Geschichten aus Bansin - Hans Werner Richter - E-Book

Geschichten aus Bansin E-Book

Hans Werner Richter

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Beschreibung

Sieben Erzählungen von einer Insel. Die Insel heißt Usedom und der Ort, in dem sie alle spielen, Bansin. Er ist die Heimat von Hans Werner Richter, dem legendären Leiter der Gruppe 47. Alle Erzählungen handeln von Richters Vater, der nacheinander Fischer, Bademeister und Tankwart war. Der Vater war kein Held, obwohl in einer Krieger- und Heldenzeit großgeworden. Zwar konnte er Kaisers Förster reinlegen, aber dafür wurde er auch von seinen Freunden reingelegt und zum Schützenkönig gekürt. Nur einmal wäre er fast ein Held geworden, als Entdecker von Beutegut: einige tausend Nachthemden. Aber auch die verflattern im Wind der Zeiten. Von solchen Zeiten erzählt Richter; von unserer Geschichte in den zwanziger Jahren bis zur DDR. Aber nicht, wo sie gemacht wird, sondern wo sie sich auswirkt, bei den einfachen Leuten.

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Herzlichen Dank an Martin Bartels (und sein Fotoarchiv), ohne den dieses Buch nicht erschienen wäre.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2008 für die diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Jorg Greuel © gettyimages.

Reihenkonzept von Rainer Groothuis. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803125941

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2594 1

www.wagenbach.de

Hans Werner Richter (Mitte) mit Freunden am Strand vor der Seebrücke in Ahlbeck, Juni 1930

BANSINER TOPOGRAPHIE

Bansin. Luftaufnahme aus den zwanziger Jahren

DIE STRAßEN DES ORTES, in dem mein Vater lebte, bilden ein Kreuz. Die längere Seestraße läuft von Süden nach Norden, die kürzere Bergstraße von Westen nach Osten. Sie schneidet die Seestraße in ihrer oberen Hälfte. Das Kreuz ist behangen mit ein paar Nebenstraßen, mit einem Kriegerdenkmal, mit einem vermoderten See, mit einer zweiklassigen Volksschule, mit Villen aus der Jahrhundertwende, mit einem Kinderspielplatz und mit zwei Tennisplätzen. Der Kiefernwald, der von Westen her an das Kreuz grenzt, umschließt Kriegerdenkmal, Kinderspielplatz und Tennisplätze.

Die Seestraße beginnt im Süden am Bahnhof und läuft nach Norden bis ans Meer. Ein weißer Gürtel hält sie dort auf: der Strand. Der Bahnhof muß nicht weiter beschrieben werden: ein Schalter, eine Gastwirtschaft, eine Verladerampe. Der Strand ist steinfrei, sein Sand körnig-weiß und nur im Herbst und Frühling etwas bräunlich. Das Meer besitzt einen sandig-hellen Untergrund, läuft flach von der Küste weg zu größeren Tiefen hin, ist milde salzhaltig, und sieht in der Sonne blau, bei Gewitter grün, bei Sturm weiß und in der Nacht schwarz aus. Im Westen stehen etwa dreißig oder vierzig Pfähle im Wasser. Auf jedem Pfahl sitzt zu jeder Jahreszeit eine Möwe. Die Pfähle sind weiß von Möwendreck. Zweihundert Meter weiter standen früher noch drei Pfähle im Wasser, die heute verschwunden sind.

Geschichte der Pfähle: Die ersten dreißig oder vierzig Pfähle sind Restbestände einer Brücke, die zur Zeit Kaiser Wilhelms II. und in der Weimarer Republik dem Landen diente. Motorboote, die an der Küste entlang fuhren, machten hier ihre Taue fest. Für größere Schiffe war die Küste zu seicht. Aus Angst vor den Russen rissen die Einwohner des Ortes im August 1914 die Planken der Brücke ab. Die Russen kamen nicht. Dreißig Jahre später kamen sie, nicht übers Meer, sondern am Strand entlang – zu Fuß und mit Panjewagen – und fanden eine wiederum zerstörte Brücke vor. An den drei letzten Pfählen, die alte Schwedenbrücke genannt, band Gustav Adolf – nach dem Gerücht – seine Kriegskoggen an, um sein Heer auszuladen und den kaiserlichen General Tilly bei Magdeburg zu schlagen. Die Pfähle hat entweder das Meer mitgenommen oder ein russischer General.

Diese Pfähle standen im Meer vor der Steilküste unmittelbar vor einer Steilküstennase, die sich Tonberg nennt. Von diesem Tonberg zieht sich die Steilküste bis zu ihrem höchsten Punkt – dort nennt sie sich »Langer Berg« – und dann bis zu ihrem niedrigsten Punkt hin, wo sie sich wieder in flache Küste verwandelt. Dieser Punkt hieß früher »Knuths Ruh«, später »Selliner Bootsstelle« und ist heute Campingplatz der sozialistischen Volksrepublik mit Toiletten, Baracken, Verkaufsständen und einem Strand für Freikörperkultur. Dort riecht es jetzt nach Strandhafer, Exkrementen, schwarz gehandeltem Aal, Niveacreme. Auf hohen Kommandotürmen stehen Lebensretter, die aufs Meer und auf nackte Damen und Herren blicken. Sie sorgen nicht für Ordnung, sondern für die Erhaltung des Lebens. Für Ordnung sorgt ein Kommando der Volkspolizei, das im Wald stationiert ist. Die Volkspolizisten sind bekleidet. Sie gehen – wie die Zeitungsverkäufer, wie zwei Rotkreuzschwestern, und andere, der Ordnung und dem Vergnügen dienende Staatsangestellte – zwischen den Nackten hin und her, als wären diese nicht nackt. Dieser Strand war zur Zeit des ersten deutschen Kaisers und auch noch des zweiten der ruhigste der ganzen Küste. Mein Großvater Knuth hatte sich hierher mit seinem Fischerboot zurückgezogen. Er konnte alle anderen Fischer nicht leiden. Er und seine Feinde erzeugten fast alle ersten Einwohner des Ortes, etwa dreihundert.

Geschichte der Einwohner: Die ersten Einwohner kamen aus den Dörfern, die vier, fünf oder sechs Kilometer hinter der Küste an vier miteinander verbundenen Seen liegen und sich Schmollen-, Gothen- und kleiner und großer Krebssee nennen. Sie waren Fischer, Maurer, Bauern, Zimmerleute, Tischler, Schlosser. Angezogen von dem Geldstrom der Gründerjahre bauten sie drei-, vier- und fünfstöckige Villen, die sie Seeblick, Seeschloß, Seemöwe, Dünenblick, Dünenschloß, Meereswoge, Meeresstrand oder auch Germania, Kurfürst, Bismarck, Prinz Heinrich nannten. Sie bauten auf Kredit und stellten sich gegenseitig Wechsel aus. Platzte ein Wechsel, so begannen die betroffenen Bauherrn am nächsten Tag auf ihrer eigenen Baustelle wieder als Maurer, Zimmermann oder auch als einfacher Hilfsarbeiter. Sie arbeiteten viel, tranken viel und waren nebenbei Husaren, Dragoner, Ulanen, Kürassiere. In ihren Wohnungen hingen Husaren-, Dragoner-, Ulanen- und Kürassierbilder, die sie auf trabenden Rossen und mit bunten Fahnen an gesenkten Lanzen zeigten. Sie zwirbelten morgens ihre Schnurrbärte mit Wachs ein, zeugten in der Nacht zahlreiche Kinder – einige bis zu siebenundzwanzig – und kamen fast alle zu Wohlstand. Im August 1914 zogen sie jubelnd aus, um Frankreich zu schlagen. Viele kamen nicht wieder. Jene, die wiederkamen, gründeten einen Kriegerverein, stellten ein Kriegerdenkmal auf, einen Findling, in den die Namen der Nichtzurückgekehrten eingemeißelt wurden, trugen das Eiserne Kreuz, waren zuerst für die Sozialdemokraten, dann für die Volkspartei, dann für die Deutschnationalen, und kamen über die Revolutionsjahre und die Inflationszeit mit der Rentenmark wieder zu Wohlstand.

1930 zogen die ersten Nationalsozialisten durch die Seestraße, SA-Männer in Uniform, drei an der Zahl. Sie sangen: »Rotfront und Redaktion erschossen«, weil ihnen das Wort Reaktion nichts sagte. Sie vermehrten sich schnell, übernahmen die Macht, und der Dümmste unter ihnen – ein Malergeselle – wurde Ortsgruppenleiter. Sie redeten viel, marschierten viel, tranken viel und waren nebenbei Scharführer, Unterscharführer, Sturmführer. Sie rasierten sich täglich, zeugten in der Nacht weniger Kinder – drei oder vier – und kamen nach der Wirtschaftskrise wiederum zu Wohlstand. Die dreiundvierzig kommunistischen Wahlstimmen, die es im Ort gegeben hatte, schmolzen bis auf eine Nein-Stimme zusammen, und diese eine Nein-Stimme blieb, obwohl Scharführer, Unterscharführer und Sturmführer ständig nach ihr suchten. Im September 1939 zogen auch sie aus – diesmal ohne Jubel –, um Frankreich, England, Polen, Rußland, Amerika, Australien, Kanada, Brasilien zu schlagen. Sie kamen nicht zurück. Statt dessen kamen die Russen und vergewaltigten ihre Frauen. Nur die Frauen der Fischer fanden diese unfreiwillige Siegerehrung nicht unangenehm. Sie sagten: »Dat hem wi schon lang nich mir heft.« Die anderen strichen entweder ihren Körper mit Rheumasan ein, was den Geruchssinn der Russen verwirrte, oder flohen ins Land und standen im hohen Rohr der Seen bis zum Hals im Wasser, wenn russische Krieger vorbeisprengten. Siebenundzwanzig Einwohner des Ortes, die Parteimitglieder waren, erhängten sich, einer zündete sein Haus an, eine Frau erschoß nach der dritten Vergewaltigung ihre drei Kinder und dann sich selbst. Die eine verbliebene »Nein-Stimme« wurde zum Bürgermeister ernannt. Die alte Partei wurde von einer neuen abgelöst. Sie verstaatlichte alle Häuser, den Grund und Boden, die Hotels und Restaurants. Die meisten der Einwohner flohen in ein Land, das sie den goldenen Westen nannten. Für sie fanden sich neue Einwohner aus dem Osten ein. Da diese rechtzeitig ihre Papiere fortgeworfen hatten und niemand ihnen nachweisen konnte, daß sie auch Scharführer, Unterscharführer und Sturmführer gewesen waren, stellten sie bald die neuen Gemeinderäte, Bürgermeister, Ortsleiter, Polizeioffiziere, Bademeister. Nach der letzten Statistik hat der Ort seit Einmarsch der Russen achtzehn Bürgermeister verbraucht.

Das Gemeindehaus, von dem aus die schnell wechselnden Bürgermeister regierten, ist ein roter Backsteinbau und wird einerseits von der Bergstraße und andererseits von der Schloonstraße begrenzt. Es besitzt neben den Amtsräumen ein Spritzenhaus, in dem die Feuerwehrwagen stehen und an dem die Feuerwehr übt. Daneben befindet sich die heutige Polizeistation, in der man sich an- und abmelden muß. Gab es früher einen Polizisten, der den gesamten Ort vor Diebstahl, Mord, Unfug und Unzucht bewahrte, so sitzen heute hier über ein Dutzend, ohne daß der Ort inzwischen wesentlich gewachsen wäre. Nicht weit davon befindet sich der ehemalige Droschkenhalteplatz, heute Schuttabladeplatz, und dahinter der vermoderte See, der sich Schloonsee nennt. In ihm versenkten die Hoteliers beim Heran­ nahen der russischen Armee fünfzigtausend Flaschen ihrer besten Weine, was ihnen aber nichts half. Die Russen holten sie mit Hilfe von Tauchern Flasche für Flasche aus der vermoderten Tiefe des Sees herauf und betranken sich so sehr, daß die Frauen diesmal die Hoteliers und nicht sie verfluchten. Am See entlang führt eine kastanienbaumbestandene Straße dreihundert Meter nach Osten an einen Kanal, der See und Meer verbindet, und deshalb Schloonkanal heißt. Er ist die natürliche Grenze des Orts, und teilt auch den Strand, der hier westlich dem Ort gehört, vom östlichen Ufer ab aber einem anderen, der früher etwas über die Schulter angesehen und als nicht ganz fein empfunden wurde, was mit den »christlichen« Gästen dieses und den »nichtchristlichen« des anderen zusammenhing. Hier ist die Küste flach, sind die Dünen, hinter denen die Strandpromenade läuft, mit Strandhafer bewachsen und leicht gewellt. Von diesem Kanal aus bis zum früheren Ruheort meines Großvaters Knuth gehört der Strand unserem Ort.

Geschichte des Strandes: Erst mit der Gründung des Ortes – 1897 – bekommt der Strand seine Bedeutung. Er wird Badestrand. Seine Geschichte läßt sich in drei Perioden unterteilen. Die erste Periode ist die des Badeanstaltbadens, die zweite ist die des Freibadens, die dritte die des gemischten Nackt- und Freibadens. Jede Periode ist durch Art und Farbe der Fahne gekennzeichnet, die jeweils über den Strandkörben, Strandkabinen, Strandbuden und Badeanstalten flatterte: erste Periode 1897– 1918 Reichskriegsflagge gemischt mit Schwarz-weiß-rot, zweite Periode 1918–1932 Schwarz-weiß-rot gemischt mit etwas Schwarz-rot-gold, dritte Periode 1933 bis heute: einheitliches Hakenkreuz gemischt mit einem allmählich wachsenden fahnenlosen Zustand, der sich ab 1945 durchgesetzt hat.

In der ersten Periode, von 1903 bis 1918 und noch einige Jahre danach, besaß der Strand drei Badeanstalten. Es waren schloßähnliche Gebilde, Holzbauten mit Türmen und Zinnen, mit Fahnen und Fähnchen, mit zahlreichen Kabinen, mit Treppen und Treppchen, mit Rettungsringen und Rettungsbooten, mit Bademeistern und Bademeisterinnen. Sie waren umgeben von einem hohen Bretterzaun, der sich mit einem engmaschigen Drahtgeflecht im Wasser fortsetzte, so daß niemand hinaus- und niemand hineinschwimmen konnte. Die drei Bäder trennten die Geschlechter. Es gab ein Herrenbad, ein Damenbad und ein Familienbad. In dem Herrenbad badeten die Herren, im Damenbad die Damen und im Familienbad badeten die Mütter mit ihren Kindern. Die Preise im Herrenbad und im Damenbad betrugen bei einmaligem Baden für einen Erwachsenen dreißig Pfennige, für ein Kind zwanzig Pfennige und für einen Dienstboten fünfzehn Pfennige. Im Familienbad lagen die Preise aus nicht mehr feststellbaren Gründen etwas höher. Für das »einmalige Abreiben des Körpers« mußten zehn Pfennige an das Badepersonal entrichtet werden.

Niemandem war es gestattet, außerhalb dieser Bäder ins Wasser zu gehen. Erst nach dem Weltkrieg versuchten einzelne Kurgäste, von ihrem Strandkorb aus unmittelbar ins Wasser zu laufen. Die Gemeindeverwaltung erließ ein striktes Verbot. Jede Art von Freibaden, auch in der Nacht, verstoße gegen die guten Sitten und werde mit hohen Geldstrafen oder mit dem Entzug der Kurkarte und damit des Kuraufenthaltes belegt. Der Bürgermeister stellte einen Strandpolizisten an, der Tag für Tag am Strand entlang lief, die Freibadenden aus dem Wasser herauspfiff und sie zum Verhör und zur Bestrafung ins Gemeindehaus abführte. Nach fünf Jahren wurde er entlassen. Die Freibadesüchtigen hatten sich durchgesetzt. Der engmaschige Drahtzaun im Wasser verschwand, der Bretterzaun fiel und die Bademeister verwandelten sich in freie Rettungsschwimmer. In der dritten Periode setzte das Nacktbaden ein. Es wurde mit regulärer Polizei bekämpft, konnte aber ebenfalls in seiner Entwicklung nicht aufgehalten werden. Aus wenigen Nacktbadenden wurde im Laufe von zwei Jahrzehnten ein unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle stehendes Heer von Freikörperkultur-Treibenden. In dieser Periode verfallen die Badeanstalten und werden nach und nach abgerissen.

Oberhalb des Strandes hinter den Dünen läuft die Strandpromenade vom Westen nach Osten, fünfzehn Meter breit, zum Meer hin abgeschirmt von einer Buchsbaumhecke, mit einem überaus schmalen »Trittoir«, wie man es früher nannte, versehen mit einigen gartenähnlichen Ornamenten, mit einem Konzertpavillon, mit grün- oder weißgestrichenen Bänken, und in der ersten Periode mit Gas-, in der zweiten mit Glühbirnen-, in der dritten mit Neonlicht-Kandelabern geschmückt. Diese Strandpromenade diente den Gästen zum Promenieren. Man promenierte nach dem Baden während der Teestunde und noch einmal nach dem Abendessen und vor dem abendlichen Vergnügen. Zum Zweck dieses Vergnügens liegen an der Strandpromenade neben drei-, vier- und fünfstöckigen Villen einige Hotels, ein Kurhotel mit Kursaal, und ein Café, das früher als sehr vornehm galt, nächtlichen Ausschweifungen diente und einen altgermanischen Namen trug, den es auch jetzt noch trägt, obwohl es inzwischen HO-Gaststätte geworden ist. In dem Kursaal gingen die Gäste zur »Reunion«, in dem Café mit dem altgermanischen Namen setzten sie die Reunion gelockerter fort, und die Strandpromenade nahm sie erst wieder auf, wenn sie angetrunken oder betrunken ihren Hotelbetten oder den Strandkörben im Dämmerlicht des Morgens zueilten. Hotelbetten wie Strandkörbe dienten dem Liebesleben.

Geschichte der Gäste: Die Gäste der ersten Periode kamen mit Leibdienern und Leibkoch, mit Zofen und Kammerzofe, mit Leibkutscher und Kammerdiener, mit riesigen hängeschloßbeschwerten Reisekörben, mit Reitpferden und Stalljungen, und die Einwohner bezeichneten sie als »die Herrschaften« und jeder Diener war ein herrschaftlicher Diener, jeder Kutscher ein herrschaftlicher Kutscher und jeder Koch ein herrschaftlicher Koch. Sie nannten sich Hoheit, Graf, Herzog, Durchlaucht, Excellenz, Baron und kamen gemeinhin mit dem D-Zug an, der kurz vor Mittag auf dem kleinen Bahnhof einlief. Sie trugen Schnurr-, Backen-, Voll- und Spitzbärte, rauchten Zigarren auch beim Promenieren, gingen in Galauniform oder auch im Frack zur Reunion, spielten Tennis in knielangen Hosen, tranken Champagner, hörten sich als Experten kritisch das Spiel der wechselnden Militärkapellen an und ritten durch den Buchenwald bis zu Knuths Ruh, er kerzengerade und sie im langen Reitrock und im Damensattel. Unter ihnen befand sich zeitweise auch S. Majestät der Kaiser, der sich in der Meeresluft auf langen Spaziergängen von seiner Politik erholte und so oft zu einer bestimmten Anhöhe schritt, bis die Einwohner sie in Kaiser-Wilhelm-Höhe umtauften. Die Zahl der Gäste stieg in der ersten Periode schnell an und betrug:

1897 380 1902 2476 1906 5500 1910 7764 1912 8589

Diese Gäste waren leutselig, herablassend und so vornehm, daß die Einwohner des Ortes sich nur selten auf die Strandpromenade oder ans Meer wagten. Im August 1914 verließen sie panikartig den Ort und kamen nicht mehr zurück.

Die Gäste der zweiten Periode gingen glattrasiert und reisten mit Autos an, die in keinen Bretterschuppen paßten. Überstürzt bauten die Einwohner des Ortes Garagen. Diese Gäste kamen ohne oder nur selten mit Leibpersonal. Nur auf den Chauffeur konnten sie nicht verzichten, und wer keinen Chauffeur hatte, den nannte man verächtlich einen Herrenfahrer. Sie waren Geheimräte, Professoren, Doktoren, Kommerzienräte und nur selten war ein General oder eine Hoheit dazwischen. Sie rauchten weniger Zigarren, trugen nur noch vereinzelt Monokel, hörten den Militärmärschen der Kurkapelle skeptischer zu, liebten in der Reunion den Tango, dann den Charleston und schließlich das, was sie die »Jazzerei« nannten, und wurden im Laufe ihrer Periode immer ausgelassener. Viele von ihnen kamen nur zum Wochenende, um ihre Frauen zu besuchen, was zur Intensivierung des Liebeslebens im Ort beitrug. Sie lagen am Vormittag in ihren Strandburgen unter schwarzweiß-roten Flaggen, schliefen am Nachmittag, promenierten am Abend im Smoking, tanzten, liebten am frühen Morgen und hätten gern zu den Gästen gehört, die in der ersten Periode kamen.

Viele von ihnen kamen in der dritten Periode nicht wieder, aber jene, die wiederkamen, nannten sich nun Major, General, Hauptmann oder Hauptsturmführer. Sie kamen nicht mit Chauffeur, sondern als Herrenfahrer, was nun nicht mehr verächtlich war. Ihren ehemaligen Chauffeur trafen sie unter Umständen nachts in dem Café mit dem altgermanischen Namen wieder, nun ebenfalls Hauptsturmführer. Sie nannten das, was sie tranken, Sekt oder Champagner. Sie tanzten nicht mehr Charleston und lehnten die »Jazzerei« ab. Sie kehrten zum Tango, zum langsamen Walzer, zum Foxtrott zurück, und neu war für sie nur der Swing. Unter ihnen waren viele Berufe, die mit Staats- anfingen: Staatsräte, Staatssekretäre, Staatsintendanten, Staatsschauspieler und Staatsschauspielerinnen. Für Liebesspiele bevorzugten sie die Strandkörbe. Ihre Lebenslust zeigte seltsame Abarten. Einige von ihnen schossen nachts mit Revolvern in die Reifen der eigenen Autos oder in die Kronleuchter oder Spiegel der großen Hotels. Sie eilten im August/September 1939 panikartig davon, ein jeder zu seinem Corps, zu seiner Division oder sonst wohin, und kamen nicht mehr zurück. Statt ihrer reisten Jahre später Urlauber an, die in Hosenträgern auf der Strandpromenade spazierengingen, ihr eigenes Bettzeug mitbringen mußten, zu irgendwelchen Arbeitsbrigaden gehörten,