Geschichten aus Saramee 3: Geweckte Hunde - Sylke Brandt - E-Book

Geschichten aus Saramee 3: Geweckte Hunde E-Book

Sylke Brandt

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Beschreibung

Dunkle Schatten ziehen über die Inselvölker hinweg, ihnen folgt der Gestank des Krieges, ein Dieb erteilt eine Lehre und ein mächtiger Krieger strandet in Saramee – drei Geschichten aus der Stadt der Träume und verlorenen Seelen. Inhalt Eine Lektion der Stärke (Sylke Brandt) Geweckte Hunde (Martin Hoyer) Krieger einer fremden Welt (Holger M. Pohl)

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Sylke Brandt, Martin Hoyer

Geschichten aus Saramee 3: Geweckte Hunde

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Geschichten aus Saramee Band 3

 

Saramee - Stadt der Vertriebenen

 

Geweckte Hunde

Autoren: Sylke Brandt, Martin Hoyer und Holger M. Pohl

Geschichten aus Saramee  Band 3

Eine Lektion der Stärke

Eine Lektion der Stärke

Sylke Brandt

»Aber das ist un … ungerecht!« Die Stimme war schrill und brach, vielleicht vor lauter Empörung, vielleicht vor Tränen, die hinter den Worten lauerten. Das kleine, vor Schmutz starrende Mädchen hatte die Fäuste fest zusammengeballt und blinzelte heftig. Tränen waren schlecht. Tränen machten, dass die anderen lachten. Dass sie wussten, wann sie gewonnen hatten. Sie konnte schreien, kreischen, um sich schlagen. Aber sie durfte niemals weinen.

Doch ihre Entschlossenheit war nur eine schwache Maske, ebenso wie ihre heftige Anklage. Der Junge vor ihr – an der Grenze zum Mann, aber mehr mit einem großen Körper als einem raschen Geist gesegnet – war nicht beeindruckt. Im Gegenteil. Er hatte erwartet, dass die Göre gleich losheulte, aber das war nur eine Frage der Zeit. Sie war einen winzigen Schritt davon entfernt. Der Junge spürte die prickelnde Freude, die er an alledem hatte. Das machte für ihn einen guten Tag aus. Mochte sein Magen satt und voll sein, das gab ihm keine Befriedigung. Die Art von Nahrung, die er aus der Verzweiflung des Mädchens vor sich zog, war ungleich süßer.

»Ungerecht?«, flötete er mit scheinbarem Entsetzen und riss die Augen auf. »Nein, nein. Das ist gerecht. Los sag es, dass es gerecht ist, ich will es von dir hören. Sag: ›Es ist gerecht, dass ich dir mein Geld gebe, weil du stärker bist und ich nur ein ganz kleiner Haufen Prissdreck.‹ Na los, das kannst du!«

Das Mädchen kniff die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen Strich bildeten, und zog finster die Brauen über die blauen Augen. Ihre Finger krallten sich fest um die Münzen in ihrer Hand. Es waren nur ein paar Kupferstückchen, eines sogar durchgebrochen, so dass die scharfen Kanten in ihre Hand schnitten. Kaum genug für eine warme Suppe in einer Spelunke, in der die Ratten auf den Tischen tanzten. Aber es war alles, was sie hatte. Der Verdienst eines ganzen Tages des Bettelns, des intensiven Wühlens in grässlichem Müll und des Hoffens in einer Gegend, in der allzu viele Kinder das gleich taten, mit der gleichen Verzweiflung und Gründlichkeit. Es gab reichlich Schatten in Saramee und die Kinder lebten in ihnen wie Geister. Die ältesten Söhne und Töchter aus Familien, die zu viele Nachkommen hatten, um sie alle durchfüttern zu können. Kinder, deren Eltern verschwunden waren, gefressen von der monströsen Stadt. Oder von solchen, die sich nie kümmerten, verloren in ihren eigenen Belangen. Die Kinder überlebten, irgendwie. Unter ihnen das Mädchen. Sie war gut darin, besser als die meisten. Aber es war trotzdem fast nie genug zum Überleben.

Vielleicht wäre es klug, dem Jungen die Münzen zu geben. Er konnte sie übel verprügeln und dann würde sie nicht mal weiter suchen können. Der Blick des Mädchens flatterte zu dem Gürtel des Jungen, an dem seine eigene Geldbörse hing. Sie war abgewetzt und das Leder fleckig, aber trotz allem war sie anscheinend gut gefüllt. Eine ganze Handvoll Kupferstücke. Vielleicht eine Silbermünze dabei. Genug für eine ganze Woche Essen und einem Schutz vor dem Nachtregen. Wahrscheinlich hatte er es anderen Kindern abgenommen, genau wie ihr. Und jetzt wollte er noch ein bisschen mehr. Sie sah seinen spöttischen Blick und das ungute Glitzern in seinen Augen und wusste, dass es sehr, sehr dumm war, was sie jetzt tat. Aber sie konnte nicht anders. Sie schloss die Faust nur etwas enger um ihren Schatz und wich einen kleinen Schritt zurück.

»Nein«, sagte sie bestimmt, und diesmal war ihre Stimme fest. »Ich geb‘ dir gar nichts. Das ist nämlich ungerecht.«

Der Junge sah aus, als hätte sie ihm damit ein Geschenk gemacht. Ein Lächeln schnitt seine Lippen auseinander und er griff betont gelassen nach einem schmalen, mit nassem Sand gefüllten Lederschlauch an seiner Seite. Das Mädchen kannte diese harmlos aussehende Waffe. Sie wusste, wie unglaublich schmerzhaft sie sein konnte. Schluckend trat sie noch einen Schritt zurück, aber die bröckelige Wand hinter ihr war nahe und hatte weder Tür noch Fenster. Grinsend rückte der Junge vor und hob den Lederschlauch.

»Und was ist hier los?«, mischte sich eine fast desinteressiert klingende Stimme ein. Ein Mann war am anderen Ende der Gasse aufgetaucht, nur ein paar Schritte hinter dem Jungen. Er war noch jung, mit kurz geschnittenem Haar und sehr wachen Augen, die jetzt die Kinder ausdruckslos musterten. Er lehnte nicht an der schmuddeligen Mauer des Hauses, aber irgendwie wirkte er so, als wäre er schon seit geraumer Zeit da und würde die beiden Kinder beobachten. Langsam warf er einen Blick auf den Totschläger in der Hand des Jungen und den angstvollen, trotzigen Gesichtsausdruck des Mädchens und schlenderte näher.

»Sieht so aus, als ob du ihr eine kleine Lektion erteilen willst«, sprach der Fremde den Jungen an, gleichmütig und keineswegs unfreundlich. Das Mädchen sah, wie sich die Besorgnis auf dem Gesicht ihres Widersachers verflüchtigte und sackte in sich zusammen. Kannte er den Fremden? Anscheinend hatte sie hier keine Hilfe zu erwarten. Vielleicht noch was Schlimmeres, als nur ihr Geld zu verlieren …

»Ja, mein Herr. Eine kleine Lektion«, antwortete der Straßenräuber wie der gute Junge, der er nicht war. Noch war er sich nicht sicher, was jetzt kommen würde, aber der Fremde legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und lächelte.

»Ah, das ist gut. Man kann in Saramee nicht früh genug lernen, wie das Leben so läuft. Das erspart einem viel Ärger. Welche Lektion bringst du ihr denn bei, mein junger Freund?«

Diese Frage überstieg für einen Moment fast seine geistigen Möglichkeiten, aber dann grinste der Junge wieder. Er hatte eine gute Antwort. Vielleicht war es sogar seine eigene.