Deutschland deine Pommern - Hans Werner Richter - E-Book

Deutschland deine Pommern E-Book

Hans Werner Richter

4,9

Beschreibung

Ein Chronist Deutschlands: Hans Werner Richter Als Gründer der einflussreichen Gruppe 47 ist Hans Werner Richter aus der deutschen Literaturgeschichte nicht wegzudenken. Nun sind zwei Werke wieder lieferbar, die seinen engen Bezug zu Vorpommern, wo er geboren wurde, zeigen. 'Spuren im Sand' aus dem Jahr 1953 erzählt, weitgehend autobiografisch, die Geschichte einer Jugend auf Usedom. 'Mag die Zeit, von der der Autor erzählt, auch vorbei sein, verloren ist sie keineswegs', schreibt Siegfried Lenz in seinem Nachwort. Im 1990 erschienenen Band 'Deutschland deine Pommern' macht sich Hans Werner Richter auf die humorvolle Suche nach 'den' Pommern und spürt Erlebnisse, Anekdoten und erdachte Gespräche auf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 183

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Deutschlanddeine Pommern

Hans WernerRichter

Wahrheiten, Lügenund schlitzohriges Gerede

Hans Werner Richter wurde 1908 in Bansin auf Usedom geboren. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre und arbeitete als Buchhändler und für Verlage. Als Soldat der Wehrmacht verbrachte er mehrere Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. 1947 gründete sich die Gruppe 47, das wichtigste literarische Forum Westdeutschlands, das er dreißig Jahre lang leitete. Er veröffentlichte u. a. die Romane Die Geschlagenen, Sie fielen aus Gottes Hand, Du sollst nicht töten und Bestandsaufnahme. Hans Werner Richter starb 1993 in München.

INHALT

1. Kapitel

Blau-Weiß ist nicht Weiß-BlauGibt es die Pommern noch?

2. Kapitel

Mensch, Karl, das Leben ist schwerWas ist ein Pommer?

3. Kapitel

Hei räd’t ein bäten tau välIst ein Pommer im Winter so dumm wie im Sommer?

4. Kapitel

Da habe ich aber Fersengeld gegebenÜber die Knochen eines pommerschen Grenadiers

5. Kapitel

Die Unterschweden und die WestkalmückenIst ein Vorpommer gleich einemHinterpommern und umgekehrt?

6. Kapitel

Und kein Heringsschwanz hat je wieder nach ihm gekrähtPommerscher Sex

7. Kapitel

Was wettert auf der Heid’ herum?Pommersche Junker waren keine Preußen,aber auch nicht besser

8. Kapitel

Gnädige Frau, ick sägel noch väl scheiverBetrachtung über die pommerschen Küstenbewohner

9. Kapitel

Alles in allem eine traurige GeschichteWie es den Pommern in der Historie erging

10. Kapitel

Wenn Sie so weitermachen, verlieren wir noch die SchlachtÜber pommersche Matrosen, Seeleute,Seehelden und deren Bescheidenheit

11. Kapitel

Dat is kein Schwin, dat is jo ein GiraffPommersche Gastronomie

12. Kapitel

Wenig Genies, doch viele OriginaleBedeutende Pommern

13. Kapitel

Ich sehe, du glaubst nicht an Jesum ChristumWie es die Pommern mit der Religion hielten

14. Kapitel

Ein Stier, söbenmol so grot as ein ElefantEine herrlich besoffene Sprache

15. Kapitel

Sie haben sich darin ohn Unterlaß zersudeltWarum und was die Pommern tranken

16. Kapitel

Maikäfer fliegÖber starben möt ick nu jo woll

1. Kapitel

Blau-Weiß ist nicht Weiß-BlauGibt es die Pommern noch?

Wenn in stiller Stunde

Träume mich umwehn,

Bringen frohe Kunde

Geister ungesehn;

Reden von dem Lande

Meiner Heimat mir,

Hellem Meeresstrande,

Düsterm Waldrevier.

Weiße Segelfliegen

Auf der blauen See,

Weiße Möwen wiegen

Sich in blauer Höh’.

Blaue Wälder krönen

Weißer Dünen Sand.

Pommerland, mein Sehnen

Ist dir zugewandt.

ZWEI STROPHEN AUS DEM »LIED DER POMMERN«

Die Farbe der Bayern ist weiß-blau, die Farbe der Pommern blauweiß. Ein Pommer ist also ein auf den Kopf gestellter Bayer. Oder umgekehrt: ein Bayer ist ein auf dem Kopf stehender Pommer.

Wer aber von beiden auch immer auf dem Kopf oder auf den Füßen steht, Pommern und Bayern haben fast nichts miteinander zu tun, bis auf gewisse Ähnlichkeiten, bei denen das »Blau« eine größere Rolle spielt als das Weiß. Ein »blauer« Bayer und ein »blauer« Pommer sind nicht voneinander zu unterscheiden. Beide würden, zusammen trinkend, abwechselnd auf dem Kopf stehen, einmal blau oben, einmal weiß unten, und umgekehrt, von allen anderen gleichartigen Reaktionen ganz zu schweigen.

Natürlich haben die Pommern mehr Anrecht auf ihr Blau und Weiß als die Bayern auf ihr Weiß und Blau, denn in Pommern ist fast alles blau oder weiß. In Pommern ist der Himmel blau und sind die Wolken weiß, sind die Möwen weiß und die Fische blau, ist das Meer blau und sind die Dünen weiß, und der Charakter der Pommern ist entweder blau mit weißen Punkten besetzt oder weiß mit blauen Punkten besetzt. Jene blauen, mit weißen Punkten besetzt, sind für mich die eigentlichen Pommern. Sie leben gern, trinken gern, lachen gern und erzählen und lieben gern. Es gibt sie dementsprechend auch viel zahlreicher als jene weißen, mit blauen Punkten besetzt, die lieber beten als leben, früher gern marschierten, und denen das Bigotte wie ein ewiger imaginärer Trauertropfen an der Nasenspitze hängt. Doch ist es hier noch zu früh, von dem Charakter der Pommern zu sprechen. Bleiben wir bei dem weiß-blauen oder blau-weißen Vergleich mit den Bayern.

Die Bayern gibt es noch, und sie tragen ihre weiß-blauen Farben stolz vor sich her, die Pommern aber gibt es nicht mehr, und ihre blau-weißen Farben sind so gut wie vergessen.

Keinem pommerschen Herzog oder Ministerpräsidenten flattert noch ein blau-weißes Fähnlein voran, und an keiner pommerschen Ulanenlanze hängt neben dem preußischen Schwarz-Weiß oder Weiß-Schwarz noch der blau-weiße Wimpel. Keine blau-weißen Grenzpfähle zeugen von einem Freistaat Pommern, und kein Greif mit blau-weißen Flügeln sitzt einem Löwen mit weiß-blauem Schwanz gegenüber. »Pommerland ist abgebrannt.« Und die Pommern gibt es nicht mehr.

Gibt es sie wirklich nicht mehr? Das ist die Frage. In der Bundesrepublik leben heute etwa zwei Millionen Pommern. Aber gesetzlich, legal, von Staats wegen existieren sie als Pommern nicht mehr. Sie sind Bayern, Schleswig-Holsteiner, Rheinländer, Niedersachsen und so weiter. Jenseits der Grenzpfähle der Bundesrepublik aber sind sie heute Ostmecklenburger. Alle miteinander sind in andere deutsche Provinzen eingemeindet.

Auch wenn jene, die in der Bundesrepublik leben, sich als Pommern fühlen, werden doch ihre Kinder und Kindeskinder Rheinländer, Bayern, Niedersachsen oder Schleswig-Holsteiner sein. Ein pommersches Kind, in Bayern geboren, wächst bayrisch auf, ob es die Väter und Mütter wollen oder nicht. Es verliert sich nicht nur der pommersche Akzent, es verliert sich auch jede Erinnerung an Pommern. Sie verliert sich auch dann, wenn die Eltern diese Erinnerungen ihr ganzes Leben lang pflegen, in dem Kind wecken und wachzuhalten versuchen.

Als mein Großvater mit fast einem Dutzend Kindern an die pommersche Küste zog, waren alle miteinander Sachsen, wenn auch leicht mit Zigeunerblut durchsetzt. Meine Großmutter väterlicherseits sprach ein so schnelles und unverständliches Sächsisch, daß alle ihre pommerschen Bekannten und Verwandten sie immerfort unterbrechen mußten:

»Langsom, langsom, wi verstohn di jo nich.«

Ihre Kinder sprachen schon alle plattdeutsch, und deren Kinder waren bereits waschechte Pommern, die als pommersche Grenadiere für Kaiser, König und Führer oder sonst etwas ins Feld zogen und ihre nunmehr berühmten pommerschen Knochen für etwas hinhielten, wovon sie nichts verstanden oder nichts verstehen wollten.

Ich selbst bin nie auf die Idee gekommen, daß sächsisches Blut in meinen Adern fließt. Zwar schlägt mein Herz nicht gerade höher, wenn von Pommern die Rede ist, aber es fühlt sich doch auf das angenehmste berührt. Sachsen hingegen läßt mich völlig kalt. Ja, ich kann nicht verhehlen, daß ich etwas gegen die Sachsen habe, seitdem sie in dem Landstrich, der nun nicht mehr Pommern heißt, so zahlreich geworden sind.

In Kürze, das heißt in hundert Jahren, wird es also keine Pommern mehr in Westdeutschland geben. Jene, die so alt sind wie ich, werden dann längst dahingegangen sein, und ihre Nachkommen werden kaum noch wissen, daß sie Pommern sind. Die Märchenerzählungen ihrer Ur-Ur-Urgroßeltern reichen nicht aus, um lebendige Erinnerungen wachzuhalten, auch dann nicht, wenn sie durch Generationen fortgesetzt werden. Was aber wird aus jenen, die nicht davongingen oder davongehen mußten: den restlichen Vorpommern, die westlich der Oder sitzen, auf der Insel Usedom, auf Rügen, in Stralsund, Prenzlau, Greifswald, Pasewalk, Ducherow?

Auch sie sind bekanntlich keine Pommern mehr. Sie sind heute Mecklenburger. Walter Ulbricht hat sie den Mecklenburgern geschenkt oder übereignet oder einfach zugeschlagen. Aus dem Rest der Provinz Pommern wurde laut Dekret ein Teil des Regierungsbezirks Mecklenburg, genau gesagt: »Ostmecklenburg«. So sind alle Vorpommern jetzt Ostmecklenburger. Es ist nicht bekannt, was die Mecklenburger dazu gesagt haben. Sehr erfreut können sie nicht gewesen sein. Nicht nur, daß die mecklenburgischen Ritter oder Strauchritter sich immer mit den pommerschen herumschlugen, Mecklenburg war auch stets ein fast selbständiges staatliches Gebilde, und dies noch unter den Preußen.

Solange es Mecklenburger gibt, und das reicht nach ihren eigenen Aussagen bis in die seligen Gefilde des Paradieses zurück – Adam und Eva wurden von Gott nach Ansicht der Mecklenburger im Mecklenburgischen in die Welt gesetzt –, haben sie die Pommern für etwas dümmer gehalten als sich selbst. Doch sie wurden nicht gefragt. Niemand hat in Mecklenburg über die Frage abstimmen lassen: »Wollt ihr die Vorpommern oder wollt ihr sie nicht?« Die Mecklenburger mußten nehmen, was ihnen laut Verordnung anheimfiel.

Wie immer in Pommern wurden natürlich auch die restlichen Vorpommern nicht gefragt. Sie wachten eines Morgens in ihren pommerschen Federbetten auf und waren Mecklenburger. Der Dialog zwischen einem vorpommerschen Ehepaar, das so erwachte, kann etwa folgendermaßen verlaufen sein:

»Du, Richard, hast du hürt, jetzt sind wi Mecklenburger.«

»Dat doch woll nich, Anna.«

»Doch, doch, sei segg’n et jo im Radio.«

»Dat givt et nich, Anna. Worüm denn Mecklenburger? Worüm nich glick Berliner?«

Sonderlich erfreut können also auch die Vorpommern nicht gewesen sein. Hochnäsigkeit, wie sie es nannten, ging auch ihnen nicht ab. Wie die Mecklenburger auf sie, so sahen sie umgekehrt auf die Mecklenburger herab. Mecklenburger, das waren für sie »Spinner«, oder »Spinnenkieker«, oder »Spökenkieker«. Die mecklenburgische »Spinnerei« war nicht vereinbar mit ihrer klaren vorpommerschen Rationalität. Die Frage ist, ob sich vorpommersche Rationalität mit der mecklenburgischen »Spökenkiekerei« gut verbindet, ja zu einer Art höheren rationalen Spinnerei vereint, was neue Aspekte eröffnen und von Nutzen sein könnte.

»Deutschland deine Pommern«, gibt es das noch? Sind die Pommern, die es rechtsstaatlich, oder sagen wir besser »behördenmäßig«, gar nicht mehr gibt, noch Deutschlands Pommern? Und gibt es das Deutschland noch, zu dem die Pommern als Pommern gehörten?

Doch tun wir so, als ob es das Pommern noch gäbe, das Deutschlands Pommern war, und beschreiben wir die Pommern so, wie sie einmal waren oder vielleicht noch immer sind: »Deutschlands Pommern im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.«

2. Kapitel

Mensch, Karl, das Leben ist schwerWas ist ein Pommer?

Daß er ein Pommer war, daran berauschte er sich in einer Weise, die mitriß. Und ein bißchen war es natürlich auch Wein und Schnaps, die mitgerissen haben.

KARL N. NIKOLAUS ÜBER HEINRICH GEORGE

Es ist schwierig zu sagen, was ein Pommer ist. Analysiere ich mich selbst, so komme ich auf Eigenschaften, die nicht pommersch sein können.

Redlich und offenherzig sollen die Pommern sein, arbeitsam, geduldig, standhaft, klug ohne Hinterlist, kühn, unerschrocken, tapfer, ehrliebend, ohne ehrgeizig zu sein, und – na ja Feinde aller Neuerungen. So sagt es ein Ludwig Wilhelm Brüggemann um 1779. Ich muß zugeben, einiges stimmt, »standhaft« zumindest und auch das »ehrliebend, ohne ehrgeizig zu sein«, aber schon das »klug ohne Hinterlist« macht mich skeptisch. Richtig hingegen ist, daß die Pommern Feinde aller Neuerungen waren, wenn auch nicht so unbedingt, wie es hier steht. Für Neuerungen ist auch ein Pommer, wenn sie zu seinem Vorteil sind. Da er aber über eine schnelle Intuition nicht verfügt, kommt er meistens zu spät, um diesen Vorteil wahrnehmen zu können. Sein oft konservatives Naturell hindert ihn daran, notwendige Veränderungen – Revolutionen wie Evolutionen – rechtzeitig zu erkennen. Es muß in diesem Zusammenhang auch zugegeben werden, daß viele Pommern (beileibe nicht alle) 1930 bis 1933 rückwärts marschierten, dem vermeintlich Guten, Alten, Bewährten zu, oder dem zu, was sie dafür hielten, immer mit Stahlhelm und schwarz-weiß-rotem Band, und erst, als es zu spät war, sagten sie:

»Denn’n Schiet, denn’n hemm wi nich wullt.«

Trotzdem gibt es in der Vergangenheit fast nur wohlmeinende Urteile über sie. Ein Thomas Kantzow hält sie 1542 für:

»ein Folck mehr gutherzig wann freuntlich und mehr simpel wann klug, nicht leichtsynnigk, auch nicht sehr frohlich, sonder etwas ernster und schwermutig. Sunst aber ist’s ein aufgericht, trewe, verschwigen Folck, das die Lügen und Schmeichelworte hasset, pittet gern Geste und gehet wider zu Gaste und thut einander nach irer Art und Vermegen gern gutlich …«

Auch zu diesem Wort ist eine Einschränkung notwendig. Ich kenne viele Pommern, die die Lüge nur bei anderen hassen, selbst aber gern und vortrefflich lügen. Dies nicht nur in Notwehr, sondern auch sonst. Ein Fischer an der Küste lügt das Blaue von seinem pommerschen Ostseehimmel herunter, besonders, wenn er mit sächsischen Gästen spricht. Da werden aus simplen Möven kraftstrotzende Seeadler, aus armseligen »Pissliesen« armdicke Aale, aus mittleren Stürmen Orkane und Taifune, in denen seinerzeit Dutzende von seefahrenden Pommern ertranken. An männlicher Potenz verfügen sie meistens über dreimal soviel wie andere normale Sterbliche, und was ihre Abenteuer betrifft, so sind sie von haarsträubender Unwahrscheinlichkeit.

Ich kannte einen Pommern, Handwerker und Fischer, der als preußischer Ulan im Ersten Weltkrieg gen Osten ritt, dort schon bei der ersten Attacke sieben Russen hintereinander mit seiner Lanze aufspießte, dann im Trab zu seinem Kommandeur zurückritt und alle sieben vor dessen Füßen von seiner Lanze schüttelte. Aber damit nicht genug. Kaum hatte besagter pommerscher Ulan seine sieben Russen abgeliefert, ritt er auch schon wieder zurück, und diesmal hatte er gleich neun Russen auf seiner Lanze, aber der neunte sprang ihm unverständlicherweise wieder herunter:

»Jo, wat sall ick di segg’n. Dor springt mi dei doch werra von dei Lanz, springt runner und löpt mi wech, löpt einfach wech. Öber ick hinner em her, immer hinner em her. Und wat sall ick di segg’n, dor sind Dusende von Kosaken, teindusend und noch mihr. Und ick dor twischen und retour. Und dei acht Russen up min Lanz lopen näben min Pird her, wat dat Tüch hüllt.«

Ein anderer nahm als Infanterist, ebenfalls im Ersten Weltkrieg, an einem Sturmangriff auf amerikanische Stellungen teil. Er lief, einmal im Laufen, zu weit und stand plötzlich einem amerikanischen General gegenüber. Und was sagte der General?

»Ja, da bist du ja, mein lieber Neffe.«

Dieser amerikanische General war sein vor drei Jahrzehnten ausgewanderter Onkel, was den Infanteristen nicht weiter erstaunte. Hocherfreut über die unverhoffte Begegnung, klopfte der ordenstrotzende General dem pommerschen Infanteristen auf die Schulter und sagte: »Laß dich mal bei mir in den Staaten sehen« und »Besuch mich doch mal in Amerika« und schickte ihn zu seiner deutschen Einheit zurück.

Zwei Jahre später kam die Einladung aus Amerika, ein Dollarscheck und alles, was besagter ehemaliger Infanterist für seine Reise in die USA benötigte. Der pommersche Infanterist fuhr und erlebte dies:

»Du wast et mi nich glöben. Aber da war ein Schloß, teinmol so grot as min Hus. Und Diener, jede Zahl. Und wat segg’n dei Diener tau mi? ›Herr Steinbrink, kommen Sie rein, der General erwartet Sie.‹ Und ick min Mütz unner’n Arm und rin. Und wer saß da neben denn’n Generol? Dat wast du ook nich glöben. Aber es ist so. So wahr mir Gott helfe. Da saß ein Löwe. Und wat hätt dei Löw vör sich? Ein Kotelett, so grot as bi uns ein Disch. Und tatsächlich, dei Löw ißt doch mit Messer und Gabel, und dat von einem goldenen Teller.«

Diese Erzählung, halb in Plattdeutsch, halb in Hochdeutsch, geht weiter. Der General sagt zu dem Löwen:

»Und dies dort ist mein lieber Neffe Steinbrink aus Neu-Sallenthin.« Der Löwe nickt, und nun beginnt auch er zu sprechen: »Ja, mein lieber Steinbrink, dann nehmen Sie man neben dem General Platz. Wie geht es denn in Neu-Sallenthin?«

Nirgends habe ich den Satz: »Hei lücht schon werra« so oft gehört wie in Pommern, aber niemand nimmt an dem Wort: »Er lügt schon wieder« Anstoß, weder der Erzähler noch der Zuhörer. Man läßt jeden mit seinen Lügen allein. Ernst, kopfnickend und jeden Satz bestätigend, hört man dem Erzähler zu, sagt höchstens einmal »Nein, so was« oder »Dei Düwel ook« oder »Ach, du lieber Gott, wie kommt denn der Löwe dahin?« Auf die Antwort »Aber der wohnte doch im ersten Stock, eine ganze Etage, sage ich dir, und das in seidenen Himmelbetten« nickt man wieder verständnisinnig und sagt höchstens: »Ja, natürlich, wo soll er denn sonst auch wohnen.«

Erst wenn der Erzähler gegangen ist, lacht man über ihn, sagt:

»So ein Quatschkopp« oder »Jetzt habe ich die Geschichte schon zum zehntenmal gehört, und jedesmal wird der Löwe größer, das Schloß höher und der General reicher.«

Nein, wahrheitsliebend sind die Pommern nicht. Sie sind es weder ihren Mitpommern gegenüber noch gegenüber ihrem irdischen oder ihrem himmlischen Richter. Kommen sie in Bedrängnis, so sagen sie einfach: »Ich war es nicht.« Das sagen sie so lange, bis jedermann überzeugt ist, daß ein Pommer immer und zu allen Zeiten die Wahrheit spricht. Sie besitzen ein vortreffliches Durchstehvermögen.

So etwa sahen früher die Dialoge vor Gericht aus.

»Herr Amtsrichter, ich war es nicht.«

»Aber hier sind doch die Beweise. Hier ist doch das Bierseidel, daß Sie Ihrem Nachbarn auf den Kopf geschlagen haben.«

»Bierseidel? Kenn ich nicht. Ich sage ja, ich war es nicht, Herr Amtsrichter.«

»Sie lügen. Und was sagen Sie denn zu dem Messer, das hier liegt und mit dem Sie Ihren Nachbarn angegangen sind? Es ist doch Ihr Messer?«

»Es ist nicht mein Messer, Herr Amtsrichter. Ich war es nicht.«

»Es ist Ihr Messer!«

»Ich war es nicht.«

»Sie waren es. Also sagen Sie die Wahrheit. Unter zwei Jahren geht das sowieso nicht für Sie ab.«

»Das ist mir egal, Herr Amtsrichter, aber waren – nein, war ich nicht.«

Auch mit dem allerhöchsten Richter gehen sie nicht viel anders um. Gott ist für sie nur ein Pseudonym für alles, was sie nicht begreifen. Näher ist ihnen die Erde, auf der sie stehen.

Ich kannte einen Anstreicher, der Johann hieß und der einen Schwager hatte, Fischer und Maurer, den man »Johann Buck« nannte. Dies, weil seine Potenz die aller anderen nach eigenen Angaben um ein Vielfaches übertraf. Als nun Johann, der Anstreicher, im Sterben lag, kam der andere Johann, sein Schwager, »Johann Buck«, herein und sagte:

»Johann, wist du mit Mausik beardigt war’n?«

Und da verschied Johann, der Anstreicher.

An einen Pastor hatten sie beide nicht gedacht, an Gott auch nicht.

Gewiß, so sind nicht nur die Pommern. Aber es ist doch ein Unterschied, ob jemand, wie die Bayern, immer in Gott lebt, oder, wie die Pommern, nur neben Gott.

Aber nehmen wir noch ein gutes Wort über die Pommern. Es ist von einem Schriftsteller unserer Tage.

»Es lebt viel Witz in ihnen – Bedächtigkeit und Ruhe –, den Pommern, einem Menschenschlag, der gleichermaßen von Meer und Erde geprägt wurde. Sage einer, der Pommer sei stur, so meine ich: Eigensinnig ist er, unverkennbar ganz und gar ein eigener. Sage einer, er sei unzugänglich, verschlossen, so setze ich dagegen: Bescheiden ist er. Und verwechsle ein Dritter beides mit Zurückgebliebensein und lasse seinen Spott aus, so meine ich: Es ärgert ihn am Pommern nur, was ihm selbst längst abhanden kam, Einfachheit, Genügsamkeit, und statt Unzugänglichkeit Überlegensein – das Überlegensein derer, die, vor vielen hundert Jahren, Weite und Enge zugleich in ihren Blick nahmen, als sie Fischer wurden und Ackerbauern über der Furche, die unmittelbar hinter der Küste begann.«

Nun ja, ganz so einfach, so genügsam und so überlegen sind meine lieben Landsleute wohl nicht. Das Lob, das hier ausgesprochen wird, ist nur bedingt eines. Bescheiden ja, aber überlegen? Stur, nein, aber ganz und gar ein eigener nach all den Vorfahren, die die Pommern haben: Goten, Wenden, Schweden, Dänen, Polen, Preußen, und wer sich sonst noch in Pommern herumtrieb? Die Pommern leben gern, und wer gern lebt, ist nicht ganz und gar tugendhaft, und die Pommern sind – ich meine es – keine Tugendbolde. Auch ein Pommer nimmt gern, was er bekommen kann. Auch in Pommern haut man gern jemanden übers Ohr, wenn es denn sein muß, und meistens muß es sein. Das ist so wie überall. Nur gibt es einen bemerkenswerten Unterschied.

Ein Pommer wird nach einem solchen Vorgang des Übers-Ohr-Hauens häufig melancholisch. Es stimmt ihn traurig, daß er seinen lieben Nächsten so beuteln mußte. Er denkt, es hätte ja nicht sein müssen, wenn der andere rechtzeitig nachgegeben hätte.

Trost suchte er früher vielleicht in der Kirche, unter Umständen neben seinem Opfer. Hieß dieses Opfer, sagen wir, Karl, so sagte er:

»Mensch, Karl, das Leben ist schwer.«

Der andere aber, der Gebeutelte, Übers-Ohr-Gehaune, sagte vielleicht:

»Jo, jo, Willem, for di väl mihr as for mi.«

Oder er sagte gar nichts, nahm sich aber im strengen Gebet vor, jenem bei der nächsten Gelegenheit ein Bein zu stellen, was nun auch ihn bis zum Hals hinauf mit Traurigkeit erfüllte. Beide Betenden saßen also melancholisch nebeneinander, und beide dachten dasselbe: Wie schlecht ist doch die Welt.

3. Kapitel

Hei räd’t ein bäten tau välIst ein Pommer im Winterso dumm wie im Sommer?

Ein Pommer ist im Winter so dumm wie im Sommer. Nur im Frühjahr, da ist er etwas klüger.

POMMERSCHE SELBSTEINSCHÄTZUNG

Ob ein Pommer von besonderer Intelligenz ist, wurde bisher nicht nachgewiesen, auch nicht, daß ein Pommer im Winter genauso dumm ist wie im Sommer. Fraglich bleibt ebenfalls, ob er im Frühjahr etwas klüger ist als in den übrigen Jahreszeiten. Wenn daran etwas Wahres ist, dann ist diese mit den Jahreszeiten wechselnde Intelligenz eine besondere Eigenschaft der Pommern, die sie von allen anderen deutschen Stämmen abhebt.

Mein Großvater mütterlicherseits, dessen Vorfahren bis zum Dreißigjährigen Krieg ausschließlich Pommern waren, schloß jene Möglichkeit, daß die Pommern im Winter so dumm sind wie im Sommer, keineswegs aus.

»Glöv mi, min Jung, dat hätt schon sin Bewandtnis.«

Ärgerte er sich über pommersche Mitbürger, so sagte er:

»Dei dömlichen Pommern. Dei lopen ook mit jeden Schietdreck mit.«

Kam der Frühling, so hatten wir Kinder jenen Spruch über die Winter- und Sommerdummheit der Pommern immer zur Hand und sagten ihn im monotonen Singsang auf. Da sich »klüger« schlecht auf Frühjahr reimte, sagten wir »klüga«, und der Spruch hieß dann:

»Ein Pommer ist im Winter so dumm wie im Sommer. Nur im Frühjahr, da ist er etwas klüga.«

Als ich meine Mutter einmal fragte, warum denn der Pommer ausgerechnet im Frühjahr klüger sei, bekam ich zur Antwort:

»Jo, jo, min Jung, dei Mai is nu einmol dei Wonnemonat.«

Was die Wonnen des Monats Mai mit der zu dieser Jahreszeit aufbrechenden Klugheit der Pommern zu tun haben sollten, wurde mir natürlich nicht klar, aber heute darf man vielleicht sagen: pommerscher Sex und pommersche Klugheit schossen im Monat Mai, sich gegenseitig hochtreibend, in den blauweißen Pommernhimmel. Es kann sein, daß dieser Monat Gelegenheiten bot, die im Winter in Pommern nicht vorhanden waren: die Wiesen fett, die Wälder grün, die Nächte lind.

»Lind«, sagte meine Mutter, »was für linde Nächte«, und dann sagte sie noch: »Na, das wird im Winter ja wieder einen Haufen Gören geben.«

Sie behielt fast immer recht. Aber auch dies erklärt noch nicht das frühlingshafte Klüger-Sein. Es muß einen Zusammenhang geben, der weit in die pommersche Geschichte zurückreicht. Wie es aber auch immer sein mag, dieser Satz bleibt unverständlich.