Geschlecht und Gender - Jeannette Alt - E-Book

Geschlecht und Gender E-Book

Jeannette Alt

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Beschreibung

Mit den Begriffen Geschlecht und Gender verknüpfen sich wichtige gesellschaftspolitische Debatten, die neue gesellschaftliche Räume und mehr Gleichberechtigung errungen haben. Dennoch entstehen ausgehend von diesen Begriffen in den letzten Jahren auch zunehmend aggressive und einschüchternde Debatten, die den neuen Lebensraum, der im Dazwischen von Geschlecht und Gender entstanden ist, zu bedrohen scheinen. Als Biowissenschaftlerin, die jahrzehntelang mit dem Thema der Frauengesundheit befasst war, beobachtet Jeannette Alt diese Debatten mit gemischten Gefühlen. In »Geschlecht und Gender« geht sie diesen Irritationen auf den Grund, indem sie sich beiden Konzepten stellt – aus Sicht einer, die in der Kategorie des Geschlechts als Forscherin jahrzehntelang zu Hause war und deren Neugier sie zu einer ausführlichen Beschäftigung mit der Kategorie Gender angestiftet hat. Ihre Erkundungen auf natur- und kulturwissenschaftlichem sowie sprachphilosophischem Terrain widmen sich letztlich der grundlegenden Frage: Wie können wir angemessen über dieses Thema sprechen? Alts Absicht ist ein Sachstandsbericht, doch als eine, die an den Wert echter Debatten glaubt, erlaubt sie sich dabei auch, ihre eigene Parteilichkeit durchschimmern zu lassen. Zugunsten eines echten Austauschs, vielleicht auch eines Streit, aber vor allem: eines Lernprozesses.

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Jeannette Alt

Geschlecht und Gender

Streit um Worte und Welt

ISBN (Print) 978-3-96317-359-2

ISBN (ePDF) 978-3-96317-920-4

ISBN (ePUB) 978-3-96317-921-1

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: Werk von Emma Marie Andersson (CC BY 2.0), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2016_15B_%2824413518123%29.jpg

Lektorat: Volker Manz

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

VorwortKapitel 1: EinleitungKapitel 2: Gender oder Geschlecht?2.1 Gender – ein politisches Thema2.2 Frauen- und Männer-MainstreamingKapitel 3: Biologie – eine aufstrebende WissenschaftKapitel 4: Anfänge und Ursprünge der Geschlechtlichkeit4.1 Evolution und Geschlecht4.2 Geschlechtsdimorphismus und Geschlechtschromosomen4.3 Das Geschlecht im KernKapitel 5: Geschlechtsdifferenzierung5.1 XX, XY und Varianten5.2 Die Entwicklung des Geschlechts5.3 Pränatale Geschlechtsdifferenzierung5.4 Ein Mensch wird geboren5.4.1 CAIS – die vollständige Androgenresistenz5.4.2 Adrenogenitales Syndrom5.4.3 Weitere Enzymdefekte5.4.4 Alles stimmt: Genetik, Hormone, Aussehen – und doch …5.5 Das biologische Geschlecht5.5.1 Geschlechtseintrag: Divers5.5.2 Nur für Frauen! Sport und Geschlecht5.6 Kindheit und PubertätKapitel 6: Die Macht der Hormone6.1 Androgene – Testosteron6.2 ÖstrogeneKapitel 7: Das wichtigste Geschlechtsorgan ist das Gehirn7.1 Geschlecht und Verhalten – Kultur oder Natur?7.2 Die drei kritischen Perioden der Hirnreifung7.2.1 Die vorgeburtliche Prägung des Gehirns7.2.2 Die Minipubertät der Neugeborenen7.2.3 Prägung des Gehirns Heranwachsender in der Pubertät7.3 Prägung und SozialisierungKapitel 8: Die unerklärliche Liebe zum eigenen Geschlecht8.1 Der Duft des anderen8.2 Die männliche Homosexualität8.3 Weibliche Homosexualität8.4 BisexualitätKapitel 9: Geschlechtsidentität9.1 Selbstbild und Identität9.2 Das unerklärliche Leiden am eigenen Geschlecht9.3 Geschlechtsdysphorie im Kindesalter9.4 Störung der Geschlechtsidentität bei Heranwachsenden und Erwachsenen9.5 Ist Trans Trend?9.5.1 Transsexuell oder homosexuell?9.5.2 Autogynophilie9.5.3 Risikofaktoren für eine Störung der Geschlechtsidentität9.6 Störung der Geschlechtsidentität – die Therapie9.6.1 Aus einem Mann wird eine Transfrau9.6.2 Aus einer Frau wird ein Transmann9.6.3 Transsexualität und Kinderwunsch9.6.4 Der mütterliche Vater9.6.5 Das Geschlecht wechseln und wieder zurück – DetransitionKapitel 10: Gender – im Reich der Worte10.1 Der außersprachliche Hund10.2 Die Sprachphilosophie und die Struktur der Welt10.3 Sozialkonstruktivismus: Gemeinsam schaffen wir unsere Wirklichkeit10.4 Gender – Genus10.5 Wie wir Gender erkennen10.6 Männlichkeit und Weiblichkeit10.6.1 Das Genderstereotyp im Kopf – angeboren oder erworben?10.6.2 Gender – Schicksal oder freie Wahl?10.7 Die Dekonstruktion des Geschlechts10.8 Doing Gender10.9 Der seltsame Fall der Agnes Torres10.10 Judith Butler und das Unbehagen der Geschlechter10.11 Transgender10.11.1 Feministinnen wollen ihr Geschlecht zurück10.11.2 Biopolitik und die Politisierung des Geschlechts10.12 Die Konstruktion von Minderheiten10.12.1 Die Macht der Minderheiten10.12.2 Die »Grievance Studies«10.12.3 Identität und SchicksalKapitel 11: Der außersprachliche Hund schnappt zu11.1 Der Dualismus von Kultur und Natur und der Wettstreit der Wissenschaften11.2 Wider den wissenschaftlichen Reduktionismus!Kapitel 12: Der Mensch – Einheit von Natur und Kultur12.1 Geworden, nicht geschaffen12.2 Die Natur der menschlichen Natur12.3 Die Natur der menschlichen Kultur12.3.1 Der Mensch und sein Gender12.3.2 Das exzentrische Tier12.3.3 Die drei Welten Karl PoppersEndnoten

Vorwort

Ausgehend vom Sprachgebrauch im Englischen hat sich seit den 1990er Jahren ein Begriff in den deutschen Medien, der Politik und bis in die Verwaltungen hinein ausgebreitet: »Gender«1, in Verbform »gendern«. Sprache lebt und ändert sich durch den Gebrauch. Es ist allerdings ungewöhnlich, dass eine Sprache durch amtliche Regeln zum korrekten Gendern verändert wird. Diese Veränderung der Sprache wird gerechtfertigt mit der Verpflichtung zum Gender-Mainstreaming im Sinne der UN2, die Deutschland eingegangen ist.

Nun ist »Gender« ein Fremdwort, das hier bewusst gewählt und unserem deutschen Wort »Geschlecht« vorgezogen wurde. Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass Gender und Geschlecht nicht dasselbe sind. Aber was ist Gender dann, wenn es nicht Geschlecht ist? Wie relevant ist der Unterschied zwischen Gender und Geschlecht, wenn er sogar Anlass gibt, unsere Sprache zu verändern?

Ich bin Biowissenschaftlerin. Für mich ist Geschlecht ein einfaches, klares Konzept. Bei allen biologischen Studien ist neben der Art das Geschlecht der wichtigste Faktor, da er Anatomie, Physiologie und Verhalten beeinflusst, oft vermittels der Geschlechtshormone. Vor vielen Jahren habe ich selbst an der Universität über geschlechtsabhängige physiologische Prozesse bei Tieren geforscht. Unter anderem hatte unsere Arbeitsgruppe die Veränderungen im Gehirn neugeborener Ratten durch gegengeschlechtliche Hormongaben untersucht.3 Durch die gewachsene Aufmerksamkeit für Transsexualität ist unsere Forschung aus den 1980er Jahren wieder sehr aktuell geworden. Später, seit 1989, habe ich fast ein Vierteljahrhundert auf einem Fachgebiet gearbeitet, das ebenfalls mit dem Thema Geschlecht und Gender eng verbunden ist: Frauengesundheit. Bei dieser handelt es sich um mehr als Gynäkologie und Geburtshilfe. Es geht um die Gesundheit der Frauen aus der Perspektive von Frauen. Das setzt voraus, dass Frauen und Männer verschieden sind und verschiedene Bedürfnisse haben, die zu berücksichtigen wir uns verpflichtet sehen. Damit bin ich im Kern der gegenwärtigen Diskussion angekommen: bei der politischen Relevanz von Geschlecht und Gender-Mainstreaming.

Für dieses Buch habe ich die wichtigsten empirischen Fakten zusammentragen mit dem Ziel, einen Überblick über die Biologie der Geschlechter, sexuelle Orientierung und Identität zu geben. In einem weiteren Abschnitt widme ich mich dem Begriff »Gender«, zeige seine Wurzeln auf und beschreibe die vielen Facetten von Gender als Konstrukt. Am Schluss lasse ich die Philosophen und Philosophinnen zu Wort kommen, die versuchen, die disparaten Auffassungen der empirischen Naturwissenschaftler und der Geistes- und Sozialwissenschaftler zu einem Menschenbild zu vereinen.

Kapitel 1: Einleitung

1959 hielt der Physiker und Romanautor Charles Percy Snow (1905–1980) einen Vortrag, dessen Inhalt bis heute für Debatten sorgt. Der Titel lautete: The Two Cultures and the Scientific Revolution.4 Snow präsentierte seine These, dass zwischen Geisteswissenschaften5 und Naturwissenschaften eine Barriere bestehe und es den Vertretern der beiden »Kulturen« nicht gelinge, miteinander zu kommunizieren. Auf Versammlungen provozierte er, indem er nach traditionellem Standard gebildete Menschen fragte, ob sie den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beschreiben könnten. Er erntete nur Unverständnis. Aber auch die mangelnde Vertrautheit eini­ger Naturwissenschaftler mit der klassischen englischen Literatur fand er erschütternd. Die gegenseitige Geringschätzung war auffallend. Während sich die Geisteswissenschaftler als Bollwerke der Kultur sahen und die Naturwissenschaftler als Banausen betrachteten, waren umgekehrt die Geisteswissenschaftler für die Naturwissenschaftler Maschinenstürmer und technikfeindlich, während man selbst wissenschaftliche und nützliche Arbeit leistete.

Mit Besorgnis bemerkte Snow, dass in der Regierung, dem Parlament und der Verwaltung überwiegend Geisteswissenschaftler waren, die die Politik bestimmten, während die aufstrebenden Industrien von den Naturwissenschaften angetrieben wurden. Für ihn war dies das Symptom einer Krise, denn er fürchtete, dass durch die Missachtung der Naturwissenschaften die Entwicklung und der Wohlstand Englands gefährdet seien.

Mehr als 50 Jahre später hat sich einiges geändert, auch wenn in der Politik Vertreter der technischen und naturwissenschaftlichen Berufe noch immer in der Minderheit sind. Seit vielen Jahren wird jedoch über die wichtigsten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung ausführlich in den Medien berichtet, und viele Themen wie die Präimplantationsdiagnos­tik oder neurobiologische Untersuchungen zum freien Willen werden weithin diskutiert. Begabte Wissenschaftler, die verständlich und unterhaltsam über ihre Theorien erzählen können, haben viel dazu beigetragen. Dabei hat sich eine besondere Nähe der Biologie zu den Geisteswissenschaften entwickelt, denn hier geht es um existenzielle Fragen, um unsere tastenden Versuche, uns selbst zu erkennen.

Es scheint jedoch weiterhin ein Gebiet zu geben, auf dem die Kommunikation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gestört ist, so sehr gestört, dass verschiedene Sprachen gesprochen und für die Erscheinung, um die es geht, verschiedene Worte verwendet werden: »Geschlecht« und »Gender«. Es handelt sich bei ihnen um Begriffe aus verschiedenen Kulturen. Nun zeigen sich bei der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern verschiedener Fachgebiete oft viele Hürden. Es wäre der Sache aber nicht angemessen, die Verwendung der Begriffe »Geschlecht« oder »Gender« nur für ein sprachliches Problem zu halten. Hier geht es um mehr, wie ich im Folgenden zeigen werde.

Eine Schwierigkeit bei der sprachlichen Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis ist die Sprache selbst. Die Sprache der Naturwissenschaften besteht aus Bildern oder graphischen Symbolen, und oft ist es die Mathe­matik.6 Wir wissen, dass Worte nicht ausreichen, um die Information wiederzugeben, die beispielsweise in einer Landkarte enthalten ist, oder die Information, die wir aus einer statistischen Tabelle herauslesen können. Die Sprache der Naturwissenschaften muss gelernt werden. Wenn man weitgehend darauf angewiesen ist, auf denselben Wortschatz zurückzugreifen, den wir auch im täglichen Leben verwenden, steckt die sprachliche Vermittlung voller Fallen. Viele Begriffe aus der Alltagssprache haben in der Wissenschaft eine andere Bedeutung, deren Verständnis ähnlich viel Vorwissen erfordert wie bei einer mathematischen Formel in der Physik. Ich werde daher zunächst die wichtigsten Begriffe erklären bzw. definieren und versuchen, Fachbegriffe so weit wie möglich zu vermeiden. Ich vertraue auf die Nachsicht der Fachkollegen, sollte es meinen Formulierungen aus diesem Grund an Präzision fehlen.

Grundsätzlich verwende ich den Begriff »Geschlecht« im Sinne des biologischen Geschlechts, mit allen damit zusammenhängenden körper­lichen, psychischen und kognitiven Eigenschaften, einschließlich bestimmter Varianten. Mit »Gender« hingegen bezeichne ich die Eigenschaften, die einer Person bestimmten Geschlechts in einer bestimmten Kultur zugeschrieben werden.7 Gender wird, im Unterschied zum biologischen Geschlecht, auch als soziales Geschlecht bezeichnet, da es nicht nur Äußerlichkeiten und Verhalten beschreibt, sondern auch die soziale Rolle, die dem Gender in der jeweiligen Kultur zugeschrieben wird.

Kapitel 2: Gender oder Geschlecht?

Was sehen Sie, interessierte Leserin, interessierter Leser, vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie das Wort »Frau« lesen oder hören? Einfach nur vier Buchstaben F, R, A und U? Oder sehen sie ein menschliches Individuum mit einem weiblichen Körper, charakterisiert durch breitere Hüften? Vielleicht deutet sich unter der Kleidung eine weibliche Brust an, und man sieht ein Gesicht, das, man weiß nicht wie, eben weiblich ist. Bei der Kleidung und der Länge der Haare bleibt es unbestimmt, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Mann ist, der einen Rock oder ein Kleid trägt, vernachlässigbar gering ist.

Aber was sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie das Wort »Gender« lesen oder hören? Wahrscheinlich sehen Sie ebenfalls eine Frau, vielleicht mit einem Plakat in der Hand, auf dem »Frauenrechte sind Menschenrechte« oder Ähnliches steht. Menschen, die sich in den sozialen Netzen bewegen, sehen vielleicht 60 verschiedene Menschen, die sich auf Facebook aus 60 Optionen ihr »Geschlecht« auswählen,8 unter denen sich solche befinden, die Sie als »Frau«, und auch solche, die Sie als »Mann« bezeichnen würden, und weitere, bei denen es nicht so ganz klar ist. Nun wissen Sie natürlich, dass man die sexuelle Orientierung oder auch die Geschlechtsidentität nicht sehen kann und man sich außerdem vor Stereotypen hüten sollte. So verschmilzt das Wort »Gender« zu einem Bild von einem Wesen, etwa 170 Zentimeter groß, mit zwei Beinen, zwei Armen und einem Kopf: ein Mensch ohne Eigenschaften. Vielleicht sehen Sie beim Wort »Gender« aber auch eine Gruppe von Menschen, die diskutiert, was Gender ist und wie man den Unwissenden das Konzept von Gender beibringen kann.

Sie werden nur wissend lächeln, da Sie selbstverständlich mit den Begriffen »Gender«, »Geschlechtsidentität« und den gängigen Abkürzungen LGBT oder LGBTQ9 vertraut sind. Aber jetzt versetzen Sie sich in Menschen hinein, denen Sie täglich begegnen: in die Kassiererin in Ihrem Supermarkt, in den freundlichen Auslieferungsfahrer an Ihrer Haustür, den Kontrolleur in der Straßenbahn. Was sehen Sie jetzt vor Ihrem geistigen Auge? Reicht Ihre Empathie nicht aus und Sie sehen weiterhin einen Menschen ohne Eigenschaften oder eine Frau, fragen Sie die nette Verkäuferin, was »Gender« ist. Sie werden auf viel Unverständnis stoßen.

Wir setzen voraus, dass Worte der Kommunikation dienen, der Verständigung der Menschen untereinander. Sprache erfüllt ihren Zweck dadurch, dass sie Bilder hervorruft, Bilder, die nach logischen Regeln verknüpft werden und dadurch Information übermitteln. Diese Beschreibung mag unzulässig verkürzt sein, aber sie reicht für das Thema, um das es in diesem Buch geht: um Geschlecht und Gender und um das Versagen der Sprache.

Aber wozu überhaupt über Geschlecht und Gender schreiben? Nun, das ist schnell erklärt: weil uns dieses Thema nicht nur höchstpersönlich betrifft – zumal das Thema Geschlecht, schließlich sind wir alle Geschlechtswesen –, sondern auch, weil mit dem Begriff »Gender« das Geschlecht aus unserem persönlichen und privaten Bereich in die Politik geraten ist und uns nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft betrifft. Wie sagten die Feministinnen der Zweiten Feministischen Welle: »Das Private ist politisch!«

2.1 Gender – ein politisches Thema

In der Politik geht es um Werte. Zwar sind diese oft ökonomischer Natur, aber eben nicht immer. Machen wir uns nichts vor: Zuallererst geht es in der Politik um Macht, um die Macht, ein Wertesystem durchzusetzen. Bei Werten, die nicht ökonomischer Natur sind, geht es natürlich nicht um Macht, sondern darum, durch demokratischen Diskurs zu überzeugen und dadurch die Stimmen der Mehrheit zu gewinnen. Oder etwa nicht?

Für unser Wertesystem gibt es eine klare Grundlage: das Grundgesetz, entstanden in dem durch Krieg zerstörten Deutschland. Im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte tagten 1949 die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rats in Bonn, um der neuen Werteordnung der Bundesrepublik eine verfassungsrechtliche Form zu verleihen. Am 23. Mai wurde das Grundgesetz genehmigt, und damit wurden zum ersten Mal in Deutschland die gleichen Rechte ohne Ansehen des Geschlechts garantiert. 1949 waren jedoch die Rechte von Frauen, zumal in Ehe und Familie, für unser heutiges Verständnis unerträglich eingeschränkt, und es bestand wenig Neigung, das zu ändern. Bei der Suche nach einer juristisch unanfechtbaren Formulierung des Grundsatzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde daher heftig gestritten. Es war das Verdienst vor allem der Juristin Elisabeth Seibert, dass Artikel 3 Absatz 2 als Auftrag an den Gesetzgeber formuliert wurde: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Damit mussten viele familienrechtliche Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch überarbeitet werden – auch wenn das erst nach einigen Jahren geschah.

Bald stellte sich allerdings heraus, dass gleiche Rechte nicht zu größerer Gleichheit der Geschlechter führten. Trotz formaler Gleichberechtigung blieben faktische Benachteiligungen, sodass Frauen sich ausgeschlossen fühlten. 1994 wurde daher dem Artikel 3 Absatz 2 ein zweiter Satz hinzugefügt: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Damit hat sich der Staat verpflichtet, nicht nur gleiche Rechte von Männern und Frauen zu gewährleisten, sondern zu diesem Zweck ein Geschlecht zu bevorzugen. Man spricht von »positiver Diskriminierung«, was indes wieder mit dem Gleichheitsgrundsatz kollidiert. Eine positive Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht stellt außerdem ein kollektives Recht von Frauen dar. Unser Grundgesetz kennt jedoch keine Kollektivgrundrechte.10

Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch nicht nur dem Grundgesetz verpflichtet. Völkerrechtliche Verträge, Absichtserklärungen und Richtlinien binden unseren Staat. Das betrifft auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. In diesem Zusammenhang begegnen wir einem Problem: die Sprache. Internationale Abkommen sind im Allgemeinen auf Englisch verfasst, die Diskussionen werden auf Englisch geführt, und verschiedene, nicht immer kompatible Auffassungen führen bei den Übersetzungen zu Unschärfen und Missverständnissen.

Ausgehend von der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking11 wurden Konzept und Ziele des Gender-Mainstreamings zur Richtschnur für die UN wie auch für die EU und damit für Deutschland. Zwei Jahre danach folgte die Resolution 1997/2 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC), und auf der 52. Tagung forderte die Generalversammlung die Staaten auf, die in Peking verabschiedete Aktionsplattform umzusetzen.12 Seither gilt auch für Deutschland Gender-Mainstreaming im Sinne der Resolution 1997/2: »Gender Mainstreaming ist ein Prozess, bei dem alle geplanten Gesetze, Regeln und Programme auf allen Gebieten und auf allen Ebenen bewertet werden hinsichtlich der Folgen für Frauen und Männer. Es handelt sich um eine Strategie, alle Bedenken und Erfahrungen von Frauen und Männern bei der Entwicklung, der Implementierung, der Überwachung und Bewertung in allen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Sphären zu berücksichtigen, sodass Frauen und Männer gleichermaßen profitieren und Ungleichheit beendet wird. Das ultimative Ziel ist die Gleichheit der Gender.«13

Seit 2006 ist Gender-Mainstreaming in allen Ländern der EU verpflichtend. Der Text, auf den man sich geeinigt hatte, war in englischer Sprache abgefasst und verwendete den Begriff »gender mainstreaming«.14 In der deutschen Fassung hingegen ist von Geschlecht und Gleichstellung die Rede.15 Dieses Beispiel zeigt, wie mithilfe der Sprache fast unbemerkt von den Betroffenen politische Wirklichkeit geschaffen werden kann. Das Lehnwort »Gender« ist nicht identisch mit dem Geschlecht, das in unserem Grundgesetz genannt wird, denn das wäre im Englischen »sex«. Nun wird im Alltagsenglisch nicht immer sorgfältig zwischen den Begriffen »gender« und »sex« getrennt, was nicht unerheblich zur Unklarheit beiträgt. Geht es jedoch um solch umfassende Richtlinien, benötigen wir eine präzise Definition. Die finden wir in der Gender-Richtlinie der World Health Organisation (WHO) von 2002: »[Der Ausdruck] Gender wird benutzt, um diejenigen Eigenschaften von Frauen und Männern zu beschreiben, die sozial konstruiert sind, während Geschlecht die biologisch bestimmten Eigenschaften beschreibt. Menschen werden weiblich oder männlich geboren, aber lernen Mädchen und Jungen zu sein und wachsen auf zu Frauen und Männern. Dieses angelernte Verhalten bestimmt die Genderidentität und bestimmt die Genderrolle«.16 Somit ist klar: Mit »Gender« ist nicht das Geschlecht gemeint.

Gender ist jetzt auch in Deutschland angekommen, als Mainstreaming und inzwischen weithin sichtbar als Veränderung der Sprache durch das »Gendern«.

Nun sind »Gender« und »Mainstreaming« im Deutschen unbestimmte Rechtsbegriffe und müssen mit Bedeutung gefüllt werden, die auch verstanden wird. Eine wichtige Institution, die vermitteln kann zwischen einer verständlichen Alltagssprache und der Sprache, die geeignet ist, den politischen Willen in Gesetzesform zu gießen, sind die politischen Parteien.

Die Aufgabe der Parteien ist es, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Diese Aufgabe erfüllen sie, indem sie die aktive Teilnahme am politischen Leben fördern. Parteien bündeln Interessen und Meinungen, sie vertreten bestimmte politische Richtungen mit dem Ziel, bei Wahlen Mehrheiten zu gewinnen und in unseren Parlamenten politische Entscheidungen zu treffen. Grundsatzprogramme geben Auskunft über die politische Ausrichtung der Parteien, ihre Leitbilder und die Ziele, denen sie sich verpflichtet fühlen. Grundsatzprogramme sind oft das Ergebnis einer Neuausrichtung der Partei nach langjähriger Diskussion. Das erzwingt Zugeständnisse an die Länge der Texte und die Reduktion von Komplexität. Aktueller und konkreter sind Wahlprogramme. In den Wahlprogrammen müssen Parteien Farbe bekennen, nicht nur in Bezug auf ihre Orientierung im politischen Raum, sondern auch zu aktuellen, möglicherweise umstrittenen Maßnahmen, wobei der Zwang zur Koalitionsbildung viel von der Schärfe einer Auseinandersetzung in der Sache abmildert – mit Ausnahmen.

Am auffälligsten ist bei der Durchsicht der Grundsatz- und Wahlprogramme die Verwendung gegenderter Sprache. Durch parallele Verwendung von männlichen und weiblichen Formen entsteht der Eindruck, dass die Bevölkerung in zwei Gruppen zerfällt: in Männer und Frauen. Das grenzt natürlich alle Gender aus, die sich nicht als Frau oder Mann bezeichnet sehen wollen. Daher finden immer mehr das Partizip oder ein großes »Binnen-I« oder das Sternchen Anwendung, um aus diesem Dilemma herauszuführen – was wiederum die Distanz von der Alltagssprache vergrößert. Inzwischen verbreiten sich die verschiedenen Formen des Genderns zunehmend in der Schriftsprache aufgrund von Richtlinien und Anweisungen und auch durch die Sensibilisierung der Schreibenden für das Gefühl des Ausgegrenztseins der Lesenden. Gendern gilt als Zeugnis für Fortschritt und Gerechtigkeit und setzt sich daher auch in Grundsatz- und Wahlprogrammen der politischen Parteien durch, allen voran bei Bündnis 90/Die Grünen.

Innerhalb weniger Jahre hat die Popularität der Grünen so zugenommen, dass sie sich längst als »führende progressive Kraft in diesem Land« sehen und mit einem perfekt gegenderten Grundsatzprogramm17 ihren Führungsanspruch untermauern. Der Fokus des Programms auf Ökologie, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden ist sicherlich konsensfähig. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die SPD, bezeichnet sich als eine Programmpartei, ein Begriff, in dem sich »der besondere politische Anspruch der SPD« bündelt.18 Das Hamburger Programm der SPD von 200719 ist noch unberührt von den wichtigen politischen Veränderungen der letzten Jahre. Für aktuellere Aussagen steht uns das Wahlprogramm der SPD mit der Bezeichnung »Zukunftsprogramm« zur Bundestagswahl 202120 zur Verfügung. Mit der gegenderten Sprache ist nun auch die SPD auf der Höhe der Zeit. Gender gibt es zwar nicht in dem Programm, dafür aber mehr als zwei Geschlechter, sichtbar gemacht durch die Formulierung »alle Geschlechter«. Allerdings werden in dem Zukunftsprogramm die Grenzen des Genderns sichtbar: So gibt es für die Künstler*innen nur eine Künstlersozialversicherung, und auch die Arbeitgeber*innen sind in den Arbeitgeberverbänden unterrepräsentiert. Eine Konstruktion wie »Sozialdemokraten*innen« mutet fremd an, kann aber durch die Eile, mit der das »Zukunftsprogramm« rechtzeitig vor der Wahl fertiggestellt werden musste, entschuldigt werden. Das Grundsatzprogramm der Partei Die Linke war 2011 noch nicht auf der Höhe. Das Wahlprogramm von 202121 ist jedoch perfekt mit Sternchen gegendert. So gibt es sogar Verbraucher*innenkosten und -verträge. An einigen Punkten erhält das Gendern eine besondere Bedeutung. So gibt es nur klimapolitische »Akteurinnen«, die gegen Ausbeutung von Mensch und Natur kämpfen; in der Kulturszene gibt es mit den Akteur*innen auch andere Gender. Bei der Elitekampftruppe der KSK und der Bundeswehr allerdings gibt es nur rechte Akteure, obwohl die Bundeswehr seit 2001 allen Gendern und Geschlechtern offensteht.22

Die CDU, immerhin die wichtigste Regierungspartei der zurückliegenden 70 Jahre, ist seit 2018 dabei, ihr Grundsatzprogramm von 2007 zu überarbeiten, und befindet sich immer noch auf dem Weg zum neuen CDU-Grundsatzprogramm;23 bis zur Europawahl 2024 soll es vorliegen. Vorerst haben wir nur das Wahlprogramm der CDU/CSU von 2021, vor der Wahl noch hoffnungsvoll als Regierungsprogramm bezeichnet.24 In dem Text finden wir kein Sternchen, aber viele Männer und Frauen und Doppelnennungen, die konventionellste Form des Genderns, die allerdings nur funktioniert, wenn es nur Männer und Frauen gibt. Gleiches finden wir auch im Wahlprogramm der FDP.25 Und wie sieht es bei der »Alternative für Deutschland«, der AfD, aus? Für die AfD ist Sprache Zentrum der Identität. So nimmt es nicht wunder, dass »gendergerechte Sprache« abgelehnt wird.26

Die Unterschiede in der Sprache der politischen Parteien sind eindeutig: vorneweg die Grünen und die Linken, die SPD als »fast follower«, im konservativen Lager die CDU/CSU und die FDP, weit abgeschlagen schließlich und ganz verwurzelt in der Alltagssprache die AfD auf dem letzten Platz. Nun ist fraglich, inwieweit die Sprache den politischen Überzeugungen entspricht und nicht vielmehr der Erwartung, nach der Wahl einen passenden Koalitionspartner zu finden. Gendern als Signal?

Nun steht das Gendern für etwas: Die gegenderte Sprache ist das augenfällige Merkmal der politischen Ausrichtung einer Partei. Gender, als soziales Geschlecht, ist aus der Sicht vieler Kultur- und Sozialwissenschaften ein außerordentlich wichtiger Begriff. Dem kann man zustimmen, aber Gender bringt das biologische Geschlecht nicht zum Verschwinden. Die Frage mag daher nicht ganz unangebracht sein, inwieweit politische Parteien (auch) der Bedeutung des biologischen Geschlechts Aufmerksamkeit schenken.

Das biologische Geschlecht hat etwas mit Sexualität zu tun, mit sexueller Orientierung und Identität. Schauen wir also zunächst danach, was die Zukunft aus Sicht der selbsterklärten führenden progressiven Partei, von Bündnis 90/Die Grünen, bringen soll.27 Sprache und Wortwahl ihres Grundsatzprogramms schränken leider den Zugang für viele Menschen ein. Im Kern ist für die Grünen die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit ein Auslaufmodell. Sie verfolgen entschieden eine solidarische Queerpolitik28 mit der Freiheit, sich einem Geschlecht zuzuordnen oder auch nicht. Für die Grünen hat also Geschlecht seine Reproduktionsfunktion verloren, existiert jedoch weiter als »feststehende Geschlechterrolle«, die es zu überwinden gilt. Mit leichter Hand unterstellen die Grünen eine grundgesetzwidrige staatliche Diskriminierung: »Die staatliche Diskriminierung von inter*, trans* und nichtbinären Menschen ist zu beenden. Antiqueere, homo-, bi- und transfeindliche Ressentiments und Diskriminierung sowie Angriffe auf lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter*, nichtbinäre und queere Menschen sind menschenrechtliche Verstöße und müssen von der gesamten Gesellschaft klar zurückgewiesen werden.«

»Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt« wird auch von der Partei Die Linke unterstützt.29 Die Forderung nach »reproduktiver Gerechtigkeit« umfasst kostenfreie künstliche Befruchtung und Hygieneprodukte für Menstruation sowie die Bezahlung der Verhütungsmethoden durch Krankenkassen. Die Linke versteht sich als Partei mit einem »feministischen Anspruch« und setzt sich ausdrücklich ein gegen geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Damit geht Die Linke weit über die Forderungen der Feministinnen hinaus, da diesen Straftaten auch Jungen bzw. Männer zum Opfer fallen.

Im Wahlprogramm der SPD finden wir Interessantes: Die Entschärfung internationaler Krisen und die Vermittlung von Frieden, bei denen Deutschland, wie in dem Wahlprogramm zu lesen ist, eine weltweite Führungsrolle einnimmt, stehen im Zusammenhang mit der UN-Frauenrechtskonvention: »Es gilt, auf allen Ebenen der Anti-Gender-Bewegung entgegenzutreten«. Damit soll wohl ausgedrückt werden, dass Repräsentanten Deutschlands bei internationalen Gesprächen darauf zu dringen haben, Gender-Mainstreaming gemäß der UN-Resolution durchzusetzen.30 Die SPD will Rollen- und Denkmuster, die sie abwertend als »alt« bezeichnet, aufbrechen. Als Mittel zum Zweck will die SPD das Transsexuellengesetz ändern: »Kein Gericht sollte künftig mehr über die Anpassung des Personenstandes entscheiden. Psychologische Gutachten zur Feststellung der Geschlechtsidentität werden wir abschaffen. Jeder Mensch sollte selbst über sein Leben bestimmen können.« Für die SPD ist die gleichberechtigte Teilhabe aller Geschlechter und Identitäten ein Gewinn für die ganze Gesellschaft.

Auch die FDP will sich weltweit gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen einsetzen und das Transsexuellengesetz ändern: »Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand müssen ohnediskriminierende Hürden grundsätzlich per Selbstauskunft möglich sein«.31 Wie die Grünen will auch die FDP, dass geschlechtsangleichende Behandlungen vollständig von den Krankenkassen bezahlt werden. Die Forderung nach verstärkten polizeilichen Maßnahmen zur Verfolgung und Prävention von homo- und transfeindlicher Gewalt ist verbunden mit einem Bekenntnis zu einem um alle Geschlechter erweiterten Feminismus: »Wir Freie Demokraten stehen für einen liberalen Feminismus, der auf der Rechtsgleichheit aller Geschlechter aufbaut und für alle Individuen Freiheits- und Entfaltungsräume erweitern will. Der liberale Feminismus strebt die Selbstbestimmung aller Individuen frei von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen aufgrund ihres gewählten oder biologischen Geschlechts an«. Handlungsbedarf sieht die FDP bei Migranten und Flüchtlingen aus anderen Kulturkreisen, denen in Integrationskursen die Gleichheit von Frau und Mann und die Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten vermittelt werden sollen.

Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 mit seiner klaren Aussage zu einer Leitkultur in Deutschland ist von der eigenen Politik überholt worden.32 Nur zehn Jahre später, zur Zeit der großen Koalition, wurde die »Ehe für alle« und damit das Adoptionsrecht auch für gleichgeschlechtliche Ehepartner eingeführt. Anders als bei den anderen Parteien nimmt in dem Programm der CDU von 2021 der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch großen Raum ein: »Wir stehen dafür, dass sich kein Täter sicher fühlen darf, und stellen Opferschutz vor Täterschutz. Vieles haben wir hier bereits erreicht – wie zuletzt die Bestrafung von Kindesmissbrauch als Verbrechen mit einer Mindesthaftstrafe von einem Jahr. Doch damit ist für uns der Kampf noch nicht gewonnen.«33 Kinder sollen geschützt werden durch den erweiterten Einsatz elektronischer Fußfesseln bei Sexualstraftätern und ein Verbot des beruflichen oder ehrenamtlichen Umgangs mit Kindern und Jugendlichen für die Betreffenden. In dem Wahlprogramm der CDU gibt es keine Vielfalt der »Geschlechter«, sondern Frauen und Männer, deren Chancengleichheit gefördert werden soll. Man darf davon ausgehen, dass für die CDU die vom Grundgesetz und internationalen Abkommen verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts als Verpflichtung ausreicht.

Auch im Wahlprogramm der AfD34 steht der Schutz der Kinder im Vordergrund: »Häufig wird die politische Beeinflussung von einer Frühsexualisierung im Sinne ›diverser‹ Geschlechterrollen begleitet. Die ›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ versucht, Kinder in Bezug auf ihre sexuelle Identität zu verunsichern und Geschlechterrollen aufzulösen. Sie werden dadurch massiv in ihrer Entwicklung gestört. Kinder haben das Recht auf Schutz ihrer Intimsphäre, damit sie ihre Sexualität selbstbestimmt herausbilden können.« Entsprechend lehnt die AfD die Bagatellisierung von Geschlechtsumwandlungen bei Kindern und Jugendlichen ab. Für die AfD ist Geschlecht eine biologische Tatsache: »Die menschliche Spezies besteht aus zwei Geschlechtern, dem männlichen und dem weiblichen. Diese Zweigeschlechtlichkeit wird nicht dadurch aufgehoben, dass bei wenigen einzelnen Personen eine Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht schwer oder gar nicht möglich ist. Es versteht sich von selbst, dass diese Menschen vollwertiger Teil unserer Gesellschaft sind und mit der ihnen gebührenden Achtung behandelt werden müssen«. Interessant ist die Verknüpfung von biologischem Geschlecht und sozialem Geschlecht, ein Aspekt, der von keiner anderen Partei aufgenommen wird: »Das biologische Geschlecht wirkt sich unmittelbar auf viele Verhaltensaspekte von Männern und Frauen aus. Die Geschlechtsrollenbilder in den verschiedenen Kulturen bauen darauf auf. Sie können variieren, allerdings darf der Einfluss kultureller und sozialer Aspekte nicht überschätzt werden. Der Mensch ist kein beliebig umformbares Geschöpf, sondern bewegt sich stets in den von der Natur gesetzten Grenzen.«

Ein wichtiger Teil der Geschlechterpolitik im Unterschied zur Genderpolitik ist daher die Familienpolitik. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer, sondern um Kinder und Mütter.35 Die Bedeutung, die die Parteien der Fürsorge in der Familie einräumen, ist für die Schwächsten unserer Gesellschaft, die Kinder, wichtiger als die Beteuerung der Gendergerechtigkeit. Schauen wir daher etwas genauer auf die Familienpolitik, die Ansichten der Parteien hierzu und ihre Versprechen.

Auch die progressiven Grünen sehen, dass »[f]ür viele Menschen […] die Familie das Fundament ihres Zusammenlebens und Glücks [ist].«36 Dabei ist das Konzept »Familie« bei den Grünen postmodern im Sinne von »Anything goes«: »Familie ist da, wo Menschen mit dem Ziel der Dauerhaftigkeit Verantwortung füreinander übernehmen, sich umeinander kümmern und füreinander da sind […]. Egal ob mit oder ohne Trauschein, getrennt oder alleinerziehend, mit Partner*in, gleich- oder mehrgeschlechtlich, Patchwork oder in Mehr-Eltern-Konstellationen«. Es wird einige Mühe kosten, dieses Konzept in einen rechtlichen Rahmen zu fassen.

Die Partei Die Linke bevorzugt ebenfalls eine Ausweitung der klassischen Familie zu einer »Wahlverwandtschaft« als einer zwei oder mehr Personen umfassenden Beziehung, deren Angehörige Verantwortung füreinander übernehmen.37

Die liberale FDP benutzt ähnliche Formulierungen wie die Grünen: »Für uns ist Familie überall dort, wo Menschen dauerhaft und verbindlich füreinander Verantwortung übernehmen. Wir Freie Demokraten wollen eine moderne Familienpolitik für Deutschland, in der jede Familie ihre Entscheidungen selbst treffen kann.«38 Die FDP möchte jedoch neben der Ehe eine weitere Institution einrichten: »Wir Freie Demokraten wollen die Verantwortungsgemeinschaft neben der Ehe gesetzlich verankern. Dabei soll die Ausgestaltung der Rechte und Pflichten innerhalb einer Verantwortungsgemeinschaft im Interesse größtmöglicher Flexibilität stufenweise variiert werden können. Zwei oder mehr volljährige Personen, die sich persönlich nahestehen, aber nicht miteinander verheiratet, verpartnert oder in gerader Linie verwandt sind, sollen eine Verantwortungsgemeinschaft möglichst unbürokratisch gründen können«. Dabei sollen die Belange der Kinder und das Namensrecht unberührt bleiben.

Auch die SPD will vielfältige Familienmodelle rechtlich absichern und wie die FDP mit der »Verantwortungsgemeinschaft« eine Möglichkeit des Füreinander-Einstehens schaffen für alle, zu deren Lebenssituation das klassische Ehe-Modell nicht passt.39 Jungen Familien soll dabei der Erwerb von Wohneigentum erleichtert werden, denn »Wohneigentum dient nicht nur der Versorgung mit Wohnraum, sondern auch der Vermögens- und Alterssicherung«.

Im Fokus der CDU steht die finanzielle Unterstützung von Familien. Vor allem Familien mit Kindern sollen finanziell entlastet werden. Auch die CDU will den Erwerb von Wohneigentum für junge Familien erleichtern.40 Das Wohl der Kinder steht im Vordergrund. Zunächst will die CDU das Ehegattensplitting beibehalten, das von anderen Parteien abgelehnt wird, weil der Arbeitsanreiz für die Frauen entfällt, wenn der Ehemann gut verdient. Langfristig will aber auch die CDU vom Ehegattensplitting Abschied nehmen: »Perspektivisch streben wir den vollen Grundfreibetrag für Kinder an und finden damit den Einstieg in ein Kindersplitting.« Damit ist gemeint, dass die Steuerfreibeträge je nach Zahl der Kinder erhöht werden.

Am Ende der Skala derer, die traditionelle Lebensentwürfe (noch) gutheißen, steht die AfD. In ihrem Grundsatzprogramm41 beklagt sie die zunehmende Geringschätzung der traditionellen Familie als gesellschaftliche Grundeinheit und die Stigmatisierung traditioneller Geschlechterrollen in den Familien. In ihrem Wahlprogramm von 2021 fordert sie die »Wertschätzung der Lebensleistung von Frauen, die Familien gründen und Kinder großziehen.«42 Aber nicht jede traditionelle Form von Ehe und Familie ist willkommen: »Um Polygamie und Zwangsheiraten von Muslimen zu unterbinden, fordert die AfD, das Verbot der religiösen Trauung ohne vorherige standesamtliche Eheschließung wieder in Kraft zu setzen. Den Jobcentern sind die Personenstandsregister der Standesämter zugänglich zu machen, um missbräuchliche Inanspruchnahme von Hartz IV durch Zweit- oder Drittfrauen zu verhindern. Eheverträge zu güter- und unterhaltsrechtlichen Angelegenheiten sollen nur nach deutschem Recht geschlossen werden dürfen.« Die AfD verbindet diese Forderung mit einem Hinweis auf die Unterdrückung muslimischer Frauen und die Notwendigkeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Bereichen durchzusetzen.

Gleichberechtigung ist das Leitmotiv der Forderungen aller Parteien nach einer verstärkten Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben. Das Leitbild der Familie, bei der alle erwerbsfähigen Mitglieder auch erwerbstätig sind, hat sich durchgesetzt. Oft ist es schiere Notwendigkeit, aber auch der sanfte Zwang einer drohenden Altersarmut und der Verlockung der Unabhängigkeit vom Ehepartner zeigen Wirkung. Leider ist das alte Problem der Doppelbelastung durch Kinder und Beruf immer noch nicht befriedigend gelöst. Ausgesprochen oder unausgesprochen sind sich die meisten Parteien einig, dass zum einen Mütter selbstverständlich erwerbstätig sein sollen und zum anderen die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf durch den Ausbau der Kinderbetreuung und durch Hilfe, wenn ältere Angehörige gepflegt werden, erleichtert werden muss. Nicht konsensfähig scheint allerdings die Analyse der Ursache unterschiedlicher Erwerbsbiografien von Frauen und Männern durch die Partei Bündnis 90/Die Grünen zu sein. Für die Grünen rühren diese Unterschiede nicht etwa daher, dass »[d]ie Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf […]für viele noch immer ein täglicher Spagat [ist]«, wie die SPD feststellt, sondern für sie sind es »[p]atriarchale Strukturen, die ihren Ausdruck in Sexismus und Gewalt finden«. Diese»behindern Frauen im Job, in der Schule, in der Uni, vor Gericht, im Familienleben, in den Medien, im Internet.« Die Situation der Frauen wollen die Grünen daher durch Überwindung feststehender Geschlechterrollen verbessern.

Eine wichtige Forderung der Parteien, die Gleichstellungspolitik im Sinne von Ergebnisgleichheit vertreten, sind Quotenregelungen. Einig in der Ablehnung von Quoten als leistungsfeindlich und ungerecht sind sich die AfD und die FDP. Im Wahlprogramm der FDP von 2017 lesen wir: »Eine gesetzliche Quote lehnen wir jedoch ab: So werden Frauen zu Platzhaltern degradiert und nicht entsprechend ihrer Leistungen gewürdigt.«43 Vehement vertreten wird die Quotenregelung hingegen von der SPD, die Quoten nicht nur ausweiten will, sondern ein Paritätsgesetz anstrebt »für den Bundestag, die Länder und Kommunen, damit alle Geschlechter in gleichem Maße an politischen Entscheidungen beteiligt sind.« Abgesehen davon, dass eine Quotierung nach Geschlecht dem liberalen Prinzip der Chancengleichheit entgegensteht, dürfte die praktische Umsetzung schwierig sein, zumal die Quotierung lediglich nach Geschlecht und nicht nach weiteren, ebenfalls bedeutsamen Identitäten durchgeführt werden soll. Diese Diskussion muss erst noch geführt werden.

Wenn wir davon ausgehen, dass politische Parteien die Meinungen der Bevölkerung bündeln und repräsentieren, so können wir feststellen, dass es eine erhebliche Bandbreite von Meinungen zu dem Thema Geschlecht und Gender gibt. Vergleichen wir den Gebrauch der Sprache mit den Versprechungen und Forderungen der politischen Parteien, ist ein Zusammenhang nicht zu übersehen: Ob eine gegenderte Sprache zum Einsatz kommt oder nicht, ist ein entscheidender Hinweis auf das Verständnis von Geschlecht. Offensichtlich sind wir in einer sprachlichen Falle gefangen, nämlich die Verwendung desselben deutschen Wortes »Geschlecht« auf der einen Seite für das biologische Geschlecht, Erbe unserer Evolution und unverzichtbar für die Reproduktion und das Fortbestehen unserer Art, und auf der anderen Seite für das soziale Geschlecht, sichtbar an Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Verhalten, die bestimmen, wie man wahrgenommen wird, wandelbar und nur bedingt abhängig vom biologischen Geschlecht. Ginge es nur um ein Wort, könnte man sich schnell einig werden, indem Gender und biologisches Geschlecht gedanklich getrennt werden. Aber es geht um einen anderen Blick auf die Welt mit sehr konkreten Auswirkungen auf die politische Agenda und die entsprechenden Leitbilder. Letztendlich geht es darum, ob »die Frau« entsprechend ihrem biologischen Geschlecht die Zukunft unserer Art in ihren Händen hält oder ob »die Frau« unbestimmt, auch durch einen biologischen Mann ersetzbar, jede Aufgabe nach Vorliebe und Bedarf übernehmen kann. Es läuft auf den alten Streit hinaus, der in der neueren Zeit von C. P. Snow wieder aufgenommen wurde: Natur oder Kultur. Dabei ist die Vorstellung vom Menschen als Produkt seiner Kultur verführerisch: Nicht nur, dass sie sich progressiv gibt, sie verspricht auch die Freiheit, unserer natürlichen Bedingtheit zu entkommen.

Eine unterschiedliche Deutung der Welt führt zu Konflikten, deutlich sichtbar an den extremen Enden des politischen Spektrums, wo es scheint, als wäre bereits eine gemeinsame Kommunikation nicht mehr möglich. Zunehmend hören wir eine Besorgnis über die Polarisierung oder sogar Spaltung der Gesellschaft, und die Frage stellt sich, inwieweit bereits das Thema Geschlecht und Gender zu dieser Polarisierung beiträgt – schließlich erfordert der Gebrauch der Sprache ein Bekenntnis: für oder gegen das Gendern und damit für oder gegen die Auffassung von Geschlecht als biologisches Phänomen.

Bernhard Weßels, Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, beobachtete bereits 2021 eine politische Drift in Deutschland und warnte vor den Auswirkungen auf die Zunahme politischer Gegnerschaft. Zwischen 2009 und 2020 hat sich demnach die Polarisierung fast verdoppelt.44 An und für sich wäre das noch kein Problem, wenn sich die Parteien und ihre Vertreter in den Parlamenten um Akzeptanz und Toleranz bemühten. In den letzten drei Jahren haben sich jedoch weitere Konfliktlinien aufgetan. Eine Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigte, dass 75 Prozent der Befragten der Aussage »Unsere Gesellschaft ist bei vielen Themen gespalten« zustimmten, und fast die Hälfte der Befragten teilte die Ansicht, dass in unserer Gesellschaft verschiedene Meinungen sich oft unversöhnlich gegenüberstehen.45 Bei den als kontrovers empfundene Themen stand an erster Stelle Corona und die Corona-Maßnahmen, ein Thema, das – hoffentlich – zunehmend an Bedeutung verlieren wird. An zweiter und dritter Stelle standen Einwanderungspolitik und die Unterstützung der Ukraine. Erst an vierter Stelle stand die »geschlechtergerechte Sprache«, dicht gefolgt von der Energiepolitik. Erschreckend ist die Antwort auf die Frage: »Finden Sie es schwierig, mit jemandem befreundet zu sein, der bei Themen, die Ihnen wichtig sind, ganz andere Ansichten hat als Sie, oder finden Sie das nicht schwierig?« 42 Prozent der Befragten halten es für schwierig und 43 Prozent der Befragten glauben, dass ein Diskurs nicht viel bringt.

Der aktuelle Vorrang der Kontroversen um die Corona- und Ukraine­politik sollte uns nicht täuschen. Sprache und Energie sind Themen, denen jeder von uns jeden Tag begegnet. Eine problematische Versorgung mit Energie bedeutet hohe Kosten und möglicherweise Einschränkungen. Sprache jedoch ist nicht nur Sprache, sondern Sprache reflektiert ein Menschenbild – verstanden als Grundlage unseres Zugangs zur Welt – und besitzt daher eine große, ja zentrale soziale und politische Relevanz.

Dieser notgedrungen kurze Überblick über die Vorstellungen politischer Parteien zu Themen, die Menschen in ihrer Eigenschaft als Geschlechtswesen betreffen, zeigt die Spannweite: Sie reicht von der Bewahrung tradierter Werte mit vorsichtiger Öffnung bis zur Umwertung aller Werte einschließlich der deutschen Sprache.

2.2 Frauen- und Männer-Mainstreaming

Mit einem Flyer versucht das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend darüber aufzuklären, was Gender-Mainstreaming bedeutet: »Gender Mainstreaming bedeutet, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein zu berücksichtigen«. Dann wird es deutlich: »Gender Mainstreaming verändert Rollenstereotype und Geschlechterklischees. Denn: gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlechtsrollen von Männern und Frauen (= ›gender‹) sind erlernt und somit veränderbar.«46 Das leuchtet ein: Das Geschlecht lässt sich nicht ändern, Gender hingegen kann man ändern. Aber wozu? Wie wir in dem Flyer lesen, ist es der Zweck des Gender-Mainstreamings, »Qualität, Effizienz und Nachhaltigkeit bei allen Vorhaben der öffentlichen Verwaltung, aber auch in der privaten Wirtschaft und im Alltag« zu verbessern. Demzufolge sind auch alle Ministerien durch das Bundesgleichstellungsgesetz verpflichtet, Gender-Mainstreaming anzuwenden.

Trotz der Übernahme des Begriffs »Gender« scheint man eine pragmatische Interpretation der UN-Resolution gefunden zu haben. Man bleibt bei der Unterteilung der Menschen in zwei Gruppen und orientiert sich dabei am Geschlecht. Frauen und Männer zählen somit als Angehörige einer von zwei (und nur zwei) Gruppen, in der Annahme, dass sich die Lebenswirklichkeiten aller Frauen und aller Männern hinreichend unterscheiden. Zurzeit bedeutet Gender-Mainstreaming noch überwiegend Frauen-Mainstreaming, da man davon ausgeht, dass die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht eine Homogenität hinsichtlich der Bedürfnisse und des Risikos von Diskriminierung mit sich bringt. Diese Annahme ist zwar pragmatisch, mit dem Konzept von Gender aber nur bedingt vereinbar. Die Anzahl der Merkmale, durch die sich die Lebenswirklichkeit aller Frauen hinreichend von der Lebenswirklichkeit aller Männer unterscheiden lässt, ist klein und überwiegend biologischer und weniger sozialer Natur.

Das biologische Geschlecht ist im Allgemeinen offensichtlich, und jedes Kind erkennt, ob ein Mensch männlich oder weiblich ist. Dass es Ausnahmen gibt, die nicht so offensichtlich sind, ist bekannt.47 Das Erkennen von Gender folgt hingegen anderen Regeln. Durch die Gender-Richtlinie der WHO haben wir gelernt, dass sich das sozial konstruierte Gender im – angelernten – Verhalten bemerkbar macht.48 Verhalten ist jedoch kontextabhängig. Ist das Gender eines Vaters, der das Neugeborene liebevoll versorgt und die weibliche Rolle übernimmt, gender-weiblich? Wird er wieder gender-männlich, wenn er tags darauf auf den Bau geht oder als Meister in die Werkstatt? Die Verunsicherung könnte komplett sein, wenn wir nicht aus pragmatischen Gründen und aus Erfahrung davon ausgehen können, dass Geschlecht und Gender bei den meisten Menschen irgendwie zusammenpassen, wenn auch mit Abweichungen. Sichereren Boden unter die Füße bekommt man, wenn man sich am biologischen Geschlecht orientiert und nicht am unsicheren Gender.

Die Orientierung am Geschlecht hat den großen Vorteil, dass es eine Handvoll körperlicher Merkmale sind, an denen wir uns orientieren. Auch wenn Hoden und Eierstöcke verborgen bleiben, erkennen wir das Geschlecht an den Körperformen und der Behaarung. Brust und Penis können wir erahnen, selbst wenn sie durch Kleidung bedeckt sind. Auch an der Bewegung, der Stimme, dem Gesicht erkennen wir das Geschlecht, und kommen wir uns näher, fühlen und riechen wir es.

Geschlecht scheint also eine klare Sache zu sein. Gender dagegen ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Während die Biologie nicht mit uns verhandelt, ist Gender als soziales Geschlecht Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, in dessen Verlauf es konstruiert wird. Ein soziales Konstrukt kann jedoch dekonstruiert werden und sich verändern. Davon später mehr. Zunächst versuchen wir, sicheren Boden unter die Füße zu bekommen. Dazu ist die Biologie, als empirische Naturwissenschaft, besser geeignet als die flüchtigen sozialen Phänomene.

Vorab eine kleine Anmerkung: Da ich viel Information aus der englischen Literatur gewonnen habe, in denen »gender« und »sex« oft synonym gebraucht werden, werde ich – wie auch bei der Paraphrasierung deutscher Texte – »Gender« aus dem Kontext heraus gegebenenfalls durch »Geschlecht« ersetzen und, im Interesse der Klarheit, mit entsprechenden Zusätzen versehen. Fremdworte aus der Biologie werde ich so weit wie möglich durch deutsche Worte ersetzen. Bevor wir uns den Anfängen und Ursprüngen der Geschlechtlichkeit zuwenden, möchte ich mich zunächst mit Ihnen auf einen kleinen Ausflug in die Grundlagen der modernen Biologie begeben und zeigen, wie sich in den letzten Jahrzehnten die »klassische« Biologie, die noch durch Sammeln, Vergleichen und Sortieren von Pflanzen und Tieren charakterisiert war, zu einer hochspannenden Wissenschaft vom Leben und von seinen Erscheinungen gemausert hat.