Geschichte Afrikas - Winfried Speitkamp - E-Book

Geschichte Afrikas E-Book

Winfried Speitkamp

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Beschreibung

Lange hielt der Westen Afrika für einen »geschichtslosen Kontinent«. Dabei war das spätantike Reich von Axum im heutigen Äthiopien das erste christliche Königreich, und in mittelalterlichen Zentren wie Timbuktu blühten die Wissenschaft, der Handel und die islamische Religion. Winfried Speitkamp beschreibt die Vielfalt der Kulturen und Gesellschaftsformen insbesondere südlich der Sahara, die durch den europäischen Kolonialismus ab dem 19. Jahrhundert unterdrückt wurde. Dabei geht er auch auf die Umbrüche ein, die der afrikanische Kontinent seit der Befreiung von der Fremdherrschaft immer wieder erlebt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 612

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Winfried Speitkamp

Geschichte Afrikas

Reclam

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2023

Coverabbildung: Hauptquartier der Afrikanischen Union in Addis Abeba, Äthiopien – Joerg Boethling / Alamy Stock Photo

Kartenzeichnung: Anna Schulze, Hannover

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962012-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014256-1

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Der ferne Kontinent Afrika bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts

Zeittafel

Formen gesellschaftlicher Organisation

Auf dem Weg zur Staatlichkeit? Politische Formationen und Reiche

Bevölkerung, Umwelt, Wirtschaft

Religion und Kultur

Begegnungen und kultureller Transfer

Sklaverei und Sklavenhandel

Ein Kontinent in Bewegung Das lange 19. Jahrhundert Afrikas

Zeittafel

Politische Entwicklungen und Staatenbildungen

Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft

Andere Begegnungen: Europäische Reisende in Afrika

Afrikanische Religion, islamische Revolution und christliche Mission

Koloniale Expansion und Aufteilung

Frühe Widerstände, Kriege und Aufstände gegen die Kolonialherrschaft

Die Herausforderung eines Kontinents Afrika in der Kolonialzeit

Zeittafel

Die Kolonialreiche: Prinzipien, Verfassung, Verwaltung

Der Kolonialstaat: Herrschaft und Teilhabe

Koloniale Wirtschaft

Bevölkerung, Gesellschaft, Lebensformen

Mission, Bildung, Religion

Politische Bewegungen und gesellschaftlicher Aufbruch

Ein Kontinent im Umbruch Das nachkoloniale Afrika

Zeittafel

Übergänge: Wege der Entkolonialisierung

Krieg und Unabhängigkeit

Nation und politisches System

Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft

Bildung, Wissenschaft, Kirche

Die Wende

Literaturhinweise

Verzeichnis der Tabellen

Verzeichnis der Karten

Einleitung

Die Zukunft Afrikas ist offen. Nach wie vor dominieren in Öffentlichkeit und Wissenschaft Katastrophenmeldungen und Untergangsprophezeiungen. Wenn Afrika ins Gespräch kommt, berichten die Medien über Kriege und Völkermord, über warlords und Kindersoldaten, über Diktatur, Korruption und Staatsverschuldung, über Dürre, Hunger und Aids. Zur Jahrtausendwende erregten namhafte deutsche Afrika-Wissenschaftler mit einem Memorandum Aufsehen, das ein außerordentlich düsteres Bild der Zukunft dieses Kontinents zeichnete. Aber zugleich gab es ermutigende Zeichen eines Aufbruchs. Die weltpolitische Wende von 1990 erfasste auch Afrika. Zahlreiche autoritäre Regime brachen zusammen. In vielen Staaten wurden Mehr-Parteien-Systeme eingerichtet, Wahlen durchgeführt und Verfassungsreformen eingeleitet. Und nicht nur kleine Eliten beteiligten sich, vielmehr kamen breite öffentliche Kontroversen über die politische Zukunft in Gang. Auch setzten sich afrikanische Gesellschaften aktiv mit belasteter Vergangenheit auseinander. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, eingesetzt nach Jahrzehnten der Apartheid, und die Gacaca-Justiz in Ruanda nach dem Völkermord von 1994 zeugten von dem Bemühen, einen neuen Anfang unter breiter Beteiligung zu wagen. Die jüngsten Entwicklungen scheinen freilich dystopische Bewertungen des Kontinents zu bestätigen: Der sogenannte ›Arabische Frühling‹ ist in Nordafrika gescheitert, aus Afrika setzten seit 2015 breite Migrations- und Fluchtbewegungen über das Mittelmeer ein, und in letzter Zeit kam es in Westafrika zu einer Kette von Militärputschen und Krisen, die Demokratisierungstendenzen in Frage stellen.

Afrika wird zwar vom Westen nicht mehr als geschichtsloser Kontinent gesehen, wie es abendländischer Hochmut lange verkündete, aber immer noch an die Peripherie des Weltgeschehens gerückt. Vor allem gilt Afrika weiterhin als dunkler, unverständlicher Kontinent, gefangen in seinen Traditionen, Sitten und spezifischen Problemen. Afrika wird nach wie vor mit dem zum Topos gewordenen Titel der 1902 erschienenen Kongo-Erzählung von Joseph Conrad, Herz der Finsternis, identifiziert und steht – explizit oder implizit – für das Gefährliche, Wilde, letztlich Irrationale. Derartige Konstruktionen des »Anderen« sind immer auch Konstruktionen des »Eigenen«, sie spiegeln europäische Selbstbilder von Modernität und Rationalität. Im Blick auf das fremde Afrika entwirft Europa seine Identität. Afrika wird gewissermaßen auf seine – vermeintliche – Essenz reduziert, die gesellschaftliche und kulturelle Differenz als Ausdruck wesenhafter Unterschiede verabsolutiert. Afrika ist insofern eine Erfindung, wie der Philosoph Valentin Y. Mudimbe 1988 ausgeführt hat. Nicht nur Europäer, sondern auch Afrikaner haben den Kontinent beständig neu imaginiert. Was auf Seiten westlicher Reisender, Forscher und Kolonialisten zur Rechtfertigung des imperialen Zugriffs diente, wurde von Seiten afrikanischer Denker und Politiker gerade umgekehrt als Ausdruck spezifischer afrikanischer Werte und als Legitimation antikolonialen Widerstands angeführt. Gegen eine solche Betonung der Differenz hat der 2003 verstorbene Afrika-Historiker Albert Wirz in prägnanter Weise Grundkonstanten sozialen Handelns – die nicht als biologische Determinanten missverstanden werden dürfen – auf den Begriff gebracht und »eine überraschende Gleichförmigkeit der bewegenden Kräfte« in der Geschichte konstatiert, nämlich »die Suche nach Anerkennung und Macht, Sicherheit und Solidarität, Abenteuer und Gewinn« (»Geschichte und antikolonialer Nationalismus. Zur Debatte um die Konstruktion politischer Identität in Afrika«, in: Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit der Geschichte, hrsg. von Wolfgang Reinhard, Freiburg i. Br. 1995, S. 166).

In dieser Sicht steht Afrika nicht mehr für das Fremde, sondern für das Vertraute, das überraschend Nahe. Neue Forschungsansätze unterstreichen die veränderte Perspektive. Fünf Aspekte sind zu erwähnen. Erstens haben transnationale Ansätze die nationalen und kontinentalen Verengungen des Geschichtsbildes aufgebrochen und den Blick auf Transfer und Austausch, auf Wechselwirkungen und Vernetzungen gerichtet. Afrika entsteht dabei ebenso wie Europa erst in einem vielfältigen Beziehungs- und Kommunikationsgeflecht, das in die vorkoloniale Zeit zurückreicht. Der Kontinent Afrika ist insofern ein Produkt des Austausches, jenseits dessen er nicht existiert oder jedenfalls nicht zu fassen ist. Zugleich ist er Teil einer Universalgeschichte, aus der er lange aus Unkenntnis und Missachtung ausgeklammert wurde.

Zweitens versuchten postkoloniale, ursprünglich aus den Literaturwissenschaften stammende Ansätze die dominierende eurozentrische Sicht umzukehren. Fortlebende koloniale und kryptokoloniale Denkmuster und Mentalitäten galt es zu unterlaufen. Indem Afrikaner nun ihre eigene Geschichte schrieben, sollten sie sich gegen die okzidentale Überformung behaupten und ihre Identität wiedergewinnen; writing back wurde zum Motto dieser Bestrebungen. Das Objekt fremder Beherrschung wurde so wieder zum Subjekt seiner eigenen Geschichte, es gewann Autonomie und Würde zurück.

Vor diesem Hintergrund rückte drittens ein neues Modell der Erklärung sozialer und politischer Beziehungen in den Blick. Auch unsymmetrische Beziehungen wurden verstärkt als Ergebnis von Aushandlungsprozessen gedeutet. Selbst extreme Varianten von Herrschaft wie der Kolonialismus erschienen nun ungeachtet ihres unbestritten gewalthaften Charakters nicht mehr allein als Täter-Opfer-Beziehung, sondern als Auseinandersetzung um Positionen und Rollen, als gewissermaßen ungewollte Verhandlung, bei der Kompromisse und Kooperation in der Praxis vielfach erforderlich wurden. So hatten auch die Unterworfenen Spielräume, sie konnten durch ihr Verhalten ihr Gegenüber beeinflussen und waren in dieser Sicht selbst in der Kolonialzeit Subjekte ihrer Geschichte.

Viertens ist seit den 1990er Jahren der Raum als Gegenstand der Geschichtswissenschaft neu entdeckt worden. Raum und Grenze werden dabei nicht als zwingende Konsequenzen natürlicher Gegebenheiten, sondern vermehrt als soziale und kulturelle Konstrukte verstanden. Natürliche Phänomene wie zum Beispiel Flüsse und Seen geben keine Grenzen vor. Vielmehr können sie sowohl als Trennlinien wie als Verbindungszonen verstanden und genutzt werden. Auch Karten sind immer Raumbilder, die nicht objektive Gegebenheiten, sondern Sichtweisen, Deutungen und kulturelle Raumnutzungen wiedergeben. Alle Karten sind daher kognitive Karten oder, wie es jetzt meist heißt, mental maps.

Fünftens spielen bei der Imagination und Konstruktion von Räumen kollektive Erinnerungen eine zentrale Rolle. Erinnerungskulturen, das heißt die Formen, in denen Gesellschaften ihre Vergangenheit erinnern und um gemeinsame Geschichte streiten, materialisieren sich im Raum, den sie zugleich erfinden wie besetzen. Das gilt gerade für Afrika, dessen Einheit als Kontinent nicht zuletzt durch zwei bedeutende kollektive Traumata bestimmt ist, nämlich den transatlantischen Sklavenhandel und die europäische Kolonialherrschaft. Diese bündeln die Erinnerung und kreieren ein spezifisch afrikanisches kollektives Gedächtnis. Die derart ausgerichtete kontinentale, identitätsbegründende Erinnerungskultur überlagert vielfältige regionale Erzählungen über Sklaverei und Verschleppung ebenso wie lokale Erinnerungen an die koloniale Begegnung, an Herrschaft und Gewalt, an Selbstbehauptung und Widerstand.

Auch in dieser Perspektive war Afrika ein Raum der Begegnungen, seien sie intra- oder transkultureller Art. Dabei wurde der Kontinent beständig neu gedacht, entworfen und gestaltet, wurden Grenzen – soziale, ethnische, religiöse oder territoriale – immer neu gezogen, folglich auch Verbindungen immer neu konstruiert. In der Begegnung entstanden Erinnerungsorte, die eine geteilte Geschichte im doppelten Sinn des Wortes spiegelten, eine spaltende wie eine gemeinsam erfahrene und unlösbar verschlungene Geschichte, wie sich in der Begrifflichkeit von histoire croisée und shared memory niederschlägt. Mit Erinnerungsorten sind dabei in Anknüpfung an Pierre Nora und sein großes Werk über die französischen lieux de mémoire (1984–92) nicht bloß konkrete topographische Orte gemeint, sondern Bezugspunkte kollektiver Erinnerung, gemeinsame Traditionen, verbindende Daten, mobilisierende Ideen, aber auch belastende Ereignisse. Diese Merkpunkte des kollektiven Gedächtnisses steckten den Raum ab, in dem kollektive Erinnerungen ausgehandelt wurden. Aus Kommunikationsräumen wurden derart Erinnerungsräume. Im Zuge beständigen transregionalen und transkontinentalen Austausches veränderten sich auch die Erinnerungsräume. Afrikanische Geschichtsforscher haben dies sehr sorgfältig registriert und ihre Geschichten des Kontinents immer als Geschichten von Raum und Erinnerung verstanden, sei es, dass sie wie der nigerianische Historiker Jacob F. Ade Ajayi schon 1969 die Kolonialzeit bloß als Episode im langen Fluss der Geschichte des Kontinents bewertet haben, sei es, dass sie wie Joseph Ki-Zerbo aus Burkina Faso (seinerzeit Obervolta) in seiner Geschichte Afrikas (1978) den Kontinent als Rahmen großer Reiche und blühender Herrschaften in vorkolonialer Zeit gezeichnet haben. Gemeinsam ist diesen Arbeiten der Versuch, Afrika in Abgrenzung von europäischen Raumbildern neu zu denken, ihm einen anderen, neuen Standort im kollektiven Gedächtnis zuzuweisen. Die in den 1980er Jahren erschienene achtbändige UNESCO General History of Africa knüpft daran an, indem sie Afrika als Kontinent der Afrikaner entwirft, die Kolonialzeit eher als Katalysator eigenständiger Entwicklung begreift und das Gewicht auf die von Afrikanern bewirkte Modernisierung legt.

Nur wenige deutschsprachige Gesamtdarstellungen Afrikas liegen bislang vor. Sie setzen besondere Akzente. Der von dem französischen Germanisten und Politiker Pierre Bertaux verfasste Afrika-Band der Fischer Weltgeschichte, der erstmals 1966 veröffentlicht wurde und mittlerweile in 13. Auflage (1999) vorliegt, ist ungeachtet seines Detailreichtums dem Forschungsstand und den Wertungen seiner Entstehungszeit verhaftet. Die auf eigenen, seit den 1960er Jahren vorgenommenen Studien aufbauenden Synthesen des Politikwissenschaftlers Franz Ansprenger über die Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert (Erstausg. 1992) und allgemein über die Geschichte Afrikas (Erstausg. 2002) spiegeln das im Zeitalter der Entkolonialisierung vorherrschende Interesse an Fragen nach politischer Unabhängigkeit und Staatsbildung. Die 1999 erschienene Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert des Historikers Leonhard Harding, die eine Fülle von Hinweisen auf Literatur und Forschungsfragen bietet, steht im Kontext der Debatten um Weltsystem und Dependenztheorie. Harding verfolgt die Einbindung Afrikas in den Weltmarkt, die mit dem Ende des Sklavenhandels einsetzte und von der Kolonialisierung gefördert wurde, und stellt dieser Entwicklung quasi dichotomisch den afrikanischen Widerstand gegenüber. Einen anderen Ansatz bietet die 1997 in deutscher Übersetzung publizierte grundlegende, ebenso umfassende wie differenzierte Geschichte Afrikas aus der Feder des britischen Afrika-Historikers John Iliffe. Er entwirft den Kontinent als Raum der Vielfalt und Vernetzung, der Mobilität und Kooperation, der Herausforderung und Selbstbehauptung. Afrika wurde demnach von flexiblen und multiplen Identitäten geprägt und gewann gerade dadurch seine Einheit. In einer 2004 vorgelegten deutschsprachigen Gesamtdarstellung schließlich zeichnet Christoph Marx die Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart als Geschichte eines Überlebens. Er beschreibt, wie Afrikaner die Entwicklung ihres Kontinents vorantrieben, die Bedrohung durch den modernen Kolonialismus meisterten und ihre eigene Identität entwarfen. Er verzichtet dabei konsequent auf Kategorie und Begriff der »Ethnie« und richtet das Augenmerk auch auf bislang eher marginalisierte Aspekte wie die Rolle von Frauen in Wirtschaftsleben und Alltagswelten. Jüngste deutschsprachige Gesamtdarstellungen zur Geschichte Afrikas beschränken sich oft auf die bislang unzureichend beleuchtete vorkoloniale Zeit wie der Band in der ›Neuen Fischer Weltgeschichte‹ von Adam Jones über Afrika bis 1850.

Die vorliegende Darstellung nimmt die Raumordnung als Ausgangspunkt und Rahmen, die Erinnerungskultur als Zielpunkt. Sie konzentriert sich auf das südlich der Sahara gelegene Afrika, der Norden wird vor allem dann einbezogen, wenn er unmittelbar über den Sahara-Raum nach Süden ausstrahlte. Damit soll nicht bestritten werden, dass, wie gerade die jüngere Forschung betont, Nordafrika schon lange vor der kolonialen Zeit über ein Netz von Transsahara-Routen mit dem Rest Afrikas verbunden war, Afrika also auch hier durch Begegnung und Austausch geprägt war. Und dennoch war der Norden kulturell, ökonomisch und politisch stärker mit der orientalischen Welt verknüpft und in den Mittelmeerraum integriert. Die bloß formale Orientierung am geographischen Afrika würde gerade dem oben erörterten Verständnis einer soziokulturellen Raumordnung widersprechen.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile: Der erste Teil bietet eine Übersicht über die Vielfalt gesellschaftlicher Strukturen, politischer Formationen und ökonomischer Herausforderungen bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Hier geht es um große Linien, grundlegende Gemeinsamkeiten und wichtige Varianten, nicht jedoch um einzelne Personen und ereignisgeschichtliche Details, die angesichts der oft mythischen Überlieferung meist nicht präzise zu rekonstruieren sind. Darauf folgt im zweiten Teil eine Darstellung des langen 19. Jahrhunderts, das eine tiefgreifende Umgestaltung Afrikas mit sich brachte, die vor dem europäischen Imperialismus einsetzte und erst mit der Etablierung des Kolonialstaats im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts abgeschlossen wurde. Sodann wird im dritten Teil das Zeitalter der Kolonialherrschaft in den Blick genommen. Im Mittelpunkt steht hier die Zwischenkriegszeit, war dies doch im Grunde die kurze Phase, in der die Kolonialherrschaft, die formal fast 80 Jahre dauerte, Ansätze eines Systems entwickelte, das nicht schon wieder, wie seit den 1940er Jahren, von der eigenen Auflösung gezeichnet war. Schließlich geht es im vierten Teil um das nachkoloniale Afrika, dessen Anfänge im Zweiten Weltkrieg liegen. Das »Jahr Afrikas«, 1960, in dem zahlreiche Staaten unabhängig wurden, bildete dabei in politischer Hinsicht eine Zäsur, weniger jedoch im Blick auf Wirtschaft, demographische Entwicklung und gesellschaftliches Leben. Die Darstellung bezieht die Wende von 1990 ein und führt an die Gegenwart heran. Die Aufteilung des Bandes trägt einerseits der Beschleunigung des Wandels in Afrika seit dem frühen 19. Jahrhundert Rechnung, andererseits spiegelt sie auch die Verdichtung der Informationen und Quellen für die jüngere Zeit.

Die vorkoloniale Epoche ist aus Quellen kaum vollständig zu erschließen. Nur in den vom Islam beeinflussten Gebieten, im Swahili-Gebiet an der ostafrikanischen Küste und im Hausa-Gebiet des westafrikanischen Binnenlandes, wurde eine arabische Schrift eingeführt und sind schriftliche Quellen überliefert. Im Übrigen stehen neben einigen sprachwissenschaftlichen Befunden, die über die Ausbreitung von Völkern oder Kulturtechniken Auskunft geben können, sowie archäologischen und Sachüberresten, etwa den Gebäuden und Mauern von Groß-Simbabwe oder Kunstgegenständen und Skulpturen, nur wenige schriftliche Quellen zur Verfügung. Meist handelt es sich um Berichte arabischer Reisender. Dazu zählt der aus Bagdad stammende, im späten 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geborene islamische Reisende al-Masudi (gest. 956), der die Ostküste Afrikas bereiste, der Geograph al-Bakri, der im 11. Jahrhundert über das Reich Ghana berichtete, und vor allem Ibn Battuta (1304–1377), der aus Tanger (Marokko) stammte und nach einer juristischen Ausbildung zahlreiche Reisen in Asien und Afrika unternahm. Am Ende seines Lebens hatte er an die 120 000 Kilometer zurückgelegt, unter anderem die Sahara durchquert und die ostafrikanische Küste ebenso wie das westafrikanische Königreich Mali bereist. So detailreich und sorgfältig Ibn Battuta auch referierte, waren doch alle Berichte zugleich Deutungen, in denen sich Gesehenes mit Gehörtem verband. Erst im 19. Jahrhundert mehrten sich die Reiseberichte fast schlagartig, europäische Reisende durchquerten nun den Kontinent und berichteten in zahlreichen Publikationen über ihre Erlebnisse. Doch mehr denn je waren es Sichtweisen, die von Erwartungen und Vorprägungen der Reisenden geformt wurden. In der Kolonialzeit wuchs zwar auch die Zahl der schriftlichen Quellen, etwa was Polizei-, Gerichts- und Schulakten angeht, aber es handelt sich um Dokumente, die eine obrigkeitliche Perspektive eröffnen und daher erneut nur einen Ausschnitt der kolonialen Situation erhellen, jedenfalls kaum Selbstzeugnisse enthalten. In mancher Hinsicht aussagekräftiger ist das Material der Missionsarchive, das über Kontakte zwischen Europäern und Afrikanern, über Taufen, Schulen, Schulbesuch und Alphabetisierung oder Krankenstationen und Krankheitsfälle informiert.

Die vorkolonialen Kulturen Afrikas waren fast durchweg mündliche Kulturen. Dabei gab es, je nach Zählung, über 2000 Sprachen. Schon deshalb ist die mündliche Überlieferung kaum zu erfassen. Zudem können mündlich weitergetragene Gründungsmythen, Volkstraditionen sowie Erzählungen über konkrete Ereignisse in der Geschichte einer Gemeinschaft, eines Dorfes oder eines Klans, nicht primär als Geschichtsdokumente verstanden werden. Mündliche Erzählungen hatten gegenwartsbezogene Aufgaben: die Erklärung und Legitimation des Bestehenden, die Festigung und Bestätigung der Gemeinschaft oder die Regelung aufkommender Probleme. Daher waren sie flexibel und veränderten sich ständig. Sie wurden neuen Bedingungen und Herausforderungen angepasst und auch dann möglicherweise abgewandelt, wenn sie nur aus dokumentarischen Gründen von Außenstehenden (Missionaren, Kolonialbeamten, Forschern) abgefragt wurden. Zugleich waren sie offen für Neues. Teilweise integrierten sie Gehörtes oder sogar Gelesenes, beispielsweise Elemente der Bibel. So ist ihr Aussagewert für die vorkoloniale Zeit fraglich, selbst wenn man unterschiedliche Überlieferungen nebeneinanderstellt und ihre Plausibilität überprüft. Afrikanische Historiker, denen aus sprachlichen und sozialen Gründen der Zugang erleichtert war, haben mündliche Überlieferungen häufiger genutzt und in ihre Darstellungen integriert. Doch die Debatte darüber, ob Traditionen Geschichte sind, blieb offen.

Die Frage ist umso komplizierter, als mündliche Erzählungen durch die Verschriftlichung ihre charakteristische Flexibilität verloren und die Niederschrift den möglicherweise zufälligen Zustand zum Zeitpunkt der Befragung einfror. Schließlich kam es gerade bei mündlichen Überlieferungen darauf an, welche Sachwalter der Gemeinschaft, etwa Priester, befugt waren, sie zu hüten, weiterzutragen und auszulegen. Die in der Kolonialzeit zunehmenden schriftlichen Ausarbeitungen von Volkstraditionen und Volksgebräuchen durch indigene Autoren, wie für Westafrika The Laws and Customs of the Yoruba People (1924) von Ajayi Kolawole Ajisafe oder Jacob Egharevbas Benin Law and Custom (1946), waren deshalb wichtige, aber auch höchst suggestive Quellen, die Tradiertes mit dem durch Christentum und Kolonialherrschaft Modifizierten oft in unkenntlicher Weise mischten. In Ostafrika stellt das Königreich Buganda ein aussagekräftiges Beispiel dar. Für die vorkoloniale Geschichte von Buganda existieren fast keine schriftlichen Quellen. Doch wurden in Buganda, einem administrativ entwickelten und zentralisierten Staat, auch die mündlichen Traditionen kontrolliert, homogenisiert und quasi offiziell weitergetragen. Im Jahr 1901 erschien das Werk The Kings of Buganda. Der Verfasser, Apolo Kaggwa, hatte von 1889 bis 1926 führende Ämter in der Kolonialverwaltung inne. In seiner Darstellung dokumentierte er die mündliche Überlieferung und monopolisierte deren Auslegung. Neuauflagen seines Werkes (1912, 1927, 1949 u. ö.) unterstrichen die Wirkung. Kaggwa prägte das Bild des vorkolonialen Buganda nachhaltig.

Quellenauswertung und Darstellung afrikanischer Geschichte werfen auch begriffliche Probleme auf. Die Befunde der Quellen müssen gewissermaßen in eine andere Sprache, eine andere Zeit und eine andere Kultur übertragen werden. Dabei ist fraglich, ob afrikanische Geschichte, zumal vorkoloniale, mit einer dem europäischen Kontext entnommenen Begrifflichkeit (Königtum, Staat, Merkantilismus, Adel) angemessen gefasst werden kann. Das gilt namentlich für Begriffe, die sich auf Rechtsverhältnisse beziehen und irreführende Analogien nahelegen könnten (Eigentum, Bodenrecht, Familie). Umgekehrt drückt eine ganze Reihe von lange Zeit üblichen und vor allem in den Quellen der Kolonialzeit dokumentierten Begriffen rassistische Haltungen aus und ist dauerhaft negativ belastet (Eingeborene, Stämme, Häuptlinge). Die wissenschaftliche Umschreibung durch fremdsprachige Begriffe (indigene Bevölkerung, Ethnien, Chiefs) schwächt das Problem ab, indem es Distanz schafft, beseitigt es aber nicht. Die vorliegende Darstellung bemüht sich, negativ konnotierte Begriffe zu vermeiden, wo sie nicht sachnotwendig sind (Amtshäuptlinge), ohne mit anachronistischen Begriffen falsche Vorstellungen zu suggerieren. Zeitgenössische geographische Begriffe werden trotz der häufig damit verbundenen kolonialen Grundierung (Léopoldville) verwendet, um missverständliche zeitliche Zuordnungen zu vermeiden, die mit der Nutzung nachkolonialer Namensgebungen für koloniale Verhältnisse (zum Beispiel Namibia für das koloniale Deutsch-Südwestafrika) verbunden wären. Im Einzelfall wird pragmatisch verfahren, etwa wenn die Bezeichnung »subsaharisches Afrika« verwendet wird, die als Hierarchisierung verstanden werden könnte, aber weniger umständlich ist als der korrektere Ausdruck »Afrika südlich der Sahara«.

Dieses Buch kann kein umfassendes Handbuch sein. Es wählt aus, gewichtet und deutet. Es betrachtet die Raumordnung, die sozialen Verhältnisse und die politischen Handlungen. Es legt besonderen Wert auf kollektive Erinnerung und symbolische Politik. Es bietet Beispiele und versucht allgemeine Schlüsse zu ziehen, Linien zu zeichnen, Gemeinsamkeiten darzulegen, den historischen Raum Afrikas auszuleuchten. Es versteht Geschichte als Handeln und Leiden von Menschen in der Vergangenheit und sieht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, Differenzierung und Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu untersuchen, individuelles und kollektives Verhalten zu erklären und die Spielräume zu ermitteln, in denen Handlungen frei und Entscheidungen offen sind. Dieses Buch will zeigen, dass Afrika tatsächlich ein Raum von Begegnung und Austausch war, ein offener Kontinent, vielfältig in Bewegung, immer herausgefordert, doch nicht determiniert in seiner Entwicklung. In dieser Perspektive war die Zukunft Afrikas schon in der Vergangenheit offen. Und in dem Maß, in dem der Kontinent immer wieder neu gedacht und erfunden wurde, wurden auch seine Geschichte und Tradition neu gedeutet. Neue Zukunftsentwürfe forderten neue Geschichtsbilder. Insofern war schon immer nicht nur die Zukunft, sondern auch die Geschichte Afrikas offen.1

Der ferne Kontinent Afrika bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts

Ab dem 1. Jh. Südlich der Sahara entstehen erstmals größere politische Formationen und Reiche.

1.–9. Jh. Reich von Axum (auch: Aksum) im Gebiet des heutigen Äthiopien. Der Herrscher tritt im Jahr 350 zum Christentum über.

7. Jh. Nach dem Tod Mohammeds (632) beginnt die Ausbreitung des Islam in Nord- und Nordostafrika.

8. Jh. Anfänge von Simbabwe im südlichen Afrika. Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert erlebt das Reich Simbabwe Aufstieg und Blüte.

Ende des 8. Jh. Erste Erwähnung des westafrikanischen Ghana. In den folgenden Jahrhunderten wird Ghana zum bedeutendsten Reich in Westafrika. 1240 wird die Hauptstadt Ghanas durch die Armee des Reichs Mali zerstört, Ghana muss sich unterwerfen.

10. Jh. Der arabische Reisende al-Masudi erkundet die Ostküste Afrikas.

11. Jh. Der arabische Geograph al-Bakri berichtet über das Reich Ghana.

Ab dem 11. Jh. Im westafrikanischen Binnenland am Südrand der Sahara entstehen Zentren des Transsahara-Handels wie Djenné, Timbuktu, Gao und Kano.

 Ausbreitung des Islam in West- und Ostafrika, unter anderem durch die reformislamische Almoraviden-Bewegung.

 Aufstieg des Reichs Kanem am Tschadsee (seit der Verlegung der Residenz Ende des 14. Jh. Kanem-Bornu genannt). Anfänge von Kanem werden bis ins frühe 9. Jahrhundert zurückverfolgt. Ende des 16. Jahrhunderts erreicht Kanem-Bornu seine größte Machtausdehnung.

11./12. Jh. Aufstieg des Reiches Mali in Westafrika. Der Herrscher tritt im 12. Jahrhundert zum Islam über. Im Jahr 1235 erlangt der mythisch überhöhte Herrschersohn Sundjata die Macht. Im 15. Jahrhundert geht Mali als eigenständiges Reich und regionale Vormacht unter. Doch besteht das Königreich noch bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts.

12.–18. Jh. Entstehung, Aufstieg und Entfaltung der sogenannten Hausa-Stadtstaaten im Westsudan (heutiges Gebiet von Tschad, Niger und Nordnigeria). Zu einem der bedeutendsten Hausa-Staaten wird Kano. Zeitweilig müssen sich Hausa-Städte anderen Reichen unterstellen, so Ende des 15. Jahrhunderts der Oberherrschaft von Kanem-Bornu.

Ab dem 12. Jh. Über Handelsorte an der ostafrikanischen Küste wie Mogadischu, Mombasa, Malindi, Sansibar, Lamu und Kilwa wird der Export aus dem Binnenland und der Handel mit dem arabischen Raum vermittelt. Die Städte entwickeln sich zu stadtstaatähnlichen Formationen. Kilwa wird Ende des 13. Jahrhunderts als Sultanat bezeichnet.

Ab dem 13. Jh. Einführung des Pferdes aus dem arabischen Raum in die Reiche des westafrikanischen Binnenlandes.

Etwa 1350 Entstehung des Königreichs Kongo.

14. Jh. Ibn Battuta bereist unter anderem Ostafrika und das Reich Mali.

Ab etwa 1415 Chinesische Schiffe erreichen die Ostküste Afrikas (nach anderen Überlieferungen sogar schon im 14. Jahrhundert). Zeitweilig kommt ein Handelsaustausch zwischen ostafrikanischen und chinesischen Kaufleuten in Gang.

15.–18. Jh. Aufstieg und Entfaltung der Yoruba-Staaten und des Reiches Benin im Gebiet des heutigen Nigeria.

Etwa 1420 Entstehung des Luba-Reiches.

1445 Portugiesische Schiffe erreichen den Fluss Senegal. In der Folge entstehen erste portugiesische Handelsstützpunkte in Westafrika.

Mitte 15. Jh. Der europäische Sklavenhandel mit Afrika beginnt. Sklaven werden zunächst vor allem auf die Iberische Halbinsel gebracht.

1460er Jahre Aufstieg der Herrschaftsformation der Songhay in Westafrika. Das Songhay-Reich geht Ende des 16. Jahrhunderts unter.

Ab 1480 Katholische Mission im Gebiet des Kongo-Reiches.

1502 Portugiesische Schiffe (Vasco da Gama) erreichen Kilwa an der Ostküste Afrikas. In den folgenden Jahren sichert sich Portugal die Kontrolle über den ostafrikanischen Küstenstreifen.

Ab 1508 Der arabische Geograph Leo Africanus bereist den Westsudan und besucht unter anderem Timbuktu und Bornu.

16. Jh. Entstehung der sogenannten Hima-Staaten in Ostafrika. Dazu zählen Urundi, Ruanda, Buganda und Bunyoro. Bis in das 19. Jahrhundert hinein bestimmen sie die politische Raumstruktur im Gebiet der Großen Seen.

 Beginn der Sklaventransporte aus Afrika nach Amerika. In der Folge entstehen an der westafrikanischen Küste (»Goldküste«, »Sklavenküste«) Faktoreien und dann befestigte Anlagen (»Sklavenforts«), über die der transatlantische Sklavenhandel organisiert und abgewickelt wird.

 Einfuhr und zunehmende Verbreitung neuer Anbaupflanzen wie Mais, Maniok, Bohnen und Süßkartoffeln.

1506–45 Herrschaft von Affonso (I.) Mbemba Nzinga im Königreich Kongo. Der Monarch tritt wie sein Vorgänger Joao (I.) Nzinga a Nkuwu zum Christentum über.

1575 Gründung der portugiesischen Stadt Luanda an der südlichen Westküste Afrikas. Die Stadt wird zum bedeutenden Sklavenmarkt.

1593 Errichtung der portugiesischen Festung Fort Jesus bei Mombasa.

Ab dem 17. Jh. Einführung und Verbreitung von Feuerwaffen im westafrikanischen Küstengebiet.

1652 Gründung der Kapkolonie (Kapstadt) unter dem Holländer Jan van Riebeeck im Auftrag der »Vereinten Ostindischen Kompanie«. Die ersten Zuwanderer siedeln am Tafelberg. In der Folge beginnt die Expansion der Siedler (»Buren«) ins Landesinnere.

1653 Portugal erlangt die Kontrolle über einen beträchtlichen Teil des Kongo-Reiches, besonders über die Küstengebiete.

1677 Unterwerfung der Khoikhoi im südlichen Afrika durch die Buren.

Ende des 17. Jh. Entstehung des westafrikanischen Ashanti-Reiches im Gebiet des heutigen Ghana.

 Machtgewinn des Königreichs Buganda im Gebiet der Großen Seen.

1713 Ein Großteil der Khoikhoi fällt einer Pockenepidemie zum Opfer.

Ab dem 18. Jh. Ausweitung des arabischen Einflusses in Ostafrika.

Ab etwa 1735 Politische Formierung der Luba in Zentralafrika.

Ab etwa 1740 Machtgewinn und Expansion der Lunda in Zentralafrika.

Ab etwa 1750 Expansion Bugandas.

Formen gesellschaftlicher Organisation

Die Informationen über die Vor- und Frühgeschichte Afrikas sind bruchstückhaft und punktuell. Sie ergeben kein geschlossenes Bild des afrikanischen Raumes. Zudem werden die wissenschaftlichen Debatten über frühgeschichtliche afrikanische Kulturen von politisch beeinflussten Kontroversen um den Ursprung des Menschen überlagert. Dabei geht es um die Frage, ob der Homo sapiens sapiens sich an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Kontinenten zugleich und unabhängig voneinander entwickelt hat oder ob er aus einem einzigen Ursprungsraum in Afrika stammt. In historiographischer Sicht ebenso wichtig ist eine zweite, in gleichem Maße politisch überformte Debatte über den afrikanischen Einfluss auf die europäisch-abendländische Kultur. Der senegalesische Historiker Cheikh Anta Diop vertrat seit den 1950er Jahren die These, die Träger der altägyptischen antiken Kultur, deren erste schriftliche Überreste seit dem dritten Jahrtausend vor Christus überliefert sind, seien von Süden zugewandert; es habe sich also um »schwarze« Afrikaner gehandelt. Auch wenn die Grundthese einer Zuwanderung von Süden einige Unterstützung gefunden hat, bleibt weiter umstritten, wie die Zuwanderung ausgesehen hat, wer aus welchen Regionen und aus welchen Gründen in der vorchristlichen Antike in das Fruchtbarkeit versprechende Niltal zog. Dass in der afrikanischen Geschichtswissenschaft großer Wert auf den afrikanischen Charakter Altägyptens und damit auf die afrikanischen Einflüsse auf die Antike generell und mittelbar auf das Abendland gelegt wird, spiegelt die fortwährende Unsicherheit über Einheit und Zusammenhang des Kontinents Afrika in der Frühzeit. Es steht nicht nur für den Versuch, die ägyptische Hochkultur und Staatlichkeit als afrikanische Errungenschaften zu reklamieren, sondern soll auch die einflussreiche Expansion Ägyptens nach Süden, besonders nach Nubien (heute Sudan), nicht als frühe Form kolonialer Fremdherrschaft, sondern gewissermaßen als Rückkehr und zugleich als eigenständige afrikanische Reichsbildung erscheinen lassen.

Tatsächlich eröffnen die Belege über politische Organisationsformen in Afrika zur Zeit der europäischen Antike nur wenige Einblicke. Neben Ägypten ist dabei vor allem das Reich im äthiopischen Hochland (Abessinien) durch schriftliche Quellen nachweisbar. Der meist als König verstandene Herrscher von Axum im Norden Äthiopiens übernahm bereits im 4. Jahrhundert das Christentum. Doch wurde das Reich von Axum durch das Vordringen des Islam seit dem 7. Jahrhundert von der abendländisch-christlichen Welt isoliert und nahm eine kulturelle Eigenentwicklung, bei der sich christliche Elemente und tradierte heimische Kulte verbanden. Seit dem 9. Jahrhundert scheint sich der Niedergang des Reiches angebahnt zu haben. Es steht als Beispiel für eine Reihe von weiteren in Quellen auftauchenden politischen Formationen im Bereich des nordöstlichen Afrika, etwa im Gebiet des heutigen Sudan, die offenbar über eine Herrscherdynastie, einige administrative Elemente und gemeinsame Kulte verfügten. Grundmuster afrikanischer Reichsbildungen lassen sich daraus nicht ableiten.

Erst im Verlauf des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung verdichten sich die Informationen über den afrikanischen Kontinent derart, dass eine Geschichte Afrikas als Gesamtheit überhaupt in groben Umrissen rekonstruiert werden kann. Nun bildeten sich auch erkennbare Großräume heraus, und politische Landkarten des gesamten Kontinents können zumindest in groben Zügen – allerdings mit vielen weißen Flecken – skizziert werden. Sie lassen sich aus heutiger Sicht vor allem sprachwissenschaftlich erfassen. Vier bedeutende Sprachräume werden in der Regel unterschieden: erstens der Raum der afroasiatischen Sprachen im Norden, der vom Atlantischen Ozean im Nordwesten über die Mittelmeeranrainer und den Nahen Osten bis in das zentralafrikanische Gebiet und die Staaten am Horn von Afrika (Äthiopien, Eritrea und Somalia) hineinreicht; zweitens der nilosaharanische Sprachraum, der sich an den südlichen Rand des afroasiatischen Raums anschließt und Gebiete der heutigen Staaten vom Westen (Niger, Mali und andere) bis zum Osten (Sudan, auch Äthiopien) umfasst; drittens der große Bereich der Niger-Kongo-Sprachen, manchmal auch erweitert auf den niger-kordofanischen Sprachraum, der vom Atlantik bis zum Indischen Ozean reicht, sich über West-, Ost- und Südafrika erstreckt und bedeutende Sprachgruppen wie die sogenannten Bantu-Sprachen im zentralen Afrika und das Swahili in Ostafrika einschließt; viertens schließlich der heute vergleichsweise kleine Raum der Khoisan-Sprachen im südlichen und südwestlichen Afrika.

Die Abgrenzung der Räume und Sprachen ist in der linguistischen Forschung immer wieder neu gezogen worden und bis heute umstritten geblieben. Auch die Unterscheidung und Zählung von Sprachfamilien, Sprachen und Dialekten fällt schwer. Die Gesamtzahl an Sprachen, von denen nicht wenige bereits ausgestorben sind oder nur noch in kleinen Dorfeinheiten gesprochen werden, hat man beispielsweise für die Niger-Kongo-Sprachen auf über 1200 beziffert; insgesamt kann man für das vorkoloniale Afrika von weit über 2000 Sprachen ausgehen. Daraus kann man auf eine historisch tief verwurzelte gesellschaftlich-politische Kleinteiligkeit und Zersplitterung schließen, doch aufgrund der Verwandtschaft der Sprachen lassen sich auch Gemeinsamkeiten vermuten. Vor allem hat man wanderungs- und siedlungsgeschichtliche Schlüsse gezogen. Besondere Bedeutung hat die Frage der sogenannten Bantu-Wanderung. Die Verwandtschaft der Bantu-Sprachen, die sich sinnfällig und namengebend in dem gemeinsamen Begriff bantu oder abantu für »Menschen« ausdrückt, lässt nicht nur eine kulturelle Beziehung annehmen, sondern hat lange auch die Vorstellung genährt, dass alle Bantu-Völker aus einem gemeinsamen Kernraum stammen würden (stärkste Unterstützung gewann die These vom Ursprung im Sudangebiet) und sich im Zuge einer großen Wanderung etwa seit dem fünften Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung über den Kontinent ausgebreitet hätten. Doch vieles daran ist unsicher geblieben und wurde in den letzten Jahrzehnten neu diskutiert: Fraglich ist zunächst, was den Anstoß zu der großen Bevölkerungsverschiebung gab, etwa ein Klimawandel und die Austrocknung der Sahara oder ein ständiges Bevölkerungswachstum, das die Suche nach neuem Siedlungsraum mit sich brachte; fraglich ist sodann, ob sich die Wanderung als langsames Erschließen neuen Siedellandes durch einzelne Gruppen oder als quasi organisierte kollektive Fernmigration vollzog; fraglich ist weiterhin, ob das Vordringen neuer Gruppen als friedliche Durchdringung oder als kriegerische Verdrängung altansässiger Gruppen und damit als Eroberung gesehen werden muss; fraglich ist darüber hinaus, ob die in zahlreichen Geschichtserzählungen einzelner Gruppen enthaltene ursprüngliche Einwanderung auf reale Prozesse verweist oder wie die Schöpfungsgeschichten primär mythischen Charakter trägt; und fraglich ist schließlich, ob sich Sprachen überhaupt nur durch Wanderung oder nicht auch durch andere kulturelle oder materielle Entwicklungen ausbreiten und durchsetzen können. Diese neueren Zweifel an der These einer großen Bantu-Migration haben jedenfalls das Bild eines Kontinents, der über Jahrhunderte durch große Völkerwanderungen bestimmt gewesen sei, in Frage gestellt.

Dessen ungeachtet formte sich in den letzten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung eine erkennbare Raumstruktur. Sie lässt auch politische Herrschaftszonen erkennen, die in der Forschung als Hegemonien, Reiche oder Staaten bezeichnet worden sind und durch archäologische Befunde und Überreste der materiellen Kultur ebenso wie durch mythische Erzählungen und Berichte von Reisenden fassbar werden. Ein Großteil des afrikanischen Raums gehörte freilich nicht zu derartigen Reichen. Vielmehr bildeten sich Ordnungsformationen, die man mit Begriffen wie »akephale Systeme«, »Anarchien« oder »segmentäre Gesellschaften« zu charakterisieren versucht hat. Früher ging man davon aus, dass es sich dabei um Gemeinschaften ohne politische Herrschaft gehandelt habe. Mittlerweile herrscht weitgehend Übereinstimmung darin, dass es auch in derartigen Gemeinschaften Herrschaft und Autorität gegeben hat, freilich dezentral organisiert, funktional aufgeteilt oder durch Kontrollmechanismen beschränkt. Charakteristisch ist, dass in Reichen wie in segmentären Gesellschaften die Scheidelinien zwischen politischer, sozialer und kulturell-religiöser Autorität anders verlaufen konnten als in der europäischen Verfassungstradition, wenn auch viele Grundstrukturen an sogenannte vormoderne Lebensformen Europas erinnern. Die gesellschaftlich-politischen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften des vorkolonialen Afrika konnten jedenfalls auf mehrfache Weise und auf mehreren Ebenen vermittelt sein: durch Abstammung und Verwandtschaft, durch Territorium und Siedlungsraum, durch Generation und Geschlecht, durch Kultur und Religion, schließlich durch ökonomische Betätigung und Stellung. Diese Vermittlungsweisen und Ebenen, die wiederum miteinander in Beziehung stehen konnten, bedingten die Reichweite von Gemeinschaft und Herrschaft und begründeten insofern auch die Raumstruktur.

Die verschiedenen Formen von Abstammungsgemeinschaften, die die afrikanische Kultur zu dominieren scheinen, sind schwer voneinander zu trennen. Als Völker bezeichnete Großgruppen können allenfalls quantitativ von »Ethnien« oder »Stämmen« unterschieden werden. Der seit der Kolonialzeit geläufige Begriff der »Stämme« hatte und hat allerdings einen pejorativen Beigeschmack, suggerierte er doch die Primitivität und Unterlegenheit afrikanischer Kultur. In der wissenschaftlichen Forschung wurde zudem seit den 1980er Jahren unterstrichen, dass die Kolonialherren oftmals Einheiten als »Stämme« bezeichneten, die historisch gar keinen Zusammenhalt hatten, dass die Kolonialverwaltung sogar Stämme und Stammesautoritäten mit erschaffen half, weil sie klare Hierarchien und Autoritätspersonen wie »Häuptlinge« suchte, die sie als Agenten ihrer Herrschaft nutzen konnte. Die einheimische Bevölkerung habe dieses Bedürfnis der Kolonialmächte erkannt und sich die erfundenen Stammesstrukturen tatsächlich angeeignet, um so eigene Interessen in der kolonialen Situation zu verfolgen. In nachkolonialer Zeit seien die Stammesstrukturen dann genutzt worden, um auf Klientelbasis autoritäre Herrschaft abzusichern. Die daraus resultierenden tribalen Konflikte, etwa die eigentlich auf sozialem Gefälle beruhenden, von den Kolonialmächten aber als ethnisch definierten und dadurch verstetigten Differenzen zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, seien insofern ein Erbe der Kolonialzeit. Die jüngste Forschung unterstreicht dagegen wieder vorkoloniale Kontinuitäten und das reale Substrat auch von ethnischen Strukturen und versteht Ethnien nicht mehr bloß als imaginierte Gemeinschaften, sondern als Gesellschaftsformationen, die durch Abspaltungen und Neuaufnahmen freilich beständigem Wandel unterworfen waren und erst seit der Kolonialzeit quasi eingefroren wurden.

Dabei zeichnete es die ethnischen Verbände aus, dass sie sich als Abstammungsgemeinschaften verstanden. In ihren Mythen berichteten sie über die gemeinsamen Ursprünge und einen gemeinsamen Urahn, eventuell auch über eine dann folgende Aufsplitterung durch Geschwister, die jeweils eigene »Stämme« begründeten. Das gilt etwa für Gikuyu, den Urahn der ostafrikanischen Kikuyu (im heutigen Kenia), und ebenso für Kintu, auf den sich die Buganda-Dynastie (heute Uganda) zurückführte. Nach deren Tradition war das benachbarte Bunyoro-Reich von einem Sohn Kintus begründet worden – und angesichts dieser Entstehungsgeschichte also Buganda untergeordnet. Darüber hinaus erscheinen die Ethnien in den Mythen als Wanderungs- und Siedlungsverbände. Ein gemeinsames Schicksal, der gemeinsame, von Herausforderungen und Kämpfen begleitete Zug in neues Siedelland, die Erschließung von Wildnis und die territorial verbundene Niederlassung und Siedlung begründeten demnach auch das Stammesbewusstsein. Freilich sind derartige Mythen in der Regel erst seit der frühen Kolonialzeit von Missionaren, Wissenschaftlern und Beamten aufgezeichnet worden; sie spiegeln insofern schon deren am europäischen evolutionistischen Verständnis und nationalen Denkhorizont ausgebildete Erwartungen an afrikanische Stämme. Für die vorkolonialen Einheiten, etwa wandernde Bantu-Verbände, nichtstaatlich organisierte Siedlungsgemeinschaften und frühe staatsartige Formationen, ist selten nachweisbar, dass sie sich primär als »Stämme« oder »Völker« definiert haben; häufiger dagegen handelte es sich um – in heutiger Begrifflichkeit – multiethnische Verbände, die Gemeinsamkeiten in Sprache und Religion aufwiesen.

Ethnien oder »Stämme« von bis zu mehreren zehntausend Mitgliedern waren insofern eine mögliche, aber nicht die wichtigste Form vorkolonialer Ordnung. Weit wichtiger waren kleinteilige Verbände wie Klans und Lineages. Diese in der Wissenschaft gebräuchlichen Begriffe sind indes nicht scharf voneinander zu trennen, weitere begriffliche Ergänzungen (»Subklan«) helfen ebenso wenig weiter wie Versuche, in exakter Abstufung eine quantitative Hierarchie von der Familie über die Lineage als Untereinheit des Klans bis zum Klan als Teil einer Ethnie zu definieren. Klans konnten sogar Mitglieder in unterschiedlichen Ethnien haben. Einer strengen Schematisierung widersetzt sich also die historische Vielfalt. Lineages und Klans entstanden tatsächlich wohl oft erst unter den Herausforderungen von Wanderung, Krieg und wirtschaftlichem Überlebenskampf. Erst im Nachhinein wurde eine gemeinsame Abstammungslinie konstruiert. Reale und konstruierte Gemeinsamkeit sind daher schwer voneinander zu trennen. Offenbar jedenfalls spielten im subsaharischen Afrika größere Verwandtschaftsverbände von einigen hundert bis manchmal auch einigen tausend Mitgliedern im kollektiven Selbstverständnis wie bei der gesellschaftlichen Ordnung noch bis ins 19. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle. Das Abstammungs- beziehungsweise Verwandtschaftsverhältnis war für die Zeitgenossen allerdings auch dann wichtig, wenn ihnen die fiktive Qualität durchaus noch bekannt war.

Verwandtschaften wurden sorgfältig von Bünden unterschieden, wie sie vor allem in West- und Zentralafrika verbreitet waren. Bünde beruhten auf formal freiwilligem Zusammenschluss, ermöglichten anders als Vereine freilich selten ein Ausscheiden aus freiem Entschluss. Bünde konnten Mitglieder unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlichen Alters vereinen (selten allerdings Mitglieder unterschiedlichen Geschlechts, neben Männerbünden gab es eigene Frauenbünde). Im Inneren waren die Bünde durch Aufgabenverteilung und Befugnisse häufig hierarchisch strukturiert und basierten oft auf einem Geheimwissen, das in speziellen Riten und Zeremonien verfestigt und fortgetragen wurde. Ihre Aufgaben konnten ganz unterschiedlicher Art sein: Das reichte von der Vertretung wirtschaftlicher Interessen und der Kontrolle von Handel und Markt über die Begleitung von individuellen Lebensläufen und kollektiven Ereignissen durch Feste und Riten bis hin zu administrativen und militärischen Aufgaben. Räumlich wie ethnisch waren Bünde nicht eingegrenzt; sie konnten sich weit über ihren Ursprungsort hinaus verbreiten. Bünde stellten folglich neben der Verwandtschaft Beziehungsnetzwerke bereit, die der gesellschaftlichen Integration ebenso wie der politischen Absicherung dienen konnten.

Ein weiteres derartiges gesellschaftliches Netzwerk wurde durch das System von Generationseinheiten und Altersklassen geknüpft, die besonders im ostafrikanischen Raum, etwa bei der Ethnie der Kikuyu im zentralkenianischen Bereich, außerordentlich vielfältige und wichtige Funktionen im religiösen, sozialen, politischen und militärischen Bereich übernehmen konnten. Obwohl die Altersgruppen wie die Bünde gleichermaßen nicht auf einer Abstammungsfiktion beruhten, spielte das Prinzip der Freiwilligkeit bei den Altersgruppen eine noch geringere Rolle als bei den Bünden. Der Zutritt erfolgte durch die Beschneidung, die bei Jungen im Alter von 15 oder 16 Jahren, bei Mädchen im Alter von 12, 13 oder 14 Jahren vorgenommen wurde. Sie war zur vollständigen Integration in die Gesellschaft unumgänglich. Die Beschneidung begründete eine lebenslange Gemeinschaft des Beschneidungsjahrgangs (der nicht unbedingt ein Geburtsjahrgang sein musste), die auch aufrechterhalten wurde, wenn die Mitglieder ihren Herkunftsort verlassen hatten, und insofern gerade in Zeiten gesellschaftlicher Destabilität hohe Bindungswirkung und Sicherheit versprach. Das Altersklassen-System basierte auf der Vorstellung, dass mit verschiedenen Altersstufen nicht nur verschiedene individuelle Lebenssituationen durchschritten wurden, sondern auch unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen übernommen werden mussten. Der beschnittene Jugendliche trat in den Status des Kriegers ein. Mit dem Alter der Familiengründung, oft mit über Dreißig, war der Übergang in den Erwachsenenstatus verbunden, darauf folgte die Klasse der Alten. Diese Hauptklassen waren wiederum mehrfach unterteilt, abhängig von der familiären Situation, der Geburt und dem Heranreifen der Kinder. Der Übergang von einer Altersklasse in die nächste wurde von einer Reihe von Ritualen begleitet, die auch die Verdrängung der vorangegangenen Altersklasse symbolisch darstellten und insofern den Generationskonflikt einzuhegen versuchten.

Das System der Altersklassen oder Altersgrade wurde bei vielen Ethnien Ostafrikas überlagert durch ein Generationenmodell: Altersklassen waren in Generationseinheiten zusammengefasst. Die Generationen, die zum Beispiel bei den Kikuyu alternierend als maina und mwangi bezeichnet wurden und für die Vorstellung eines zyklischen Geschichtsablaufs standen, lösten sich im Rhythmus von etwa 25 bis 30, manchmal wohl auch bis zu 40 Jahren an der Macht ab. Die Führungsfunktionen wurden also von einer Generation wahrgenommen und nach der vorgeschriebenen Spanne von Jahren an die folgende übergeben. Die Übergabe (itwika) erfolgte in einem komplizierten Ritual und konnte sich über mehrere Jahre hinziehen. Erst diese feierliche Übergabe legitimierte eine neue Generation, politische Macht auszuüben. Sie war allerdings kein Automatismus und verlief wohl selten konfliktfrei, sondern spiegelte die beständige Auseinandersetzung um Prestige und Macht.

Neben der großen Bedeutung und Wirkkraft übergreifender verwandtschaftlicher, generationeller oder bündischer Beziehungsnetze erscheint die öffentlich-gesellschaftliche Rolle der Familie im engen Sinn keineswegs marginal. Die Vielfalt der Familienformen verbietet allerdings eine systematisierende, zeitübergreifende Darstellung, abgesehen von wenigen Gemeinsamkeiten wie dem Vorherrschen der Polygamie. Matrilineare Formen, bei denen Abstammung und individuelle Zuordnung von der mütterlichen Familie hergeleitet wurden oder auch der neue Haushalt bei der mütterlichen Familie angesiedelt war, spielten in einem breiten Gürtel des mittleren Afrika eine bedeutende Rolle. Sie behaupteten sich neben patrilinear strukturierten Gesellschaften oder solchen Gesellschaften, in denen eine eindeutige Zuordnung schwer möglich erscheint oder sogar die Ehepartner in ihrer Herkunftsfamilie verblieben, also getrennt wohnten. Eheschließungen unterlagen strikten sozialen Normen, die von den Traditionen und Interessen der Verwandtschaftsgruppe bestimmt wurden. Die Aufgaben der Geschlechter waren dabei, wenn auch in einzelnen Gruppen unterschiedlich, scharf voneinander getrennt. Auch matrilineare Familienformen hielten am politischen Vorrang der Männer fest, die in Ratsversammlungen und Generationseinheiten sowie bei militärischen und religiös-kultischen Funktionen dominierten. In einigen mythischen Erzählungen, etwa bei den Kikuyu in Ostafrika, war von einer ursprünglichen Herrschaft der Frauen die Rede. Doch diese wurde negativ bewertet, und die eigentliche Geschichte begann mit ihrer Überwindung. Durchweg behielt die Familie eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Status und Prestige. Freilich erscheinen die Grenzen zur erweiterten Familie und Verwandtschaft fließend, nur darüber erschloss sich die Bedeutung der Familie im engen Sinn, die, da nicht nur die Ehepartner, sondern auch die Kinder schon früh in die Ordnung der Gemeinschaft eingebunden waren, ohnehin nicht als autonomer oder gar intimer Emotionsverband angesehen werden kann und die zudem nicht einmal als teilautonomer Arbeits- und Produktionsverband gelten darf, denn auch die wirtschaftliche Betätigung musste den Regeln größerer Verbände wie Nachbarschaft oder Dorf folgen.

Nachbarschaft und Dorf wiederum waren territorial bestimmte, kleinräumige Verbände, die sich mit verwandtschaftlichen und ethnischen ebenso wie generationellen Verbindungen decken konnten, aber nicht mussten, und die vor allem Solidarität und Zusammenarbeit im Alltag verlangten. Die Größe derartiger Verbände und Dörfer war von den natürlichen und materiellen Bedingungen bestimmt und wandelbar, ebenso die Verbindung zwischen einzelnen Dörfern. Dörfer waren keine verfassungsgeschichtlich fassbaren Konstanten wie Altersklassen und Bünde, aber sie waren auch keine herrschaftsfreien Zonen, sondern je nach Größe und sozialer Differenzierung hierarchisch strukturiert. Einheitliche Autoritäten freilich, wie sie die Kolonialherren in der Gestalt von Dorfältesten zu finden versuchten, sowie feste Zuordnungen, die etwa das Dorf als bodenrechtliche Vergemeinschaftungsform erscheinen lassen, sind nicht nachzuweisen. Ungeachtet dessen wurde tatsächlich der Boden nirgends als freies oder privates Eigentum gedacht, allerdings auch nicht eigentlich als genossenschaftliches oder Gemeineigentum. Boden konnte vielmehr entweder als gemeinsam erschlossenes, durch Ahnengrablegen besetztes, kollektiven Regeln unterworfenes, aber individuell genutztes Land gelten. Oder brachliegender Boden ging in den Besitz dessen über, der ihn bearbeitete, dies aber auch nur, solange er ihn bearbeitete; wieder ungenutzt gelassen, konnte der Boden von jedem beliebigen anderen Dorfbewohner in Nutzung und damit in Besitz genommen werden. Dorfgemeinschaften hatten insofern eine wichtige Funktion bei der Regelung des Zugangs zur Nutzung des Bodens. Vorrang hatten oft diejenigen, die sich als früheste Ansiedler etablieren konnten, spätere Zuwanderer in ihre Abhängigkeit brachten und neben dem Land auch lokale Kulte begründeten und kontrollierten.

Die Übergänge zwischen dörflichen und städtischen Siedlungen waren fließend, zumal es einen rechtlichen Stadtbegriff, der etwa eine besondere Rechtszone und ein besonderes Stadtbürgerrecht begründet hätte, nicht gab. Städte im strengen Sinn, charakterisiert durch verdichtete Besiedlung und einen hohen Anteil von Gewerbe und Handel, basierend auf agrarischer Überschussproduktion im Umland und gesellschaftlicher Arbeitsteilung, blieben die Ausnahme. Städtische Niederlassungen gab es an den Küsten West-, Ost- und Südafrikas, etwa Mombasa und Sansibar oder das 1652 gegründete Kapstadt. In der Regel hatten sie nicht mehr als einige tausend Einwohner. Zudem gab es eine Reihe von Residenzen, die beträchtliche Ausmaße erreichen konnten. Die Shona-Stadt Groß-Simbabwe mit an die 18 000 Einwohnern ragte dabei heraus. Neben politischen konnten auch kultische Zentren städtebildend wirken, beide wiederum zogen gewerbliche Bereiche an. Beispielhaft stehen im westafrikanischen Binnenland politische und religiöse Yoruba-Zentren wie Ife oder Oyo, die in den ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends entstanden. In dieser westafrikanischen Region entwickelte sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte ein Netzwerk von Siedlungen hin zu einer schon stärker gewerblich aktiven Städtelandschaft. Im westafrikanischen Binnenland entstand zudem im Zuge des Transsahara-Handels seit der Jahrtausendwende eine Reihe von Handelszentren, aus denen sich vom 14. bis zum 17. Jahrhundert Städte wie Timbuktu, Gao oder Kano entwickelten.

All diese blieben über Jahrhunderte freilich Ausnahmen. Vorstaatlich organisierte, kleinteilige Gemeinschaften, die auf Landwirtschaft basierten, brauchten keine städtischen Zentren und konnten sie auch nicht unterhalten. Die seit dem späteren ersten Jahrtausend dokumentierten Reichsbildungen mit eigenen Residenzen stellten eher Ausnahmen dar. Dominant waren dagegen kleinteilig organisierte Gesellschaftsformationen, die sich sowohl bei nicht oder nur zeitweise sesshaften Völkern und Ethnien, die sich von der Viehhaltung ernährten, wie die Nuer im Sudan, als auch bei sesshaften Ackerbauern wie den Tiv im Gebiet des heutigen Nigeria fanden. Eine Konzentration von politischer Macht auf bestimmte Instanzen oder Personen war hier nicht erkennbar, doch waren derartige segmentäre Formationen keineswegs frei von Hierarchie und Herrschaft. Neben beträchtlichem sozialem Gefälle und der Existenz von Unfreien – wenn auch wohl in geringerer Zahl als in den großen Reichen – gab es immanente Machtstrukturen und dominierende big men in den Dörfern. Vor allem gab es Strukturen und Ordnungen: Ein Geflecht von Regeln, Riten und Räten bestimmte das Gemeinschaftsleben, sorgte für den Zusammenhalt und garantierte die Handlungsfähigkeit selbst in Fällen von Konflikt und Herausforderung, bis hin zu militärischem Widerstand und Kriegführung noch in der Kolonialzeit. Was indes fehlte, war das, was Staatlichkeit nach westlichem Modell ausmachte: die Ausbildung territorialer und institutioneller statt personaler Macht, die funktionale Zuteilung der Gewalten im Gemeinwesen und die Zentralisierung normsetzender und exekutiver Funktionen im Sinne eines Gewaltmonopols.

Segmentäre Gesellschaftsformen existierten vor allem im Binnenland West- und Ostafrikas in ausgedehnten Waldregionen, die einen großflächigen territorialen Zusammenhalt weder sinnvoll noch möglich erscheinen ließen. Aber auch in manchen Küstenregionen blieb die Struktur segmentär und kleinteilig wie bei den Jola (heute Senegal) oder den Igbo (heute Nigeria). Trotzdem konnten auch in segmentärer Gestalt weiträumige Netzwerke entstehen, die durch Klan und Verwandtschaft oder durch Handel und Bünde zusammengehalten wurden und bis zu einigen zehntausend Menschen erfassen konnten. Diesen Verbänden fehlte aber auf der einen Seite ein präzise bestimmbares Territorium, auf der anderen Seite ein eindeutiger politischer Mittelpunkt; sie waren polyzentrisch strukturiert und an den Rändern offen und durchlässig. Segmentäre Gesellschaften kannten im Übrigen durchaus eine gewisse funktionale Ausdifferenzierung von Ämtern. Dazu gehörten vor allem religiöse Führer und Ritualbeauftragte. Derartige Funktionen konnten erblich sein. Bünde und Altersklassen regulierten zudem die gesellschaftliche Rangordnung. Der rechtliche Sanktionsmechanismus basierte auf den – freilich durch Möglichkeiten der Mediation abgemilderten – Prinzipien der Vergeltung. Das konnte von Kompensationszahlungen bis zu körperlicher Vergeltung reichen. Derart wurde neben der kollektiven Sitte vor allem die individuelle Ehre zu einem rechtssubstituierenden Pfeiler segmentärer Gesellschaften. Die Offenheit der Struktur begrenzte dabei die Erzwingung von Loyalität: Einzelne Teile und Gruppen konnten sich durch Abwanderung den Regeln der Gemeinschaft entziehen. Gesellschaftsformen in Afrika hatten eine hohe soziale Verbindlichkeit und wiesen einen hohen Grad nicht nur an vertikaler, sondern auch an horizontaler Disziplinierungskraft auf. Dennoch verfügten sie über Ventile und Ausgleichsmechanismen, die scheinbar das Modell in seinem Wesen in Frage stellten und deshalb aus westlicher Staats- und Rechtstheorie nur schwer angemessen einzuordnen sind.

Auf dem Weg zur Staatlichkeit? Politische Formationen und Reiche

Die Übergänge zwischen Gesellschaften ohne politische Zentrale und den sogenannten Reichen oder Hegemonien waren fließend. Nicht nur basierten die Reiche auf Grundstrukturen und Grundelementen, die auch für segmentäre Gesellschaften charakteristisch waren, etwa was die herausragende Bedeutung von Familie, Verwandtschaft und Klan, aber auch die Rolle des Dorfs als Siedlungsverband anging. Vielmehr ist in manchen Fällen auch nicht eindeutig, wie bei Prozessen der Konzentration politischer Macht die Scheidelinie zwischen Gesellschaftsformationen scharf gezogen werden kann. Zudem ist fraglich, ob man für die Zeit bis in das 18. Jahrhundert hinein tatsächlich von Staaten sprechen sollte, wie das sowohl in der vom nachkolonialen Nationaldenken in Afrika beeinflussten Forschung, etwa in den Arbeiten von Joseph Ki-Zerbo, als auch in der westlichen soziologischen Forschung und in zahlreichen historischen Darstellungen bis heute geschieht. Zwar trägt dieser Zugang zur Aufwertung Afrikas im europäischen Blick bei und vermeidet Vorannahmen eines grundsätzlichen Andersseins Afrikas. Zudem erlaubt er Einsichten in den Wandel gesellschaftlicher Formationen. Dennoch können mit dem Staatsbegriff missverständliche Assoziationen hervorgerufen werden. Sinnvoller ist es, wie bei den Reichsbildungen des europäischen Mittelalters angesichts beschränkter Gewaltmonopolisierung und unvollständiger herrschaftlicher Durchdringung nicht nach Staaten, sondern eher nach Staatlichkeit zu suchen und nach den Bedingungen zu fragen, unter denen aus Gesellschaftsformationen politische Einheiten wurden und sich Elemente von Staatlichkeit ausbildeten, ohne dabei freilich den Weg zum Staat als unausweichlichen Modernisierungsprozess zu sehen.

Das berührt die Frage, wie die nicht unbeträchtliche Kette von Integrationen zu politischen Großverbänden oder Reichen in Afrika seit dem ausgehenden ersten Jahrtausend zu erklären ist. Jedenfalls ist ein rein evolutionistisches Bild, das Reiche als fortgeschrittenes Stadium innerafrikanischer Modernisierung sehen will, nicht sinnvoll: Reichsbildungen vollzogen sich vielmehr parallel zum Fortbestand segmentärer Formationen, und diese konnten jene auch überleben. Ebenso können westliche Theorien über die Entstehung des Staats nicht ohne weiteres auf Afrika übertragen werden, will man nicht voraussetzen, was erst zu beweisen wäre, nämlich die Staatsähnlichkeit politischer Formationen Afrikas vor dem Kolonialzeitalter. Dennoch muss nach den Ursachen der Entstehung von größeren politischen Verbänden mit Zentralgewalt und Elementen von staatlicher Herrschaft gefragt werden.

Dafür hat man eine Reihe von Gründen angeführt. An erster Stelle stehen meist Expansion und Krieg, das heißt die Wanderung oder Ausdehnung des Einflussgebiets eines Klans oder einer Ethnie, die gewaltsame Unterwerfung oder Verdrängung ansässiger Bevölkerungsgruppen und die daraus folgende Notwendigkeit, Verwaltungsstrukturen aufzubauen, um beispielsweise die Sicherheit des Herrschers und die Eintreibung von Tributen zu garantieren, die wiederum den Aufbau einer Verwaltung erst finanziell möglich machten. Ein weiterer wichtiger Aspekt der politischen Integration ist die Kontrolle des Fernhandels. In vielen Fällen entwickelten sich staatliche Gebilde dort, wo sich Fernhandelsrouten kreuzten, etwa im Savannengebiet am Südrand der Sahara, wo wichtige Schaltstellen des Handels lagen, die zugleich Sicherheit verlangten und Erträge versprachen. Der Handel mit Gold, Salz und Sklaven hatte insofern politische Integrationsprozesse zur Folge. Freilich gibt es im zentral- und ostafrikanischen Binnenland auch Gegenbeispiele, Reichsbildungen ohne erkennbare kommerzielle Hintergründe. Einer Reichsbildung ging oftmals die Professionalisierung und Reorganisation des Militärs voraus. Wichtige Bedingung der Etablierung einer Vorherrschaft waren dabei kriegs- und militärtechnische Errungenschaften, die erst politisches Gefälle möglich machten. Dazu zählte zunächst die Eisenverarbeitung, die schon vor unserer Zeitrechnung in Afrika bekannt war und die Herstellung wirkungsvollerer Stoß- und Hiebwaffen erlaubte. Dann kam das Pferd hinzu, das seit dem 13. und verstärkt seit dem 14. Jahrhundert aus dem arabischen Raum eingeführt wurde (zuvor waren punktuell nur kleine Pferde in Pony-Größe eingesetzt worden) und seit dem 16. Jahrhundert in mehreren Reichen der Savannenregionen Westafrikas, etwa in Songhay und Bornu, bei der Kriegführung genutzt wurde. Das Pferd garantierte zwar militärische Überlegenheit, hielt aber nicht in allen Regionen dem Klima und den Krankheiten stand. Zudem war es teuer. Da es häufig in Sklaven bezahlt wurde, förderte die militärische Nutzung des Pferdes auch den Sklavenhandel. Der Preis für ein Pferd war unterschiedlich, in jedem Fall entsprach es dem Wert mehrerer Sklaven. Zudem trug die militärische Nutzung des Pferdes zur Entstehung einer Reiterelite bei, die auch symbolisch ihre Überlegenheit und ihr elitäres Bewusstsein demonstrierte. Von Bedeutung war ferner die Einfuhr von Feuerwaffen. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts waren Feuerwaffen an der westafrikanischen Gold- und Sklavenküste weitverbreitet, dann gelangten sie ins Innere. Mit Verzögerung verbreiteten sich Feuerwaffen auch in Ostafrika von der Küste aus ins Binnenland. Nach Westafrika kamen die Waffen entweder aus Europa durch Händler über die Küste oder durch die Sahara aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Manche Binnenregionen erhielten allerdings bis ins 19. Jahrhundert kaum Zugang zu Gewehren, zumal wenn ihnen adäquate Tauschgüter fehlten. Auch manche ostafrikanische Völker wie die Massai hatten keine Gewehre. Umstritten ist in der Forschung, welche Effekte Feuerwaffen für die importierenden Gesellschaften hatten. Vermutlich haben sie schon vorher angelegte Tendenzen der Konzentration von Macht beschleunigt, eventuell haben sie auch die Gewalt- und Expansionsbereitschaft gefördert oder sogar erst hervorgerufen. Jedenfalls stärkten sie durch die symbolische Überlegenheit, die von ihnen ausging, protostaatliche Regime auch dann, wenn ihre militärische Bedeutung angesichts unzulänglicher und fachunkundiger Wartung auf die Dauer gering blieb. Schließlich kam der Religion herausragende Bedeutung bei der symbolischen Ausdeutung der Herrschaft zu; die Herrscherkulte waren immer auch religiöse Kulte, die Herrscher wurden in der Regel sakral verehrt. Bedingung für die Gründung von Reichen war eine bestimmte Form der Religion nicht: Von autochthonen Kulten bestimmte Systeme standen neben islamischen Formationen. Eine Darstellung der Integrationsprozesse in Afrika vom 10. bis zum 18. Jahrhundert muss deshalb eher deskriptiv-phänomenologisch vorgehen. Dabei sind drei Aspekte besonders in den Blick zu nehmen.

Erstens basierte jede Reichsbildung, folgt man den mythischen Erzählungen und Berichten von Beobachtern, auf einer bedeutenden Familie oder herausragenden Persönlichkeiten. Ausgehend von den Gründern wurde das Herrscheramt erblich. Die Herrscher führten ihre Dynastie bis auf den Urahn des Volkes zurück. Amt und Person des Herrschers waren sakralisiert, obwohl er in der Regel nicht die obersten kultischen Funktionen wahrnahm. Der Herrscher symbolisierte die Einheit, die auch in Festen und Riten dargestellt und wieder mit seiner Person verknüpft wurde. Oft hatte er eine Residenz, oft allerdings herrschte auch noch eine Art Reisekönigtum, weil anders Herrschaft nicht realisiert werden konnte. Der Herrscher verfügte einerseits über eine außerordentliche Machtfülle, auch was Leib und Leben seiner Untertanen anging. Andererseits herrschte er weder autokratisch noch absolutistisch im Sinne der europäischen Staatstheorie. Er musste nicht nur Regeln folgen – selbst wenn er sie selbst mitgeschaffen hatte –, sondern hatte wohl in den meisten Fällen auch mit institutionalisierten Gegengewichten zu rechnen, ob dies nun ein Ältestenrat, ein Rat der führenden Familien oder eine Vertretung der Klans oder Regionen des Reichs war; auch Bünde oder Geheimgesellschaften konnten zur Integration der Eliten unabhängig vom Herrscher dienen. Im Einzelfall konnte ein unfähiger Herrscher sein Leben verwirken und wie im Yoruba-Staatswesen Oyo von einem Rat zur Selbsttötung gezwungen werden.

Zweitens lässt sich das Herrschaftssystem weder als Personenverband noch als Territorialregime hinreichend erklären. Im Vordergrund stand die personale Bindung, an erster Stelle die Bindung an den Fürsten. Doch gab es durchaus eine Vorstellung von territorialer Herrschaft, auch wenn sie mit dem europäischen Staatsrecht nicht vereinbar war, und zugleich das Bemühen, Räume zu beherrschen. Dazu dienten meist regionale Autoritäten, die aus erblichen Führungsämtern hervorgehen oder auch ernannt sein konnten. Ihre Aufgabe war im Wesentlichen die Eintreibung und Ablieferung der Tribute, die Sicherstellung der Dienstleistungen und im Fall eines Kriegszuges auch die Zusammenstellung des militärischen Aufgebots aus der Region. Trotz dieser rational anmutenden Territorialeinteilung ließ die Autorität der Zentrale zu den Grenzen hin nach. Das Territorium wurde von der Zentrale her gedacht. Territorium des Reichs war, was militärisch bezwungen war und wo Tributleistungen durchgesetzt werden konnten. Grenzen waren dabei schon deshalb nicht zu benennen, weil die unterworfenen Regionen wiederum als Siedlungseinheiten oder Personenverbände mit fließenden Grenzen wahrgenommen wurden. Zudem war es nicht ungewöhnlich, dass sich einzelne Familien und Gruppen von der Zentralgewalt lossagten und einer anderen Herrschaft unterstellten. Das Reich konnte sich folglich beständig an manchen Stellen ausdehnen, an anderen zusammenziehen, wie es dem Siedlungsgebiet der unterworfenen Bevölkerungsgruppe entsprach.

Drittens findet man viele Elemente von Staatlichkeit, in freilich je spezifischer Mischung. Dazu zählen vom Herrscher eingesetzte Amtsträger, eine Verwaltung also, die nicht auf den Erbeliten basierte und zum Teil sogar von Sklaven ausgeführt wurde. Manche Reiche hatten ein stehendes Heer oder jedenfalls eine Art Kriegerstand, in der Regel mit besonderer Ausrüstung (Pferd, Rüstung, später Feuerwaffen), der wiederum eine gesellschaftliche Sonderstellung mit sich brachte. Allerdings verfügten in den älteren und kleineren Reichen wie im Königreich Kongo die Herrscher vermutlich nur über eine Art Leibgarde. Im Kriegsfall wurden dann über die Regional- oder Dorfobrigkeiten junge Männer rekrutiert, außerdem Truppen von Verbündeten mobilisiert. Einen festen Sold erhielten die Soldaten in der Regel nicht, ihre Belohnung war die Beute, die im Kriegszug gemacht werden konnte, an erster Stelle Sklaven. Auch ein Gesandtschaftswesen wurde von den differenzierteren Gemeinwesen aufgebaut, zum Teil bereits mit ständigen Gesandten, dies wohl allerdings vor allem bei unterworfenen Herrschern, um die Tributzahlungen zu überwachen. Basis der politischen Organisation war eine Art Besteuerung, das heißt de facto eine regelmäßige Tribut- und Dienstpflicht der unterworfenen Bevölkerung. Damit wurden auch öffentliche Arbeiten sichergestellt, zum Beispiel und namentlich im Wegebau. Die Einheit von Herrscher, Dynastie und Land wurde durch öffentliche Kulte und Symbole ausgedrückt und befestigt. Der Ort der Herrschaft war der Hof. Dort versammelten sich Amtsträger und Eliten, auch die Vertreter der entfernteren Ethnien oder Regionen, ferner die Gesandten anderer Reiche, dort wurde Herrschaft nicht nur repräsentiert, sondern konzipiert und ausgehandelt. Symbolischer Ausdruck und reale Macht gingen dabei eine untrennbare Verbindung ein. In diesem Rahmen konnten viele politische Großformationen über Jahrhunderte bestehen bleiben, ohne dass eine Entwicklung zu modernen Staatswesen im europäischen Sinn absehbar schien. Ein evolutionistischer Determinismus wäre also fehl am Platz. Der Blick auf Einzelfälle kann die Formen von Staatlichkeit in Afrika näher beleuchten.

Das nach Äthiopien bekannteste Beispiel einer Reichsbildung im ersten Jahrtausend ist wohl das Reich Ghana, das dem heutigen westafrikanischen Küstenstaat den Namen gegeben hat, aber in keiner territorialen oder gar ethnischen Kontinuität zu ihm steht (und deshalb zur präzisen Unterscheidung in der Literatur gelegentlich als »Gana« bezeichnet wird). Die erstmals im 8. Jahrhundert in Quellen genannte Formation lag im westafrikanischen Binnenland der Savanne, im Norden stieß sie an die Sahara, im Südwesten und Südosten an die Oberläufe der Flüsse Senegal und Niger, die sie zeitweise wohl überschritt. Die Anfänge liegen im Dunkel und sind Gegenstand weitläufiger Kontroversen geworden. Tatsächlich mussten wohl verschiedene Bedingungen zusammenkommen, die Reichtum und Macht der Region begründeten. Die im Gebiet ansässige Mehrheitsbevölkerung, das Volk der Soninke, betrieb Ackerbau und Viehzucht gleichermaßen, primär zwar in Subsistenzwirtschaft, doch dank dem Fehlen der Tsetse-Fliege und der günstigen klimatischen Bedingungen mit kontinuierlichen und sicheren Erträgen und regelmäßigen Überschüssen, die einen Marktaustausch ermöglichten. Für den Durchgangshandel lag die weitgehend flache Region zudem außerordentlich günstig zwischen Sahara und Regenwald; mehrere zunehmend bedeutende Handelsrouten kreuzten und liefen namentlich in Koumbi Saleh (im Südosten des heutigen Mauretanien) zusammen. Diese Siedlung wurde zum Handelszentrum und zugleich zur Hauptstadt des neuen Reichs. Sie wies offenbar Steinhäuser und eine sozial aufgefächerte Siedlungsstruktur auf; davon abgesondert war wohl der befestigte Wohnbereich des Herrschers. Hinzu kam, dass sich die Soninke seit dem 4. Jahrhundert auf die Eisenbearbeitung verstanden und Werkzeug und Waffen aus Eisen herstellten. Und schließlich hatten sie Zugang zu Goldfunden an den Oberläufen von Niger und Senegal, die sie über die Sahararouten in den arabischen Raum und bis nach Europa exportierten. Weitere für die Zeit bedeutsame Handelsgüter (z. B. Salz) trugen dazu bei, dass die Soninke eine Schlüsselfunktion erlangen konnten – dies freilich in einer Übergangszeit, in der die politische Raumordnung durch Veränderungen im arabischen Gebiet, einsetzende Bevölkerungsbewegungen und die Intensivierung des transsaharischen Handels in Bewegung geriet.

Auch die Soninke waren davon betroffen, der Islam drang hier ebenfalls vor. Im 11. Jahrhundert schloss sich das Herrscherhaus dem neuen Glauben an. Doch blieben tradierte Kulte daneben bestehen und erlaubten dem Herrscher, sich als religiös-gottähnlichen Führer in Koumbi zu etablieren. Bedingung der Macht des Herrscherhauses oder der quasi-aristokratischen Führungsschicht bildete die Kontrolle über den Handel und die Sicherung der Routen. Damit wurde der wichtige Austauschverkehr zwischen Nordafrika auf der einen und West- beziehungsweise Zentralafrika auf der anderen Seite garantiert. Gold und später Sklaven wurden nach Norden transportiert, Salz und gewerblich-handwerkliche Produkte nach Süden. Handelsabgaben stellten die fiskalische Basis dar, hinzu kamen Abgaben der umliegenden, mehr oder minder gut kontrollierten Siedlungen und ethnischen Gruppen. Das System bestand aus einer starken kommerziellen und politisch-militärischen Zentrale, deren Ausstrahlungskraft auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich weit reichte und sich auch ständig veränderte; um eine Territorialherrschaft im engen Sinn mit klar definierten Grenzen handelte es sich nicht. Bestand hatte das System nur, solange es seine Existenzbedingungen garantieren konnte: Frieden und Handelssicherheit. Da das Herrschaftssystem indes auf der Einordnung unterschiedlicher Völker basierte und zugleich vielfältige materielle Begehrlichkeiten auf sich zog, war die Herrscherschicht ständig gefährdet. Dem Aufstieg und der Blütezeit um die Jahrtausendwende folgte eine Phase der Herausforderungen, kurzzeitiger Beherrschung durch islamische Reformkräfte, die Almoraviden, im späten 11. Jahrhundert, die zunehmende Konkurrenz anderer Handelsrouten, weiterer Machtverfall und schließlich um 1240 die Einordnung in das Herrschaftssystem des Reichs von Mali.