Gerrit aus Neukölln - Manfred Rehor - E-Book

Gerrit aus Neukölln E-Book

Manfred Rehor

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Beschreibung

Was macht ein Jugendlicher wie der sechzehnjährige Gerrit im Kiez von Berlin-Neukölln, wenn er dringend Geld braucht? Er verdient es sich durch kleine Gaunereien, zum Beispiel den Verkauf von geklauter Unterhaltungselektronik. Die Ware liefert ihm eine Jugendbande. Dumm gelaufen, wenn einem diese Hehlerware dann selbst geklaut wird und man den Schaden dem Anführer der Bande bezahlen muss. Und dann lässt sich die eigene Mutter auch noch mit einem Polizisten ein, der glaubt, einen erziehen zu können! Was für ein Glück, wenn da der lange verschwundene Vater wieder auftaucht. Pech, wenn dieser Vater ein gesuchter Verbrecher ist!

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Table of Contents

Title Page

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Gerrit aus Neukölln

Kriminalroman

von M. E Rehor

Imprint

„Gerrit aus Neukölln“ von M. E. Rehor

Copyright 2011 - Text und Titelbild - M. E. Rehor

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-1016-3

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http://tinyurl.com/merehor

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Die Personen und Begebenheiten in diesem Buch sind der Phantasie des Autors entsprungen. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig.

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Kapitel 1

Gerrit fühlte es: Jemand beobachtete ihn! Er drückte sich in einen Hauseingang und hielt den Atem an. Nichts! Auf der leeren Straße waren keine Schritte zu hören. Ein vorsichtiger Blick bestätigte das: Niemand zu sehen. Die Straßenlaternen beleuchteten nur parkende Autos. Er zuckte zusammen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Aber es war nur eine Katze, die unter ein Auto schlich.

Gerrit verließ den Schutz des Hauseingangs. Langsam ging er auf dem Gehsteig weiter, immer bereit, bei einem ungewöhnlichen Geräusch loszurennen. Aber es blieb still. Nach ein paar Schritten drehte er sich schnell um und starrte die dunkle Straße entlang. Nichts. Niemand.

Seit zwei Nächten litt er unter der Vorstellung, beobachtet zu werden. Statt zügig seine Ware unter die Leute zu bringen, hielt er nach Verfolgern Ausschau. Verfolger, die es nicht gab. Das konnte so nicht weitergehen. Er musste sich wieder mehr um das Geschäft kümmern. Schließlich brauchte sein Vater das Geld.

Für heute hatte er sich den Kiez östlich der Hermannstraße in Berlin-Neukölln vorgenommen. Keine einträgliche Gegend, aber eine, in der man ihn noch nicht kannte. Leider war er bisher kaum etwas von der Hehlerware in seiner Sporttasche losgeworden. Worauf er hoffte, waren ein paar Gleichaltrige auf dem Heimweg von der Disko. Oder ein junges Liebespaar, das sich gegenseitig beschenken wollte.

Nach Mitternacht war es hier ziemlich öde. Hätte er in den letzten Tagen guten Umsatz gemacht, wäre Gerrit jetzt nach Hause gegangen. So aber trieb er sich an, weiterzumachen. Vielleicht ließ sich ja in den Kneipen und Bars in der Umgebung noch etwas verhökern.

Noch einmal lauschte er vergeblich nach verdächtigen Geräuschen. So still und menschenleer war es hier im Kiez tagsüber nie. Er entspannte sich. Die Luft war kühl, der Alltag und der Ärger waren weit weg. In solchen Momenten fühlte er sich wie der Herrscher der Stadt. Er konnte tun und lassen, was er wollte, nichts konnte ihn aufhalten. Alle Menschen schliefen - bis auf ein paar Dumme, denen er noch in dieser Nacht ihr Geld abknöpfen würde.

Die nächste Querstraße sah vielversprechend aus. Gerrit ging zur ersten Kneipe, aber die Tür war bereits verschlossen. Er drehte sich um - und entdeckte sie: drei Schatten, die sich schräg gegenüber hinter einen geparkten Wagen duckten. Gerrit holte tief Luft, packte seine Sporttasche fester und spurtete los.

Für Sekunden hoffte er, es wäre wieder nur eine Einbildung. Dann hörte er sie. Sie rannten hinter ihm her. Zu gerne hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wer ihm da auf den Fersen war. Aber das hätte ihn seinen Vorsprung gekostet. Auch so schrumpfte der immer weiter. Gerrit raste die Straße hinunter. Er suchte nach einer Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen.

Ein rot beleuchtetes Fenster tauchte weiter vorne auf, darüber das Reklameschild einer Biermarke. Wenn die Bar noch geöffnet hatte, war sie seine Rettung. Gerrit rannte darauf zu, riss die Metalltür auf und stolperte in die Bar.

Schummriges Licht, ein muffiger Geruch nach aufdringlichem Parfüm und leise Musik empfingen ihn. Auf Barhockern saßen drei stark geschminkte Frauen, die ihn erstaunt ansahen.

„N‘ Abend!“, sagte Gerrit und drehte sich um. Die Metalltür hatte in der oberen Hälfte ein Guckloch. Gerrit stellte sich auf die Zehenspitzen und sah durch. Er überblickte, perspektivisch verzerrt, einen großen Teil der Straße. Sie war leer.

Während Gerrit noch überlegte, wo seine Verfolger sein könnten, wurde die Musik abgestellt. Jemand umfasste ihn von hinten und drückte heftig zu. Gerrit konnte seine Arme nicht mehr bewegen. Er wurde hochgehoben, als wäre er ein Stoffbündel. Am liebsten hätte er vor Schmerz und Schreck laut geschrien. Aber sein Stolz war stärker. Er keuchte nur: „Loslassen!“

„Was suchst du hier, Kleiner?“, fragte ihn eine hohe Männerstimme.

„Nichts. Ich bin versehentlich hereingekommen.“

„Versehentlich gibt‘s bei uns nicht: Kunde oder Keile! Entscheide dich.“

Die Frauen am Tresen kicherten. „Süßer, lass mal sehen, wie viel Taschengeld du für uns zusammengespart hast“, rief eine zu ihm herüber.

„Also?“, fragte die Männerstimme und der Arm drückte fester zu.

„Ich arbeite für Ahmed“, presste Gerrit heraus. Erleichtert spürte er, wie der Druck nachließ. Der Arm gab ihn frei.

„Ahmed, wa? Kann jeder sagen. Lass dich mal ansehen.“

Mit einem Ruck wurde Gerrit herumgedreht. Hinter ihm stand ein zwei Meter langer Kerl mit hellen Lockenhaaren. Er trug eine schwere Goldkette um den Hals und hatte viel zu breite Schultern. In der Linken hielt er lässig eine Zigarette.

Der Mann grinste, schnippte die Zigarette in eine Ecke des Raumes und griff nach Gerrits Sporttasche. Widerwillig ließ Gerrit die Tasche los. Der Zuhälter warf einen Blick hinein, prustete abschätzig und gab sie ihm zurück. „Stimmt. Sieht aus, als wärst du einer aus seinem Kindergarten. Wie alt bist du?“

„Sechzehn.“ Gerrit ärgerte sich schon lange nicht mehr über solche Fragen. Weil er klein und schmal gebaut war, wurde er meist jünger geschätzt.

„Mit sechzehn hast du hier erst recht noch nichts zu suchen. Verschwinde! Hehlerware kann uns das Geschäft verderben. Sag Ahmed, ich will sein Kroppzeug hier nicht mehr sehen, verstanden?“

„Ja, klar. Mache ich.“ Gerrits Gedanken rasten. Er wollte nicht jetzt schon wieder hinaus auf die Straße, wo er vermutlich erwartet wurde. Sollte er den Zuhälter nach einem Hinterausgang fragen? Aber das hätte nur Gegenfragen provoziert.

„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte ein zweiter Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

„Gerrit.“ Irgendwie kam der Mann ihm bekannt vor, ein hagerer, südländischer Typ. Aber Gerrit fiel nicht ein, wo er ihn schon mal gesehen hatte.

„Und? Wie weiter?“

„Gerrit Klein.“

„Dachte ich mir. Du bist der Sohn von Jürgen, stimmt‘s?“

„Genau“, gab Gerrit zu.

„Ich bin Giorgio. Falls dein Alter noch in Thailand ist, grüß ihn von mir. Er soll mich mal anrufen.“

„Worum geht es denn?“, wollte Gerrit wissen. Nur wenige Leute redeten über seinen Vater und wenn, dann meist nicht sehr nett.

„Frag nicht, tu‘s einfach. Und jetzt hau ab.“

„Tschüs, Süßer. Besuch uns mal wieder“, riefen ihm die Frauen nach, als er die Bar verließ.

Die Metalltür schloss sich mit einem lauten Knall hinter ihm.

Gerrit stand alleine auf dem Gehsteig und war bereit, zu rennen oder zu kämpfen. Wo waren seine Gegner?

Endlose Minuten blieb er vor der Bar stehen. Er starrte auf die dunklen Stellen zwischen den geparkten Autos und in den Hauseingängen auf der anderen Straßenseite. Niemand ließ sich blicken. Erst, als ein Taxi vor ihm hielt, kam wieder Leben in ihn. Zwei Betrunkene stiegen aus, die sich gegenseitig stützten. Sie wollten in die Bar. Gerrit ging langsam weiter.

Es war bereits heller Vormittag in Thailand. Die Hauptstadt Bangkok quoll über von Einheimischen und Touristen. Trotz der drückenden Schwüle waren viele Menschen unterwegs. Es gab Viertel, in denen fast nur männliche Touristen auf den Straßen waren. Jeder von ihnen auf der Suche nach dem Abenteuer, für das er die teure Reise gebucht hatte. Manche gingen verschämt und mieden die Blicke der Passanten, andere stolzierten aufrecht und überheblich. Bar reihte sich an Bar. Wenn Polizisten zu sehen waren, so taten sie, als würden sie den Straßenstrich nicht bemerken.

Jürgen Klein schlenderte durch dieses Viertel, als wäre er hier zu Hause. Manchmal nickte er einem Touristen zu, den er vom Sehen kannte. Dann wich er einer Gruppe angetrunkener Männer aus, die nach einer durchfeierten Nacht auf dem Weg zurück in ihr Hotel waren.

Dass er nicht wirklich hierher gehörte, zeigte sich, als er vor einem Lokal stehenblieb. Prompt wurde er von den davor wartenden Mädchen angemacht, als wäre er irgendein Tourist. Er vertrieb sie mit einem thailändischen Schimpfwort, von dem er selbst nicht wusste, was es eigentlich bedeutete.

Eine Polizeistreife kam die Straße entlang. Jürgen tat, als würde er die Fotos in den Aushängen der Bar studieren. Dabei drehte er sich weg, damit die Polizisten sein Gesicht nicht sahen. Erst, als sie vorübergegangen waren, ohne ihn zu beachten, betrat er ein rötlich erleuchtetes Etablissement im Nachbarhaus.

Es befanden sich keine Gäste in der Bar. Die letzten der Nacht waren wohl gerade weg, die ersten des Vormittags noch nicht erschienen. Solche Bars kannten keine Tageszeiten. Hier war man immer bereit, die Wünsche der ausländischen Kunden zu erfüllen. Die Musik spielte in akzeptabler Lautstärke, so dass Gespräche möglich waren. Mädchen saßen in kleinen Gruppen an den Tischen. Sie unterhielten sich und sahen auf, als Jürgen hereinkam, weil sie einen Freier erwarteten. Kaum erkannten sie, wer gekommen war, wandten sie sich wieder ab.

Jürgen schlenderte zum Tresen, von wo ein thailändischer Zuhälter ihm entgegen sah. Mit jedem Schritt wurde Jürgen nervöser. Aber er konnte dieses Gespräch nicht länger aufschieben, wenn ihm sein Leben lieb war. Die Gepflogenheiten in der hiesigen Halbwelt waren um einiges härter, als er es aus Berlin gewohnt war. Mehr als einmal war sein Leben während der ersten Monate in Gefahr gewesen. Es hatte lange gedauert, bis er hier Fuß gefasst hatte. Immerhin, der Lerneffekt war enorm. Seit einigen Jahren schaffte er es, sich Ärger weitgehend vom Hals zu halten.

„Hi. Äh, hallo. Here am I“, begann er zögernd. In solchen Momenten verfluchte er seine Unfähigkeit, fremde Sprachen zu erlernen. Sein Englisch bestand aus wenigen Worten und sein Thailändisch reichte nur zum Fluchen und zum Bestellen von Bier. Er begann zu schwitzen.

„You have money?“, wollte der Zuhälter in ebenso schlechtem Englisch wissen.

„No. I have not. Aber bald. Soon.“

„No good.“ Der Zuhälter gab seine lässige Haltung auf und stellte sich gerade hin. Er war klein, wie die meisten Thailänder, wirkte aber so bedrohlich wie eine gereizte Bulldogge.

„Six weeks.“ Jürgen wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah, wie sich die Miene des Mannes verdüsterte. „Okay. Five weeks. Mein Sohn schickt mir ... Äh, I become it from my son, Gerrit. Aus Deutschland. Er wird mich nicht im Stich lassen, garantiert. He has the money, in Germany. Berlin, you understand?“

Der Zuhälter war von diesem Versprechen, wenn er es überhaupt verstand, nicht beeindruckt. Er zeigte zwei Finger seiner rechten Hand. Die Fingerkuppen fehlten. „Two weeks.“

„Aber ... but ... you know that I am new in this business ...“

Ohne Vorwarnung rammte der Zuhälter Gerrits Vater die Faust in den Bauch.

Jürgen Klein taumelte zurück, würgte und richtete sich unter Schmerzen wieder ein wenig auf. „Okay, two weeks“, stammelte er. Der Zuhälter zeigte zur Tür. Jürgen verließ zusammengekrümmt mit unsicheren Schritten die Bar.

Durch die Straßen schleppte er sich zurück zu seinem Hotel. Um die Passanten kümmerte er sich nicht. Die sahen in ihm vermutlich nur einen weiteren betrunkenen Touristen. Als er in bessere Viertel kam, begegnete er einer Gruppe gutgekleideter Deutscher. Sie sahen aus wie Lehrerehepaare auf einer Studienreise. Er hörte, wie sie sich empört über ihn äußerten. Solche Leute ruinieren den Ruf der Europäer in dieser schönen Stadt, sagten sie. Als wären sie selbst mit ihrem neureichen Gehabe nicht ebenso störende Fremdkörper in dieser Kultur.

Nur allmählich ließen der Schmerz und die Übelkeit nach. Jürgen Klein war ein zäher Bursche, so schätzte er sich jedenfalls ein. Deshalb versuchte er, sobald es ging, die Folgen des Tiefschlags zu ignorieren. Er dachte an die Zukunft, die er sich so schön ausgemalt hatte. Nun war sie wegen dieser einen dummen Sache gefährdet.

Es war eine bescheidene Summe, die er dem Zuhälter schuldete. Aber wenn er sie nicht bezahlte, waren seine glänzenden Aussichten hier in Bangkok schon wieder vorüber. Vergleichsweise bescheiden kam ihm diese Summe jedenfalls vor. Denn demnächst, vielleicht in wenigen Monaten schon, würde er ein Vielfaches davon verdienen. Aber so viel Zeit hatte er nicht. Was blieb, war die Hoffnung, Geld aus Deutschland zu bekommen.

Gerrit war jetzt wie alt? - Jürgen rechnete nach und kam so ungefähr auf achtzehn oder neunzehn, aber sicher war er sich nicht. Jedenfalls alt genug, um Geld zu verdienen. Es sollte in Deutschland eine Kleinigkeit sein, die paar tausend Dollar zusammenzubekommen. Jedenfalls redet sich Jürgen das ein. Vor allem, wenn der Junge auch nur ein wenig vom Geschäftssinn seines Vaters geerbt hatte. In Euro war es ja sogar noch weniger, weil der Kurs so gut stand.

Kein Problem also, eigentlich. Hoffentlich parierte Gerrit. Schließlich hatte Jürgen ihm regelmäßig Briefe geschrieben, um ihn sich warmzuhalten. Als Rückversicherung für genau solche Fälle.

Als Jürgen Klein sein schmuddeliges Hotel erreichte, war er schon wieder zuversichtlich. Würde schon alles klappen, hatte ja immer geklappt!

Gerrit fühlte sich wieder sicher, nachdem er eine Weile unbehelligt geblieben war. Unten an der nächsten Kreuzung entdeckte er noch eine Kneipe. Neuköllner Eck nannte sie sich. Sie unterschied sich von außen nicht von allen anderen Kneipen in den einfachen Wohnbezirken Berlins. Trotzdem war Vorsicht angebracht, wie das Erlebnis in dem Nachtklub eben wieder gezeigt hatte. In einer Studentenkneipe musste man anders vorgehen, als in einer normalen Kiezkneipe. Und wenn man als Sechzehnjähriger nachts eine Schwulenbar betrat, dann war es besser, man war darauf vorbereitet.

Gerrit öffnete die Kneipentür nur einen Spalt weit und warf einen Blick in den Schankraum. Schlechte Luft, gesättigt von Zigarettenqualm, kam ihm entgegen. Eine Stereoanlage spielte Volksmusik. Nur noch an wenigen Tischen saßen Gäste. Es waren ältere Männer, von denen vermutlich keiner mehr nüchtern war. Einige brüteten schweigend über ihr Glas Bier gebeugt vor sich hin. Andere stritten lautstark über Skatregeln.

Nicht die Kundschaft, die Gerrit suchte, aber er durfte nicht wählerisch sein. Er drückte die Tür ganz auf und ging hinein.

Der kahlköpfige Wirt spülte Gläser. Er machte ein grimmiges Gesicht, sagte aber nichts. Gerrit würde ihn im Auge behalten. Nun galt es herauszufinden, was hier am einfachsten loszuschlagen war: ein Handy, eine Digitalkamera, ein MP3-Player oder etwas Anderes.

An einem Ecktisch saßen zwei Männer und redeten über Fußball. Einer rauchte und trank Bier. Der andere hatte drei leere Schnapsgläser und ein volles vor sich stehen. Gerrit ging zu ihrem Tisch und hörte zu.

„... und dann das Tor, wa!“

„Hertha ist für mich die Nummer eins.“

„Wollja. Immer gewesen. Prost.“

Das waren ideale Opfer: betrunken, gut gelaunt, gelangweilt. Sie diskutierten weiter über das letzte Spiel, das Hertha BSC mit viel Glück für sich entscheiden konnte. Gerrit hatte in seiner Sporttasche genau das Richtige für sie. Aber nun galt es, sich keinesfalls aufzudrängen. Also blieb er einfach wie absichtslos in ihrer Nähe stehen.

Es dauerte eine Weile, bis die Männer ihn bemerkten. „Wat willste denn, Kleiner?“

„Ich bin auch Hertha-Fan“, behauptete Gerrit. Stimmte zwar nicht, aber wer verkaufen will, muss seinen Kunden nach dem Mund reden. Das hatte er schnell gelernt auf seinen nächtlichen Touren.

„Recht so. Ist aber kein Grund, hier Wurzeln zu schlagen.“

„Ich habe da ein Problem: Weil ich Geld brauche, muss ich mein Handy verkaufen.“ Gerrit öffnete seine Tasche. Hoffentlich achteten die Männer nicht auf das Bayern-München-Logo, das auf ihr prangte. Er nahm ein Handy heraus, das eine Oberschale in den Vereinsfarben von Hertha BSC hatte. „Toll, was?“

„Geiles Teil“, gab der Biertrinker zu. „Soll‘n das kosten?“

„Achtzig. Sind noch zehn Euro Guthaben drauf.“

„Achtzig? Da müsste ich ja erst einen Kredit beantragen.“

Sein Kumpel trank das Schnapsglas leer und mischte sich ein: „Vorsicht, das riecht nach Betrug! Ist das wirklich dein Handy, Junge?“

„Ich schwöre!“ Auch das gehörte zum Geschäft. Ein Schwur wirkte besonders bei Ausländern, aber auch Deutsche nahmen einen dann ernster. Gerrit schaltete das Handy ein und hielt es dem Biertrinker hin.

Die Skatspieler am Nachbartisch hatten ihren Streit beigelegt und sich auf einen Gewinner geeinigt. Sie standen auf und kamen heran, um zu sehen, was los war.

Der Biertrinker nahm das Gerät und drehte es unschlüssig hin und her. „Eigentlich habe ich schon ein Handy“, sagte er.

„Probieren Sie es doch mal aus“, ermunterte ihn Gerrit. „Vielleicht können Sie jemanden ärgern, wenn Sie ihn jetzt in der Nacht anrufen.“

„Jau! Ich weiß, was ich mache!“, rief der Mann und sein Gesicht leuchtete auf. „Ich rufe meine Alte an, die schläft bestimmt schon.“ Er tippte eine Nummer ein und wartete. Dann säuselte er mit verstellter Stimme ins Handy: „Guten Abend, gnädige Frau. Ich würde gerne Ihren Herrn Gemahl sprechen. ... Wie bitte?“ Er schaltete das Handy ab, bevor er mit normaler Stimme fortfuhr: „Sie sagt, ich sei saufen, und ich soll morgen wieder anrufen.“

Die ganze Runde lachte. Gerrit lachte mit, denn bei guter Stimmung war ein Verkaufserfolg fast garantiert.

Der Schnapstrinker griff nach dem Handy. „Mal sehen, was meine Olle sagt.“ Er wählte und wartete. Offenbar meldete sich seine Frau nicht.

„Ja, wo isse denn?“, lästerte einer der Skatspieler. „Sitzt wohl nicht zu Hause und wartet auf Männe, wa?“

Das Gelächter der Männer dröhnte durch die Kneipe, dass Gerrit die Ohren schmerzten.

Ein paar Minuten später war das Geschäft besiegelt. Der Biertrinker zählte drei Zehn-Euro-Scheine auf den Tisch. Der Schnapstrinker legte einen Zwanziger drauf. „Fünfzig. Mehr wird es nicht“, sagte er.

„Geht in Ordnung.“ Schnell griff sich Gerrit das Geld und steckte es in seine Sporttasche. „Schönen Abend noch.“

Er warf noch einmal dem Wirt einen Blick zu. Der spülte weiter Gläser und interessierte sich nicht für ihn. Vermutlich war es dem gerade Recht, seine Gäste in guter Laune noch eine Weile hier zu behalten. Das ginge nicht, wenn er sie vor der Hehlerware warnte oder gar die Polizei rief.

Draußen auf der Straße sah Gerrit sich um. Niemand in der Nähe. Wahrscheinlich hatten die Verfolger aufgegeben. Umso besser. Das eben in der Kneipe war so gut gelaufen, da konnte er jetzt nicht aufhören. Am nächsten Straßeneck, zweihundert Meter weiter, war wieder ein Lokal. Gerrit machte sich auf den Weg.

Das Schild neben dem Eingang verhieß Dart, Billard und Sportfernsehen. Es war vermutlich wieder eine ganz normale Eckkneipe. Gerrit rüttelte an der Tür. Verschlossen. Enttäuscht wandte er sich ab - und sah drei Jugendliche vor sich stehen, etwas älter als er. Seine Verfolger hatten ihm hier aufgelauert. Sie hatten ihn dabei beobachtet, wie er von Kneipe zu Kneipe zog. Also verfolgten sie ihn nicht weiter, sondern passten ihn hier ab.

Gerrit verschwendete keine Zeit mit Fragen. Er gab dem ihm nächststehenden Jungen einen Stoß und rannte an ihm vorbei. Gerrit war sich seiner Vorteile bewusst: Er war klein, leicht und vom Typ her ein Sprinter.

Aber er hatte die Tasche bei sich, die ihn behinderte, und er war morgens um drei nicht mehr topfit. Als sich jemand von hinten gegen ihn warf, wusste er, dass er verloren hatte, und ließ sich fallen. Er war unbewaffnet, aus Prinzip und weil er sich vor Waffen fürchtete. Blieb nur die Frage, ob seine Gegner das respektierten.

Die Jungs gingen schnell und geschickt vor. Zwei knieten sich auf Gerrit und drückten ihn auf den Asphalt, was ihm höllisch weh tat. Der dritte öffnete die Sporttasche. Das Gesicht dieses Jungen konnte Gerrit nicht erkennen. Es war unter einem Schal oder Tuch versteckt.

„Ist noch etwas drin“, stellte dieser Junge fest. Seine Stimme hatte einen Akzent, den Gerrit nicht zuordnen konnte. „Sogar Geld. Macht ihn fertig.“

„Sollen wir nicht erst herausbekommen, wer er ist?“, wollte einer von denen wissen, die Gerrit am Boden hielten.

„Uninteressant“, sagte der Anführer.

Gerrit bekam von ihm einen Tritt in die Seite. Eigentlich konnte er jetzt nur noch um die Gnade seiner Gegner bitten. Doch dieses eine Wort „uninteressant“ schmerzte ihn mehr als die Tritte und Schläge. Überfallen und ausgeraubt zu werden - okay, das konnte passieren. Aber dann als uninteressant eingestuft zu werden, das ging so nicht hin.

Verbissen versuchte er, sich aus den Griffen seiner Feinde zu entwinden. Zunächst ohne Erfolg. Sie begannen, zu dritt auf ihn einzuprügeln. Aber wenn sie glaubten, ihr Opfer sei jetzt schon wehrlos, dann irrten sie sich. Gerrit kämpfte weiter - und er kämpfte unfair. Er biss den einen in die Wade und stieß dem anderen den Fuß in den Bauch. Schon sah die Lage anders aus.

Als es ihm dann noch gelang, dem Anführer eins auf die Nase zu geben, stieß Gerrit ein triumphierendes Geheul aus. Der Anführer sprang aufschreiend zurück. Ein Blutfleck erschien auf dem Tuch vor seinem Gesicht. Gerrit war plötzlich frei. Er schnellte hoch und machte sich bereit, den Dreien eine Lektion zu erteilen.

Doch im nächsten Moment blendeten ihn die Scheinwerfer eines Autos. Seine Gegner nutzten den Sekundenbruchteil, in dem er deswegen irritiert war. Sie brachten ihn wieder zu Fall. Ein paar Fußtritte, dann ließen sie von ihm ab und rannten mit seiner Tasche davon.

Direkt neben Gerrit hielt der Wagen. Ein Mann stieg aus.

Gerrit war kotzübel, er bekam kaum noch Luft. War das ein neuer Gegner? Er sah ein Paar blank polierte Schuhe auf sich zukommen. Mühsam stemmte er sich hoch. Er sah eine Uniformhose, die stämmige Figur eines Polizeibeamten und schließlich dessen Gesicht.

„Scheiße!“, stöhnte Gerrit. „Verpiss dich, Mickey.“

Kapitel 2

Gerrit wehrte sich nicht, als er von Mickey gepackt und in den Streifenwagen gedrängt wurde.

Mickey nahm keine Rücksicht auf Gerrits Verletzungen. Er fragte auch nicht, wie es ihm ging. Stattdessen hielt er ihm während der Fahrt einen Vortrag. Und zwar über junge Dummköpfe, die sich nicht ihrer Haut wehren können.

Das schmerzte Gerrit mehr als seine Prellungen, aber er hielt eisern den Mund. Das Einzige, was Mickey wirklich ärgern konnte, war, wenn man so tat, als sei er gar nicht da. Gerrit nahm sich vor, das bis auf weiteres durchzuhalten.

Mickey fuhr direkt zur Polizeiwache. Damit hatte Gerrit nicht gerechnet. Welche Gemeinheit hatte der Kerl sich nun wieder ausgedacht?

Der große alte Steinbau, der aussah wie eine Festung, wirkte jetzt in der Nacht noch düsterer als tagsüber. Gerrit musste aussteigen und die geschwungene Treppe hoch zu den Büros gehen. Mickey blieb dabei immer hinter ihm, vielleicht um zu verhindern, dass er abhaute.

„Was ist denn das für einer?“, wurden Gerrit und Mickey von einem älteren Beamten begrüßt. Der Mann saß an einem schäbigen Schreibtisch und schälte mit seinem Taschenmesser einen Apfel. Hinter ihm blubberte die Kaffeemaschine.

„Werden wir herausfinden“, antwortete Mickey.

Gerrit wunderte sich immer mehr über Mickeys Verhalten. Alles ging ganz professionell zu. Vermutlich wie bei jedem beliebigen Typen, der von der Polizei aufgegriffen wurde. Allerdings hatte Gerrit bisher keine Erfahrung mit solchen Prozeduren. Es wurde ein Protokoll aufgenommen, mit Personendaten und allem Drum und Dran.

Lange konnte Gerrit sein Schweigen nicht durchhalten. Zwar redete er nicht mit Mickey, aber dessen Kollegen musste er notgedrungen antworten. Gerrit stellte als Erstes klar, dass er das Opfer war. Er wollte gefälligst nicht wie ein Verbrecher behandelt werden. Unbekannte hätten ihn überfallen. „Nein, gestohlen wurde mir nichts“, log er.

„Und? Was weiter?“, wollte der ältere Beamte wissen.

„Nichts weiter“, beharrte Gerrit. „Kann ich jetzt nach Hause gehen?“

„Noch nicht. Es wurde also ein beabsichtigter Diebstahl durch das besonnene Eingreifen von Kriminalhauptmeister Michael Schmidt verhindert“, sagte der Beamte, während er das so aufschrieb.

Gerrit biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Er war nicht bereit, Mickey hier als Helden ins Protokoll aufnehmen zu lassen.

„War wohl so“, antwortete Mickey an seiner Stelle. Er gab Gerrit einen Knuff in die Seite. Genau dorthin, wo vorhin der Schuh eines der Angreifer getroffen hatte.

Das Zusammenzucken von Gerrit verstand der Protokoll führende Polizist als Nicken. „Schön, wäre das festgehalten. Weiter. Sie haben wirklich keinen der drei Täter gut genug gesehen, um ihn beschreiben zu können?“

Quälende zwei Stunden zog sich die Prozedur hin. Weitere Beamte kamen dazu, die offenbar froh waren über die Unterbrechung ihrer langweiligen Nachtschicht. Immer neue Fragen dachten sie sich aus, als wollten sie gar nicht mehr damit aufhören. Gerrit antwortete nur ausweichend. Mickey mischte sich kaum ein.

Am frühen Morgen endete die Befragung. Obwohl er todmüde war, fiel Gerrit eine Besonderheit auf: Es war nirgends im Protokoll eine private Beziehung zwischen Mickey und ihm erkennbar. War das Absicht von Mickey? Schämte er sich für ihn? Falls ja, dann um so besser!

Nachdem Gerrit das Protokoll unterschrieben hatte, stand er auf und wollte gehen.

Ein Polizist hielt ihn zurück. „Wir werden am besten Ihre Eltern informieren. Die können Sie dann von hier abholen“, sagte er. „Die werden sich schon Sorgen machen.“

Gerrit lehnte das ab und sagte, er könne zu Fuß nach Hause gehen.

Das wiederum passte Mickey nicht, er hatte Anderes vor. Ganz in der Pose des fürsorglichen Beamten sagte er: „Ich werde den Jungen nach Hause bringen. Da kann ich dann seiner Mutter gleich erklären, was passiert ist und sie beruhigen.“

„Gute Idee“, meinten seine Kollegen.

Gerrit war anderer Meinung. Aber er sagte nichts, sondern ging mit verkniffenem Gesicht neben Mickey hinaus auf die Straße. Jetzt hätte er abhauen können, aber das wäre natürlich sinnlos gewesen. Er stieg in den Wagen und ließ sich nach Hause kutschieren.

Die Peinlichkeiten fanden noch kein Ende. Mickey hielt Gerrit fest an der Schulter gepackt, als er ihn aus dem Aufzug heraus vor die Wohnungstür schob. „Dorthin!“, forderte er, als müsste er einem Gefangenen erklären, wo es lang geht. Er blieb hinter Gerrit stehen, streckte den Arm an ihm vorbei und drückte den Klingelknopf: zweimal kurz, einmal lang.

Gerrit wusste genau, wie jetzt drinnen seine Mutter mit strahlendem Lächeln aufsprang und zur Tür rannte. Und schon ging die Tür auf und sie stand im hellgrünen Morgenmantel vor ihnen.

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie ihren Sohn von oben bis unten musterte. „Gerrit! Wo hast du die Schrammen her? Was hast du diesmal angestellt?“, jammerte sie.

„Hallo, Mama.“

Mickey langte über ihn hinweg, zog Rosa zu sich und küsste sie. „Guten Morgen, Schatz“, sagte er. „Ich habe ihn auf der Straße gefunden. Er hat sich mal wieder geprügelt.“

In seinem Hotelzimmer in Bangkok wurde Jürgen Klein durch heftiges Klopfen an der Tür geweckt. Er schlief häufig tagsüber, weil es dann in der Stadt zu drückend war, um viel zu unternehmen. Schlaftrunken stand er auf und tappte die paar Schritte zur Tür hinüber. Er streckte die Hand aus, um sie zu öffnen. Da fiel ihm ein, dass er endlich lernen sollte, vorsichtiger zu sein.

„Wer ist da?“, fragte er und stellte sich neben die Tür, um aus der Schusslinie zu sein.

„Siripanya Rayankoon.“

Von außen wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Der Besitzer des Hotels stand vor Jürgen. Der Mann war klein, hatte aber einen großen Kopf. Sein Gebiss sah aus, als könne er Stahlträger damit zerteilen. Willkommene Gäste strahlte er damit an. Weniger willkommene fühlten sich aber eher an ein Raubtier mit gefletschten Lefzen erinnert.

„Kommen Sie herein“, sagte Gerrits Vater, obwohl das überflüssig war.

Rayankoon inspizierte bereits das Zimmer. Was auch immer der Hotelbesitzer suchen mochte, er fand es nicht. Also wandte er sich an Jürgen und herrschte ihn an: „Wann bezahlen Sie?“

Rayankoon hatte lange in Deutschland als Koch gearbeitet und sprach recht flüssig Deutsch. Das war der Hauptgrund, warum Jürgen sich hier eingemietet hatte. Eine Wohnung irgendwo in einem Randbezirk von Bangkok wäre billiger gewesen. Aber mit seinen geringen Sprachkenntnissen war er dort verloren. Er war auf jemanden angewiesen, der ihn verstand. Leider überstiegen die Kosten eines Hotelzimmers auf Dauer seine finanziellen Möglichkeiten.

„Das Geld kommt in den nächsten Tagen“, behauptete Jürgen möglichst zuversichtlich. „Mein Sohn überweist es. Sie wissen ja, Gerrit aus Berlin. Hat einen tollen Job dort und unterstützt mich, bis meine Geschäfte hier besser laufen.“ Diese Versprechungen hatte er dem Thailänder schon oft gemacht. Manchmal kam auch etwas von Gerrit. Dann wurde ein Teil der Schulden abgetragen, um nicht aus dem Hotel zu fliegen.

Rayankoon nickte. „Acht Wochen sind noch offen. Meine Frau jammert, wenn sie die Buchhaltung macht, weil Sie nicht zahlen. Und mein Hotel verursacht Kosten, Kosten, Kosten. Wenn Sie bis Ende des Monats nicht alles bezahlt haben, müssen Sie ausziehen.“

„Klar, ich habe verstanden“, sagte Jürgen begütigend. „Ich werde meinem Jungen Bescheid sagen. Er soll mir mehr als üblich schicken. Dann regeln wir das. Außerdem sollten Sie eines nicht vergessen: Ein Teil meiner Kunden wohnt in diesem Hotel. Da verdienen Sie doch auch daran.“

„Deutsche sind ehrliche Leute“, behauptete der Thailänder, während er zur Tür ging. „Zahlen immer ihre Rechnung. Nur deshalb lasse ich Sie überhaupt noch hier wohnen.“

„Ja, wir sind zuverlässig und ehrlich, ganz bestimmt. Ich bezahle.“ Jürgen schloss die Tür hinter ihm. Ein Glück, dass der Kerl so sentimental an seine Zeit in Deutschland zurückdachte.

Aber Gerrit wurde langsam zu einem Problem. Warum schickte der Bengel nicht mehr Geld? Jürgen Klein hielt nicht viel von seinem Sohn, dazu kam Gerrit viel zu sehr nach seiner Mutter. Gerrit hat einfach nicht meinen Geschäftssinn, dachte Jürgen. Manchmal hatte er sogar den Verdacht, Gerrit sei gar nicht sein Sohn. Einer so gefühlsduseligen Frau wie Rosa war schließlich auch ein Seitensprung zuzutrauen.

In solchen Situationen wie heute, wenn Jürgen völlig von Gerrit abhängig war, hasste er ihn geradezu. Irgendwann würde er ihn nicht mehr brauchen. Dann würde er ihn genauso eiskalt stehenlassen, wie er es bei Rosa getan hatte. Dieser Typ Mensch war einfach unbrauchbar.

Aber noch benötigte er Gerrits Unterstützung, noch musste er sich den Jungen warmhalten. Deshalb hatte er auch den Brief, der jetzt unterwegs war, mit besonderer Sorgfalt formuliert. Der hatte hoffentlich die gewünschte Wirkung.

Wie ein Gauner in einem Polizistenhaushalt fühlte sich Gerrit, seit Mickey sich an seine Mutter herangemacht hatte. Völlig fehl am Platz also. Und wenn sie sich so ausgiebig abknutschten, dann sowieso. Jetzt galt es, Mickeys Schikanen und dem täglichen Streit beim Frühstück zu entgehen.

Gerrit drängte zwischen den beiden durch in die Wohnung hinein und ging ins Badezimmer. Er zog seine dreckigen Klamotten aus, ließ sie fallen, wo er stand, und wusch sich Hände und Gesicht. Jede Bewegung tat ihm weh, aber damit konnte er sich abfinden.

In der Ecke des Badezimmers lagen Mickeys Kurzhanteln. Gerrit griff danach. Er wollte sich selbst beweisen, dass er trotz der Missgeschicke dieser Nacht ein echter Kerl war. Aber Mickey hatte neue Gewichte aufgeschraubt. Gerrit kippte fast vornüber und musste die Hanteln wieder auf die dicke Matte fallen lassen. Das gab ihm den Rest. Niedergeschlagen verließ er das Bad.

Jetzt schnell ins eigene Zimmer gehen und sich einschließen. Das war eine lächerliche Verhaltensweise, dessen war sich Gerrit bewusst. Als Kind hatte er sich so vor den seltenen Schimpfereien seiner Mutter in Sicherheit gebracht. Und vor ihren viel häufigeren Weinanfällen. Wenn seine Mutter heulte, empfand er das immer auch als Angriff auf sich. So, als hätte ausgerechnet er die Schuld an allem Elend dieser Welt.

Im Flur fing ihn seine Mutter ab. Gerrit spürte natürlich seine Schürfwunden im Gesicht und am Körper und die blauen Flecke. Er hatte sie auch im Spiegel gesehen. Aber nun fielen sie seiner Mutter auf. Sie entdeckte sogar Blut auf seinen Armen.

Sie schrie nur ein Wort: „Mickey!“

Gerrit wollte kehrt machen, aber Rosa hielt ihn fest. Mickey kam, ebenfalls nur in Unterhosen, aus dem Schlafzimmer. Er warf einen abschätzigen Blick auf Gerrit und ließ seine Muskeln spielen, die er reichlich besaß. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, wie er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbrachte. Besonders wenn es um Gerrit ging. „Das sind nur ein paar Kratzer“, behauptete er.

Durch die offene Tür sah er Gerrits Kleider im Bad auf dem Boden liegen. Er hob sie auf und zeigte sie mit gerümpfter Nase Rosa: „Stinken nach Kneipe. Aber wie!“ Er warf sie zielsicher in den Wäschekorb. Dann nahm er mit einer lässigen Bewegung die Kurzhanteln hoch, als wären sie gewichtslos. Er trug sie hinüber ins Schlafzimmer.

Das ärgerte Gerrit so, dass er fassungslos im Flur stehenblieb und die offene Schlafzimmertür anstarrte.

Rosa holte derweil aus dem Arzneischränkchen Jodsalbe und Verbandsmaterial. Sie kniete sich neben Gerrit auf den Boden und begann, ihn wie in kleines Kind mit Pflastern zu bekleben. „Das tut nicht weh“, versicherte sie. „Und jetzt erzähle Mama, was passiert ist.“

„Nichts!“, entgegnete Gerrit. „Ich gehe jetzt schlafen.“

„Keine Chance“, rief Mickey aus dem Schlafzimmer. „Es ist schon nach sechs. Wir machen Frühstück und dann gehst du zu deinem Praktikum. Die werden staunen, wenn du mal morgens der Erste bist.“

„Keine Lust.“

„Dann erst recht!“ Mickey schloss die Schlafzimmertür. Deshalb hörte er nicht mehr, wie Gerrit ihn einen Scheißbullen nannte.

Als wäre das noch nicht genug, hatte Gerrit nun auch noch das todtraurige Gesicht seiner Mutter zu ertragen. Sie sah ihn schweigend an und ging dann in die Küche. Es war nicht auszuhalten! Das ganze Leben bestand nur aus Vorwürfen gegen ihn.