Geschlafen wird am Monatsende - Jochen Dieckmann - E-Book

Geschlafen wird am Monatsende E-Book

Jochen Dieckmann

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Beschreibung

Rollende Zeitbomben Schlaflose Nächte, ständige Hetze, Gesetzesverstöße, Verkehrsgefährdung in erschreckendem Ausmaß, schlechte Bezahlung - das ist die Realität für Trucker. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, die Speditionen agieren nicht selten an der Grenze zur Kriminalität, häufig darüber hinaus. Jochen Dieckmann, selbst ehemaliger Trucker, erzählt haarsträubende, unfassbare Geschichten von den Straßen Europas. Jochen Dieckmann hat als Fernfahrer jahrelang Sinnvolles und Sinnloses über Europas Straßen transportiert: 24 Tonnen Altpapier von Hamburg nach Bordeaux, Leerfahrten von Rouen nach Istanbul, Schnittblumen vom holländischen Aalsmeer ins andalusische Jerez de la Frontera und als Rückladung Schnittblumen von Jerez nach Aalsmeer. Gefährlicher für uns alle ist aber, dass Trucker gezwungen werden, wesentlich länger zu fahren, als eigentlich erlaubt - Manipulation und Korruption gehören zum Tagesgeschäft vieler Speditionen. Dieckmann packt aus, gibt dabei aber auch persönlichen Schicksalen eine Stimme. Ein gesellschaftliches Portrait des facettenreichen Europa, ein Blick "von unten" auf unser Wirtschaftssystem!

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Ebook Edition

Jochen Dieckmann

Geschlafen wird am Monatsende

Ich, mein Truck und der alltägliche Wahnsinn aufEuropas Straßen

 

 

 

 

 

 

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

4. Auflage 2011

 

ISBN 978-3-938060-86-5

© Westend Verlag, Frankfurt/Main 2011

Fotos Innenteil: Jochen Dieckmann

Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Einleitung:Verschollen im Niemandsland

On the road:Mein Weg vom Kleinlasterfahrer zum internationalen Trucker

Lenk- und Ruhezeiten:Gut gemeint, aber flächendeckend missachtet

Logbuch erste Tour:Von Rotterdam nach Istanbul und zurück

Ein trauriges Kapitel:Die Bezahlung von Truckern

Logbuch zweite Tour:Runter nach Marokko und rauf bis nach Wales

Logbuch dritte Tour:Eine Woche Nahverkehr

Logbuch vierte Tour:Von den Niederlanden ins Niemandsland

Zum guten Schluss

Danksagungen

Nachwort zur vierten Auflage

I have been a rover

I have walked alone

Hiked a hundred highways

Never found a home

Still in all I’m happy

The reason is, you see

Once in a while along the way

Love’s been good to me

 

Rod McKuen

Einleitung:Verschollen im Niemandsland

Seit letzter Nacht gibt es mich nicht mehr, ich bin ein Niemand im Niemandsland. Ich stehe mit meinem Vierzig-Tonner-Sattelzug mit Kühlauflieger in einer idyllischen Gegend an der Theiß, im Grenzgebiet zwischen Ungarn und der Ukraine, kann weder vor noch zurück und habe keine Ahnung, wie dieses Problem nun gelöst werden soll. Ich hatte die Chefs gewarnt, aber ich bin ja nur ein Trucker, und auf uns hört sowieso niemand. Und ich habe plötzlich etwas, was in meinem Beruf sehr, sehr selten ist: Zeit! Viel Zeit, sogar mehr Zeit, als mir lieb ist.

In gut zwei Metern Umkreis um mich herum habe ich in meiner Fahrerkabine alles, was ich brauche, um halbwegs komfortabel überleben zu können, selbst wenn ich hier mehrere Tage warten müsste. Ich hatte erst kürzlich all meine Wäsche waschen können und auf der Durchreise irgendwo in Tschechien Wein, Brot und Käse eingekauft. Auch meine Trinkwasservorräte sind aufgefüllt, ich habe fast zwanzig Liter dabei. Hinter dem Sitz befindet sich mein Bett, ich habe eine Taschenlampe, meinen privaten Werkzeugkasten, gute Bücher und Hörbücher, Laptop und noch einige DVDs. Außerdem ein Handy mit deutschen, ungarischen und ukrainischen SIM-Karten sowie einen dicken Stapel guter Straßenkarten von vielen Ländern. Aber die brauche ich gerade nicht, denn an Fahren ist derzeit nicht zu denken.

Um mich herum ist alles dunkel und wunderbar ruhig. Ab und zu bellt von weitem ein Zollhund, und irgendein Nachtvogel singt ein Klagelied. Das wäre ja ganz romantisch, wenn ich nicht in dieser misslichen Lage im Niemandsland wäre.

Eigentlich sollte ich auf dem Weg nach Kiew sein. Letzte Nacht kam ich von Budapest und habe nach »nur« wenigen Stunden die ungarischen Grenzformalitäten im Grenzdorf Zàhony hinter mich gebracht. Ich habe offiziell die EU verlassen, was mir durch viele wichtig aussehende Stempel auf meinen diversen Papieren bestätigt wurde. Um Mitternacht verlasse ich Ungarn, überquere den Grenzfluss Theiß und gelange nach wenigen hundert Metern zur ukrainischen Grenzstation. Die Gegend hier nennt sich Transkarpatien, die ukrainische Grenzstadt heißt je nach Schreibweise Chop oder Tschop, auf den Schildern steht aber nur auf Kyrillisch: Чоп.

An der Grenzstation beginnt die übliche Prozedur: Waage, Laufzettel, erste Kontrolle der zahlreichen Papiere, dann fünfzig Meter Fahrt zum Zollparkplatz. Nun sollte eigentlich der Hürdenlauf an den diversen Abfertigungsschaltern beginnen, doch bereits am ersten Schalter gibt es Probleme. Hier residiert die in Truckerkreisen gefürchtete Behörde SMAP, die nationale ukrainische Transportkontrollbehörde. Zuerst scheint alles reibungslos zu verlaufen, an den rund zwei Kilo Zoll- und Fahrzeugpapieren gibt es nichts zu beanstanden. Als der uniformierte Beamte jedoch die Taschenlampe aus dem Schrank holt, ahne ich schon, was nun folgen wird: Fahrzeugkontrolle. Ich weiß, was er sehen will, sie kontrollieren immer das Gleiche. Unter anderem die Reifen an den drei Hinterachsen. Zumindest auf jeder einzelnen Achse sollte links und rechts das Profil gleich sein. Die Vorschrift ist sinnvoll, in EU-Ländern wird das allerdings eher selten kontrolliert. Nicht so bei der SMAP. Meine holländische Firma hatte schon oft Probleme damit, und ich verstehe einfach nicht, wieso die Büromenschen nicht darauf achten, dass dieses Detail eingehalten wird – im Allgemeinen wegen der Verkehrssicherheit und im Besonderen bei Fahrten in die Ukraine wegen der SMAP. Nun haben wir den Salat, und ich muss innerlich ein wenig grinsen.

Viele ukrainische Polizisten und Zöllner sind korrupt. Man kann durch die diskrete Überreichung eines kleineren Euro-Scheins viele Probleme aus der Welt schaffen. Ausgerechnet bei der SMAP sind allerdings relativ wenige Beamte bestechlich, von »meinem« Kontrolleur weiß ich von früheren Grenzübertritten, dass ich es gar nicht erst zu versuchen brauche. Er bleibt sehr freundlich, weist mich aber darauf hin, dass ich mit diesen Reifen mit Sicherheit nicht in die Ukraine einreisen dürfe. Zurück im Büro, sammelt er die Papiere zusammen, gibt mir den ganzen Packen zurück und fordert mich auf, mitsamt meinem Lkw die Ukraine wieder zu verlassen. Ein Kollege erklärt mir das alles auf Englisch. Man habe meine Firma schon lange im Auge, jedes Mal gebe es Beanstandungen an den Fahrzeugen, nun reiche es, ihre Geduld sei zu Ende, ich dürfe nicht einreisen, und damit basta.

Irgendwie sehe ich sogar ein, dass sie recht haben. Ich verlasse also die Ukraine wieder, ohne überhaupt richtig eingereist zu sein. Die Ungarn aber wollen mich nicht wieder in ihr Land lassen. Ich habe keine Einfuhrpapiere für die Ware, denn deren Ausfuhr aus der EU war ja erst vor wenigen Stunden amtlich bestätigt worden. Da es weder vor noch zurück geht, bleibt mir keine andere Wahl, als im Niemandsland zu warten und für heute Feierabend zu machen. Dieses Problem sollen morgen Leute lösen, deren Meinung höher bezahlt ist als meine.

In der Kantine der ukrainischen Grenzstation habe ich mir noch ein kühles Feierabendbier kaufen können. Während ich es genieße, überdenke ich meine Situation. Seit einem Jahr bin ich also nun wieder Fernfahrer. Seitdem bin ich fast pausenlos unterwegs in ganz Europa und darüber hinaus. Ich war in 24 Ländern, immer eilig und getrieben, fast jeden Tag in einem anderen Land. Weihnachten war ich in Kiew, Ostern in Istanbul, Pfingsten in Leicester und an meinem 50. Geburtstag stand ich in einem Industriegebiet in der Vorstadt von Marseille. Zu Hause in meinem eigenen Bett habe ich schon seit Monaten nicht mehr geschlafen. Kurz gesagt: Ich habe einen ganz normalen Truckerjob.

Mit Romantik hat diese Arbeit allerdings ungefähr so viel zu tun wie das Weihnachtsgeschäft am vierten Adventssamstag mit Besinnlichkeit und Frieden. »Kapitän (oder gar König) der Landstraße«, »Freiheit und Abenteuer«, »lonesome Cowboy« – all diese Klischees haben mit der Wirklichkeit eines Fernfahrers absolut und überhaupt nichts zu tun. Diejenigen, die das am besten wissen und – wenn sie ehrlich sind – bestätigen können, sind wir selbst.

Jede Sekunde meiner Arbeit wird dokumentiert, über Satellitenpeilung kann die Firma nicht nur meinen aktuellen Standort sehen, sondern auch, ob ich fahre, stehe oder die Türen öffne. Für jede Pinkelpause habe ich mich zu rechtfertigen, ich muss sieben Tage die Woche 24 Stunden der Firma zur Verfügung stehen, der kleinste Fehler kann mich noch Wochen später bei einer Lkw-Kontrolle teuer zu stehen kommen. Oder zwei Monate später zu einem Lohnabzug führen.

Auch die Tatsache, dass ich oftmals in Gegenden fahren muss, die meine Landsleute normalerweise nur mit Urlaub assoziieren, reißt mich nicht mehr vom Hocker. Dafür habe ich dort schon zu viel hinter die Kulissen schauen können. Nach Griechenland zum Beispiel fahre ich nur, weil es mein Job ist und ich Geld dafür kriege. Ich würde niemals mehr Geld dafür ausgeben, um dort meinen Urlaub zu verbringen.

Ich fahre für einen niederländischen Familienbetrieb mit einigen Dutzend Lkw, der dieses Geschäft in der dritten oder vierten Generation betreibt. Daher habe ich leider auch gleich mehrere Chefinnen und Chefs. Neben dem Buchhalter und der Putzfrau arbeiten als Angestellte in dem Betrieb noch zwei bis drei sogenannte Disponenten, das sind die Planer der Touren. Sie sind zwar eigentlich Kollegen und auf unsere Zusammenarbeit angewiesen, aber diese Schreibtischhengste behandeln alle Fahrer so, als wären sie ebenfalls unsere Vorgesetzten. In dieser Firma herrscht ein rauer Ton. Vorher hielt ich Niederländer immer für freundlich und tolerant. Von diesem Bild ist nichts mehr übriggeblieben. Sowohl den Chefinnen und Chefs als auch den Disponenten scheint es wichtig zu sein, die Fahrer so schlecht wie möglich zu behandeln. Zu den niederländischen Kollegen sind sie unfreundlich, zu uns Ausländern geradezu feindselig. Die Chefs sind zudem launisch und oft auch cholerisch. Es herrscht ein Klima von Angst, Einschüchterung und guter Miene zum bösen Spiel. Wir Fahrer sind immer froh, wenn wir endlich wieder auf Tour gehen und uns dieser aggressiven Atmosphäre entziehen können.

Möglicherweise ist dieser Betrieb extrem ausbeuterisch und verstößt mit geradezu krimineller Energie gegen zahlreiche Gesetze, aber das Muster kennt fast jeder Trucker. Folgende Dinge gehören in der gesamten Branche zum Alltag der Fahrer: Respektlosigkeit, Einschüchterung, Kontrollen, Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung von Spesen und Arbeitsstunden, Lohnkürzung, Lohnausfall, Lügen gegenüber Kunden und Fahrern, Verstoß gegen zahlreiche Sicherheitsauflagen sowie der ständige Druck, gegen alle möglichen Gesetze verstoßen zu müssen. Aber begleiten Sie mich doch am besten auf einigen Touren und machen Sie sich selbst ein Bild von den Lebensbedingungen der sogenannten »Könige der Landstraßen«.

On the road:Mein Weg vom Kleinlasterfahrer zum internationalen Trucker

Meinen ersten Lkw-Job hatte ich gleich mit 18. Ich durfte damals mit dem frisch erworbenen Autoführerschein einen 7,5-Tonner fahren, so habe ich mir eine Zeit lang mein Studium finanziert. Zuerst fuhr ich für ein Baugeschäft Ware aus, da musste ich immer Garagentore oder ein paar Dutzend Zementsäcke quer über irgendwelche Baustellen schleppen. Später jobbte ich für eine Spedition im Nahverkehr, da gab es dann »nur« Kartons zu tragen. Das Geld reichte mir nicht, die Arbeit gefiel mir nicht, deswegen machte ich gleich mit 21 den Führerschein für große Lkw. Im Verhältnis zu heute war das damals ein Kinderspiel, sowohl in Bezug auf die Anforderungen als auch auf den Preis.

Ich kam schnell an eine Anstellung in Bremen. Der Speditionsmarkt war damals – Anfang der achtziger Jahre – anders strukturiert als heute. Um in Deutschland gewerblichen Fernverkehr zu betreiben, brauchte man eine Konzession für jedes einzelne Fahrzeug – ähnlich wie heute noch im Taxigewerbe. Ohne dieses Papier durfte man nur in einem Umkreis von fünfzig Kilometern um den Heimatort gewerblich fahren. Auch in den meisten anderen Ländern Europas war die Anzahl der Konzessionen beschränkt, sie wurden daher praktisch nie an die Behörde zurückgegeben. Stattdessen entwickelte sich ein Markt dafür. In den achtziger Jahren konnte man eine solche sogenannte »rote Konzession« für etwa 250 000 Mark kaufen, sie kostete also mehr als der Lkw selbst. Diese nach Planwirtschaft riechenden Beschränkungen wurden erst Anfang der neunziger Jahre europaweit aufgehoben. In Griechenland wurde das sogar erst im Jahr 2010 nachgeholt, gegen den Widerstand der betroffenen Fuhrunternehmer.

Ins Ausland sind nur diejenigen gefahren, die keine Konzession für den nationalen Fernverkehr ergattert hatten, denn hier waren die Gewinnspannen deutlich niedriger. Für eine Tour von Hamburg nach Marseille gab es kaum mehr Geld als für eine Tour von Hamburg nach München. Ich bin damals jahrelang nach Frankreich gefahren, manchmal auch nach Italien und Spanien. Die Firmenstandorte lagen nahe einer Grenze, da die Spedition ja keine innerdeutsche Konzession hatte. Wenn ich etwa von Bremen nach Italien fahren musste, bin ich damals also erst einmal Richtung Groningen gestartet, dann durch die Niederlande, Belgien, Frankreich nach Italien. Heute nur noch schwer vorstellbar: An jeder Grenze musste man warten, Formulare ausfüllen, beachten, wieviel Diesel man für das jeweilige Land im Tank haben darf, und so weiter. Lediglich zwischen Holland und Belgien gab es damals schon eine offene Grenze. Sonntagabends losfahren und dienstagmorgens in Montpellier ausladen war damals normal …

Die Lkw im nationalen Fernverkehr waren fast alle mit zwei Fahrern besetzt, denn die Konzession sollte ja möglichst viel Geld erwirtschaften. Auch damals gab es zwar Gesetze, die maximale Lenkzeiten vorschrieben, aber sie wurden noch konsequenter ignoriert als heute. Zudem gab es noch weniger Kontrollen. Daher waren Lkw mit roter Konzession praktisch rund um die Uhr unterwegs; mit zwei Fahrern ließ sich das noch intensiver organisieren. Im internationalen Verkehr hingegen ließen die Gewinnspannen keinen zweiten Fahrer zu, was mir persönlich sehr recht war. In einem Punkt war das Gewerbe aber für die damalige Zeit sehr »modern« strukturiert: Die großen Speditionen wälzten das Risiko auf kleine Subunternehmer ab. Sie hatten schon damals oft keine eigenen Fahrzeuge mehr oder nur einige wenige für die lukrativsten Aufträge. Es gibt diese Konstellation heute noch: Auf dem Auflieger steht ganz groß der Name der seriösen Firma und auf der Fahrertür ganz klein der Name des Subunternehmers, der die Arbeit erledigt.

Das Herzstück einer großen Spedition bestand und besteht in einer guten Telefonanlage, einem guten Disponenten und dessen gutem Adressbuch. Der Disponent teilt die Fahrzeuge ein, telefoniert einerseits mit den Kunden, andererseits mit den Fahrern und koordiniert die Transportaufträge. Dieser Job wird sehr gut bezahlt. Nicht nur, weil er der wichtigste in der Spedition ist, sondern vor allem, weil jeder Spediteur immer Angst haben muss, dass der Disponent sonst wegläuft. Das wäre ja eigentlich nicht so schlimm, dumm ist nur, dass er dann auch sein Adressbuch mit den ganzen Kundenkontakten mitnimmt. Die Auftraggeber fühlen sich oftmals mehr den Disponenten persönlich verpflichtet als den Speditionen. Wechselt ein Disponent, nimmt er seine besten Kontakte (und die daraus resultierenden Aufträge) 0ft einfach mit.

Disponenten sind meistens gelernte Speditionskaufleute. In Fahrerkreisen erzählt man sich, dass die Lehrlinge in diesem Beruf im ersten Lehrjahr vor allem lernen, überzeugend zu lügen – und manche von ihnen bestätigen das auch. Dem Kunden wird etwa gesagt, dass »die Ware jeden Moment bei Ihnen auf den Hof rollen müsste«, auch wenn sie den Speditionshof noch gar nicht verlassen hat. Oder der Fahrer wird gefragt: »Kannst Du bitte mal eben da noch vorbeifahren und die zwei Kisten hinten drauf schmeißen«, auch wenn er weiß, dass die beiden Kisten so groß sind, dass der Wagen danach mit Überbreite ohne Genehmigung weiterfahren muss, niemand da ist, um beim Beladen zu helfen und der Umweg mehrere Stunden Fahrzeitüberschreitung bedeutet.

Die Subunternehmer wiederum waren damals oft windige Klitschen, viele Chefs standen mit einem Bein im Knast und dem anderen kurz vor der Pleite. »Hire and fire« war an der Tagesordnung, schriftliche Arbeitsverträge waren die absolute Ausnahme, und gesetzliche Vorschriften dienten bestenfalls als Küchenpapier. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Schon damals musste ich oft meinem Geld hinterherlaufen und habe die Arbeitsstelle gewechselt. Ich erinnere mich an einen Chef, der besonders krass war. Wir hatten oft Ladung für Andorra. Das Land kam mir vor wie ein einziger Duty-free-Shop, die Ladung bestand daher auch immer aus allem, was gut und teuer ist, Kameras oder Hi-Fi etwa. Der Chef stand kurz vor der Pleite, vergriff sich an der Ladung und vertickte viele Kartons unter der Hand an finstere Halbweltgrößen.

Heute würde ich sagen, dass es unverantwortlich war, ohne Erfahrung gleich diese Arbeit zu beginnen. Aber die Chefs hat das alle nicht gestört. Ich bekam einen Schlüssel in die Hand gedrückt und sollte 24 Tonnen Altpapier von Hamburg nach Bordeaux fahren. Darüber, was bis heute so an sinnlosen Sachen kreuz und quer durch Europa reist, wird noch zu reden sein.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre habe ich dann die Sparte gewechselt und bin seitdem nur noch für Textilspeditionen gefahren. Die Branche wird oft auch mit dem zynischen Begriff »Lohnveredelung« beschrieben: Materialien aus dem reichen Norden werden in Länder transportiert, wo Menschen für einen Apfel und ein Ei die gesamte Arbeit erledigen. Die Ware verlässt einzeln, auf Bügeln mit Plastiküberzug und mit einem deutschen Sticker versehen, so wie man sie dann im Kaufhaus vorfindet, die Fabrik. Das ist zum Fahren relativ angenehm, da man erstens nie hohes Gewicht und zweitens keinen Ärger mit Plane und Gestänge hat, was zum Be- oder Entladen gelegentlich mühsam abgebaut werden muss. So macht man lediglich die Tür auf, setzt zurück an die Rampe, und das war’s. Die Textilauflieger haben Kofferaufbauten, also feste Außenwände statt einer Plane. Die Innenwände sind perforiert und bieten Platz für hundert Eisenstangen, die in jeder beliebigen Höhe quer eingerastet werden können. Auf denen hängen dann die Bügel mit Jacken, Röcken, Hosen oder Kinderkleidung.

Die Produktionsstätten lagen in Portugal, Spanien, Süditalien, Jugoslawien, Rumänien, Griechenland oder der Türkei. Heute haben sich die meisten Ziele weiter nach außen verschoben. Die Textilproduktion für die heimischen Märkte findet immer weniger in EU-Ländern statt, sondern in Moldawien, Albanien, Weißrussland, Marokko, Tunesien und natürlich nach wie vor in Asien. Im Bereich der Textilspeditionen war der Markt damals unter wenigen Großen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Österreich und der Türkei aufgeteilt. Ich fuhr für einen Subunternehmer in Eichstätt und der wiederum für eine große Spedition aus Norddeutschland. Die Ziele waren die Türkei, Jugoslawien und Rumänien. Damals hatten die Trips hinter den Eisernen Vorhang noch etwas von Abenteuer. Handys gab es nicht, und das sozialistische Telefonnetz konnte man getrost vergessen, von Satellitenpeilung ganz zu schweigen. Man war also über viele Tage weder für den Chef aus Eichstätt noch für den Disponenten aus der Zentrale in Osnabrück erreichbar.

Ich erinnere mich an eine lustige Szene, das muss 1988 gewesen sein. An der Grenze zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei stutzte ein Grenzer über die zwei verschiedenen Verantwortlichen in Osnabrück und in Eichstätt. Ich erklärte ihm das mit Händen und Füßen so: »Wenn ich ausgeladen habe, muss ich zweimal telefonieren: Einmal nach Osnabrück, die sagen mir, wo ich Rückladung bekomme, und einmal nach Eichstätt, von da kriege ich mein Geld.« Weil der Grenzer rätselnd guckte, fragte ich ihn, ob er das verstanden habe, und er antwortete: »Ja, ich schon verstanden. Perestroika! Zweimal telefonieren!«

In Eichstätt hatte ich einen meiner beiden nettesten Chefs der Welt, dessen Name ich hier gerne nenne: Michael Osiander. In jungen Jahren war er lange Zeit selbst gefahren und das hatte er nicht vergessen. Er tat alles, um seinen Fahrern die Arbeit leichter zu machen. Er war sehr konservativ und katholisch und zugleich sehr menschlich, tolerant und kollegial. Es kam vor, dass ich – eilig wie immer – auf der Durchreise von Istanbul nach Osnabrück keine Zeit fand, den Umweg über Eichstätt zu fahren. Dann habe ich an der Autobahnraststätte vierzig Kilometer entfernt Pause gemacht. Er kam dorthin, hat am Auto dies und das repariert und mich erst danach mit frischem Kaffee geweckt. Nach allen Erfahrungen davor und fast allen danach erscheinen mir solche Chefs wie eine vom Aussterben bedrohte Art.

In einige der damaligen Ostblockländer bin ich erst nach zwanzig Jahren wieder gekommen, und zwar wieder mit dem Lkw. Was sich geändert hat und ob auch noch etwas gleich geblieben ist, auch darüber wird noch zu reden sein.

Ende 1988 habe ich den Fernfahrerberuf dann wegen Rückenproblemen an den Nagel gehängt. Ich habe eine Ausbildung gemacht, bin Journalist geworden und habe für den Hessischen Rundfunk Radio gemacht. Doch 1996 holte mich die Vergangenheit wieder ein. Als ich die Stellenanzeige sah, wusste ich, dass ich den Job haben will und auch bekommen werde: »Hessisches Kultusministerium sucht pädagogischen Mitarbeiter mit Lkw-Fahrpraxis«. Das »Kulturmobil« ist ein Showtruck, der immer für mehrere Tage auf einem Schulhof irgendwo in Hessen aufgebaut wird und der Lehrerfortbildungen anbietet. Für den Auflieger wurde ein Prototyp in Auftrag gegeben, den man auf die doppelte Breite ausfahren kann. Die Inneneinrichtung wurde geld-spielt-keine-Rollemäßig ausgestattet. Ein Lkw, der seine Funktion erfüllt, während er steht, ist eine große Ausnahme und eine angenehme Sache für den »Fahrer«. Auch hatte ich während dieser Zeit den zweiten nettesten Chef der Welt, Roland Kunkel. Er war eben kein Fuhrunternehmer, sondern Pädagoge. In den gesamten zwei Jahren musste ich nicht ein einziges Mal auf Anweisung gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich wurde allerdings auch nicht ein einziges Mal in den zwei Jahren angehalten und kontrolliert, man sah dem Truck die Behörde auf zehn Kilometer Entfernung an. Geschlafen habe ich nicht in der Fahrerkabine, sondern in Hotels. Nach zwei Jahren hatte ich allerdings die Nase voll vom ständigen Unterwegs-Sein und hängte den Fernfahrerberuf ein zweites Mal für immer an den Nagel, wie ich dachte.

Aber es kam anders. Viele Jahre später rettete mich dieser Beruf als letzte Lösung aus der Arbeitslosigkeit. Nach der Jahrtausendwende wurden nicht nur in Deutschland Fernfahrer gesucht, der Berufsstand kämpfte mit Nachwuchsproblemen: Immer weniger junge Leute entscheiden sich für die immer umfangreichere und teurere Ausbildung zum Fernfahrer. Ich knüpfte also an meine alten Erfahrungen an und begann bei einem Subunternehmer, der im Auftrag einer Aschaffenburger Textilspedition die Strecke Barcelona-Mönchengladbach im Linienverkehr fuhr. Der entpuppte sich jedoch schnell als betrügerischer Pleitegeier. Heute denke ich, er hatte von vornherein gar nicht vor, mich zu bezahlen. Als ich nach sechs Wochen noch kein Geld gesehen hatte, habe ich gleich wieder dort aufgehört.

Überhaupt hat sich in den Jahren viel weniger geändert, als ich es angesichts der zahlreichen neuen nationalen und europaweiten Gesetze zu Arbeitszeiten, Sicherheitsbestimmungen und Arbeitnehmerrechten vermutet hätte. Nach wie vor wird in der Branche flächendeckend gegen Gesetze und Sicherheitsauflagen verstoßen; Vorschriften über Ruhezeiten, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Sicherheitsauflagen für Fahrzeuge sind nach wie vor für etliche Spediteure nur etwas, was so clever und konsequent wie möglich umgangen werden sollte.

Die deutschen Spediteure haben vor der großen Finanzkrise laut geheult über die fehlenden qualifizierten Fahrer. Gleichzeitig haben sie aber nur sehr geringe Löhne gezahlt. Daher habe ich es wie viele andere Kollegen gemacht: Ich bin ausgewandert. In einem Job, bei dem man sowieso nie zu Hause ist, ist es schließlich auch egal, ob der Arbeitgeber um die Ecke wohnt oder in Urundi Bimbamba. Ich erinnerte mich an eine niederländische Firma, die ich noch von früher kannte und bekam dort auch sofort Arbeit. Diese Firma transportiert unter anderem Textilien. Die geschlossenen Kofferauflieger bieten sich aber auch an für Werttransporte wie Zigaretten und Computer. Manche Auflieger haben zudem ein Kühlaggregat und können daher verderbliche Ware befördern, wie zum Beispiel Obst und Gemüse oder Schnittblumen. In der paneuropäischen Truckersprache werden sie kurz Frigo genannt. Ich mag keine Frigos, denn zum einen steht man dort wegen des Terminguts noch mehr unter Zeitdruck und muss auch immer sonntags fahren, zum anderen macht das Kühlaggregat rund um die Uhr einen solchen Lärm, dass ich schlecht dabei schlafen kann.

In dieser Firma wird für jede Tour der Auflieger gewechselt, manchmal sogar während der Tour. Auf dem Rückweg aus Italien oder Marokko kommt einem dann auf halber Strecke jemand aus Holland entgegen, man wechselt die Trailer, bekommt neue Papiere und fährt wieder zurück. So kann es passieren, dass man wochenlang nicht nach Holland in die Firma kommt, nach Hause in die Wohnung erst recht nicht. Gelegentlich fährt man aber auch mal eine Woche lang in Holland, Belgien oder Deutschland be- und entladen. Im Sommer hatte ich diese seltenen »Heimspiele« ganz gern, da es im Mittelmeerraum eine schweißtreibende Angelegenheit sein kann, sich permanent in der Blechkiste aufhalten zu müssen.

Bevor wir nun auf große Tour gehen, möchte ich noch einige Worte verlieren über die mittlerweile in der gesamten EU geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu den Lenk- und Ruhezeiten. Sie wurden nicht nur zum Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer erlassen, sondern auch zu meinem eigenen.

Lenk- und Ruhezeiten:Gut gemeint, aber flächendeckend missachtet

Die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten für Lkw-Fahrer sind mittlerweile einheitlich in der gesamten EU. Die Verordnung (EG) 561/2006 ist sehr ausgefeilt, dadurch jedoch hochkompliziert und bietet auch an Fernfahrerstammtischen immer wieder Anlass zu ausgiebigen Diskussionen. Dennoch wird von jedem Trucker in ganz Europa erwartet, dass er sie kennt und befolgt. Nicht mal von den kontrollierenden Polizisten verlangt man das – sie haben ein Gerät, mit dem sie die digitalen Tachos auswerten können. Nicht selten meldet diese Technik irgendeinen Verstoß, und die Beamten müssen dann selbst erst mal lange nachblättern, ehe sie herausfinden, gegen was genau verstoßen wurde.

Die Verordnung ist zudem ein Musterbeispiel für effektiven Lobbyismus. Gerade die deutschen Regierungen jedweder politischer Couleur haben sich immer vehement gegen eine sozialere (und dadurch verkehrssichere) Gestaltung dieser Arbeitszeitregelung gewehrt – die Interessen der Wirtschaft sind SPDCDUFDPGRÜNEN offensichtlich wichtiger als die Verkehrssicherheit der Allgemeinheit. Begriffe wie Acht-Stunden-Tag oder Vierzig-Stunden-Woche klingen für Trucker wie Märchen aus einer fremden Welt. Die Brüsseler Bürokraten haben extra für sie den Begriff der Doppelwoche erfunden. Neunzig Stunden Lenkzeit dürfen es in einer Doppelwoche maximal sein, jedoch immerhin bis zu 56 Stunden innerhalb einer Woche. Das sind wohlgemerkt nur die Lenkzeiten, hinzu kommen noch Wartezeiten, Be- und Entladen, Reparaturen, Grenzabfertigungen, Tanken, und so weiter. Diese Zeiten sind zwar eigentlich auch Arbeitszeit, da das Fahrzeug nicht bewegt wird, ist das jedoch schwer zu kontrollieren und wird meistens als Freizeit eingestuft. Übrigens gilt das auch für den Lohn: Viele Speditionen bezahlen nur für die Zeit, in der der Wagen rollt, bei mir war das auch so. Wenn ich also selbst ausladen musste, bekam ich diese Zeit noch nicht einmal bezahlt.

Ein paar weitere Zahlen: Jedes Wochenende muss/darf der Fahrer 24 Stunden Pause einlegen, jedes zweite 45 Stunden.

Die tägliche Lenkzeit darf bis zu neun Stunden und zweimal pro Woche auch bis zu zehn Stunden betragen. Nach spätestens viereinhalb Stunden muss man 45 Minuten Pause einlegen. In der Praxis werden Be- und Entladezeiten, Grenzabfertigungen oder Verzollung oft offiziell als Pause deklariert, der Wagen ist ja schließlich nicht gerollt. Dann hat also nur der Truck Pause, der Fahrer steht währenddessen in irgendeiner Schlange am Schalter, wuchtet Paletten durch die Gegend, wechselt einen Reifen oder betankt das Fahrzeug.

In der Pause darf das Fahrzeug nicht einen Meter bewegt werden. Wenn ein Fahrer nach 25 Minuten Pause den Lkw einige Meter weiter bewegen muss, etwa damit jemand anderes aus- oder einparken kann, ist die (offizielle) Pause im Eimer. So etwas kann dann zwei Wochen später tausende Kilometer entfernt in einer Kontrolle richtig teuer werden, wenn ein Polizist schlechte Laune hat oder seine Arbeit tausendprozentig ernst nimmt: Der Fahrer muss die letzten 28 Tage Arbeitszeit lückenlos nachweisen können. Dieses Detail der ansonsten sehr sinnvollen und eigentlich noch viel zu liberalen Gesetzgebung finde ich diskriminierend. Es ist ja richtig und berechtigt, dass die Einhaltung der Ruhezeiten kontrolliert wird. Dass das aber gleich für die kompletten letzten 28 Tage gilt, halte ich für übertrieben. Ob man ausgeschlafen im Straßenverkehr unterwegs ist, ergibt sich aus den Lenk- und Ruhezeiten der letzten zwei bis drei Tage und nicht der letzten vier Wochen.

Auch die Einhaltung der anderen Bestimmungen sollte kontrolliert werden, aber das könnte ja – wie in jeder anderen Branche – bei jährlichen Betriebsprüfungen geschehen anstatt bei täglichen Polizeikontrollen, schließlich sitzen dort auch die Verantwortlichen für eventuelle Vergehen. Dass es in den Niederlanden mit den Betriebsprüfungen nicht weit her ist, schließe ich aus der Tatsache, dass meine Arbeitgeber mit ihrer Urlaubsscheinpraxis seit Jahren nicht auffliegen – dazu gleich mehr. In Frankreich etwa kommen die Behörden ihrer Aufsichtspflicht sehr viel gewissenhafter nach, die Chefs können sich solche kriminellen Tricks nicht erlauben.

Uns Fahrern hingegen drohen ständige Kontrollen, die oftmals auch schikanös ausfallen. Man muss bezahlen für kleinste bürokratische Verfehlungen. Wer die Tachoscheibe erst nach 24 Stunden und fünf Minuten wechselt, kann dafür in Spanien oder Ungarn ein halbes Monatsgehalt abgeknöpft bekommen. In Istanbul musste ich mal drei Tage warten und bin in ein Hotel gegangen. Weil ich in dieser Zeit aber die Tachoscheibe nicht gewechselt habe, sollte ich in Bulgarien mehrere hundert Euro Strafe bezahlen. Da nutzte weder die Hotelrechnung etwas noch die Tatsache, dass der Wagen in dieser Zeit null Kilometer zurückgelegt hatte.

Stellen Sie sich vor, ein Metzger verkauft einem Kunden irrtümlich Mett statt Mettwurst. Oder eine Sekretärin klebt eine Briefmarke zu wenig auf einen Brief. Oder ein Buchhändler verwechselt Stefan Zweig und Stefanie Zweig und bestellt ein falsches Buch. Stellen Sie sich dann des weiteren vor, dass vier Wochen später die belgische oder ungarische Polizei in diesen Betrieb kommt und alles kontrolliert. Wenn dem Metzger, der Sekretärin oder dem Buchhändler dann eine Geldstrafe von einigen hundert oder gar tausend Euro für diese Verfehlung aufgebrummt würde, käme man der Fernfahrerrealität sehr nahe.

Neben der reinen Lenkzeit gibt es auch Höchstgrenzen für die Schichtzeiten. Eine Schicht darf bis zu dreizehn Stunden und dreimal wöchentlich unter bestimmten Bedingungen sogar bis zu unglaublichen fünfzehn Stunden betragen! Doch selbst diese arbeitgeberfreundlichen Gesetze werden von vielen Spediteuren systematisch übertreten. Zwar gibt es mittlerweile in den meisten europäischen Ländern viele Kontrollen, aber es gibt auch viele Tricks, mit denen versucht wird, die Kontrolleure hinters Licht zu führen. Und wenn die Kontrolleure nicht extra auf solche Vergehen spezialisiert sind, gelingt das auch oft. Aber spätestens in einer Kontrolle, die auf Lkw-Transporte spezialisiert ist, oder bei einem Unfall fliegt das alles sowieso auf.

Bei den Spezialkontrollen wird auch regelmäßig entlarvt, wie flächendeckend die Gesetze im Speditionsbereich übertreten werden. Üblicherweise liegt der Anteil der Fahrzeuge, an denen die Kontrolleure etwas zu beanstanden haben (Ladungssicherung, Mängel am Fahrzeug, Arbeitszeitüberschreitungen und vieles mehr) bei über fünfzig Prozent, nicht selten sogar bei über achtzig Prozent. In der Presse liest man hin und wieder von diesen Spezialkontrollen, aber außer den Kontrolleuren scheint das kaum jemanden zu stören. Ich wundere mich immer wieder darüber, dass es so gut wie keinen Politiker und keinen Verkehrsteilnehmer stört, was da für rollende Zeitbomben auf unseren Autobahnen unterwegs sind. Verkehrstote werden scheinbar so widerspruchslos hingenommen wie Nieselregen oder Schnupfen.

Bis vor wenigen Jahren wurde die Arbeitszeit nur durch einen Fahrtenschreiber dokumentiert, alle 24 Stunden muss der Fahrer die Tachoscheibe wechseln. Seit Mai 2006 ist jedoch der elektronische Fahrtenschreiber europaweit Pflicht bei allen Neufahrzeugen. Alle Daten werden 365 Tage lang auf einem Chip im Fahrzeug und 28 Tage lang auf der Chipkarte des Fahrers, der sogenannten Fahrerkarte, gespeichert. Manipulationen und Tricksereien sind mit dem digitalen Tacho zwar sehr viel schwieriger, aber immer noch möglich. Manch eine Spedition legt sich nur deswegen keine Neuwagen zu, weil der alte Fahrtenschreiber mehr Manipulationsmöglichkeiten bietet.

Die gängigste Manipulationsmethode ist der sogenannte Urlaubsschein, auf Niederländisch »Vakantiebrief«. Diese Urkunde bescheinigt dem Fahrer, dass er die letzten vier Wochen nicht gearbeitet hat, weil er Urlaub hatte oder krank war. Das Gesetz schreibt Format und Inhalt dieses Schreibens bis ins Detail vor. So kann ein Polizist in einem fremden EU-Land die Bescheinigung sofort erkennen, selbst wenn sie in einer anderen Sprache ausgestellt ist, und sieht das Ausstellungsdatum und von wann bis wann der Urlaub gedauert hat. Das Dumme und Unglaubliche daran ist nur: Das kann erfunden und gelogen sein, denn jeder Spediteur darf dieses Dokument für seine Fahrer selbst ausstellen! Ich bekam einen solchen Vakantiebrief von meiner Firma zu Beginn jeder

Tour, also alle ein bis zwei Wochen. Der Chef hat dadurch gleich drei Vorteile: Er muss sich erstens nicht um die maximal erlaubte Arbeitszeit in der Doppelwoche kümmern, kann seinen Fahrer also jede Woche 56 Stunden fahren lassen. Er braucht ihm zweitens auch kein langes Wochenende zu gestatten, 24 Stunden am siebten Tag reichen dann – ich habe zeitweise über Monate kein Zwei-Tage-Wochenende gehabt. Der dritte Vorteil für den Chef ist schließlich der für die Verkehrssicherheit gefährlichste: Ich bekam den Vakantiebrief meistens nachmittags oder abends in die Hand gedrückt und hatte an diesen Tagen oft schon zwölf Stunden gearbeitet, hätte also eigentlich elf Stunden Pause machen müssen. Mit diesem frischen, oder besser gesagt, frisch gefälschten, Dokument musste ich dann ohne Pause an die volle Schicht eine weitere anhängen.

Bei Polizisten erregt dieser Urlaubsschein selbstverständlich Misstrauen. Mir ist es mehrfach passiert, dass die Polizei meine Kabine durchsucht hat, wenn ich den Schein bei einer Kontrolle vorgezeigt habe. Ob sie das ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl überhaupt darf, ist gar nicht so klar, aber sie tut es eben. In der Praxis musste ich in den unterschiedlichsten Ländern mit geballter Faust in der Tasche zusehen, wie Polizisten und sogar privater Werkschutz bei allen möglichen Anlässen mein Bettzeug, meine persönlichen Sachen, ja sogar meine Dreckwäsche durchwühlt haben. Die Polizisten suchen nach Belegen dafür, dass ich in der Vorwoche sehr wohl gearbeitet habe. Hätten sie auch nur eine einzige Quittung gefunden, ein von mir unterschriebenes Formular oder irgendeinen anderen Beleg, dann hätte mich das mehrere tausend Euro gekostet. Denn dann wäre nicht nur eine satte Geldstrafe wegen Überschreitung der zulässigen Lenkzeit fällig gewesen, sondern auch ein Strafverfahren gegen meinen Chef und gegen mich wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Als Fahrer befindet man sich mal wieder in der Zwickmühle: Einerseits soll man das befolgen, was der Chef sagt, ansonsten droht die Kündigung. Andererseits soll man die Gesetze einhalten, ansonsten drohen Geldstrafen, Führerscheinentzug, Punkte in Flensburg, Strafverfahren und Schlimmeres. Wenn nun das Gesetz und der Chef unterschiedliche Dinge von einem wollen, dann muss man, will man den Job nicht verlieren, gezwungenermaßen zum Rechtsbrecher werden. Das erinnerte mich an den alten Sponti-Spruch: »Du hast keine Chance, nutze sie!«

Da ich immer einen gefälschten Urlaubsschein bei mir hatte, war es auch nur schwer möglich, Aufzeichnungen über meine Touren zu machen, gar Tagebuch zu führen sowie die gefälschten Dokumente aufzubewahren. Aber ich habe einen Weg gefunden, zahlreiche Beweise für die ständigen Gesetzesverstöße zu dokumentieren.

Die Urlaubsscheine müssen vom Chef sowie vom Fahrer unterschrieben werden. Das habe ich nie gemacht, da ich mir die illegale Praxis nicht zu eigen machen wollte. Einmal bin ich in Frankreich nachts um drei Uhr an der Autobahnzahlstelle bei Tours in eine große Kontrolle gekommen. Zum Glück hat es mir in Frankreich oftmals geholfen, dass ich recht gut französisch spreche, das freute die Polizisten immer. Der Beamte betrachtete den Urlaubsschein mit größtem Misstrauen. Er sagte, den müsse ich ja noch unterschreiben, »vergaß« aber zum Glück, darauf zu bestehen – ich hätte das nämlich nicht gemacht. Stattdessen sah er mir in die Augen und fragte mich, ob ich denn wirklich letzte Woche nicht gearbeitet hätte. Da war es wieder, das unlösbare Dilemma: Was auch immer man antwortet, es kann jede Menge Ärger einbringen. Ich wollte ihn nicht anlügen und mich so zum Komplizen meines Chefs machen. Ich dachte an den braven Soldaten Schwejk und antwortete ihm: »Das ist jetzt eine schwierige Frage. Mein Chef hat gesagt, wenn mich ein Polizist danach fragt, dann solle ich ihm dieses Papier in die Hand drücken. Und darüber hinaus kann ich Ihnen nur Folgendes erklären: Wenn Sie das denken, was ich denke, dass Sie es denken, dann sind Sie ein guter Polizist. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Damit hatte ich mal wieder Glück gehabt. Der Polizist sah mich an, grinste, gab mir meine Papiere zurück und ließ mich weiterfahren.

In der Slowakei hingegen hat mich ein Polizist einmal aufgefordert, das Papier zu unterschreiben. Ich habe das verweigert mit der Notlüge, das sei auf Niederländisch und ich wisse nicht, was ich da signiere. Dass ich damit durchkam, war ebenfalls nur Dusel, kurz vor Feierabend wollte der Polizist anscheinend keinen Stress mehr haben. Ich hatte beschlossen, andernfalls die Wahrheit zu sagen, egal in welchem Land ich kontrolliert werde. Dann wäre nur mein Chef wegen der Straftat der Urkundenfälschung dran. Teuer wäre es jedoch auch für mich geworden, weil immer noch die Ordnungswidrigkeit der erheblichen Arbeitszeitüberschreitung bliebe.

Wir Fahrer bekommen oft vorgehalten, dass wir uns mitschuldig machten, wenn wir uns bereiterklären, gegen die einschlägigen Gesetze zu verstoßen. Auch die wenigen Kollegen, die das Glück haben, dass sie in ihrem Job ganz legal bleiben dürfen, äußern sich oft dahingehend. Dieser selbstgerechte Vorwurf ist jedoch lebensfremd, besonders in Krisenzeiten. Wer sich weigert, Arbeitszeiten zu überschreiten, fliegt in vielen Betrieben ganz schnell raus. Wer zehn Stunden an einer Grenze oder einer Ladestelle warten muss und danach Feierabend macht mit Verweis auf die Gesetze, wird in diesen Klitschen keine große Zukunft haben. Natürlich wird irgendeine andere Begründung vorgeschoben, die Spediteure sind ja nicht blöd. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen ist es sehr schwierig, eine neue Arbeit zu finden – und praktisch unmöglich, wenn man nur Jobs annehmen will, bei denen man hundertprozentig legal bleiben kann.

Wenn die Politik nicht so von Lobbyismus zerfressen wäre, sondern ein ernsthaftes Interesse hätte, dieses Problem zu lösen, dann gäbe es dazu eine ganz einfache erste Maßnahme: Straffreiheit bei Selbstanzeige – aber das gibt es nur für Steuerbetrüger. Wie gern hätte ich manches Mal die Polizei gebeten, mich aus dem Verkehr zu ziehen, weil ich so müde war. Aber selbst der verständnisvollste, freundlichste Polizist hat rechtlich gar nicht die Möglichkeit, dann ein Auge zuzudrücken. Würde das geändert – nicht wenige Fahrer würden davon Gebrauch machen, da bin ich mir sicher, und außerdem würde die Verkehrssicherheit garantiert verbessert. Wenn man die Vernunft als Maßstab nähme und nicht wirtschaftliche Interessen, dann gäbe es überhaupt keinen Grund, der gegen eine solche Gesetzesinitiative einzuwenden wäre.

Doch nun springen wir an einem beliebigen Tag rein in das Leben eines internationalen Fernfahrers. Alle Begebenheiten aus dem folgenden Logbuch sind wirklich so passiert – teilweise mir, teilweise meinen Kollegen. Ich hatte viel Streit mit meinen Chefs, weil ich auf der Einhaltung der geltenden Vorschriften bestand. Da ich weiß, dass etliche meiner Kollegen zu Übertreibungen neigen, war ich kritisch in der Recherche, habe mir Tachoscheiben und Schriftliches von ihnen zeigen lassen oder war gemeinsam mit ihnen unterwegs und stehe dafür ein, dass der Ich-Erzähler im Folgenden leider nichts als die reine, traurige Wahrheit erzählt.

Logbuch erste Tour:Von Rotterdam nach Istanbul und zurück

Donnerstagmorgen, 5.50 Uhr

Werkstatt in Rotterdam – Neue Tour, neues Glück – DHL in Eindhoven – Zollprobleme in Venlo – Autohof Wertheim

 

Die beiden Wecker klingeln so hartnäckig, dass ich sie nicht mehr ignorieren kann. So war es ja auch gedacht, denn um sechs Uhr ist Arbeitsbeginn in der Vertragswerkstatt der Firma Carrier im Rotterdamer Industriegebiet Hoogvliet. Carrier ist einer der Weltmarktführer in der Herstellung von Thermoaggregaten für Lkw, die benötigt werden, um die Ladung während des Transports zu kühlen oder zu heizen.

Mir brummt der Schädel, denn die Nacht war mal wieder viel zu kurz. Am Vortag hatte ich nach dreizehn Stunden Schichtzeit abends vom Chef einen neuen Urlaubsschein bekommen sowie die Anweisung, einen leeren Kühlauflieger aufzusatteln und zur jährlich vorgeschriebenen Überprüfung der Kühlung zu bringen. Dank des unvermeidlichen Staus auf dem Autobahnring von Rotterdam bin ich erst gegen 22 Uhr bei der Werkstatt angekommen. Gerne wäre ich noch etwas essen und ein Feierabendbier trinken gegangen, aber das war mal wieder nichts: Das nächtliche Industriegebiet ist etwa halb so groß, aber doppelt so tot wie der Friedhof von Chicago, keine Menschenseele auf der Straße, keine Kneipe, nicht mal eine Nachttankstelle.

Um kurz nach sechs Uhr betrete ich also das Büro, bewaffnet mit den Aufliegerpapieren, meiner Zahnbürste und einer leeren Kaffeetasse. Doch Zähneputzen und Kaffeetrinken müssen warten, denn ich soll den Frigo sofort in die Werkstatt fahren. Und schon stellt sich das erste Problem des Tages: Eigentlich dürfte ich das Fahrzeug nach frühestens neun Stunden, also um kurz vor sieben Uhr, wieder bewegen. So lange will man aber keinesfalls warten. Da ich das am Vorabend schon geahnt hatte, habe ich den Lkw in unmittelbarer Nähe der Werkstatt geparkt. So muss ich auf einen der uralten Tricks zurückgreifen, den Wechsel der Tachoscheibe. Das funktioniert so: Man nimmt die alte Scheibe raus, fährt die fünfzig Meter und legt erst danach die neue ein. Eine genaue Untersuchung könnte diesen Betrug offenlegen, aber eine oberflächliche Kontrolle kann man mit diesem Trick locker täuschen.

Also: Scheibe raus, Motor an und ab in die Werkstatt. Das mag sich harmlos anhören, aber nach deutschem Recht beginnt dieser Tag gleich mit einer Straftat. Das bleibt sie auch dann, wenn der Fahrer belegen kann, dass er vom Chef ausdrücklich die Anweisung dazu erhielt.

Statt des Kaffees gibt es in der Werkstatt als Wachmacher einen Anschiss. Mein Chef hatte gesagt, es wäre gut, wenn ich warten und den Auflieger mit neuer Prüfplakette versehen direkt wieder mitbringen könnte. Ich frage die Mechaniker, ob das ginge, doch das war anscheinend ein Fehler. Der Meister wird richtig böse und motzt, es sei doch klar, dass Wartung, Überprüfung und eventuelle Reparaturen mindestens einen halben Tag dauerten. Drängeln nütze nichts, meine Firma wisse das doch, aber sie würden es jedes Mal auf diese Tour versuchen. Ich habe das Gefühl, dass sie einem holländischen Kollegen diesen Sachverhalt sehr viel freundlicher erklären würden. Der Tag fängt ja mal wieder gut an. Also Stützen runterkurbeln, Schläuche abklemmen, Sattelkupplung entsichern, absatteln, Formulare ausfüllen – und dann eine kleine Verschnaufpause, denn den Disponenten erreiche ich im Büro sowieso erst ab sieben oder acht Uhr, um nach meiner nächsten Tour zu fragen. Also endlich Zeit zum Zähneputzen und Kaffeetrinken.

Der Disponent ist am Telefon unfreundlich wie immer. Er ist verärgert darüber, dass ich den Frigo nicht gleich wieder mitbringen kann. Er behandelt mich so, als wäre das meine Schuld, und raunzt mich an, dann eben nur mit der Zugmaschine wieder zurückzukommen. Hoogvliet liegt am westlichen Rand von Rotterdam, das heißt, ich muss einmal um die ganze Stadt herumfahren. Das bietet morgens um sieben Uhr eine hundertprozentige Staugarantie. Eigentlich stören mich Staus schon lange nicht mehr. Wenn man Staus als Lkw-Fahrer nicht mit einer professionellen Gelassenheit hinnehmen kann, bekommt man in dem Beruf sehr schnell Magenprobleme. Ich habe gelernt, das so zu sehen: Ich befinde mich im Zustand des Wartens, wie lange das dauert, weiß ich nicht und habe auch keinen Einfluss darauf. Ich habe mir an einer Tankstelle ein überteuertes Sandwich gekauft, habe ein gutes Hörbuch dabei, die Heizung funktioniert, die ersten Hürden des Tages sind gemeistert, was will ich mehr.

Nur über eine Sache kann ich mich immer wieder ärgern. Ich weiß jetzt schon, was ich zu hören kriegen werde, wenn ich nachher ins Büro komme: »Wo warst Du denn die ganze Zeit?« Das Fragezeichen hinter diesem Satz ist rein rhetorisch, gemeint ist eigentlich ein Ausrufezeichen. Ich werde mich rechtfertigen müssen gegen den unausgesprochenen Vorwurf, die Zeit am Strand, im Puff oder in einem Coffee-Shop vertrödelt zu haben.

Mittlerweile habe ich mir abgewöhnt, vorab darüber zu spekulieren, wohin sie mich als nächstes schicken. Auch wenn der Disponent schon weiß, wofür er mich eingeplant hat, sagt er mir das am Telefon nicht. Meine Freunde sind immer entsetzt darüber, dass ich niemals vorher weiß, wohin die nächste Tour gehen wird. Das ist aber das Geringste, was mich stört. Denn es macht sowieso keinen Unterschied, in welchem Industriegebiet oder an welchem Truckstop ich das nächste Wochenende verbringen werde, die sind sowieso alle fast gleich.

Heute bekomme ich die Anweisung, einen Textilauflieger zu nehmen und zu DHL nach Eindhoven zu fahren, um dort Sammelgut zu laden für Istanbul. Sammelgut bedeutet, dass eine Spedition viele einzelne Ladungen zusammenstellt und sie erst auf die Reise schickt, wenn eine komplette Lkw-Ladung zusammengekommen ist. Man hat daher bei Sammelgut-Transporten dicke Dokumentenstapel dabei, teilweise für jeden großen oder kleinen Karton gesonderte Lieferscheine, Rechnungen und weitere Dokumente.

Zum Glück fällt mir gerade noch ein, in den leeren Auflieger hineinzugucken. Ich stelle fest, dass mindestens fünfzig Querstangen fehlen. Frage im Büro: »Brauche ich die für die Rückladung?« Antwort: »Natürlich! Geh tanken und dann ab ins Lager und bau die Dinger ein. Aber beeil Dich, Du sollst um 14 Uhr in Eindhoven zum Laden sein.«

Nach einer Stunde Schufterei komme ich nassgeschwitzt wieder ins Büro, oder besser: an den Schalter vor dem Büro. Denn jeder Gast, jeder Kunde, jeder Arbeiter darf das Büro betreten, aber die Fahrer haben kategorisches Zutrittsverbot. Sie werden grundsätzlich am Schalter abgefertigt. Von der Tochter der Chefin bekomme ich alle für die Tour notwendigen Dokumente, die verschiedenen Auslandsgenehmigungen, Reisegeld, Formulare wie TIR-Carnet (wird benötigt, wenn man die EU verlässt) und andere Zolldokumente. Außerdem soll ich die heutige Tachoscheibe und den Urlaubsschein, den ich erst gestern bekommen habe, wieder abliefern – ich bekomme schon wieder einen neuen. Dann brauche ich erst wieder in sechs Tagen 24 Stunden Pause zu machen und »darf« heute wieder länger arbeiten: Der Countdown auf der neu eingelegten Tachoscheibe fängt wieder an, von null an hochzuzählen.

Ich schaffe es gerade eben, pünktlich um 14 Uhr bei DHL zu sein. Wäre ich auch nur eine Viertelstunde zu spät gekommen, hätte das schon wieder Ärger geben können. Nun ist erst einmal Warten angesagt. Warten bei DHL heißt allerdings, dass man jede Viertelstunde zum Schalter gehen und nachfragen muss. Es gibt hier mehrere hundert Rampenplätze und nicht einmal jeder zehnte davon ist besetzt. Dennoch muss man warten. Nicht, weil die Ware noch nicht da wäre, sondern weil das »computertechnisch« nicht anders ginge. Computer lösen Probleme, die man sonst nicht hätte.

Wenn man wenigstens schon an eine der Rampen fahren könnte, müsste man sich die Pausenzeit nicht zerschießen durch die 200-Meter-Fahrt auf dem Firmengelände. Man würde niemandem im Weg stehen, niemanden behindern oder Platz wegnehmen. Am Warteschalter bekomme ich mit, wie einem tschechischen Kollegen gesagt wird, er sei erst um 23 Uhr an der Reihe, aus computertechnischen Gründen gehe das nicht anders. Er bittet inständig darum, dann wenigstens jetzt schon an die Rampe fahren zu dürfen, um eine Neun-Stunden-Pause vollständig zu haben. Eine solche Bitte um Rücksichtnahme auf die Belange von uns Fahrern erscheint bei DHL jedoch völlig zwecklos, das hätte ich dem Kollegen auch vorher sagen können. Die Frau am Schalter reagiert so, als hätte er gerade vorgeschlagen, eine Sexorgie zu veranstalten.

Die Wartezeit verkürzt mir ein Anruf des Disponenten: »Du hast die Zulassungspapiere für den Auflieger vergessen.« Ich verkneife mir die Bemerkung, dass nicht ich diese Papiere vergessen habe, ich bin nur der Fahrer. Das vollständige Zusammenstellen der Papiere ist sein Job, er ist der Disponent. In vorwurfsvollem Ton teilt er mir mit, dass gleich ein Kollege zu DHL käme, der dort auch für Istanbul lade und mir die Papiere mitbringe.

Gerade, als ich an die Rampe zum Beladen fahren soll, sehe ich im Rückspiegel besagten Kollegen Jürgen auf den Warteparkplatz fahren. Ich weiß, dass er einer der wenigen Kollegen ist, die lieber allein im eigenen Rhythmus fahren – die meisten Kollegen lieben das Fahren im Konvoi. Ich mag das nicht, ich habe nichts davon, fahren muss ich ja trotzdem selbst und allein. Man muss dann immer auf irgendwen warten, sich nach den anderen richten, und in den Pausen wird man außerdem noch ohne Ende vollgequasselt mit den immer gleichen Themen.

Das Beladen der Palettenware dauert nur eine Viertelstunde. Dann muss ich aber wieder auf den Warteparkplatz, denn dank des DHL-Computers sind die Papiere noch lange nicht fertig. Das dauert digitale zwei Stunden, mit der Hand hätte man die Formulare in einem Bruchteil der Zeit ausfüllen können.

Als nächstes muss ich zum Zoll, um die Ausfuhr zu deklarieren, da die Ware ja die EU verlassen wird. Im Fachjargon heißt das: Ich muss »das TIR-Carnet eröffnen« und brauche zudem noch eine Zollplombe für den Auflieger. Da es nun schon nach 18 Uhr ist, kommt dafür nur noch das Zollamt in Venlo in Frage, die haben sechs Tage die Woche 24 Stunden lang geöffnet. Zoll und Finanzamt sind in den Niederlanden das Gleiche und haben den schönen Namen Belastingsdienst. Ich übergebe dem Beamten den dicken Umschlag mit den zahlreichen Papieren, die ich von DHL zusätzlich zum (für mich einzig ausschlaggebenden) Frachtbrief mitbekommen habe. So ein Umschlag enthält kiloweise Rechnungen, Ausfuhrbescheinigungen, Erklärungen über die einzelnen Posten der Ladung sowie weitere für den niederländischen Ausfuhr- und den türkischen Einfuhrzoll wichtige Dokumente.

Wie so oft ist der niederländische Zollbeamte so freundlich, wie man es in Deutschland oder anderen Ländern bei Zöllnern und Polizisten sehr selten erlebt. Die Freundlichkeit von niederländischen Uniformierten steht im krassen Gegensatz zu der Unfreundlichkeit und Ausländerfeindlichkeit nicht weniger Spediteure, Kollegen und Arbeiter an den Ladestellen. Bei der Durchsicht der vielen Papiere bemerkt der gewissenhafte Beamte einen kleinen Fehler, den DHL beim Ausfüllen gemacht hat. In der ATR ist irgendeine Ziffer falsch und stimmt nicht mit den Angaben in den anderen Papieren überein. Das ATR ist eine sogenannte Freiverkehrsbescheinigung für die Ausfuhr von Waren aus der EU in die Türkei. Mit dieser Bescheinigung braucht der Empfänger keine oder nur wesentlich weniger Zollabgaben in der Türkei zu entrichten. Wofür ATR eine Abkürzung ist, konnte ich bis heute nicht herausfinden, nicht einmal beim zuständigen Bundesfinanzministerium. Ist doch schön zu wissen, dass die Behörden sogar sich selbst nicht mehr verstehen können.

Der Zöllner sagt mir: »Seien Sie froh, dass ich das zufällig in den Papieren gefunden habe. In der Türkei hätten Sie mit diesem Dokument größte Schwierigkeiten bei der Einfuhrverzollung bekommen.« Statt wie geplant etwas essen zu gehen – denn seit dem Frühstückssandwich im Stau bei Rotterdam hatte ich keine Gelegenheit dazu – ist nun eine Runde Kampftelefonieren angesagt. Zum Glück erreiche ich noch jemanden im Büro. Der Schreibtischkollege ist sauer, weil er eigentlich gerade nach Hause gehen wollte. Er telefoniert mit dem Zöllner, mit DHL, gibt mir telefonische Anweisungen und geht dann in seinen Feierabend. Bei DHL ist das Büro rund um die Uhr besetzt, am Zoll ebenfalls. Jetzt telefonieren sie miteinander, faxen sich gegenseitig irgendwelche wichtigen Zahlen zu, und irgendwann teilt mir der Zöllner mit, dass nun alles auf gutem Weg und in einer Stunde fertig sei. Nun habe ich endlich Zeit für mein »Mittagessen«. Ich bin heute bisher zwar nicht einmal 200 Kilometer gefahren, bin jedoch seit morgens sechs Uhr ununterbrochen im Einsatz.

Phantasie-Verkehrsschild bei DHL Eindhoven:

Hier darf nicht mal am Monatsende geschlafen werden.

Um 22 Uhr bekomme ich die fertigen Papiere und die Zollplombe an den Trailer und kann endlich meiner originären Aufgabe nachgehen: fahren, fahren, fahren! Diesmal die komplette A3 von Anfang bis Ende. Oder von Ende bis Anfang?

Die von DHL falsch eingetragene Ziffer auf dem ATR-Formular sollte für mich acht Wochen später übrigens noch ein Nachspiel haben. Da man das Gehalt erst zwei Monate später bekommt, fällt das dann auch nur bei genauerem Hinsehen auf. Für diesen Vorfall bekam ich 72,99 Euro abgezogen. Auf dem Lohnstreifen steht als Begründung: »DHL, ATR vergeten.« Das ist selbstverständlich illegal, und das wissen die auch. Aber man kann es ja mal versuchen, denn wenn auch nur die Hälfte der Fahrer das akzeptiert, haben sie ein gutes Zusatzgeschäft gemacht. Vor allem den ausländischen Fahrern bleibt oft kaum etwas anderes übrig, als diesen Lohnbetrug zähneknirschend zu akzeptieren, da sie keine Ahnung haben, wie sie in diesem fremden Land zu ihrem Recht kommen könnten.