Geschichte einer Ehe - Geir Gulliksen - E-Book

Geschichte einer Ehe E-Book

Geir Gulliksen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dies ist die Geschichte einer Ehe. Und einer großen Liebe. Es geht um eine Frau und einen Mann, die sich ein Leben teilen, es ist ein gutes. Sie führen eine moderne Beziehung. Sie sind glücklich miteinander. Jedenfalls für lange Zeit. Dann plötzlich bricht alles auseinander. Warum? Was ist geschehen? Der Mann in diesem Roman sucht Antworten. Was muss passieren, dass zwei, die einander liebten, nicht mehr miteinander reden, leben, schlafen können? Was ist schiefgelaufen, vor allem aber: wie hat sie es, die Frau gesehen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 246

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die norwegische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Historie om et ekteskap« im Verlag Aschehoug, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Dies ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte oder Personen dienen lediglich dazu, ein fiktives Universum zu erschaffen.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 2015

Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo

© der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Covergestaltung: buxdesign, München

ISBN 978-3-641-21274-2V002www.luchterhand-literaturverlag.de

Geir Gulliksen

Geschichteeiner Ehe

Roman

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein

Luchterhand

sometimes I think this whole worldis one big prison yardsome of us are prisonersthe rest of us are guards

1

»Bitte erzähl von uns.«

»Von uns?«

»Erzähl es mir so, als wüsste ich nichts.«

»Wir waren ein Paar.«

»Ja. Und was noch?«

»Wir waren Frau und Mann. Wir hatten geheiratet.«

»Und außerdem?«

»Wir waren Mutter und Vater. Wir hatten gemeinsame Kinder.«

»Nicht das. Erzähl von uns beiden. Was ist mit uns passiert?«

»Wir haben zusammengelebt.«

»Haben wir aufeinander aufgepasst?«

»Wie meinst du das? Doch, das haben wir.«

»Aber dann, eines Tages.«

»Aber dann, eines Tages? Willst du, dass ich davon erzähle?«

»Ich muss hören, was mit uns passiert ist. Ich verstehe es nicht.«

»Mir ist es auch nicht ganz klar.«

»Kannst du mir trotzdem davon erzählen?«

»Ich glaube, das schaffe ich nicht. Nein, ich will nicht, ich kann nicht.«

»Willst du, dass ich es stattdessen erzähle? Dann tue ich das.«

2

Ich muss mir vorstellen, wie es für sie war, in diesem Herbst, an einem der Tage, bevor alles geschah. Sie stand mitten im Leben, trat unbefangen in alle Räume und Situationen. Die anderen Körper umgaben sie wie ein freundlicher Wald, sie bewegte sich unbeschwert zwischen allen, kam mit jedem ins Gespräch. Sie hatte seit jeher langes Haar gehabt, doch nachdem wir zusammengekommen waren, hatte sie es kurz schneiden und dunkler färben lassen. Jede Nacht schlief sie auf der Seite, mit einer Hand unter ihrer Wange. Ich lag hinter ihr, wir schliefen nackt, ich hatte die Arme um sie gelegt, sie spürte meine warme Vorderseite an ihrem Rücken. Nachts gab es nur uns beide, morgens wachte jeder auf seiner eigenen Betthälfte auf. Sie wurde von mir oder den Kindern geweckt. Die Zimmer waren hell, die Stimmen mild. Lange gibt es keine andere Möglichkeit, sich daran zu erinnern, als an ein unverhofftes, unverdientes Glück. Meist saßen wir um einen ovalen Tisch, dänisches Design, aus Stahl und weißem Kunststoff. Er war viel zu teuer für uns, als wir ihn eines Samstags kauften, aber wir gewöhnten uns daran, unsere Schulden stiegen, und wir scherten uns nicht darum. Wir saßen morgens und abends an diesem Tisch, die Kinder machten ihre Hausaufgaben daran. Später war er dann viel zu groß, als sie ihn übernahm, denn die neue Küche, in die sie ihn stellte, war kleiner. Am Ende verkaufte sie ihn, und jetzt steht er bei anderen Leuten: Der Tisch hat ein neues Leben, wie alles andere, was wir früher einmal teilten.

Sie radelte unter hellen Baumkronen entlang. Sie atmete mit offenem Mund. Sie nahm jedes Mal die Treppe, wenn sie in die oberen Stockwerke musste, und das musste sie oft. Sie benutzte nie den Aufzug, sie mochte keinen Stillstand. An diesem Vormittag hielt sie einen Vortrag in einer der kommunalen Abteilungen. Es lief gut, sie spürte, dass die Zuhörer bei ihr waren (ihre Gesichter: Sie streckten sich ihr entgegen wie grüne Gewächse dem Licht). Anschließend wollte der Leiter der Kommunikationsabteilung sie gleich wieder einladen. Sie vereinbarten, diesbezüglich zu mailen, und im Anschluss kamen mehrere Mitarbeiter zu ihr und dankten ihr für den Vortrag. Und dann, als sie gerade hinausgehen wollte, war da ein Mann, der sie innehalten ließ, sie verstand nicht genau, warum. Sie blieb stehen und wartete auf ihn, er bahnte sich einen Weg durch die Versammlung, während er sie ansah, ihren Blick festhielt. Diese Augen, irgendetwas war mit ihnen, sanft und doch forsch, selbstsicher und suchend, sie wusste es nicht genau. Selbst als alles vorbei war, wusste sie nicht, was es gewesen war, sie konnte es sich selbst nicht erklären und mir schon gar nicht.

Er war groß und schwer zu übersehen, aber nicht nur, weil er groß war. Sein Gesicht war länglich, die Augen ein wenig schräg, er hatte kleine Narben, vielleicht hatte er als Jugendlicher Akne gehabt. Er sah nicht gut aus, diese Feststellung muss selbst mir erlaubt sein, auch wenn ich wohl kaum ein objektiver Betrachter bin. Aber es lag etwas Verlockendes, Ungreifbares in seinem Blick, oder in seinem Lächeln, oder darin, wie er den Kopf schüttelte. Sie blieb stehen und wartete darauf, dass er zu ihr kam, und er lächelte, während er sich näherte, sich zielstrebig zwischen den anderen hindurchschob, die gerade den Raum verließen. Ihr wurde warm, sie wusste nicht, warum. Kurz darauf standen sie sich gegenüber und sahen sich an, und sie hoffte, ihr Gesicht würde eine amüsierte Erwartung ausdrücken: Was wollte er ihr sagen? Ihr Gesicht sollte ihm erzählen, dass er sie aufhielt und sie nicht wusste, was er von ihr wollte, dass sie sich dem, was auch immer es war, aber mit nüchternem Wohlwollen stellen würde. Er fing an zu reden. Über die Öffentliche Gesundheit, genau das, was sie am meisten interessierte. Er sagte etwas, was sie selbst hätte sagen können, aber er formulierte es ein bisschen besser, fand sie. Wobei, im Grunde wirkte das, was er sagte, auch leicht verzerrt, als würde er sich anstrengen, ihre Perspektive einzunehmen, und könnte es nicht, weil es ihm nicht gelang, die eigene aufzugeben. Letzteres ist eine Überinterpretation, das muss mir keiner sagen, ich weiß es ja selbst. Ganz im Gegenteil: Sie empfand seine Meinung als bereichernd, befreiend. Er begleitete sie hinaus, alle Treppen hinunter. Sie ging zu ihrem Rad, und sie redeten weiter, während sie es aufschloss und sich zum Aufbruch bereitmachte.

Anschließend fuhr sie gemächlich durch die Straßen, sie wollte ins Büro, nahm sich jedoch viel Zeit. An diesem Vormittag schien sich ihr alles zeigen zu wollen, die Linden oder der Ahorn, es kümmerte sie nicht, welche Bäume es waren, frisches Laub, das sich im ansonsten kaum merklichen Wind regte, eine Elster, die fröhlich mit dem Schwanz wippte. Sie gefiel sich. Sie und ihr Leben gefielen ihr. Alles, was lebendig war, öffnete sich ihr, wohin sie auch kam.

Sie fürchtete nichts.

Einst war sie ein junges Mädchen gewesen, jetzt war sie eine erwachsene Frau geworden. Sie hatte mich mit fünfundzwanzig Jahren kennengelernt, das war inzwischen lange her, und ich war einige wenige Jahre älter als sie.

Ich nannte sie Timmy. Sie hieß anders, hatte einen normalen Mädchennamen, der ihr selbst nicht besonders gefiel. Und eines Abends, in einem der ersten Monate, nachdem wir zusammengekommen waren, lagen wir in ihrer alten Wohnung im Bett und schauten im Fernsehen Timmy, den Grashüpfer. Eigentlich sahen wir gar nicht richtig hin, wie hatten mehrere Stunden im Bett verbracht und waren nur kurz aufgestanden, um etwas zu essen, wir waren so lange miteinander beschäftigt gewesen, damit, was unsere Körper zusammen zustande brachten, und jetzt brauchten wir eine Pause. Wir tranken Wasser, ich zappte durch die Kanäle, an dem alten Disney-Film vorbei, und sie bat mich, wieder dorthin zurückzuschalten. Wir sahen ein Stück davon und waren beide gerührt, aber nur ich weinte. Ich hatte ein kleines Kind, das ich an diesem Tag nicht sah, und auch den Rest der Woche nicht, weil ich lieber hier war, mit ihr zusammen im Bett. Sie verstand, dass das der Grund dafür war, warum ich weinte, aber sie tat so, als würde sie glauben, ich wäre vom Film gerührt, und anschließend erzählte sie mir, dass sie Timmy immer lieber gemocht hatte als Pinocchio, lieber als Ahörnchen und Bhörnchen und sogar lieber als Dumbo. Sie hatte sich mit Timmy identifiziert, weil er immer versuchte, aus allem das Beste zu machen, er nahm seinen Regenschirm und ging, und er sang so aufrichtig und hoffnungsfroh, selbst wenn es um ihn herum dunkel wurde und er nicht mehr wusste, wo er war.

»Das bist ja du«, sagte ich. »Du bist Timmy. Du bist diejenige, die alles richtig macht und nie aufgibt, bis sie geschafft hat, was sie erreichen will.«

Ich bewunderte sie schon damals, es war meine Art, sie zu lieben. Das verstand sie aber erst später und war lange damit überfordert, wie großartig sie in meinen Augen wirkte. Sie antwortete, als Grashüpfer habe sie sich selbst nie gesehen, und ich erwiderte flirtend, dass es mir gefalle, wie sie ihre Hinterbeine an meine reibe. Das war so daher gesagt, nicht einmal lustig, und sie sah, dass ich es bereute, dass es mir peinlich war, dass ich es nicht gewohnt war, so zu reden. Sie machte mich freier, als ich es je gewesen war, das verstand sie, und war deswegen gerührt oder verliebt, falls es dazwischen überhaupt einen Unterschied gibt. Nach diesem Abend fing ich an, sie Timmy zu nennen. Es setzte sich durch, wurde mehr als ein Kosename, es wurde ihr Name, sie nannte sich selbst so. Viele unserer Freunde nannten sie mit der Zeit ebenfalls Timmy, und später auch ihre Kollegen, als sie anfing zu arbeiten.

Sie saß in ihrem Büro vor dem Licht des Bildschirms. Sie ging ihren Bericht durch, hatte lange daran gearbeitet, und heute ging es leichter. Konzentriert saß sie da, ohne sich ablenken zu lassen, weder von ihren Mails noch von den Nachrichten im Internet. Durchs Fenster konnte sie auf den Spielplatz eines Kindergartens hinunterschauen. Sie sah die Kinder, die im Sandkasten spielten, dachte aber weiter an ihren Bericht. Bei einigen Tabellen war sie sich unsicher, die Zahlen stimmten nicht überein. Sie streifte unter dem Tisch die Schuhe ab und rieb ihre schmerzenden Füße aneinander. Sie strich sich mit der Hand über den Nacken, es sah aus wie eine Liebkosung. Die andere Hand schob sie unter ihr Oberteil, berührte ihren Bauch, ließ die Finger zum BH hinaufgleiten und nestelte an dem einen Träger herum.

Das Telefon klingelte, sie musste ihre Hand befreien, um dranzugehen. Es war ein Kollege, der bei seinem kranken Kind zu Hause geblieben war und sie darum bat, ihm ein Dokument zu schicken. Sie suchte es im Netzwerk und schickte es ihm. Dann fuhr sie mit dem fort, wobei er sie unterbrochen hatte. Sie dachte an das Abendessen, an mich. An die Öffentliche Gesundheit, ans Radfahren, ob es am Wochenende trocken genug wäre im Wald. Sie wollte allein radeln oder zusammen mit den Kindern. Am liebsten allein, sie wollte schnell sein, an ihre Grenzen kommen. Sie dachte daran, dass es erst Dienstag war. Sie sah auf die Uhr. Eine Stunde lang hatte sie konzentriert gearbeitet. Sie überlegte kurz, ob sie auf die Toilette gehen sollte, beschloss jedoch, ohne Unterbrechung bis zur Mittagspause weiterzumachen. Erst wollte sie Kjersti bitten, Teile des Berichts durchzugehen, dann entschied sie sich dagegen, wollte es am liebsten allein schaffen. Sie war ehrgeizig, hatte Angst, man könnte sie für schwach und fehlbar halten. Auf dem Bildschirm sah sie einen Schatten vorbeihuschen. Vor dem Fenster flatterte eine dicke Krähe vorüber und steuerte den Baum neben dem Kindergarten an. Der Vogel landete auf einem dünnen Ast, blieb sitzen und wippte. Ja, sie würde warten, ehe sie mit Kjersti sprach. Ein bisschen wollte sie es noch allein versuchen. Der Vogel wechselte auf einen dickeren Ast, spreizte das Gefieder und legte den Kopf schräg; er beobachtete ein paar Kinder, die klein waren, knapp zwei Jahre, und reglos mit ihren Schaufeln in der Hand im Sandkasten saßen. Sie richteten ihre Schaufeln auf den Sand, ohne darin zu graben, das hatten sie noch nicht gelernt.

Sie räkelte sich lange, streckte die Arme in die Luft. Ihr Oberteil rutschte nach oben und entblößte ihren Bauch, und sie dachte an den Mann, mit dem sie gesprochen hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass er mit ihr geflirtet hatte. Sie war freundlich und offen gewesen, ohne direkt darauf einzugehen, das musste er bemerkt haben. Es hatte ihr gefallen, mit ihm zu reden. Seine Hände hatten ihr gefallen. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Oberschenkel berührten, ziemlich grobe Männerhände auf ihrer hellen, glatten Haut. Ihre Oberschenkel gefielen ihr, jetzt gefielen sie ihr, früher eher nicht, da waren sie so schmächtig und dünn gewesen, aber seit sie mit dem Laufen angefangen hatte, waren sie kräftiger geworden, muskulöser. Selbst wenn sie sich nicht bewegte, konnte sie die Muskeln an ihren Oberschenkelinnenseiten spüren. Sie dachte daran, dass sie mir heute Abend von dem Mann erzählen würde, mit dem sie nach dem Vortrag gesprochen hatte, das würde mir sicher auch gefallen. Und ihr gefiel, was zwischen uns geschah, wenn sie mir von anderen Männern erzählte, die sie angesehen hatte oder die sie angesehen hatten. Sie wusste, dass es mir gefiel, davon zu hören. Sie verstand nicht, warum, aber das war auch nicht wichtig, sie hatte nicht das Bedürfnis, alles zu problematisieren.

Sie stand auf und ging auf den Flur. Plötzlich merkte sie, dass sie immer noch barfuß war, und so kehrte sie zurück und schlüpfte in ihre Schuhe. Dann ging sie zu Kjersti, die ihr schon früher geholfen hatte. Ihre Tür stand offen, und das Büro war leer, aber der Bildschirm leuchtete noch. Sie beschloss, auf die Toilette zu gehen, vielleicht würde Kjersti ja in der Zwischenzeit zurückkommen. Auf dem Flur war es still, viele hatten heute Besprechungen außer Haus. Sie kam an der Rezeption vorbei und grüßte die Mitarbeiterin, die dort saß, eine Vertretung. Für einen Moment überlegte sie, ob sie eine Pause einlegen und mit ihr sprechen sollte, aber sie wollte ihre Konzentration nicht verlieren. In der Toilettenkabine gab es einen Spiegel, vor den sie sich stellte. Sie fühlte sich wohl, obwohl ihre Haare ein bisschen zu lang waren. Irgendetwas wollte sie damit machen. Sie wieder kürzer schneiden und färben lassen. Vielleicht sollte sie sich auch schminken. Ein bisschen Eyeliner könnte nicht schaden, ich würde es nicht mögen, mich aber nach einer Weile daran gewöhnen. Sie setzte sich, lauschte dem kräftigen Strahl, der auf das Wasser traf. Was für eine Freude. Die Freude, kräftig zu pinkeln, sich sorgfältig und sanft abzutrocknen, sich wieder anzuziehen, sich in die Kleidung zu stopfen wie ein Kind am Morgen und die Hände zu waschen. Die Hände zu waschen und an ihnen zu riechen, leicht parfümierte Seife und feuchte Haut.

Als sie die Toilette gerade wieder verlassen wollte, besann sie sich und ging zurück zum Spiegel. Sie studierte ihr Gesicht, während sie die Hand in die Hose schob. Es war zu eng, sie öffnete die Hose und zog sie herunter. Sie berührte sich selbst, führte zwei Finger hinab zu dem Glatten, das zum Inneren ihres Körpers gehörte. Es war schwierig, mit den Hosen in der Kniekehle heranzukommen, aber ihr gefiel auch das, dass es eng und schwierig war. Sie bewegte ihre Finger und betrachtete sich selbst im Spiegel. Eine leichte Röte auf den Wangen. Sie dachte über ihren Bericht nach. Sie dachte darüber nach, ob sie kommen könnte, während sie hier auf der Bürotoilette vor dem Spiegel stand und sich selbst berührte. Wahrscheinlich nicht. Höchstens, wenn irgendetwas Besonderes hinzukäme. Vereinzelte, undeutliche Bilder blitzten in ihrem Kopf auf und verblassten wieder, nackte Körper.

Könnte es so gewesen sein? Nein, das führt zu weit, all das geht auf mich zurück, ist mein Repertoire, mein rechthaberisches Register, nicht ihres. Also war es so: Sie ging rasch auf die Toilette, dachte nur an ihren Bericht, warf einen Blick auf ihr Gesicht im Spiegel, während sie sich die Hände wusch. Sie hatte gedacht, ihr Gesicht wäre irgendwie verändert, ohne zu wissen, warum. Draußen ging jemand auf dem Flur vorbei, sie blieb einen Moment stehen und wartete, bis die Schritte verhallt waren. Es wurde still.

Plötzlich wusste sie, was zu tun war, sah alles klar vor sich, schloss die Tür auf und ging hastig über den Flur. Kjerstis Büro war immer noch leer, aber das war egal, sie ging wieder an ihren Schreibtisch und arbeitete weiter, noch bevor sie sich hingesetzt hatte. Sie wollte den ganzen Bericht ausdrucken und noch einmal von Anfang an lesen. Die Prämissen waren schon von Beginn an unklar formuliert gewesen. Sie ging zum Drucker und hoffte, unterwegs niemandem zu begegnen. Der Flur war leer, der Drucker summte, die Blätter flogen ihr warm und freundlich direkt in die Hand. Sie bekam Lust, zu singen. Aber sie sang fast nie, seit die Kinder größer waren. Sie bekam Lust, schnell zu laufen, sah sich selbst eine lange, steile Treppe hinaufsprinten, und am Ende der Treppe war nichts. Sie rannte bis ganz nach oben, wollte aber nicht umkehren, es war wie ein Bild aus einem Film, einem Traum, aus einem Film, der einem Traum ähneln wollte. Der Flur war lang und leer, das Geräusch von Schritten verfolgte sie, und sie warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Mit dem Blätterstapel setzte sie sich ins Büro. Sie streifte die Schuhe wieder ab, rollte mit dem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch. Ihre Füße waren groß, das gefiel ihr, es gefiel ihr, barfuß zu gehen, dazusitzen und die Zehen zu spreizen.

Sie hatte Hunger, dabei war es noch eine Stunde bis zur Mittagspause, sie aß einen Apfel, nagte sich bis zum Kerngehäuse durch und legte es auf die Fensterbank. Dort lagen schon zwei weitere verschrumpelte Gehäuse, zu Hause hätte sie so etwas nie gemacht, aber hier gefiel es ihr. Diese Unordnung erlaubte sie sich, sie befreite sich von meinem Anspruch, wie sauber es auf Tischen und Bänken zu sein hatte. Auf dem Flur waren Stimmen zu hören, die Kollegen, die anderswo Besprechungen gehabt hatten, kehrten zurück. Sie lauschte den Schritten, dem geschäftigen Rascheln von Jacken und Taschen, den Gesprächsfetzen im Flur, sie erkannte jede einzelne Stimme.

Sie schwang die Füße auf den Boden und rollte mit dem Stuhl näher an den Bildschirm heran. Nachdem sie das Dokument wieder geöffnet hatte, gab sie die Korrekturen ein, die sie handschriftlich auf dem Papier gemacht hatte. Sie widerstand dem Bedürfnis, diejenigen zu begrüßen, die gerade vorbeigingen, sie wollte jetzt nicht reden. Sie setzte sich so, dass die anderen sahen, dass sie arbeitete. Sie konzentrierte sich darauf, konzentriert auszusehen, und verlor dabei die Konzentration. Am liebsten hätte sie aufgegeben. Am liebsten wäre sie an die frische Luft gegangen. Am liebsten hätte sie den Namen des Mannes gegoogelt, mit dem sie vor kurzem gesprochen hatte. Sie stand auf, ging in den Flur und in Kjerstis Büro, die jedoch immer noch nicht da war. Ihr fiel ein, dass Kjersti etwas von einem Arzttermin erzählt hatte. Sie lief wieder zurück, sie hatte beschlossen, sich selbst eine Pause zu gönnen, und als erstes las sie ihre neuen Nachrichten. Nein, sie sagte nicht Nachrichten, sie sagte Mails, wie alle anderen auch, nur ich sagte immer Nachricht, ich wollte, dass sie auch Nachricht sagte, aber sie brachte es nicht über sich. Alle sagten Mails, warum sollte sie es nicht auch tun? Sie glaubte an die pragmatischste Lösung, wohingegen ich die Ausnahme wählen musste. Also las sie ihre Mails, es waren nur wenige neue gekommen, darunter auch eine Nachricht von mir.

Ich schrieb, dass ich an sie dachte, daran dachte, was wir vor ein paar Stunden gemacht hatten. Sie hatte es schon wieder vergessen, aber jetzt sah sie es vor sich, sie auf allen vieren, ich hatte sie hart genommen, so wie es ihr gefiel. Ich hatte sie an den Hüften gepackt, und kurz darauf hatte sie meine Hand in ihrem Nacken gespürt, die ihr Gesicht aufs Kissen presste. Sie erinnerte sich an ihre Stimme, wie sie ins Kissen geschrien hatte. Ihr gefiel es, sich selbst schreien zu hören. Ich nahm sie, sie ließ sich nehmen, sie schrie. Ihr gefiel der Gedanke: genommen zu werden. Kurz davor hatten wir uns selbst im Spiegel angesehen, die beiden Körper, einer auf dem anderen, der eine, der etwas mit dem anderen machte, der andere, der etwas mit sich machen ließ. Sie spürte es in ihrem Unterleib, wenn sie daran dachte, ein dumpfes Brennen.

Sie antwortete mir kurz und zärtlich, im selben Ton, wie ich ihr geschrieben hatte. So schrieben wir einander meistens. Sie blickte auf den Spielplatz, eine der kleinen Gestalten drehte sich zu ihr um, sah kurz zum Himmel hoch, sie war sich nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, der Blick würde ihr Fenster suchen. Ich hatte gesagt, dass ich mir noch mehr Kinder vorstellen könne. Sie wollte es nicht, auf keinen Fall, das sei eine Phase, die sie längst hinter sich gelassen hatte. Wir hatten zwei Kinder und außerdem meine Tochter aus erster Ehe, das musste reichen. Sie wollte mehr arbeiten. Sie wollte mehr Sport machen, wollte laufen und radeln und das Klettern erlernen. Sie wollte alles ausschöpfen, was sich den Menschen bietet, wenn sie erwachsen sind und sich nicht mehr um kleine Kinder kümmern müssen.

Die anderen Mails waren eine Einladung zu einer Besprechung im Haus und mehrere Diskussionsbeiträge zum Internetauftritt des Gesundheitsamtes. Sie überlegte kurz, auf den letzten Beitrag zu antworten, dann aber löschte sie die Mail stattdessen einfach. Die Freude, sich kleiner Probleme zu entledigen. Sie schickte Kjersti eine Mail und fragte sie scherzhaft und unbekümmert, in dem unverbindlichen Ton, den sie immer miteinander pflegten, ob sie so nett sein und ihr dabei helfe könne, die Tabellen in ihrem Bericht mit ihr durchzugehen. Inzwischen arbeitete sie schon so lange daran, dass er eine eigene Persönlichkeit angenommen hatte. Ein schwieriger Charakter, der sich nicht so entwickelte, wie sie es sich wünschte, der immer nur Probleme machte. Sie hatte schon so viel davon geredet, dass ich mich oft nach seinem Zustand erkundigte: Alles in Ordnung mit dem Bericht?

Wir redeten über Berufliches, sogar oft, besonders über ihren Beruf. Sie hatte sich daran gewöhnt, alles mit mir zu teilen. Oder fast alles: Konflikte und Verhandlungen, kleine Ärgernisse, aber auch das, was sie interessant oder witzig oder ermutigend fand. Sie ging ihren Weg, und sie wusste es, sie wollte eine sein, die ihren Weg ging, es fiel ihr nicht schwer.

Anschließend las sie die neusten Nachrichten im Internet, vertiefte sich leicht und nebenher in alles, was gerade auftauchte. Dann kam eine neue Mail, sie öffnete sie, erkannte den Namen des Absenders nicht sofort, nicht ehe sie zu lesen begann. Er bedankte sich bei ihr, schrieb freundlich und warmherzig über ihren Vortrag, sie erkannte seine Stimme darin wieder, sein Wohlwollen, sein Interesse, seinen Charme oder was es auch war. Eine Art Charme auf Bewährung, denn in allem, was er schrieb, in all dem Lobenden und Positiven, spürte sie auch etwas anderes: Er war nicht leicht zu haben. Sie nahm einen leichten Widerstand wahr, eine gewisse Gegenwehr in diesem Auftakt. Und das reizte sie. Vielleicht war er aber auch einfach nur von sich selbst eingenommen, denn im Grunde schrieb er nur, was er selbst dachte, und schien davon auszugehen, dass es auch für sie interessant wäre. Außerdem schrieb er noch, sie könnten vielleicht eine Zusammenarbeit eingehen, in seiner Abteilung sei gerade ein neues Projekt in Planung, bei dem er sie gern dabeihätte. Wider Willen war sie auch davon ein wenig geschmeichelt, obwohl sie weder Zeit für zusätzliche Projekte hatte noch Lust darauf. Am Ende schrieb er, dass sie, by the way, ganz in der Nähe voneinander wohnen würden. Er habe sie hinter dem Rednerpult wiedererkannt, aber nicht gleich gewusst, woher. Offenbar daher, dass sie fast Nachbarn seien. Ob sie zufällig auch joggen gehe? Er sei sich fast sicher, dass es so sein müsse. Er sei sich ziemlich sicher, dass er sie beim Joggen gesehen habe.

Also hatte er recherchiert, wo sie wohnte, so wie sie es auch bei ihm überlegt hatte. Und er hatte ihre Adresse herausgefunden, aber nicht allein das. Er musste sie auch vorher schon einmal gesehen haben, er hatte sie beim Laufen gesehen. Oder hatte er ihrem Körper angesehen, dass sie eine Läuferin war?

Er schrieb »joggen«, wer benutzte dieses Wort eigentlich noch? Es war ein richtiges Neunzigerjahrewort, oder Achtziger, ein bisschen peinlich. Sie musste an seine Brille mit den selbsttönenden Gläsern denken. Jetzt gab sie seinen Namen ins Suchfenster ein und war überrascht, dass er älter war, als sie gedacht hatte. Er wohnte tatsächlich nicht weit von ihr, sie kannte das Haus genau, war schon oft daran vorbeigelaufen. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte. Als sie seine Fotos im Internet betrachtete, erkannte sie etwas von dem wieder, was sie beeindruckt hatte. Er wirkte verletzlich. Selbstbewusst, aber mit einem Knacks. Sie fand noch mehr Bilder, eins von der Internetseite des Ministeriums, ein anderes von einem Interview in einer Fachzeitschrift. Und dann einige Fotos auf der Homepage eines Sportvereins.

Er war Skilehrer.

Sie saß vor dem Computer, starrte in die Luft und dachte, das wäre sie auch gern.

Plötzlich stand Kjersti hinter ihr, und sie fuhr zusammen.

»Was für ein Gesicht!«

Sie hätte die Seite am liebsten sofort weggeklickt, aber das wäre zu auffällig gewesen, als hätte sie Geheimnisse. Stattdessen drehte sie sich mit dem Stuhl herum und sah Kjersti an, lenkte ihren Blick auf sich, damit sie nicht länger auf den Bildschirm schaute.

»Du jagst mir einen Schrecken ein, wenn du dich so anschleichst.«

»Martin behauptet, ich würde trampeln wie ein Pferd.«

»Er kennt dich ja auch besser.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Es liegt wohl eher daran, dass wir so viele Treppen im Haus haben. Er sagt auch, ich würde prusten wie ein Wal.«

»Er liebt dich sicher trotzdem.«

»Nein, um ehrlich zu sein, glaube ich das nicht. Er harrt einfach nur aus und wartet darauf, dass mir irgendetwas zustößt. Jedes Mal, wenn ich zum Arzt gehe, hofft er, dass ich etwas Ernstes habe. Eitel, wie er ist, wäre er lieber Witwer, als sich scheiden zu lassen. Aber du hast einen Mann, der dich liebt, das sieht jeder. Und trotzdem guckst du dir den da an?«

»Er will mich für ein Projekt gewinnen, unter der Leitung der Abteilung für Gesundheit und Soziales.«

»Ein Projekt. Muss neuerdings alles so heißen?«

»Es ist völlig harmlos. Rein berufliches Interesse.«

»Und das glaubst du wirklich?«

»Kjersti, ich brauche deine Hilfe.«

»Ist es der Bericht, der dich so quält?«

»Ich glaube, die Tabellen sind fehlerhaft.«

»Kannst du sie nicht einfach an denjenigen zurückschicken, der sie erstellt hat?«

»Ich bin doch für den Bericht verantwortlich. Und ich frage mich, ob nicht schon die Prämissen falsch sind.«

»Dann zeig mir deine Fehler.«

Kjersti zog sich den Besucherstuhl vor den Bildschirm und setzte sich neben sie. So saßen sie oft nebeneinander und arbeiteten. Zu Hause erzählte sie mir von Kjersti, von ihrem Segelboot, ihrer Ehe, ihren schlechten Witzen, ihrer Gewissenhaftigkeit, wie sie sich in Details verbiss. Und Kjersti erzählte sie von mir. So musste es sein, ich weiß nicht, was genau, aber ich bildete mir ein, sie würde von ihrer glücklichen Ehe erzählen. Und so war es sicher auch. Wir waren stolz auf unsere Ehe, sie genauso sehr wie ich, wie wenn man ein Kind bekommen hat und es im Wagen durch die Gegend schiebt und sich der ganzen Welt präsentiert, als hätte kein anderer je ein solches Glück erlebt.

Sie klickte die Seiten zu, auf denen sie gewesen war, schloss auch das Mailprogramm und öffnete erneut den Bericht. Für den Rest des Tages saß sie mit Kjersti zusammen und arbeitete. Anschließend fuhr sie nach Hause, etwas später als geplant, aber sie wusste, ich wäre ohnehin da. Trotzdem schrieb sie eine Nachricht, in der sie mir mitteilte, dass sie unterwegs war.

Und dass sie mich liebte. Das muss sie geschrieben haben, hatten wir uns das nicht normalerweise geschrieben? Sie kann sich nicht mehr genau daran erinnern. Diejenige, die mit mir zusammen war, gibt es nicht mehr. Denjenigen, der mit ihr zusammen war, auch nicht. Einst gab es uns, wir lebten zusammen, und jetzt ist dieses Leben vorbei, und sie hat schon vergessen, wer wir waren. Sie ist außer Reichweite dessen, was geschah, und ich bin es auch. Und keiner kann mehr wissen, wie sie und ich normalerweise miteinander sprachen. Wer war sie mit mir zusammen? Sie erinnert sich an meinen Blick auf sie. Immer, wenn sie durchs Zimmer ging, saß ich da und sah sie an. Manchmal kam es auch vor, dass sie dasaß und mich ansah, aber nicht so lange und nicht so oft. Aber sie konnte sich erinnern, dass sich unsere Blicke trafen, ohne dass etwas passieren musste, ohne dass wir etwas sagen mussten. Was sagten unsere Blicke? Dass wir glücklich miteinander waren, mit unserem Leben, dass alles gut gegangen war? Wir hatten uns gefunden, wir hatten ein Leben aufgebaut, und ihr gefiel es, wer sie mit mir zusammen war.

Sie hatte mich mit einer vertrauten, schrecklichen Zärtlichkeit angesehen. Für mich war sie gar nicht so schrecklich, und auch für sie nicht, nicht damals. Erst später würde sie diese Zärtlichkeit als etwas betrachten, das wir lediglich austauschten, untereinander auswechselten, mit dem wir die Nähe des anderen bezahlten.