göttern, Göttinnen und übermenschlichen Wesen jeder Art bevölkern, sind zurückzuführen auf den Religionstrieb (entsprechend dem Sprach-, Kunst-, Sittlichkeits-, Rechts-, Wissens-Trieb) d. h. Drang der sich in ihrer Vereinzelung hilflos und haltlos fühlenden Menschenseele, durch den innigsten Zusammenschluss mit der über allen Einzelnen waltenden göttlichen Macht Hilfe, Hort und Halt zu gewinnen. Dabei müssen auch diese Religionen vermöge ihres innigen Zusammenhanges mit der Sittlichkeit, das Göttliche, im Gegensatz zu den Menschen, als sündlos, d. h. heilig, fassen. Das Menschenherz will sich mit seinem Wünschen und Fürchten, mit seinem Hoffen und seinem Leiden unmittelbar an das mitempfindende Herz seines Gottes wenden. Deshalb muss alle Religion das Göttliche als Persönlichkeit fassen. Da nun aber der Mensch keine andre Erfahrung von Persönlichkeit hat als eben von der menschlichen, so muss er sich die göttliche Persönlichkeit notwendig nach dem Muster der menschlichen vorstellen. Aber freilich, nicht wie die Menschen wirklich sind, mit Not und Tod, mit Siechtum und Alter, mühselig und beladen, den Naturgesetzen, den Schranken von Raum und Zeit unterworfen; – nicht also schildern diese Religionen die »seligen Götter, »die den weiten Himmel bewohnen«, sondern gelöst von all dem Schmerz und Jammer, dem Bitteren und Hässlichen unsrer menschlichen Endlichkeit; sie malen uns den Himmel und die Götter als die idealisierte Erde, bewohnt von idealisierten Menschen.

Womit nun »malen«, mit welchem Werkzeug idealisieren sie? Mit dem allgemeinen und einzigen Werkzeug menschlichen Idealisierens; mittels des Werkzeugs des Kunsttriebes, der Einbildungskraft. Diese nun ist eine glänzende und liebliche, aber gefährliche Gehilfin. Gefährlich deshalb, weil diese Kraft es verschmäht, bei ihren Bildungen auf die Dauer fremden Gesetzen zu gehorsamen; sie folgt willig nur ihrem eignen Gesetz: dem der Schönheit.

Früher noch als in der bildenden Kunst befreit sich die Einbildungskraft in der Dichtkunst von den althergebrachten, heiligen Formen und von den Bedürfnissen des strengen religiösen Gefühls; so werden die Götter von Anfang mit einem Leibe ausgerüstet, wie er der Eigenart einer jeden solchen Göttergestalt entspricht; Greis, Mann, Jüngling, Knabe, Frau, Mädchen stehen nebeneinander –; ja, schon die Übertragung des Gegensatzes der Geschlechter, – die Göttinnen neben den Göttern – ist doch eine sehr starke Vermenschlichung des Göttlichen.

Lehrreich und reizvoll ist es, hier dem Verfahren der sagenbildenden Einbildungskraft in ihrer Werkstätte zu lauschen; dass die Leiber der Götter frei sind von den dem Menschen anklebenden Gebrechen und den seinem Leib gezogenen Schranken, versteht sich; aber die Dichtung verträgt es nicht, diesen Gedanken nackt und nüchtern hinzustellen; fast ohne Aufenthalt zwar durchmessen Hermes oder Donar den unendlichen Luftraum; aber in schön sinnlicher Fügung wird dies Vermögen nicht bildlos ihnen beigelegt, sondern an ein gefälliges, der Einbildungskraft sich einschmeichelndes Mittel gebunden; Hermes bedarf der Flügelschuhe und Donar seines von Böcken gezogenen, rollenden Donnerwagens. Die Götter sind auch unalternde Wesen; aber auf dass Zeus und Wotan in höherer Mannesreife, Hera, Venus und Frigg in vollentfalteter Frauenschöne, Apollo und Baldur in Jünglingsblüte bleiben, bedürfen sie bestimmter Speise: der Ambrosia oder der Äpfel Iduns; – und selbstverständlich lässt sich die Einbildungskraft den reizenden Einfall nicht entgehen, durch Entwendung der köstlichen Speise die Unalternden plötzlich mit dem Lose der Menschen zu bedrohen; von selbst ergibt sich dann die Aufgabe, durch kühne Tat die geraubten Früchte den Göttern wieder zu schaffen.

Aber auch nach andrer Richtung lässt sich die Einbildungskraft, die sich nun einmal der Sagenbildung, immer weitergreifend, bemächtigt, in ihrem Walten nicht hemmen. Während nämlich wissenschaftliche Denkweise ebenso wie die einen Gott glaubenden Religionen die Vielheit der Erscheinungen auf ein Gesetz, auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen bestrebt ist, waltet in der künstlerischen Anschauung der Einbildungskraft notwendig das entgegengesetzte Trachten. Die Wissenschaft der Pflanzenkunde z. B. muss danach verlangen und sich daran erfreuen, Keim, Blüte, Frucht als bloße Umgestaltungen des nämlichen Wesens und diese Gestaltungen als Erscheinungen des nämlichen Gesetzes zu ergründen –; aber die Göttersage wird eine andre Göttin der Saaten, eine andre der Ernte mit Ungestüm verlangen; sie würde unmöglich für die Nacht dieselbe Göttin wie für den Tag, für den silbernen Mond wie für die goldene Sonne ertragen; sie wird für Krieg, Jagd und Ackerbau, für Tod und Liebe, für Winter und Sommer, für Meer und Feuer, und für das Feuer als wohltätige und für das nämliche Feuer als verderbliche Gewalt verschiedene Göttergestalten aufstellen müssen; d. h. diese Religionen sind viele Götter lehrend.

Aber nicht nur Vermenschlichung und Vervielfältigung der Götter verbreitet die Einbildungskraft in den Götterglauben; – sie geht bald weiter. Während sie anfangs, bis die wichtigsten Göttergestalten gezeichnet, die vom religiösen Bedürfnis ihnen notwendig beigelegten Eigenschaften und Schicksale geschildert und erzählt sind, sich doch immer wesentlich noch dienend verhalten hat, bemächtigt sie sich später, nachdem die Göttergestalten, ihre Eigenart, ihre Begleitgeräte und ihre wesentlichen Beziehungen zueinander feststehen, dieser Gestalten wie jedes andern gegebenen Stoffes und behandelt sie weiterbildend lediglich nach den eignen künstlerischen Zwecken und Absichten; ganz wie sie z. B. geschichtliche Männer und Ereignisse: den Untergang der Burgunden, Attila, Theoderich von Verona, Karl den Großen in dichterischem Schaffen und Umschaffen schmückt, verhüllt, umgestaltet und verwandelt. Die Einbildungskraft schaltet nun frei mit diesen einladenden Gestalten; sie erfindet, in anmutvollem Spiel das Gegebene weiter bildend, eine Menge von neuen Geschichten und Geschichtlein, zuweilen verfänglicher Art, zum Teil noch im Anschluss an die alten Naturgrundlagen jener Götter, oft aber auch gelöst von denselben, indem sie einzelne menschliche Züge weiter ausführt oder verwertet.

So erspriesst um die alten ehrwürdigen Göttergestalten ein üppig wucherndes Wachstum, welches mit schlingenden Ranken und duftigen Blüten die ursprünglichen Umrisse zwar schmückt, aber auch verhüllt und unkenntlich macht. Bei diesen Religionen vermag man dann gar nicht mehr zu scheiden, wo die Grenze endet und wendet, d. h. wo das Gebiet der eigentlichen Glaubenslehren abschließt und wo das der dichterischen Erfindungen beginnt, an welche das Volk kaum ernsthaft glaubt.

Welches Verhältnis nimmt aber die in solcher Weise durch die Einbildungskraft umgewandelte Götterwelt nunmehr zu dem religiösen Bedürfnis ein? Antwort: Die so umgestaltete Religion befriedigt nicht mehr, sondern sie verletzt, sie beleidigt die Religion in ihren edelsten Gefühlen.

Die Religion hatte Einheit der weltbeherrschenden Macht verlangt, der unerträglichen Buntheit der Erscheinungen zu entrinnen. Statt dieser Einheit drängt die vielgötterische Lehre dem religiösen Bewusstsein neben einer Drei- oder Zwölfzahl oberster Götter ein unübersehbares Gewimmel von Unter-Göttern, von Halb- und Viertels-Göttern, von Geistern und übermenschlichen Wesen aller Art auf, welche Luft und Wasser, Erde und Meer erfüllen. Fast jedes Naturerzeugnis ist durch einen besondern Gott oder ein Göttlein vertreten oder belebt und dieses unheimliche Gewoge buntester Willkür ist dem menschlichen Drang nach Einheit des Göttlichen unerträglich.

Vermöge ihrer sittlichen Bedürfnisse hatte die Religion von den Göttern Heiligkeit verlangt, d. h. Sündlosigkeit, Freiheit von den Schwächen und Leidenschaften des menschlichen Herzens; einerseits die Hoffnung auf gerecht gewährten, durch Tugend verdienten Schutz, anderseits das Schuldbewusstsein hatte ja ganz wesentlich zu der Annahme schuldloser Wesen beigetragen, welche, allweise und allgerecht, die menschlichen Dinge auf Erden leiten oder doch im Jenseits Lohn und Strafe nach Verdienst verteilen sollten. Nur zu einem heiligen, sündlosen Gott kann das Menschenherz hoffend oder reumütig flüchten. Statt dieser Heiligkeit findet das religiöse Bewusstsein in den vermenschlichten, von der Einbildungskraft weitergebildeten Göttergestalten nur das Spiegelbild alles dessen wieder, was der Menschenseele den Frieden stört; Schwächen, Leidenschaften, Schuld, ja Laster und Verbrechen aller Art; Eifersucht, Rachsucht, Neid, Hass, Zorn, Verrat, Untreue jeder Art, Gewalttat, Mord. Diesen Göttern, die man in so manchem Liebes- oder Streithandel nicht nach Vernunft, Moral und Gerechtigkeit, sondern nach ihrer eigenartigen Neigung und Sinnesart hat handeln sehen, kann man nicht vertrauen, dass sie in den Geschicken der Menschen gerecht und heilig entscheiden werden.

Man sollte glauben, schon auf dieser Stufe der Entwicklung müsste verzweifelnde Abkehr von der gesamten Anschauungsweise der Götterwelt erfolgen; aber noch werden auf dem Boden dieser Welt selbst – nach zwei Richtungen – Versuche der Abhilfe gemacht. Diese Versuche sind sehr anziehend; aber sie müssen scheitern.

Das Verlangen nach Einheit der Weltbeherrschung soll auf der gegebenen Grundlage des Viel-Götter-Glaubens dadurch befriedigt werden, dass einer der höheren Götter, welcher ohnehin auch bisher schon die andern überragt hatte, nachdrucksam als der oberste Leiter und Herrscher gedacht wird, so dass die übrigen hinter ihm völlig verschwinden. Es ist diese starke Überordnung ein Ersatzmittel für den verlangten, aber nicht erlangten alleinigen, einzigen Gott. Zeus, Jupiter, Odin wird als »Vater der Götter und Menschen«, als »Allvater« gedacht; er allein entscheidet mit überlegener Macht die menschlichen Dinge, und zwar, wie man nunmehr nachdrücklich versichert, allweise, allgerecht, allheilig; – die andern Götter erscheinen nur mehr als seine Diener, Helfer, Boten und Werkzeuge.

Allein dieser Versuch kann nicht gelingen; die übrigen Götter sind einmal da, sie leben im Volksbewusstsein, das ihrer nie vergisst, vielmehr mit zäher Innigkeit an ihnen hängt; sind sie doch dem Menschen näher, vertraulicher, zugänglicher als der erhabene oberste Gott, welchen seine ernste Erhabenheit und die Unfassbarkeit seiner Grösse ferner rückt. Man wendet sich lieber, leichter, zutraulicher an die den Sterblichen näherstehenden unteren Götter und je an den besondersten Sachverständigen; man ruft um Erntesegen den Erntegott, um Liebesglück die Liebesgöttin an, man wendet sich später an die Heiligen, welche an die Stelle der alten Götter getreten sind, z. B. bei Feuersgefahr an St. Florian, bei Viehsterben an St. Leonhart. Dazu kommt, dass auch jener oberste Gott, trotz der Verkündung seiner Weisheit und Heiligkeit, keinen rechten Glauben für diese Tugenden finden kann. Einmal bleibt er, neben seiner jetzt so stark betonten Eigenschaft als allgemeiner Weltenlenker, doch daneben noch der Sondergott seines Faches, was er ursprünglich allein gewesen, und daher von den Forderungen dieses Gebietes beherrscht; Odin z. B. bleibt, auch nachdem er »Urvater« geworden, gleichwohl Gott des Sieges und der Schlachten und er hat, um die Zahl seiner Einheriar zu vermehren, den einseitigen Wunsch, dass die Könige sich blutige Schlachten liefern; – er ist also nicht mit sonderlichem Vertrauen auf geneigtes, gerechtes Gehör um Frieden anzurufen. Auch weiss man aus vielen Geschichten, die von diesem Weltenlenker erzählt werden, dass er, der unbeschränkte Alleinherr, der allein herrschen soll, selbst beherrscht wird; d. h. den Einflüssen seiner Umgebung – der weiblichen wie der männlichen – unterworfen ist; was hilft es, dass Zeus gerecht und weise regieren will, wenn es Hera gelingen kann, ihn durch weibliche Künste einzuschläfern und mittlerweile seine Pläne zu durchkreuzen? Ähnlich wie Frigga durch Schlauheit und Überraschung ihrem Gemahl die Siegverleihung an die Langobarden ablistet (s. unten).

Dies führt zu dem zweiten Versuch einer Besserung des Götterglaubens durch die Mittel des Götterglaubens selbst; da die Herrschaft auch des obersten Gottes keine Gewähr bietet für weise, gerechte, heilige Weltleitung, da man jetzt eben den Schwächen und Launen des obersten Gottes preisgegeben ist und der Eigenart seines Wesens, so sucht man, wie vorher die Vielgötterei durch ein Ersatzmittel für den einzigen Gott, so nunmehr die Vermenschlichung der persönlichen Götter zu verbessern durch ein unpersönliches Weltgesetz; man schafft ein unpersönliches Schicksal, ein Fatum, welches unabänderlich auch über dem obersten Gotte steht; so dass er dieses notwendige Schicksal nur erforschen und ausführen, nicht aber bestimmen, schaffen, ändern oder aufheben kann. So erkundet Zeus durch Abwägen auf seiner Waage das den Achäern und Troern vorbestimmte Geschick; so sucht Odin die Göttern und Riesen verhängte Zukunft zu erfahren. Dies Schicksal wird nun, in wechselnder Auffassung, bald lediglich als unabänderliche Notwendigkeit, als blindes Fatum gedacht, ohne Annahme einer der Vernunft und Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung. Auch solch blindes und starres Schicksal ist immerhin noch erträglicher als das Gefühl, der Spielball der unberechenbaren Launen der vermenschlichten und von Leidenschaften beherrschten Götter und ihrer Spaltungen zu sein. Indessen, die entsagende Fügung unter ein notwendiges Gesetz, welches auf das Glück des Menschen keine Rücksicht nimmt, ist dem warmen Verlangen der ungeschulten Menschenseele widerstreitend. Deshalb wird von andern Religionen oder von andern Lehren der nämlichen Religion das Schicksal als eine gerechte Vergeltung, die schon auf Erden immerdar die Tugend belohne und die schuldvolle Überhebung strafend niederbeuge, verehrt; eine Vorstellung, welche freilich gar oft durch das unverdiente Glück der Schlechten und Unglück der Guten widerlegt wird, im Leben der einzelnen wie in den Geschicken der Völker.

Merkwürdig aber ist die Wahrnehmung, wie das religiöse Bewusstsein die Zumutung, das Göttliche als Unpersönliches, als Gesetz zu fassen, schlechterdings auf die Dauer nicht erträgt; kaum hat die Götterlehre, um der Willkür der vermenschlichten persönlichen Götter zu entrinnen, das unpersönliche Schicksal aufgestellt, als sie schon wieder geschäftig Hand angelegt, dies unpersönliche – abermals zu personifizieren. Das Gesetz des Schicksals wird verwandelt in eine Schicksalsgöttin, Nemesis (welche dann freilich ausserhalb der bunten Göttergeschichten und Liebeshändel usw. gelassen wird); ja, auch der Zug der Vielgötterei bemächtigt sich dieser doch gebieterisch die Einheit verlangenden Vorstellung und stellt sie in drei Personen: drei Göttinnen der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, auseinander gefaltet (Parzen, Nornen s. unten), dar.

Es ist klar: diese Versuche, die Götterlehre durch die Mittel der Götterlehre selbst zu reinigen, können nicht gelingen, da die Gestaltungsweise, das Werkzeug und der gesamte Boden, welche jene bedenklichen Gebilde erzeugt, dabei natürlich beibehalten bleiben und gleichmässig fortwirken. Die Folge ist, dass sich bei vorgeschrittener Bildung, nachdem die Stufe unmittelbaren, urteillos gläubigen Hinnehmens des in der Überlieferung Gegebenen überschritten ist, von solchen »Götterlehren« gerade die sittlich Edelsten und die geistig höchstbegabten und tiefstgebildeten Männer der Nation mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung abkehren, da ihre sittlichen Anschauungen und ihre philosophischen Bedürfnisse und Errungenschaften durch jene Göttersagen nicht befriedigt, sondern auf das empfindlichste und empörendste verletzt werden. Dass dies bei Hellenen und Römern eingetreten, ziemlich früh bei jenen, verhältnismässig spät bei dem strenger gebundenen Wesen der letzteren, ist bekannt; sogar so altväterische Geister wie Aristophanes nahmen doch an dem Vatermord des obersten der Götter Anstoss. Minder bekannt ist aber, dass auch in dem germanischen Heidentum, nachweisbar wenigstens im Norden, schon vor dem Eindringen des Christentums sich merkwürdige Spuren ähnlicher Erscheinungen finden.

Solche Abkehr von dem Volksglauben kann nun aber immer nur unter einer geringen Zahl vorkommen; durchdringt sie die Gesamtheit, so ist dies ein höchst gefährliches Anzeichen des Niedergangs des ganzen Volksrums. Denn ein Volk kann eines volkstümlichen und befriedigenden Glaubens so wenig entraten, wie eines solchen Rechts oder einer solchen Sittlichkeit. Ist daher wirklich im grossen und ganzen ein Glaube unhaltbar geworden, so muss, sollt nicht dieses Volk und seine Bildungswelt untergehen, entweder ein neuer, die Bedürfnisse dieser Zeit befriedigender Glaube von aussen eingeführt – so das Christentum in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit in die römische Welt, – oder es muss der bestehende Glaube gereinigt, umgestaltet werden; – so das Christentum im 16. Jahrhundert durch die protestantische Reformation und auch durch die katholischen Verbesserungsarbeiten der tridentinischen Kirchenversammlung. –

Aber neben diesen beiden Mitteln ist noch eine dritte Lösung des verschlungenen Knotens möglich; diese dritte hat das germanische Bewusstsein ergriffen; sie ist die tragische.

Auch die germanischen Götter haben sich infolge des oben geschilderten freien Waltens der Einbildungskraft untragbar und unsühnbar in Gegensatz zu der Sittlichkeit gestellt, und das germanische Gewissen hat sie deshalb samt und sonders – zum Untergang, zum Tode verurteilt. Das ist die Bedeutung der »Götterdämmerung« –; sie ist eine unerreicht grossartige sittliche Tat des Germanentums und sie verleiht der germanischen Mythologie ihre tragische Eigenart.

Tragisch ist Untergang wegen eines unheilbaren Bruchs mit der gegebenen Friedensordnung in Religion, Sittlichkeit oder Recht.

Die Götterdämmerung eine Opfertat? eine Tat grossartigster Sittlichkeit? Ja wahrlich, das ist sie!

Denn erinnern wir uns, was wir über Entstehung und Wesen dieser Götter festgestellt; diese germanischen Göttergestalten, welche Walhall bewohnen, was sind sie anders, der kluge, ratspinnende, völkerbeherrschende und zum Kampfe treibende Siegeskönig Odin, der Abenteuer suchende, Riesen zerschmetternde Hammerschleuderer Thor, ja Freya und Frigg im goldenen Gelock, was sind sie anders als die Männer, Frauen und Mädchen des Nordlandes selbst, nur veredelt, ausgerüstet mit den Gewaffen und Gerät, den gesteigerten und dauernden Eigenschaften und Vorzügen der Macht und Kraft, des Reichtums, der Jugend, Schönheit, welche diesen Männern und Frauen als ihre eignen verkörperten Wünsche, als ihr eignes verklärtes Spiegelbild erschienen, aber zugleich als ihre höchsten Ideale? Und diese Lieblingsgestalten der eignen Einbildungskraft und Sehnsucht, das ganze selige Leben in Walhall, mit Kampf und Jagd und ewigem Gelag, im glänzenden Waffensaal unter den weissarmigen Wunschmädchen – des Herzens schönster Sehnsuchtstraum – haben die Germanen ihrem höchsten sittlichen Ideal geopfert; das ist das teuerste aller Opfer und unerreicht von allen andern Völkern.

Zwar erzählen auch andre Götterlehren von untergehenden, durch neue Sippen gestürzten Göttergeschlechtern; allein das sind teils geschichtliche Erinnerungen (Gegensätze von Völkern), teils Wirkungen der fortschreitenden Bildung, welche die älteren, einfacheren Naturgötter verwandelt und vergeistigt (Titanen, Riesen). Dass aber die gesamte Götterwelt, weil sie dem sittlichen Bewusstsein, unerachtet ihrer Herrlichkeit und Lieblichkeit, nicht genügt, zum Untergang verurteilt wird, begegnet sonst bei keinem Volk. In der Prometheus-Mythe der Hellenen klingt zwar einmal von fernher ein ähnlicher Ton an; Zeus wird zur Strafe für seinen an Kronos verübten Frevel Untergang ebenfalls durch einen Sohn geweissagt; – aber es wird mit diesem Gedanken nicht ernst gemacht. Kaum ein flüchtiger Wolkenschatte fällt von dieser dunkeln Warnung her in den goldenen Saal der Olympier; unvernommen verhallt der Ton unter dem seligen Lachen der heitern Götter. Die hellenische Mythologie ist episch; ein Idyll in leuchtenden Farben; mit weissem Marmor und Purpur, mit Gold und Elfenbein aufgebaut, hebt sie sich aus Myrten- und Lorbeer-Gebüschen unter dem Glanz des jonischen Himmels an dem leuchtenden Blau der jonischen See; nur epische Bewegung unterbrach früher etwa diesen nunmehr kampflosen heitern Frieden; in Ewigkeit, nachdem die alten Kämpfe ausgefochten, Titanen und Giganten gebändigt sind, tafeln die Götter und Göttinnen auf den Höhen des Olympos. Geraten sie auch wohl einmal untereinander in Streit, etwa um der Sterblichen in und vor Troja willen; – bald versöhnen sie sich wieder, gerade auf Kosten dieser, und bald tönt wieder ihr seliges Lachen durch die goldenen Säle.

Ganz entgegengesetzt die germanische Mythologie; mag auch die Sage von der Götterdämmerung erst verhältnismässig spät und anfangs vielleicht nur als Geheimlehre Auserwählter (aber doch gewiss nicht erst durch christlichen Einfluss oder gar als Ahnung des Erliegens der Walhallgötter vor dem Christengott!) dem ganzen Bild den grossartigen Hintergrund verliehen, mag also der tragische Abschluss erst spät die Bewegung vollendet haben; – dramatisch ist der Bau der germanischen Mythologie von Anbeginn; obwohl es selbstverständlich an (zum Teil sehr reizenden und heiteren) epischen und idyllischen Zügen und Episoden nicht gebricht.

Wir sahen, es baut sich die germanische Mythenwelt aus dem Gegensatz der Riesen und Asen empor. Die Riesensind in der Zeit, die uns hier beschäftigt, unzweifelhaft die Vertreter der dem Menschen und seinen Fortschritten schädlichen oder gefährlichen Naturkräfte, z. B. des öden, unwirtlichen Felsgebirges, des Weltmeers mit seinen Schrecken, des Winters mit seinem Gesinde von Frost, Eis, Schnee, Reif, des Sturmwindes, des Feuers in seiner verderblichen Wirkung usw. Die Asen dagegen, die lichten Walhallgötter, sind nach ihrer Naturgrundlage ursprünglich die wohltätigen, heiligen, reinen Mächte des Lichtes, dann die dem Menschen wohltätigen, freundlichen Mächte und Erscheinungen der Natur überhaupt, z. B. das Gewitter nach seiner segensreichen Wirkung, der Frühling, der fruchtbringende Sonnenstrahl, der liebliche Regenbogen, der herbstliche Erntesegen; dann aber sind sie auch Vertreter geistiger, sittlicher Mächte und Schützer, Vorsteher menschlicher Lebensgebiete; also Götter und Göttinnen z. B. des Ackerbaues, des Krieges und des Sieges, der Liebe und der Ehe, u. a. Die Götter und die Riesen stehen nun in einem unaufhörlichen Kampf, der, ursprünglich von dem Ringen und Wechsel der Jahreszeiten und der bald freundlichen, fördernden, bald furchtbaren, verderblichen Natur-Erscheinungen ausgegangen, später auf das Gebiet des Geistigen und Sittlichen, also des Guten und Bösen, übertragen worden ist. In diesem Kampf den Göttern beizustehen legt allen Menschen und allen guten Wesen Pflicht und eigner Vorteil auf.

Anfangs nun lebten die Götter harmlos und schuldlos in paradiesischer kindlicher Heitre: »sie spielten,« – sagt eine schöne Stelle der Edda – »sie spielten im Hofe heiter das Brett-Spiel«. Sie versuchten fröhlich ihre jungen Kräfte an allerlei Werk: »Es war ihre goldene Zeit« (»nichts Goldenes gebrach ihnen«).

Damals drohte ihnen von den Riesen noch keine Gefahr. Allmählich aber wurden die Götter mit Schuld befleckt; zum Teil erklärt sich dies aus ihren Naturgrundlagen, zum Teil aber aus den vermenschlichenden und aus den rein künstlerisch spielenden Dichtungen der sagenbildenden Einbildungskraft. Sie brechen die während der Kämpfe mit den Riesen hin und wieder geschlossenen Verträge und Waffenruhen trotz eidlicher Bestärkung, und auch im Verkehr untereinander, mit den Menschen und mit andern Wesen machen sie sich gar mancher Laster und Verbrechen schuldig. Bruch der Ehe und der Treue, Habsucht, Bestechlichkeit, Neid, Eifersucht und, aus diesen treibenden Leidenschaften verübt, Mord und Totschlag müssen sich die zu festlichem Gelag versammelten Götter und Göttinnen vorwerfen lassen; wahrlich, wenn nur die Hälfte von dem ihnen (von Loki) vorgehaltenen Sündenverzeichnis in Wahrheit begründet und durch im Volke lebende Geschichten verbreitet war, so begreift sich, dass diese »Asen«, d. h. Stützen und Balken der physischen und sittlichen Weltordnung, diese Aufgabe nicht mehr erfüllen konnten. Und darin liegt die richtige, die tiefe Erfassung von »Ragnarökr«: dem Rauch, der Verfinsterung der herrschenden Gewalten. Diese Verfinsterung bricht nicht erst am Ende der Dinge in dem grossen letzten Weltkampf plötzlich und von aussen, als eine äussere Not und Überwältigung, über die Götter herein; – die Götterverfinsterung hat vielmehr bereits mit der frühesten Verschuldung der Asenihren ersten Schatten auf die lichte Walhallawelt geworfen; und fortschreitend wächst diese Verdunkelung mit jeder neuen Schuld und führt die Götter allmählich dem völligen Untergang entgegen; Schritt für Schritt verlieren die Götter Raum an die Riesen; denn mit ihrer Reinheit nimmt auch ihre Kraft ab. Lange Zeit zwar gelingt es noch Odin und seinen Genossen, das fernher drohende Verderben zurückzudämmen; sie fesseln und bannen, wie wir sehen werden, die riesigen Ungeheuer, welche Götter und Menschen, Himmel und Erde mit Vernichtung bedrohen; aber im Kampf mit diesen Feinden erleiden sie selbst schwere Einbussen an Waffen und Kräften; ihr Liebling Baldur, der helle Frühlingsgott, muss – ein mahnend Vorspiel der grossen allgemeinen Götterdämmerung, – zur finstern Hel hinabsteigen. In andern Fällen werden die Götter wenigstens von den schwersten Einbussen bedroht durch leichtsinnig geschlossene Verträge und jene Verluste nur durch listige Ratschläge und Betrug Lokis abgewehrt, welche Treulosigkeit gegen Eid und Wort die lichten Asen immer mehr von ihrer sichern Höhe herabzieht (s. unten die Sagen von Svadilfari, Hamarsheimt, von Skirnisfahrt und von Thiassi und Idun). Immer näher rückt mit der steigenden Verschuldung der Götter der unabwendbare Tag des grossen Weltenbrandes.

Wann bricht dieser herein? Wann ist die Stunde der Götterdämmerung gekommen? Diese bange Frage beschäftigt unablässig den obersten der Götter, Odin, »den grübelnden Asen«. Düstere Ahnungen, böse Träume ängstigen ihn und Baldur. Der mannigfaltigen Rat suchende unerschrockene Götterkönig forscht bei allerlei Wesen nach dem, was sie etwa hierüber wissen mögen; selbst zur furchtbaren Behausung Hels und zu den Nornen steigt er, Zukunft forschend, hinab. Mit geringer Ausbeute kehrt er zurück! Erst das Ende der Dinge selbst, das unvermeidbare, gibt die Antwort auf die Frage; – und erst am Ende der hier zu schildernden Geschehnisse, nachdem die Götter, ihre Helfer, ihre Schützlinge und ihre Feinde sich vor unsern Augen ausgelebt haben, können auch wir die Antwort finden auf jene Frage.

Zweites Buch. Besonderer Teil - Die einzelnen Götter. Elben, Zwerge, Riesen. Andere Mittelwesen.

I. Odin-Wotan.

Odin führt uns in die höchsten und tiefsten, die feinsten und meist durchgeistigten Elemente des germanischen Wesens. Thor-Donar ist der Gott der Bauern, Odin-Wotan, der Siegeskönig, ist der Gott der völkerleitenden Fürsten und Helden; zugleich aber (und das ist das Wunderbare, in dieser Vereinung so ganz für die germanische Volkseigenart Bezeichnende) ist er der Gott der Weltweisheit und der Dichtung; die grossen Könige der Völkerwanderung und die Kaiser des Mittelalters wie anderseits der ewig suchende Faust der deutschen Weltweisheit: Kant, Fichte, Hegel, Schelling, aber ebenso die grössten germanischen Dichter: Shakespeare, Goethe und der Dichterphilosoph Schiller; – alle diese Männer hätten unter dem Asenglauben Odin als ihren besondern Schutzgott betrachtet; alle diese unter sich so grundverschiedenen und doch gleichmässig für germanisches Eigenwesen so scharf bezeichnenden Gestalten, – sie sind Erscheinungen dessen, was die heidnische Vorzeit unsres Volks in ihren obersten Gott gelegt hat; ahnungsvoll hat das Germanentum in die eigne Brust gegriffen und seine höchste Herrlichkeit in Staats- und Siegeskunst, seine Heldenschaft, seine tiefste Tiefe in grübelnder Forschung, seine sehnsuchtsvollste dichterische Begeisterung verkörpert in seinem geheimnisvollen Götterkönig; es weht uns an wie Schauer aus den Urtiefen unsres Volks, gehen wir daran, Odins Runen zu deuten und die Falten zu lüften seines dunkelblauen Mantels. –

Woher rührt jene Verbindung scheinbar unvereinbarer Elemente in einer Göttergestalt?

Die Ursache liegt zum Teil in der Naturgrundlage, zum Teil in der Stellung Odins als obersten Königs und Leiters der Walhallgötter.

Seine Naturgrundlage ist die Luft, – die alldurchdringende; von diesem Alldurchdringen führt er ja auch den Namen; wir Neuhochdeutschen freilich brauchen »waten«, »durchwaten« nur mehr von dem Durchschreiten des Wassers, höchstens etwa noch einer dichten Wiese oder einer Sandfläche; aber althochdeutsch watan, altnordisch vadha, bedeutete jedes Durchschreiten und Durchdringen; die Luft aber, in allen ihren Formen und Erscheinungen gedacht, welche Fülle von Gegensätzen schliesst sie ein! Von dem lautlosen und regungslosen blauen Äther, von dem gelinden, geheimnisvollen Säuseln der Frühlingsnacht, das kaum das junge Blatt der Birke zittern macht, bis zum furchtbar brausenden Sturmwind, der im Walde die stärksten Eichenstämme knickt; – alle diese Erscheinungen nun sind Erscheinungen Wotans; – er ist im gelinden Säuseln und nicht minder im tosenden Sturm. Aber durch diese seine Luftnatur wurde Wotan noch mehr; – er wurde zum Gott des Geistes überhaupt. In mehreren Sprachen ist das Wort für den leisen, unsichtbaren, doch geheimnisvoll allüberall fühlbaren Hauch der Luft eins mit dem Wort für Geist.

Wotan, der Gott des Lufthauchs, ist also auch der Gott des Geisteshauchs; und zwar des Geistes in seinem geheimnisvollen Grübeln, in seiner tiefsten Versenkung in die Rätselrunen des eignen Wesens, der Welt und des Schicksals; wer der Natur und der Geschichte ihre Rätsel abfragen, wer die Ursprünge und die Ausgänge aller Dinge ergründen, wer Gott und die Welt im tiefsten Wesenskern erforschen, d. h. wer philosophieren will, der tut wie Odin; Odin, der »grübelnde Ase«, wie ihn bezeichnend die Edda nennt. Ahnungsvoll hat der deutsche Geist den ihm eignen philosophischen Sinn und Drang, der ihn vor allen Nationen kennzeichnet, seinen Faustischen Zug, in das Bild seines obersten Gottes gelegt. Wie der Wahrheit suchende Grübler Faust nicht harmlos der frohen Gegenwart geniessen mag und sich des Augenblicks und der hellen Oberfläche der Dinge erfreuen, wie es ihn unablässig drängt, den dunkeln Grund der Erscheinungen zu erforschen, die Anfänge, die Gesetze, die Ziele und Ausgänge der Welt; – so der »grübelnde Ase«. Während die andern Götter sich den Freuden Walhalls hingeben oder in Abenteuer, in Kampf und Liebe der Gegenwart leben, uneingedenk der Vergangenheit und um die Zukunft unbesorgt, kann Odin nun und nimmer rasten im Suchen nach geheimer Weisheit, im Erforschen des Werdens und des Endschicksals der Götter und aller Wesen. Die Riesen oder einzelne unter ihnen gelten als im Besitz uralter Weisheit stehend; Odin ermüdet nicht, solche weisen Meister aufzusuchen und auszuforschen; hat er doch sein eines Auge selbst als Pfand dahingegeben, um von dem kundigen Riesen Mimir Weisheitslehren zu empfangen; denn im Wasser, in »Mimirs Brunnen«, liegen die Urbilder aller Dinge verborgen; er versenkt deshalb sein Auge in diesen Brunnen. Zauberinnen, weissagende Frauen, lebende und tote, forscht er aus; ja er hat die »Runen«, den Inbegriff aller geheimen Weisheit, selbst erfunden. Auch mit kundigen Menschen hält er Wettgespräche der Weisheit, in welchen der Götter und aller Wesen Entstehung, Wohnung, Sprache, Schicksal und Ende erörtert wird. So hat er denn auch die Geheimkunde von der unabwendbar drohenden Götterdämmerung ergrübelt; – aber zugleich auch das trostreiche Hoffnungswort von der Erneuerung, von dem Auftauchen einer neuen, schönen, schuldlosen Welt; und er vermag dies Trostwort als letztes Geheimnis seiner Weisheit dem toten Lieblingssohne Baldur noch in das Ohr zu raunen.

Es sind zunächst äussere Gründe, welche den Leiter der Walhall-Götter zu solcher Forschung führen; – das Bedürfnis, die den Göttern von den Riesen drohende Gefahr der Zukunft zu erkunden –; aber ebenso unverkennbar hat die Edda, hierauf weiterbauend, dem »grübelnden Asen« den tief germanischen Drang nach Weltweisheit eingehaucht. Unablässig forscht der Gott, der nicht allwissendist, aber es sein möchte; täglich sendet er seine beiden Raben aus, die Welt und den Lauf der Zeiten zu erkunden; zurückgekehrt sitzen sie dann auf seinen beiden Schultern den flüstern ihm geheim ins Ohr; sie heissen aber – denn nicht könnten die Namen bezeichnender sein – sie heissen »Hugin« und »Mugin«: »Gedanke« und »Erinnerung«.

Vom Geist untrennbar ist die Durchdringung mit Geist, die Begeisterung; und wie der philosophische, findet der dichterische Drang germanischen Volkstums, der Geist, der, vom Trank der Schönheit trunken, selbst das Schöne zeugt, in Odin seinen Ausdruck. Zwar hat die nordische Mythologie einen besondern Gott des Gesanges aufgestellt, Bragi (Odins Sohn), »der die Skalden ihre Kunst gelehrt« (s. unten); aber er ist nur eine Wiederholung, eine einzelne Seite Odins; Odin ist der Gott höchster dichterischer Begeisterung, jener Entzückung künstlerischen Schaffens, welche, -auch nach Sokrates-Platon, mit der wärmsten Liebesbegeisterung für das Schöne verwandt, auch von andern Völkern als ein Rausch, als eine Art göttlichen Wahnsinns gefasst und gefeiert wird. Tief hat es das germanische Bewusstsein erfasst, dass nur aus der Liebe höchsten Wonnen und Qualen der Trank geschöpft wird unsterblicher Dichtung.

Der Trank oder Met der Dichtung war entstanden aus dem Blut eines Zwergen Kwâsir, »der war so weise, niemand mochte ihn um ein Ding fragen – er wusste Antwort«. Den Trank hatte in Verwahrung des Riesen Suttung schöne Tochter Gunnlöd; unter falschem Namen, durch List und in Verkleidung gelangt Odin zu ihr; er gewinnt die Liebe der Jungfrau; drei Tage und drei Nächte erfreut er sich ihrer vollen Gunst und die Liebende gestattet ihm, drei Züge von dem Trank zu schlürfen; aber in diesen drei Zügen trinkt der Gott die drei Gefässe leer, nimmt Adlersgestalt an und entflieht nach Walhall, indem er für sich und seine Lieblinge, denen er davon verleihen mag, die Gabe der Dichtung unentreissbar gewonnen hat; sie heisst daher »Odins Fang«, »Odins Trank«, »Odins Gabe«.

Nach echt germanischer Auffassung ist die Dichtung zugleich die höchste Weisheit; sie gewährt Antwort auf alle Fragen; es ist jene tiefsinnige Wahrheit, dass der Dichter, der echte, dass ein Shakespeare, Goethe, Schiller die letzten Geheimnisse der Menschenbrust ausspricht und in schöner Ahnung die Rätsel der Natur und Geschichte löst; die goldene Frucht der Wahrheit in den silbernen Schalen der Schönheit. – Das ist die germanische Auffassung von der Aufgabe der Dichtkunst, wie sie unsre grössten Meister erkannt und gelöst haben. Denn wahre Schönheit ist schöne Wahrheit. Das Wesen dieser Dichtkunst aber ist trunkene, entzückte Begeisterung. Ein prachtvolles Bild der Edda schildert den Rausch (zunächst allerdings für den Rausch des Trinkers): »der Reiher der Vergessenheit rauscht über die Gelage hin und stiehlt die Besinnung«; »dieses Vogels Gefieder,« fährt Odin fort, »befing auch mich in Gunnlöds Haus und Gehege, trunken ward ich und übertrunken, als ich Odrörir erwarb«. Es wird also der Rausch dichterischer Begeisterung eingekleidet in den Rausch des Trankes des heiligen Mets; auch die Namen sprechen etymologisch die gleiche Lehre aus: Kwâsir bedeutet »die schäumende Gärung«, und Odrörir ist der »Geistrührer«; – der Trank, der den Geist in Bewegung setzt. Aber nur durch die Liebe gelangt der Gott zu dem selig berauschenden Trank: »nur sie, nur Gunnlöd schenkte mir, auf goldenem Lager, einen Trank des teuren Mets«; nie wär’ ihm die Entführung des Trankes geglückt, »wenn Gunnlöd mir nicht half, die gunstgebende Maid, die den Arm um mich schlang«.

Auch das ist tief ergreifend in dieser wunderbaren Sage vom Werden der deutschen Dichtung, dass, wie die Wonne, so das Weh der Liebe als unentbehrlicher Tropfe in diesen Becher der Poesie geschüttet wird; nicht ohne höchste Liebeslust, nicht ohne tiefstes Liebesleid zu geben und zu empfangen wird Odin zum ersten germanischen Dichter; nach den drei seligen Nächten folgen für Gunnlöd die langen, bangen Tage des sehnsuchtvollen Grämens, das ihr Leben verzehrt; und auch durch Glanz und Glorie des göttlichen Dichterkönigs klingt die Erinnerung an die gute Maid, »die alles dahingab« und die er verlassen, leis elegisch zitternd nach: »Übel vergolten hab’ ich,« fährt Odin fort in seiner Selbstschilderung: »Übel vergolten hab’ ich der Holden heiligem Herzen und ihrer glühenden Gunst; den Riesen beraubt’ ich des köstlichen Tranks und liess Gunnlöd sich grämen«.

Rührender und tiefer und einfacher kann man die alte Geschichte nicht erzählen, »wie Liebe doch mit Leide stets endlich lohnen muss«.

Odin ist aber auch das Urbild des völkerleitenden, völkerbezwingenden, Völker zu Krieg und Sieg antreibenden, fortreissenden Staatsmannes.

Zwei Gründe sind es, welche in ihm den unablässigen Drang lebendig erhalten, die Völker und Könige gegeneinander zu hetzen, sie stets listig untereinander zu verfeinden, dem Frieden zu wehren, »Zanksamen, Zwist-Runen unter ihnen auszustreuen«, bis sie sich in blutigen Schlachten morden, bis Tausende auf ihren Schilden liegen; indes der Gott, der Siegeskönig, der all das angerichtet, seine hohen, geheimen, von den geleiteten Fürsten und Völkern gar nicht geahnten Zwecke dadurch erreicht.

Einmal ist »Wuotan«, der Wütende, die kriegerische Kampflust selbst; er ist der Gott jeder höchsten geistigen Erregung, jeder Begeisterung; nicht minder als die dichterische ist es die kriegerische Begeisterung des Helden, welche er darstellt; jener germanische Heldengeist, welcher, aus den Urwäldern Deutschlands hervorbrechend, in der Völkerwanderung das römische Westreich niederwarf, bis nach Apulien und Afrika, bis nach Spanien und Irland unwiderstehlich vorwärts drang, jener ‘furor teutonicus, den die Römer seit dem »kimbrischen Schrecken« kannten, jene Freude am Kampf um des Kampfes willen; der Drang also, der von der Urzeit bis auf die Gegenwart die deutschen Männer in die Feldschlacht treibt; – es ist der Geist Wotans, der sie beseelt.

Dazu aber kommt ein zweiter, in dem Grundbau der germanischen Götterlehre wurzelnder Antrieb; Odin muss als Anführer der Asen und all ihres Heers im Kampfe gegen die Riesen dringend wünschen, dass Krieg und männermordende Schlachten kein Ende nehmen auf Erden; denn nur die Seelen jener Männer, welche nicht den »Strohtod« des Siechtums oder Alters in ihren Betten, sondern den freudigen Schlachtentod gestorben sind auf blutiger Wal, nur diese werden von den Walküren nach Walhall getragen und nur diese, die Einheriar, kämpfen an der Seite der Götter gegen die Riesen; jedes Schlachtfeld liefert also dem König der Götter eine Verstärkung seiner Heerscharen.

Auch dieser Zug Wotans hat in der deutschen Geschichte, im deutschen Volkswesen seine Spiegelung gefunden.

Denn jene friedfertige Gutmütigkeit der Kraft, welche Donar und Dietrich von Bern eignet, ist doch keineswegs ausschliessend und zu allen Zeiten, wie in den tieferen Schichten des Volks, auch in seinen Leitern und Führern massgebend gewesen. Sie konnte es nicht sein in dem harten Kampf ums das Dasein, den seit bald zwei Jahrtausenden das Germanentum gegen Kelten und Romanen, Slaven und Mongolen, Türken und Tataren zu führen hatte. Mit solch treuherziger Friedfertigkeit allein hätten die Germanenvölker trotz Donars Hammer und seiner Kraft vor den bald an Bildung, bald an Zahl unermesslich überlegenen Feinden nicht bestehen können und wären nicht im Lauf der Jahrhunderte siegreich von Asien quer durch ganz Europa nach Spanien, Süditalien und Afrika und in die neuentdeckten Erdteile vorgedrungen, hätten Rom, Byzanz und Paris überwunden und den ehernen Fuss auf den Nacken des Slaventums gesetzt. Da hat es denn von Anbeginn – danken wir Wotan dafür! – dem germanischen Stamm auch nicht an grossen, kühnen und listigen Staatsmännern und Fürsten gefehlt, welche mit überlegener Staatskunst die Geschicke der Völker in Frieden und Krieg zu ihren geheimen und rettenden Zielen gesteuert. Schon jener Cheruskerfürst Armin, dessen dämonische Gestalt im Eingangstor unsrer Geschichte steht, war in staatskluger Arglist kaum minder gross als an Tapferkeit. Die Not der Völkerwanderung hat dann manchen ränkekundigen Fürsten erzogen, welcher byzantinischer Schlauheit mehr als gewachsen war; und bei dem Bild eines unter ihnen, des gefürchteten Meerkönigs Geiserich, des Vandalen, der aus seinem Hafen zu Karthago sein Raubschiff vom Ungefähr, vom Winde, treiben lässt gegen die Völker, »welchen der Himmel zürnt«, scheint die Heldensage geradezu Züge aus dem Wesen Wotans entlehnt zu haben; wie er verschlossen, wortkarg, höchst geschickt gewesen, unter die Fürsten und Völker den »Samen der Zwietracht zu streuen«, er, der arglistigste aller Menschen. Geschweigen wir Theoderichs und Karls, der Grossen, und gedenken sofort jener gewaltigen staufischen Kaiser, Heinrich VI. und Friedrich II., welche über Päpste, Könige und Völker hinweg ihre grossartige, oft vielfach verschlungene Staatskunst mit den Zielen: Rom, Byzanz, Jerusalem verfolgten; erinnern wir uns jenes preussischen Friedrich, von dessen Staatskunst man das über Geiserich gesprochene Lob wiederholen mag: – »er war früher mit der Tat fertig als seine Feinde mit dem Entschluss« – und erwägen wir die Werke überlegener Staats- und Siegeskunst, welche wir, von göttergesendetem, durch den »Wunschgott« geschenktem Glück getragen, im letzten Kriege mit Frankreich (1870) mit staunenden Augen die deutsche Volkskraft leiten sahen; – gedenken wir Bismarcks – und es überschauert uns ein Ahnen von dem aus der Grundtiefe germanischer Art geschöpften Wesen Odins, des staatsklugen, völkerleitenden Meisters des Sieges.

Nachdem aus der Naturgrundlage und aus der Geistesart Odins im bisherigen die wichtigsten Folgerungen abgeleitet sind in grossen allgemeinen Zügen, haben wir darzustellen, was im übrigen und im einzelnen zu seinem Bilde gehört.

Die reiche Fülle seiner Verrichtungen, Aufgaben und Wirkungen fiel schon der Urzeit auf, die ihn verehrte; diese Mannigfaltigkeit drückt sich in der grossen Menge von Namen aus, deren er sich erfreut (gegen zweihundert, in der Edda allein fünfundsiebzig), auch hierin ist ihm kein andrer Gott vergleichbar; ja die Germanen lassen ihn selbst sich dessen berühmen: »Eines Namens genügte mir nie, seit ich unter die Götter fuhr«, und er zählt nun zahlreiche Beinamen auf, welche er bei bestimmten Gelegenheiten, Fahrten, Abenteuern führte; leider ist unsre Überlieferung so stückhaft, dass wir von diesen Begebenheiten nirgends sonst etwas erfahren! –

Der Wind beherrscht auch das Wasser; so tritt Odin auch als Wassergott auf, als »Hnikar« (vgl. der Neck, die Nixe); er allein gibt als Windgott günstigen Wind, »Fahrwind«, den Schiffern; er wandelt auf den Wellen, beschwichtigt sie, gibt dem Schiff, in das er, verkleidet, sich aufnehmen lässt, glückliche Fahrt; so wird er denn auch, wie der Luftgott Hermes-Merkur (mit welchem ihn die Römer verwechselten), ein Gott der Kaufleute, der Schiffs-Frachten.