Sannall der Erneuerer - Manfred Rehor - E-Book

Sannall der Erneuerer E-Book

Manfred Rehor

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Beschreibung

Ein 5000 Jahre altes Amulett und ein 15-jähriger Junge entscheiden über die Zukunft der Welt. Ägypten im Jahre 1886: Jeremiah ist fünfzehn Jahre alt und soll in Ägypten zum Magier ausgebildet werden. Doch als der berühmteste lebende Magier verschwindet, schickt man Jeremiah auf die Suche nach ihm. Dabei gerät er in den Kampf zwischen den Mächten der Magie und der Technik, die um die Vorherrschaft auf der Welt ringen. Auf einer abenteuerlichen Reise, die ihn von Ägypten über Paris und London nach Amerika führt, lernt Jeremiah die guten und die schlechten Seiten von Technik und Magie kennen. Am Ende liegt es an ihm, zu entscheiden, wer als Sieger aus dem Kampf hervorgeht und die Zukunft bestimmen wird.

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Table of Contents

Title Page

ÄGYPTEN IM MÄRZ 1886

Gonther Virlan, Magier

Jeremiah Kendall, Novize

Lord Pearson, Archäologe

Jeremiahs Auftrag

Zugfahrt mit Raymond A. Cyros

Das Alexandriner Amulett

PARIS

Marie Aguillera, Zauberin

Joshua, der Juwelier

Über Paris

LONDON

Mister Loversham, Sprachgelehrter

Das Londoner Amulett

Sannall, der Erneuerer

Samuel Richardson, Verbrechergenie

NACH AMERIKA

Die Atlantiküberquerung

New York

CYROS CITY

Die Stadt der Zukunft

Medizin gegen Magie

Die Flucht

Sannalls Sonnenscheibe

Rückreise

Sannall der Erneuerer

Fantasyroman

von M. E. Rehor

Imprint

Sannall der Erneuerer

M. E. Rehor

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2011 M. E. Rehor - http://tinyurl.com/merehor

Titelfotos: Crit - photocase.com / waldmeister - photocase.com

ISBN 978-3-8442-1304-1

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Weitere Bücher von M. E. Rehor

Der Nebelkontinent - Fantasyroman

Czordan und der Millionenerbe - Kriminalroman

Gerrit aus Neukölln - Jugendkrimi

Freiheit und Liebe - Historischer Roman

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Die Personen und Begebenheiten in diesem Buch sind der Phantasie des Autors entsprungen. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig.

ÄGYPTEN IM MÄRZ 1886

Gonther Virlan, Magier

Eine offene Kutsche fuhr am frühen Morgen durch die Gassen der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Der kühle Wind vom Meer her vertrieb den Dunst des Vortags und lockte die Bewohner aus ihren Häusern. Ziegen irrten auf der Suche nach ein paar grünen Grashalmen durch die Innenhöfe der verschachtelten Wohnblöcke.

Der Kutscher feuerte sein Gespann an und nahm keine Rücksicht auf Menschen oder Tiere. Schimpfworte rufend sprangen Passanten aus dem Weg oder drückten sich gegen die Hauswände, um nicht von den Rädern erfasst zu werden. Der Kutscher brüllte auf sie herunter und drohte mit der Peitsche, wenn jemand wütend die Fäuste nach ihm schüttelte.

Auf der Rückbank saß sein Fahrgast, ein ganz in Schwarz gekleideter Europäer. Der schien den Aufruhr nicht zu bemerken. Mit konzentriertem Blick starrte er ins Leere. Erst als die Kutsche auf dem Platz vor dem Bahnhof von Alexandria hielt, kam Leben in ihn. Er kletterte heraus und klopfte sich den Staub aus der Kleidung.

„Wie versprochen, Sir“, sagte der Kutscher. „Rechtzeitig vor Abfahrt des Zuges.“

Der Mann nickte und warf ihm ein Geldstück zu. Der Kutscher sah sich die Münze an und bekam große Augen: „Gold! Danke, Sir! Gute Reise, Sir!“

Mit schnellen Schritten ging der Mann zum Eingang des Bahnhofs. An dem imposanten, frisch renovierten Gebäude hingen noch die Plakate von der Eröffnungsfeier der neuen Bahnlinie, die von hier aus in den Süden Ägyptens führte. Über Kairo und Giseh bis ins fruchtbare Gebiet des El-Faijum reichte die Strecke bereits. Die Plakate priesen diese Bahnlinie als ein Wunderwerk der Technik, finanziert und gebaut von dem amerikanischen Milliardär Raymond A. Cyros.

Der Mann in Schwarz eilte an diesen Plakaten vorbei, ohne sie zu beachten. Seine Aufmerksamkeit galt zwei Bettlern, die in der Nähe herumlungerten. Ihr Verhalten kam ihm seltsam vor. Sie wichen seinen Blicken aus und duckten sich weg, anstatt ihn mit Bitten zu bedrängen, wie er es von orientalischen Bettlern gewohnt war.

Dass sein Misstrauen berechtigt war, sah er nicht mehr. Kaum hatte er den Bahnhof betreten, warfen die beiden Bettler ihre Verkleidung ab. Sie zogen lange Säbel hervor und postierten sich mit grimmigen Mienen vor dem Eingang. Kein weiterer Fahrgast würde an ihnen vorbeikommen, um den nächsten Zug zu erreichen.

Oben an den Bahngleisen warteten an diesem Morgen nur einige Engländer auf den ersten Zug nach Süden. Mit Tropenhelmen und Fächern gegen die erwartete Hitze des Tages gerüstet, standen sie neben ihrem umfangreichen Gepäck. Sie unterhielten sich lautstark in dem arroganten Tonfall der englischen Oberschicht.

„Die Kosten sollen immens gewesen sein. Aber für diesen in die Technik vernarrten Yankee spielt das offenbar keine Rolle.“

„Hat das Empire nicht schon genügend Eisenbahnlinien in Ägypten gebaut?“

„Nicht so moderne, wie ich zugestehen muss. Schauen Sie sich das an!“

Im Westen, wo in der Ferne die Lokschuppen und Wassertanks standen, stieg eine weiße Wolke in die klare Morgenluft. Langsam fuhr eine Lokomotive aus dem Depot in den Bahnhof ein, die ein Monster unter ihresgleichen war: doppelt so lang wie normale Loks, jedoch erstaunlicherweise ohne einen Tender. Sie war vollständig mit metallisch spiegelnden Blechen verkleidet. Die Waggons, die sie hinter sich herzog, waren ebenfalls in ihren Ausmaßen rekordverdächtig. Die getönten Fensterscheiben und polierten Seitenflächen zeigten einen Luxus, der dem Orientexpress angemessen gewesen wäre, aber nicht einer Eisenbahn, deren Aufgabe es war, ein paar Touristen in die Wüste zu transportieren.

Die Engländer fanden diesen Aufwand ganz selbstverständlich. Sie achteten nicht auf die letzten beiden Waggons des Zuges. Das waren einfache, halboffene Güterwagen, in denen man ein paar Holzbänke festgeschraubt hatte. In diesen Waggons durften die Einheimischen reisen, die sich eine normale Fahrkarte nicht leisten konnten.

Während der Zug hielt und die wenigen Passagiere einstiegen, kam der Mann in Schwarz die Bahnhofstreppe hoch. Er sah sich kurz um und ging zum Fahrkartenschalter.

„Medinet im El-Faijum, erster Klasse“, forderte er und zog ein paar Geldscheine hervor.

„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen, Sir?“

„Wozu das denn?“

„Neue Vorschrift, Sir“, antwortete der Schalterbeamte mit einer Miene, als wäre die Frage eine persönliche Beleidigung. Da sein Gegenüber zögerte, sagte er noch einmal mit Nachdruck: „Ihr Name, bitte!“

„Gonther Virlan.“

„Beruf?“

„Magier.“

Unbeeindruckt füllte der Schalterbeamte ein Formular aus, zählte das von Virlan gereichte Geld nach und gab ihm dann den Fahrschein. „Der Zug fährt in wenigen Minuten ab, Sir. Ihr Abteil befindet sich im ersten Waggon.“

Gonther Virlan drehte sich um und musterte die Lokomotive und die Wagen. Er deutete auf ein Symbol aus verschlungenen Buchstaben, das neben jeder Waggontür angebracht war. „RAC? Was bedeutet das?“

„Das sind die Initialen von Mister Raymond A. Cyros, dem Besitzer dieser Eisenbahnlinie.“

„Cyros?“ Man hätte meinen können, Gonther Virlan spreche vom Teufel, so spuckte er den Namen aus. „Ich fahre nicht in einem Zug, der Cyros gehört!“

„Ein anderer Zug fährt leider nicht, Sir. Mister Cyros hat das Monopol für alle Nord-Süd-Verbindungen in Ägypten erworben. Wenn Sie in den El-Faijum wollen, bleibt Ihnen nur die Wahl zwischen unserer Eisenbahn und einer Kamelkarawane.“

Ohne den Schalterbeamten einer Antwort zu würdigen, machte Gonther Virlan kehrt und ging zu dem genannten Waggon. Der Schaffner, ein muskulöser Mann in Uniform, der an der Tür wartete, kontrollierte die Fahrkarte und fragte dann: „Ihr Gepäck, Sir?“

„Ich habe keines.“

Der verwunderte Schaffner warf hinter Virlans Rücken dem Mann am Fahrkartenschalter einen Blick zu. Der Schalterbeamte machte mit dem Daumen der rechten Hand die Geste des Halsabschneidens. Verstohlen grinste der Schaffner und nickte zustimmend. Gonther Virlan stieg derweil ein, ohne etwas davon zu bemerken. Der Schaffner pfiff auf seiner Trillerpfeife, bevor auch er in den anfahrenden Zug sprang.

Langsam glitt die mächtige Maschine aus dem Bahnhof und rollte zwischen den bescheidenen Hütten der Stadt Alexandria hindurch. Dann durchquerte sie die Zeltsiedlungen der Fellachen, die sich am Rande der Stadt niedergelassen hatten. Die Einheimischen in den Straßen neben den Gleisen staunten das Ungetüm an, das wie der Bote eines kommenden neuen Zeitalters der Technik durch ihre ärmliche Heimat zog.

Außerhalb der Wohngebiete beschleunigte der Zug und fuhr in raschem Tempo nach Süden.

Gonther Virlan schlenderte den Gang des Waggons entlang und sah in die einzelnen Abteile. Sie waren luxuriös ausgestattet, mit gepolsterten Sitzen, edlen Hölzern und Messingapplikationen. Aber sie waren alle leer. Kein einziger anderer Passagier befand sich in diesem Waggon. Virlan setzte sich in eines der Abteile und lauschte dem eintönigen Rattern der Räder auf den Schienen.

Er war kurz vor dem Einnicken, als ein leises, sirrendes Geräusch ihn hochschrecken ließ, dessen Quelle er nicht feststellen konnte. Obwohl es noch angenehm kühl war, traten feine Schweißperlen auf seine Stirn. Irritiert massierte er sich die Schläfen, blinzelte mit den Augen und stand auf. Mit unsicheren Schritten ging er zu der Verbindungstür zum nächsten Waggon. Die Tür war verschlossen.

Virlan presste seine rechte Handfläche auf das Schloss und murmelte einige magische Worte. Aber das Schloss widerstand. Ungläubig wiederholte er den Versuch, ebenso erfolglos.

Wütend machte er kehrt, blieb dann aber mitten im Gang stehen. Seine Augen zuckten und sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Mit den Händen begann er, magische Gesten auszuführen, die ihm Schutz bieten sollten gegen das Böse, das nach ihm griff. Ein schimmerndes Feld entstand um ihn, doch es war instabil und löste sich gleich wieder auf. Laut stöhnend brach Gonther Virlan zusammen und blieb bewusstlos liegen.

Gleich darauf öffnete sich die Verbindungstür zum nächsten Waggon und der Schaffner kam herein. Er war in Begleitung eines fülligen älteren Mannes, der auffallend klein und gut gekleidet war und einen Backenbart nach amerikanischer Mode trug.

Der Schaffner drehte den Körper des Bewusstlosen auf den Rücken, so dass der kleine Mann das Gesicht sehen konnte. „Ist er das, Mister Cyros?“

„Gonther Virlan“, sagte Raymond A. Cyros, „wie schön, dass wir uns unter solchen Umständen wiedertreffen.“ Er tastete die Brust des Magiers ab und fand ein kleines Amulett, das Virlan an einer goldenen Kette um den Hals trug. Der tropfenförmige Edelstein in der Mitte des Amuletts strahlte ein sanftes Licht aus. Sobald Cyros das Amulett berührte, erlosch das Leuchten des Steins.

Cyros nahm eine Pinzette aus der Tasche und brach damit den Edelstein aus dem Amulett heraus. Er legte ihn in eine Schatulle, nicht größer als eine Schnupftabakdose, die er in seiner Westentasche verstaute. Dann gab er dem Schaffner einen Wink: „Bringen Sie ihn in die Sicherheitszelle in meinem Privatwaggon!“

„Jawohl, Mister Cyros!“

Cyros ging mit beschwingten Schritten voraus. Der Schaffner hob Gonther Virlan hoch, warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack und folgte dem Milliardär.

Jeremiah Kendall, Novize

„Die Eroberung der Welt durch Magie ist eine Aufgabe, zu der wir alle unseren Beitrag leisten müssen. Und damit meine ich auch dich, Jeremiah Kendall!“, grollte Sungear, der Vorleser, von seinem Stehpult herüber.

Jeremiah zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Er zwinkerte seinem Freund Wynfried zu, mit dem er eben noch getuschelt hatte. Dann wandte er sich mit einer Miene übertriebener Aufmerksamkeit und Ehrfurcht an den Vorleser. „Ich bin begierig, Eure Weisheit zu hören“, sagte er die rituellen Worte, die jedoch so gar nicht in den Frühstückssaal passten. Die anderen Novizen an dem langen Tisch kicherten.

Sungear, ein völlig überfetteter, glatzköpfiger Mönch, warf einen bösen Blick in die Runde und fuhr fort, mit monotonem Singsang aus alten Papyrusrollen zu rezitieren. Dabei trat ein abwesender Ausdruck in seine Augen, über denen keine Brauen wuchsen und die in seinem feisten Gesicht wie große, grüne Knöpfe wirkten. Ob er wirklich glaubte, dass die Jugendlichen im Saal zuhörten, wusste niemand zu sagen. Vielleicht berauschte er sich nur an der magischen Wucht der Worte, die er in den kehligen Lauten einer längst ausgestorbenen Sprache intonierte.

Das Vorlesen von Papyrustexten während der Mahlzeiten gehörte zu den Ritualen, die der große Meister Gonther Virlan persönlich eingeführt hatte. Damals, bei der Gründung dieser unterirdischen Akademie.

Nicht einmal Jeremiah wagte es, diese Tradition in Frage zu stellen. Obwohl eine zwanzig Jahre alte Tradition gar nicht so viel ist, dachte er, während er lustlos in seinem Frühstück stocherte, einer großen Schale Hirsebrei mit Datteln. Zumindest verglichen mit dem Alter der unterirdischen Räume, in denen sich die Akademie befand. Aber solche Gedanken behielt er besser für sich. Sein Ruf als Querkopf und Zweifler trug ihm schon genug Ärger ein.

„Heute sind die Vorleser und Magier ziemlich nervös“, flüsterte Wynfried. „Sollen wir unseren Plan nicht besser verschieben?“

Mit einer Handbewegung bedeutete Jeremiah ihm, still zu sein. Selbst diese kleine Geste entging Sungear nicht, wie ein kurzes, abfälliges Zucken seiner Mundwinkel erkennen ließ. Aber im Gegensatz zu anderen Tagen war es heute ein gutes Zeichen für Jeremiah, dass Sungear ihn besonders im Auge behielt. Es deutete darauf hin, dass Jeremiahs Vorhaben gelingen könnte. Sobald Sungear seine Lesung beendete, kam der entscheidende Moment: die Verteilung der Tagesaufgaben an die Novizen. Aber noch war es nicht so weit.

Jeremiahs Blick schweifte an den Wänden entlang, die aus uralten Ziegeln gemauert waren. Zwanzig Meter unter der Erde befanden sie sich hier. Genauer gesagt, unter der Wüste am Rande des ägyptischen El-Faijum-Gebietes, einem der frühesten Siedlungsgebiete in der Geschichte der Menschheit. Vor fünftausend Jahren hatten Magier, deren Namen und Absichten längst vergessen waren, diese unterirdische Anlage erbaut. Durch die Wände der Räume liefen magische Felder, die an Stärke alles übertrafen, was man sonst auf der Welt kannte. Die in die Decken eingelassenen Glassteine lieferten echtes Tageslicht als wären es Fenster, und das mittels einer Magie, von der nicht einmal Jeremiahs Lehrer eine Vorstellung hatten. Ähnlich verhielt es sich mit der frischen Luft, die unablässig aus den porösen Ziegelwänden strömte.

Die Erbauer nutzten die Anlage damals nur wenige Jahrzehnte lang. Dann verschwanden sie, ohne in den Geschichtsbüchern Spuren zu hinterlassen. Jeremiah dachte jedoch nicht weiter über diese rätselhaften Erbauer nach. Er interessierte sich in letzter Zeit eher für moderne Dinge. Dampfschiffe, zum Beispiel, oder Eisenbahnen. Leider war alles Moderne in der magischen Akademie unerwünscht. Aktuelle Zeitungen und Bücher über Technik gab es zwar, aber sie wurden weggeschlossen.

Natürlich reizte das Jeremiah um so mehr, einen Blick hineinzuwerfen. Darüber hatte er sich am frühen Morgen auch mit seinen beiden Freunden Yblah und Wynfried unterhalten. Wynfried prahlte wieder einmal: „Ich habe es mit eigenen Augen gelesen: Die modernste Eisenbahn der Welt fährt jetzt hier in der Nähe vorbei!“

„Wo steht das“?

„In der Cairo Times, die Walera regelmäßig bekommt. Ich konnte einen Blick reinwerfen, als ich in seinem Büro war.“

„Einmal möchte ich so eine Maschine sehen“, sagte Yblah.

„Ich auch“, gab Jeremiah zu. „Wie wär's? Kommende Nacht?“

„Bist du verrückt? Wir wissen nicht einmal, wo genau die Bahnstrecke verläuft. Und wenn wir erwischt werden, kommen wir dieses Mal nicht mehr so glimpflich davon.“

„Ich will schon lange einen neuen Zauber an Sungear ausprobieren“, sagte Jeremiah. „Das ist die passende Gelegenheit. Ich beeinflusse ihn so, dass er mich gegen seinen Willen zum Bibliotheksdienst einteilt. Dort finde ich schon eine Möglichkeit, in die Kammer mit den modernen Schriften zu kommen und mir die Zeitung anzusehen.“

„Schon wieder so eine Idee von dir, die uns jede Menge Strafarbeiten einbringen wird.“

„Na, und? Macht ihr mit?“

Klar machten sie mit. Und so hatte Jeremiah noch vor dem Frühstück das magische Ritual ausgeführt. Nichts wirklich Kompliziertes, es dauerte nur ein paar Minuten. Aber Sungear, dem fetten Vorleser, würde den ganzen Tag über der Name Jeremiah Kendall im Kopf herumschwirren, zusammen mit diffusen Bildern von alten Folianten, Papyrusrollen und Keilschrifttafeln.

Es war gefährlich, magische Sprüche auf Vorleser loszulassen, denn Magie war deren Beruf und Berufung. Jeremiah allerdings glaubte sich das erlauben zu können, denn seine magischen Fähigkeiten übertrafen schon jetzt die der meisten Lehrkräfte.

Er merkte auf, denn Sungears monotoner Singsang ging nun über in einen befehlenden Tonfall. Sungear legte die Papyrusrollen beiseite und begann mit der Verteilung der alltäglichen Pflichten der Novizen. Exerzitien, Küchendienst, Bibliotheksdienst – jeder bekam seine Aufgabe für diesen Tag zugewiesen, ganz nach Sungears Belieben.

Es gab keinen festen Plan dafür; die Vorleser entschieden täglich neu. Dabei wurde natürlich darauf geachtet, dass die nicht so strebsamen Novizen die unbeliebteren Arbeiten zugeteilt bekamen. Das war die einzige Art von Bestrafung, die es in der Akademie gab. Deshalb war dieser Moment am Morgen immer besonders spannend. Jeremiah zwinkerte Wynfried und Yblah zu, als es so weit war.

„Jeremiah Kendall, du hast heute ...“ Sungear zögerte und schien einen Moment unkonzentriert, bevor er fortfuhr: „... Bibliotheksdienst.“

„Sehr gut“, rutschte es Wynfried heraus.

Sungear runzelte die Stirn und verdonnerte Wynfried prompt zum Küchendienst. Auch der Dritte im Bunde der Tunichtgute in der Akademie kam heute nicht gut weg: Yblah wurde zum Putzen eingeteilt.

Nachdem alle Novizen mit ihrer Tagesaufgabe bedacht waren, erhoben sie sich schweigend und verließen den Speisesaal. Jeremiah, Wynfried und Yblah gingen zufrieden nebeneinander her. Sie sahen nicht, dass Sungear hinter ihrem Rücken grinste, während er ihnen nachsah.

Die Jungs hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jeremiah war eindeutig ein Europäer, groß gewachsen, schlank, mit dunklen, lockigen Haaren. Yblah dagegen war Schwarzafrikaner, etwas kleiner als Jeremiah und außerordentlich kräftig. Wynfried schließlich mit seinem rotblonden Haar, den Sommersprossen und der pummeligen Figur stammte aus Amerika.

Die Bibliothek, ein Gewirr von niedrigen Räumen und Gängen, befand sich in einem besonderen Flügel der unterirdischen Akademie. Viele der hier gelagerten alten Papyrusrollen und Tontafeln hatten aus demselben Grund die Jahrtausende überdauert wie die Ziegelsteine der Wände: Sie waren mit Magie gesättigt und so gegen Verfall geschützt.

Jeremiah ging zunächst der Bibliothekarin zur Hand, einer alten Inderin, die einen grün glänzenden Sari trug und nach Sandelholz duftete. Sie zeigte ihm einen großen Stapel Tontäfelchen, die in einem Korb lagen. Sie waren verschmutzt, teilweise zerbrochen, aber alle beschriftet. „Eine kürzlich gefundene Keilschriftensammlung. Du musst die Tafeln aussortieren, die nur mit Handel und Gewerbe zu tun haben. Die brauchen wir nicht.“

Jeremiah griff wahllos einige Tafeln heraus. „Eine Rechnung über den Verkauf von einer Ziege und vier Kruken Getreide“, sagte er, nachdem er den Text entziffert hatte. „Und hier: Steuererhöhungen für Bauern, die gegen den Landvogt nicht ehrerbietig waren. Schriftverkehr über eine Schiffsladung Bauholz. Alles maßlos uninteressant.“ Er warf die Tontafeln wieder zurück in den Korb.

„Geh vorsichtig damit um, es können auch Tafeln mit magischem Inhalt darunter sein. Erfasse alle Tafeln in dieser Liste und rufe mich, wenn du fertig bist.“ Nachdem die Bibliothekarin sich davon überzeugt hatte, dass Jeremiah die Keilschriftzeichen gut genug kannte, um keine Fehler zu machen, ließ sie ihn alleine.

Jeremiah schaltete auf brav und begann mit der Arbeit, denn er wusste, dass sie noch einmal kommen würde, um ihn zu kontrollieren. So geschah es auch. Die Bibliothekarin überprüfte seine Einträge, lobte ihn für seine Sorgfalt und ging wieder. Sie war bekannt dafür, dass sie gerne in einer ruhigen Ecke ein Buch las, während ein Novize ihre Arbeit machte.

Nun konnte Jeremiah sicher sein, für eine Weile in Ruhe gelassen zu werden. Leise schlich er zu der Tür, die zum verbotenen Teil der Bibliothek führte. Das Türschloss bestand aus einem kleinen Kristall, der magisch bewegt werden musste. Eine schwierige Aufgabe für einen Novizen, aber Jeremiah war seinen Altersgenossen in der Akademie auch in dieser Hinsicht weit voraus. Eine kurze Handbewegung, ein Moment äußerster Konzentration und die Tür schwang geräuschlos auf.

Der Raum dahinter war groß und hell. In langen Regalen standen Bücher, die nach Ansicht der Magier und Vorleser nicht in die Hände von Novizen gehörten. Manche enthielten Anweisungen für gefährliche magische Rituale, andere beschäftigten sich mit dem Gegenteil von Magie, nämlich mit Technik.

Auch die Zeitungen und Zeitschriften, die auf Umwegen die Akademie erreichten, wurden hier eingeschlossen. Jeremiah durchsuchte einen Stoß aktueller Zeitungen, die noch nicht einsortiert waren. Er fand das Exemplar der Cairo Times, von dem Wynfried erzählt hatte, und eine Londoner Zeitung, in der ausführlicher über die Eröffnung der neuen Eisenbahnlinie berichtet wurde. Neben einem Bild des Besitzers der Eisenbahn, Raymond A. Cyros, war dort auch eine Karte über ihren Verlauf abgedruckt: von Medinet im El-Faijum bis hoch nach Alexandria, der Hafenstadt am Mittelmeer. Die Strecke verlief nur wenige Kilometer vom Standort der unterirdischen Akademie entfernt.

Jeremiah riss die Seite aus der Zeitung heraus. Es war unwahrscheinlich, dass in den nächsten Tagen jemand gerade dieses Exemplar lesen würde, deshalb konnte er das Risiko eingehen.

Gutgelaunt kehrte er zu seinen Tontafeln zurück und arbeitete weiter, bis der Gong zu den Mittagsvorlesungen rief. Während des Essens informierte er Wynfried und Yblah darüber, dass alles geklappt hatte: Kommende Nacht würden sie durch einen alten Stollen nach oben gehen und die magische Akademie verlassen.

Lord Pearson, Archäologe

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchten sowohl Archäologen als auch Grabräuber mit großem Eifer im Wüstensand nach den Hinterlassenschaften der alten Ägypter. Es ist nicht sicher, welche der beiden Gruppen mehr Schaden anrichtete. Die Archäologen jener Zeit waren noch nicht die pingeligen Sandkornzähler, wie sie später auf den Ausgrabungsfeldern erschienen. Im Gegenteil! Denn ein Archäologe, der viel fand, wurde berühmt. Und ein Grabräuber, der viel fand, wurde reich – indem er seine Funde an erfolglose Archäologen verkaufte.

Lord Pearson, ein hagerer Engländer, gehörte nicht zu denen, die wegen des Reichtums im Land der Pharaonen unterwegs waren. Reich war er von Geburt und Ruhm bedeutete ihm nichts. Trotzdem kampierte er seit Wochen in der Wüste.

Wonach er suchte, wussten nicht einmal seine beiden Landsleute, die er zur Unterstützung angeheuert hatte. Ägyptischen Arbeitern, die wesentlich billiger zu haben gewesen wären, misstraute der Lord. Die Ägypter hatten zu viel Erfahrung im Grabungsgeschäft und wussten, was wertvoll war und was nicht. Sie hätten gemerkt, dass ihr Arbeitgeber abseits der aussichtsreichen Grabungsplätze suchte und mehr an Kleinigkeiten interessiert schien, als an großen Funden. Und auf Kleinigkeiten hatte es der Lord tatsächlich abgesehen. Die Entdeckung eines Pharaonengrabes wäre eine Enttäuschung für ihn gewesen. Sein Sinn stand nach anderen Dingen.

Leider blieb seine Suche erfolglos. Auch an diesem Abend warf Lord Pearson nach langer, vergeblicher Mühe enttäuscht seine Schaufel in die Sandgrube. Wieder ein Tag vertan. „Schluss für heute!“, rief er den beiden Arbeitern zu.

Die verschwitzten Männer kletterten aus der Grube und gingen zu den Zelten, die neben einem Lagerfeuer aufgebaut waren. Sehnsüchtig sahen sie hinüber zu den Palmenhainen des fruchtbaren El-Faijum-Gebietes im Süden. Dort gab es Wasser im Überfluss und bequeme Unterkünfte. Hier dagegen nur Sand und Steine.

Doch Lord Pearson sah in die andere Richtung, hinaus in die Libysche Wüste. „Die Anlage ist hier in der Nähe“, sagte er mit trotziger Stimme. „Ich fühle es. Wir werden sie finden. Morgen.“

Nach einem einfachen Abendessen am Lagerfeuer ging jeder in sein Zelt. Die beiden erschöpften Arbeiter schliefen sofort ein, während der Lord noch im Licht einer Petroleumlampe uralte Lagepläne studierte. Dann legte auch er sich schlafen.

Es war eine ruhige Nacht. Der Wind wehte schwach über den Sand, der sich als leichter Schleier über alles legte.

Am Rand einer Düne, nicht weit entfernt von der Ausgrabungsstelle des englischen Lords, begann der Sand stärker zu rieseln. Ein Skorpion rannte nervös auf seinen dürren Beinen davon, während sich ein kleiner Wirbelsturm bildete, der genau an dieser Stelle stehenblieb. Eine Mulde entstand, die sich zu einem Trichter erweiterte, gut zwei Meter durchmessend und einen Meter tief. Auf seinem Boden wurde eine Falltür sichtbar, die sich gleich darauf öffnete.

Jeremiah, Yblah und Wynfried zwängten sich heraus. Sie schlossen die Falltür wieder, stellten sich um sie herum, machten mit den Händen einige magische Gesten und murmelten mit gesenkten Köpfen unverständliche Worte. Während die Jungs davon gingen, häufte sich nach und nach, wie von Geisterhand bewegt, wieder der Sand auf die Falltür. Nach wenigen Minuten unterschied sich die Stelle in nichts mehr von ihrer Umgebung.

„Nach Nordosten“, sagte Jeremiah leise, und sie gingen durch die mondhelle Nacht in die Richtung, die er vorgab. Jeder von ihnen trug einen alten, schäbigen Burnus, sowohl zur Tarnung als auch zum Schutz gegen die schneidende Kälte der Wüstennacht. Ein Beobachter hätte sie aus der Ferne für ein paar junge Fellachen halten können, die auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege waren.

Der harte Schatten des Mondlichts verwandelte die Wüste in ein Labyrinth aus grauen Sandflächen und dunklen Felsblöcken. Die Palmenhaine des El-Faijum standen wie eine schwarze Wand im Hintergrund, während Jeremiah und seine Freunde schweigend durch die Nacht marschierten.

Wynfried blieb plötzlich stehen. „Es riecht nach Rauch“, sagte er. „Der Wind kommt von dort drüben.“

„Gehen wir hin“, entschied Jeremiah.

Sie kamen zu den Zelten, in denen der Lord und seine beiden Begleiter schliefen.

„Ein Lagerfeuer. Heruntergebrannt, aber nicht richtig gelöscht“, stellte Yblah fest.

„Das sind englische Archäologen“, flüsterte Wynfried. „Die Vorleser hatten ziemliche Mühe, sie mit Hilfe der Magie bei ihrer Suche in die Irre zu führen. Sie waren der Akademie schon gefährlich nahe gekommen.“

„Uninteressant“, meinte Jeremiah. „Gehen wir weiter.“

Die Jungs schlichen vorsichtig davon, bis sie außer Sicht- und Hörweite der Zelte waren. Aber schon nach wenigen hundert Metern blieben sie gleichzeitig wie auf Kommando stehen, lauschten in die Nacht hinaus und hechteten dann in Deckung hinter ein paar Felsbrocken abseits des Weges.

Gerade noch rechtzeitig, um nicht von den Beduinen entdeckt zu werden, die von einer Düne herunterkamen. Beduinen waren gefürchtete Räuber aus der westlichen Wüste, die manchmal in das fruchtbare Gebiet entlang des Nils eindrangen. Die Männer bewegten sich vorsichtig, nach allen Seiten sichernd. Als sie am Versteck der Jungs vorbei gingen, sah Jeremiah, dass sie schwer bewaffnet waren. Zwar waren die Musketen, die sie über die Schultern geworfen trugen, so alt, dass sie nur noch als Schlagstöcke geeignet schienen. Doch die langen Säbel und Messer in den Händen der Männer waren gefährlich genug.

Sie suchen uns, war der erste Gedanke, der Jeremiah durch den Kopf schoss. Aber bisher hatten sich die Einheimischen nie mit Novizen der Akademie angelegt. Schon das Gerücht, dass sie mit Magie zu tun hatten, ließ jeden Fellachen vor Furcht zittern.

„Die wollen jemanden überfallen“, vermutete Wynfried, nachdem die Männer außer Hörweite waren.

„Ja, aber echte Beduinen sind das nicht“, sagte Jeremiah. „Eher eine Gruppe Fellachen, die sich als Beduinen verkleidet haben. Könnten sie es auf die englischen Ausgräber abgesehen haben?“

„Unwahrscheinlich. Wenn denen etwas geschieht, startet der englische Generalkonsul umgehend eine Strafexpedition.“

„Deshalb die Verkleidung. Der Generalkonsul wird irgendeinen schuldlosen Beduinenstamm für den Überfall verantwortlich machen und bestrafen.“

„Und was nun?“, fragte Wynfried.

„Ihnen nach!“, entschied Jeremiah.

Die Jungs folgten den Bewaffneten in sicherem Abstand und beobachteten, wie sich die Männer um die Zelte der Engländer verteilten. Auf ein Zeichen ihres Anführers erhoben die angeblichen Beduinen lautes Geschrei. Mit vorgehaltenen Waffen stürmten sie in die Zelte. Gleich darauf kamen die Europäer mit erhobenen Händen heraus. Sie wurden von den Räubern zwar nicht gefesselt, aber sie mussten sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf den Boden setzen.

Der Lord wurde ausgefragt, und als er keine zufriedenstellende Antwort gab, sogar mit Schlägen traktiert. Dann gingen die Räuber in die Zelte, um sie zu durchsuchen. Nur eine Wache blieb bei den Gefangenen.

„Sollen wir eingreifen?“, fragte Jeremiah seine beiden Freunde.

„Wir müssen. Sonst könnte es den Engländern an den Kragen gehen. Wie wäre es, wenn wir noch einmal den Wind beschwören?“, schlug Wynfried vor.

„Einverstanden. Jeder ein Zelt.“

Sie stellten sich im Halbkreis auf und zeichneten mit kleinen Handbewegungen magische Gesten in die Luft. Dabei murmelten sie die in der Akademie einstudierten Sprüche und Gesänge vor sich hin.

Die Planen der Zelte bewegten sich, als würde ein zunehmend stärker werdender Sturm sie schütteln. Die Plünderer kamen heraus und stellten bestürzt fest, dass im Freien kaum ein Windhauch ging. Hektisch begannen sie, untereinander das merkwürdige Phänomen zu diskutieren. Die Zeltplanen flatterten immer heftiger, die Zeltstangen bogen sich, die Verstrebungen ächzten unter dem Ansturm der Kräfte.

Der Wächter ließ seine Gefangenen im Stich und rannte zu seinen Kumpanen. Als die drei Zelte in sich zusammenstürzten, ergriffen die Männer die Flucht.

Die verwunderten Engländer sahen ihren davon rennenden Feinden verständnislos nach. Dann inspizierten sie die Ruinen ihrer Zelte und begannen fluchend damit, Ordnung ins Chaos zu bringen.

„Ich war Erster“, sagte Jeremiah zufrieden.

„Aber nur um ein paar Sekunden“, entgegnete Yblah.

Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie die Engländer ihre Zelte wieder aufrichteten. Es war ein komischer Anblick, und die drei lachten in ihrem Versteck leise vor sich hin. Dabei entging ihnen, dass einer der Engländer nach einer Weile nicht mehr zu sehen war. Als die Jungs schließlich ihren Weg fortsetzen wollten, stand plötzlich ein Mann mit einem Gewehr hinter ihnen.

„Habe ich es mir doch gedacht“, sagte Lord Pearson, „dass ich ein paar von euch Spitzbuben noch erwische. Woher wusstet ihr, dass ich hier nach dem Amulett mit Sannalls Tränen suche?“ Er musterte die drei Jungs, die vor ihm standen, und fuhr fort: „Aber ihr gehört nicht zu dieser Räuberbande. Was treibt ihr euch mitten in der Nacht hier herum?“

„Wir sind sozusagen zufällig hier vorbei gekommen, Sir“, stotterte Wynfried.

„Zufällig. Mitten in der Wüste. Tolle Ausrede!“, sagte Pearson. Aber er senkte den Lauf seines Gewehrs. „Wer seid ihr?“

Jeremiah übernahm das Reden. „Wir sind mit einer Reisegruppe unterwegs“, behauptete er. „Wir haben einen Ausflug in der Abenddämmerung gemacht. Dabei haben wir die Räuberbande gesehen und sind ihr gefolgt.“

Yblah und Wynfried nickten eifrig.

„So, so“, sagte Pearson. „Die Wahrheit ist das nicht, aber immerhin eine akzeptable Lüge.“ Er hob den Lauf des Gewehres wieder und zeigte damit zu den Zelten. „Ihr kommt jetzt mit ins Camp. Da werden wir uns weiter unterhalten.“

Jeremiah sah seine beiden Freunde an. Ihre Blicke besagten, dass sie wussten, was er vorhatte. „Einen Moment noch, Sir“, sagte Jeremiah und hob beide Arme ein wenig an in eine bittende Konzentrationshaltung.

Verwundert kniff der Lord die Augen zusammen. Als er sah, dass die anderen Beiden die Geste nachahmten, warnte er: „Macht keinen Unsinn!“

Doch es war zu spät. Lord Pearson erstarrte mitten in der Bewegung. Die Jungs lockerten ihre Konzentrationshaltung wieder.

„Das sollte reichen“, sagte Jeremiah. „Nichts wie weg hier.“

Sie rannten davon. Erst in sicherem Abstand blieben sie stehen und verwischten mit Hilfe eines magisch herbeigerufenen Windes ihre Spuren im Sand.

Einige Minuten später kam Lord Pearson wieder zu sich. Fassungslos starrte er auf die Stelle, an der – seinem Eindruck nach – vor einem Augenblick noch die drei Jungs gestanden hatten. Er lauschte in die Nacht, hörte jedoch kein ungewöhnliches Geräusch. Dann ging er in die Hocke, um den Boden zu untersuchen. Er fand nicht einmal Fußspuren. „Magie“, sagte er, als er sich aufrichtete. „Habe ich es mir doch gedacht.“ Energisch schritt er hinüber zum Camp, um bei den Zelten nach dem Rechten zu sehen.

Kurz nach Mitternacht erreichten Jeremiah und seine Freunde ihr Ziel: Zwei Schienenstränge, gestützt auf quer liegende Holzbalken, durchquerten die karge Landschaft. Schienen, so wussten sie, verbanden die entferntesten Orte miteinander. Und doch war es schwer zu glauben, dass diese Eisenstränge ununterbrochen von hier bis nach Alexandria reichten. Sie gingen ein Stück weit die Bahnstrecke entlang, bis sie ein vertrocknetes Gebüsch fanden, in dem sie sich verstecken konnten.

„Wann ist es so weit?“, fragte Yblah.

„Den Nachtzug haben wir verpasst. Der nächste kommt erst gegen Mittag“, antwortete Jeremiah. Keiner von ihnen besaß eine Uhr. Ein Magier wusste immer, wie spät es ist, wenn auch nicht auf die Sekunde genau. Die Sprüche zur Bestimmung von Zeit und Ort gehörten zu den ersten, die ein Novize lernte. Außerdem erstreckte sich die tief sitzende Abneigung der Vorleser gegen jede Art von Maschinen auch auf kleine mechanische Geräte wie zum Beispiel Taschenuhren. Wynfried übernahm die erste Wache. Nach drei Stunden wechselten sie sich ab.

Am späten Vormittag schreckte sie ein pfeifendes Heulen auf, das in der Ferne erklang. Sie stellten sich auf die Schienen und sahen gespannt nach Norden. Eine große, weiße Wolke erschien am Horizont, die sich langsam auf die Jungs zu bewegte. Die Schienen vibrierten, ein stampfender Ton wurde hörbar, und dann sahen sie ein glänzendes Monstrum aus Metall auf sich zurollen.

„Fühlt ihr es auch?“, fragte Jeremiah überrascht. „Magie!“

„Eine magische Aura“, bestätigte Yblah. „Aber merkwürdig gedämpft.“

„Es heißt doch, dass diese Maschinen völlig ohne magische Hilfe funktionieren“, wunderte sich Wynfried. „Nur durch Technik und Dampfkraft.“

„Konzentriert euch!“, forderte Jeremiah sie auf, und so standen sie zu dritt mitten auf den Gleisen, die Köpfe gesenkt und die Hände leicht angehoben. Sie versuchten, hinter das magische Geheimnis der auf sie zu rasenden Eisenbahn zu kommen.

Erst kurz bevor die Maschine sie erreichte, sprangen sie in Sicherheit. Dampf und Rauch strömten aus der Zugmaschine und hüllten sie ein. Dann ratterten die Waggons an ihnen vorbei.

„Absolut gigantisch“, schrie Wynfried.

Kaum war der letzte Waggon vorbei, rannten sie hoch auf die Schienen und sahen der Eisenbahn hinterher.

„Sie lässt sich durch Magie weder aufhalten noch sonst irgendwie verändern“, stellte Jeremiah fest.

„Ja, und sie funktioniert wirklich nur durch Technik. Diese Technik ist stärker als unsere Magie“, sagte Wynfried.

„Unsinn!“, fuhren ihn Jeremiah und Yblah gleichzeitig an.

„Schon gut. Aber woher stammt diese seltsame Aura, die wir gespürt haben?“

„Wie von einem Magier, der weit, weit entfernt ist. Fast könnte man meinen, es sei ein Hilferuf gewesen.“

„Versuchen wir es noch einmal, auch wenn der Zug nun schon Meilen entfernt ist“, schlug Jeremiah vor. „Vielleicht haben wir uns geirrt.“

Sie konzentrierten sich wieder, doch sie konnten die magische Aura nicht mehr aufspüren. Nachdenklich machten sie sich auf den Heimweg.

Als sie im Laufe des Nachmittags am Lager des Archäologen vorbei kamen, schlichen sie sich an, um zu sehen, was geschehen war. Die Zelte standen wieder, und in ihrer Nähe lagerte ein Trupp bewaffneter Männer in schäbigen Uniformen.

„Die Engländer müssen in Medinet Soldaten zu ihrem Schutz angefordert haben“, mutmaßte Yblah.

„Angsthasen“, urteilte Wynfried.

„Aber offenbar politisch einflussreich“, sagte Jeremiah. „Ich möchte wissen, wer dieser Archäologe wirklich ist.“

Es war Abend, als die Jungs zur Akademie zurückkamen. Sie wussten, dass ihr Fehlen bereits bemerkt worden sein musste, also versuchten sie gar nicht erst, sich heimlich in ihre Kammern zu schleichen. Ein Verweis ließ sich nicht mehr vermeiden, und in den nächsten Tagen würden sie bei der morgendlichen Verteilung der Aufgaben wieder einmal die unbeliebtesten bekommen.

Ausgerechnet Sungear lief ihnen nach ihrer Rückkehr als Erster über den Weg. Doch zu ihrer Überraschung ignorierte er sie. Er murmelte Verwünschungen vor sich hin und eilte an ihnen vorbei. Verwünschungen aus dem Munde eines Vorlesers konnten unangenehme Konsequenzen für den Betroffenen haben, denn aufgrund ihrer Tätigkeit kannten sie die schlimmsten Flüche der letzten Jahrtausende in- und auswendig.

„Ein Glück, dass er nicht uns meint“, sagte Jeremiah deshalb. „Es muss etwas passiert sein, während wir weg waren. Hören wir uns mal um.“

Jeremiahs Auftrag

Jeremiah, Wynfried und Yblah zogen sich um und gingen in den Speisesaal, um nachzusehen, ob noch etwas für sie übriggeblieben war. Sie fanden den Saal leer bis auf einen Novizen, der Geschirr zusammenräumte. Jeremiah fragte ihn, was geschehen sei.

„Die Vorleser sagen zwar nichts, aber es heißt, der Meister sei verschwunden.“

„Verschwunden? Es weiß doch nie jemand, in welchem Land der Erde er gerade weilt.“

„Angeblich hat er aber seinen Besuch angekündigt“, erzählte der Junge, während er weiter schmutziges Geschirr einsammelte und auf einen Wagen stellte. „Heute hätte er hier eintreffen sollen.“

Gonther Virlan kam selten in die Akademie. Obwohl Jeremiah fast sein ganzes Leben hier verbracht hatte, war er Gonther Virlan nur wenige Male begegnet. Der Meister war so etwas wie ein König in alten Zeiten: Man weiß, dass er das Land regiert, aber man hat persönlich nichts mit ihm zu tun.

„Warum hat man uns nicht informiert?“, wunderte sich Wynfried. „Sonst wird doch ein Riesenaufwand getrieben, wenn der Meister erwartet wird. Alle Räume putzen und so weiter.“

„Weiß nicht. Ist ja auch nur ein Gerücht. Jedenfalls fiel der Unterricht heute aus, das ist doch immerhin etwas. So, ich bin fertig. Bis später.“ Der Junge schob seinen Wagen an ihnen vorbei zur Küchentür.

Jeremiah und seine Freunde folgten ihm und erbettelten von der Köchin, einer resoluten Russin, einige Fladenbrote und Obst. Damit kehrten sie in ihre Kammern zurück, wo sie über ihre Erlebnisse sprachen. Was bedeutete die merkwürdige magische Aura der Eisenbahn? Sollte sie etwas mit dem Verschwinden von Gonther Virlan zu tun haben?

Früh am folgenden Morgen hallte dreimaliger Gongschlag durch die Räume und rief alle Bewohner der unterirdischen Akademie in den großen Versammlungssaal. Sembla Walera, der aus dem Kongo stammende Leiter der Akademie, berichtete, was die Jungs schon wussten: dass man den Meister in der vergangenen Nacht erwartet hatte, er jedoch aus unbekannten Gründen nicht kam. Die Magier und Vorleser versuchten, mit vereinten magischen Kräften Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber das gelang nicht.

„Niemand braucht sich Sorgen zu machen“, fuhr Walera fort und erreichte mit diesem Satz natürlich genau das Gegenteil. „Die Novizen bitte ich, mit ihren Studien fortzufahren oder aber dem Personal bei den üblichen Arbeiten zu helfen. Einige von euch werde ich im Laufe der nächsten Stunden zu mir bitten, um ihnen besondere Aufgaben zuzuweisen. Das wäre für jetzt alles.“

„Sonderaufgaben?“, nörgelte Wynfried, während sie zurück zu ihren Kammern gingen. „Jetzt kommt doch wieder die übliche Putzerei vor einem Besuch des Meisters. Als Strafe für unseren Ausflug letzte Nacht wird man uns die besonders schmutzigen Ecken ausfegen lassen, wetten?“

„Wäre nicht das erste Mal. Aber vielleicht ist heute wirklich etwas Besonderes geplant. Bis später!“, sagte Jeremiah, bevor er die Tür seiner Kammer hinter sich schloss.

Warten war für Jeremiah kein Problem. Ein großer Teil seines Lebens hatte aus Warten bestanden, genauer gesagt, aus Versenkungs- und Konzentrationsübungen. Denn das Erlernen von Gesten und Sprüchen machte aus einem Menschen noch keinen Magier. Dazu war neben Talent auch ständiges geistiges Training erforderlich.

Jeremiah setzte sich auf die abgewetzte Meditationsdecke und konzentrierte sich auf die Strömungen der magischen Felder, die durch die unterirdische Akademie zogen. Eine Harmonie stellte sich ein zwischen ihm und dem starken magischen Potential dieses Ortes. Sein Geist wurde ruhig und leer.

In diesem Zustand der Versenkung spielten Minuten oder Stunden keine Rolle. Sie vergingen unbemerkt. Und manchmal konnte man auch nicht sicher sagen, ob man nicht doch dabei eingeschlafen war, wie es jedem Novizen ab und zu widerfuhr. Jeremiah schreckte hoch, als jemand an seine Tür klopfte. Einer der Vorleser stand draußen und bat ihn, mitzukommen.

„Doch nicht etwa wegen einer dieser Sonderaufgaben?“

„Warte ab. Du wirst überrascht sein“, antwortete der Vorleser, ein dürrer großer Mann aus Nordeuropa.

„Toll!“

„Ich habe nicht gesagt, dass es eine positive Überraschung sein wird.“

Mehr war aus dem Vorleser nicht herauszubekommen. Schweigend gingen sie nebeneinander her zu den Privaträumen des Leiters der magischen Akademie.

Sembla Walera hatte seinen privaten Bereich – völlig entgegen dem üblichen, spartanischen Stil seiner Untergebenen – sehr üppig ausgestattet. Die Wände waren mit Tierfellen und bunten Geweben behängt, in den Ecken standen kultische Gegenstände aus seiner Heimat im westlichen Afrika. Im Vorzimmer, in dem Jeremiah zunächst wartete, waren sogar einige der Lichtziegel abgedeckt, so dass ein ungewohntes Halbdunkel herrschte.

„Tritt ein“, forderte ihn eine leise Stimme auf.

Jeremiah ging zögernd durch den niedrigen Türbogen, der in die nächste Kammer führte.