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»Eine Stimme holt mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich gerate ins Straucheln, verfehle um ein paar Millimeter den Tresen, stürze ungebremst zu Boden und lande auf einer Tretmine, die sofort explodiert. Es zerfetzt mich binnen Sekunden und meine Gedärme fliegen durch das Studio.« Lexie Kerners lebhafte Fantasie und ihr sarkastischer Humor helfen ihr, manch kritische Situation – wie Doppelschichten im Fitnessstudio bei tropischen Temperaturen ohne Klimaanlage – zu überstehen. Wenn sich ihre unfähige Chefin noch um die defekten Geräte und diesen seltsamen Geruch kümmern würde, könnte das Leben nicht schöner sein. Doch eines Tages taucht ein Polizist im Studio auf, um sich nach einem verschwundenen Mitglied zu erkundigen. Zu allem Überfluss wird Lexie von einem unheimlichen Stalker verfolgt. Nicht einmal in ihren wildesten Tagträumen hätte sie sich vorstellen können, dass zwischen diesen Ereignissen ein Zusammenhang besteht.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Klappentext
Impressum
Widmung
Prolog
1. Caro
2. Lexie
3. P-013
4. Lexie
5. Toni
6. Caro
7. Toni
8. Lexie
9. P-013
10. Lexie
11. Toni
12. Caro
13. Lexie
14. Toni
15. P-013
16. Caro
17. Lexie
18. Toni
19. Lexie
20. Danilo
21. Lexie
22. Toni
23. Lexie
24. P-013
25. Caro
26. Danilo
27. Lexie
28. Toni
29. Youko
30. Lexie
31. P-013
32. Lexie
33. Danilo
34. Caro
35. Lexie
36. P-013
37. Lexie
38. Danilo
39. Caro
40. Lexie
41. Toni
42. Lexie
43. P-013
44. Lexie
45. Toni
46. Lexie
47. Caro
48. Lexie
49. Danilo
50. Lexie
51. P-013
52. Lexie
53. Toni
54. Youko
55. Lexie
56. Bernie
57. Lexie
58. Caro
59. Lexie
60. Danilo
61. Lexie
62. Toni
63. Lexie
64. Danilo
65. Lexie
66. Caro
67. Lexie
68. Toni
69. Lexie
70. Caro
71. Lexie
72. Caro
73. Lexie
74. Toni
75. Lexie
76. Toni
77. Lexie
78. Toni
Epilog
Nachwort und Danksagung
Weitere Bücher der Autorin:
Klappentext
»Eine Stimme holt mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich gerate ins Straucheln, verfehle um ein paar Millimeter den Tresen, stürze ungebremst zu Boden und lande auf einer Tretmine, die sofort explodiert. Es zerfetzt mich binnen Sekunden und meine Gedärme fliegen durch das Studio.«
Lexie Kerners lebhafte Fantasie und ihr sarkastischer Humor helfen ihr, manch kritische Situation – wie Doppelschichten im Fitnessstudio bei tropischen Temperaturen ohne Klimaanlage – zu überstehen. Wenn sich ihre unfähige Chefin noch um die defekten Geräte und diesen seltsamen Geruch kümmern würde, könnte das Leben nicht schöner sein. Doch eines Tages taucht ein Polizist im Studio auf, um sich nach einem verschwundenen Mitglied zu erkundigen. Zu allem Überfluss wird Lexie von einem unheimlichen Stalker verfolgt. Nicht einmal in ihren wildesten Tagträumen hätte sie sich vorstellen können, dass zwischen diesen Ereignissen ein Zusammenhang besteht.
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Deutsche Erstausgabe Mai 2021
©2021 Kat van Arbour
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugweise - nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.
E-Mail: [email protected]
Vertrieb: E-Book via tolino media
Covergestaltung: Katrin Laube
Lektorat: Nina Restemeier
Kat van Arbour
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Widmung
Dieses Buch ist für all jene, die auch in der dunkelsten Stunde ihren Humor bewahren, dem manchmal ungerechten Leben den Stinkefinger zeigen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Für all die Improvisateure, die einfach machen und niemals aufgeben.
Prolog
Erbarmungslose Kälte durchzieht meinen Körper. Sie kommt nicht nur vom Boden, auf dem ich liege. Ich starre auf ein Stück weiße Wand. Kahl und rein wirkt sie. Feine Unebenheiten in ihrer Oberfläche lassen sie rau erscheinen. Meine mit trockenem Blut verkrusteten Fingerkuppen streichen sanft darüber, wie über die zarte Wange einer Frau. Die Erinnerung an Emilia wird wach, eine junge Frau aus der Nachbarschaft. Ich sehe sie in ihrem weißen Kleid vor mir.
Weiß bedeutet Reinheit und Vollkommenheit. Es symbolisiert das Gute, zeigt uns die Wahrheit und wird mit Unschuld gleichgesetzt. Aber das Weiß in diesem Raum steht für nichts davon.
Hier ist die Hölle.
Das Licht brennt ununterbrochen, sogar in der Nacht. Es könnte Montagabend oder Freitagmorgen sein. Ich weiß es nicht. Mein Zeitempfinden hat durch die künstliche Erschaffung eines nicht enden wollenden Tages aufgegeben. Ich ziehe die Jacke enger um mich und versuche, mich in dieser Umarmung zu beruhigen, aber es fühlt sich eher an, als steckte ich im Würgegriff einer riesigen Schlange. Mein Mund ist trocken, in meinem Kopf pocht es schmerzlich. Je weniger ich mich bewege, umso besser, auch wenn die linke Seite taub ist vom Liegen. Meine Atmung ist so flach wie ein Blatt Papier. Ich spüre, wie das Leben langsam aus dem Körper weicht. Aber ich bin selbst schuld. Die Gier trieb mich in diesen Wahnsinn. Geld gegen Leben ist kein guter Deal, aber hätte ich ahnen können, was passieren wird? Vielleicht. Jetzt bin ich hier in diesem trostlosen Raum, erfüllt vom Geruch einer versifften Bahnhofstoilette, und warte. Warte auf Erlösung. Warte auf den Tod.
1. Caro
Kühle Luft umweht ihre nackten Knöchel, als sie zu den Sternen hinaufsieht. Sie zieht die weiche Tagesdecke fester um sich und atmet tief ein. In manchen Nächten schleicht sich Caro auf die Terrasse und genießt die kurze Zeit für sich allein. Frank schläft tief und fest, was an den Schlaftabletten liegt, die sie ihm unter das Abendessen gemischt hat. Zwischen ein und drei Uhr morgens nutzt sie die gewonnene Zeit, um joggen zu gehen oder an ihrem Projekt zu arbeiten. Oder sie sitzt einfach da, erfreut sich an der sternenklaren Nacht und malt sich ihre mögliche Zukunft aus. Ein grunzender Schnarcher lässt sie zusammenzucken.
Wo ist nur die Zeit geblieben? Die Affäre mit Frank begann vor acht Jahren. Dass er der beste Freund ihres Vaters war, konnte die langsam aufkeimenden Gefühle nicht ersticken. Ihr imponierte die Geduld, mit der er heimlich um sie warb. Ihr gefiel die charmante Art, mit der er bei jeder Gelegenheit mit ihr flirtete. Dass er zwanzig Jahre älter war, trat dabei in den Hintergrund. Die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Doch mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Wenn sie einen Zeitpunkt ausmachen sollte, an dem seine Zuneigung in Dominanz umschlug, würde sie sagen, kurz nachdem ihr Vater starb.
Er ließ ihr ein paar Tage der Trauer, fing sie auf in dieser schweren Zeit, tröstete sie, doch dann wurde schlagartig alles anders.
Dieser eine Tag haftet wie klebrige Marmelade in ihrer Erinnerung. Es war ein Mittwoch und er kam nach einem geschäftlichen Meeting mit seinem Neffen und Anwalt Ben nach Hause. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Seine Anspannung war nicht zu übersehen.
»Was ist passiert?«
Er rauschte schweigend an ihr vorbei, bevor es aus ihm herausplatzte: »Dein Vater, dieser Mistkerl, hat mich all die Jahre übers Ohr gehauen, wusstest du das?«
Entsetzt starrte sie ihn an. »Nein. Was meinst du?«
Frank pfefferte seine Tasche durch den Raum und ging an die Hausbar, um sich einen Whisky einzugießen, den edlen.
Caro folgte ihm. »Was ist los, wie kommst du darauf?« Sie bemühte sich um eine ruhige und sanfte Stimme, dabei war ihre Verwirrung übermächtig. Ihr Vater war ein herzensguter Mensch gewesen; dass er jemanden betrogen haben sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Frank nahm das volle Glas und stürzte es in einem Zug hinunter, dann schleuderte er auch dieses durch das Zimmer. Als es an der Wand in unzählige Stücke zersplitterte, zuckte Caro zusammen. So aufbrausend hatte sie Frank bisher nie erlebt. Ihr Herz pochte wie wild. »Sag mir, was los ist«, bat sie ihn mit zittriger Stimme.
»Dein feiner Vater hat mir versprochen, dass ich seine Anteile an der Firma bekomme, und nun stellt sich heraus, dass er sie zu gleichen Teilen dir, mir und Ben vermacht hat.«
Irritiert sah sie ihn an. »Ok, aber was ist so schlimm daran? Es bleibt doch in der Familie.«
»Mann, Caro, du hast echt keinen Plan. Ich bin der Chef, mir hatte er sie versprochen, und dieses Versprechen hat er gebrochen. Das ist wie ein Tritt in die Eier.« Er nahm die Whiskyflasche und setzte sie zum Trinken an. Caro wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war klar, wie viel Frank die Firma bedeutete, aber seine Reaktion kam ihr doch übertrieben vor.
»Wir sind eine Familie«, versuchte sie erneut, die Wogen zu glätten, und strich ihm sanft über den Arm.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre linke Gesichtshälfte. Es war so rasend schnell gegangen, dass sie seine Hand nicht hatte kommen sehen. Tränen traten ihr in die Augen, stauten sich, bis sie ungehindert über den Wimpernkranz traten und ihr Gesicht fluteten. Mit offenem Mund stand sie da und hielt sich die heiße Wange.
»Ich bin kein Kind, also hör auf, mich zu bemuttern.« Er presste die Worte durch die Zähne und unterstrich die brodelnde Wut, indem er seinen gewaltigen Körper über sie beugte. Caro sank eingeschüchtert zusammen, dann ging er.
Seine späteren Beteuerungen, es sei nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen, weil er so viel Stress habe, hätten sie misstrauisch stimmen sollen, aber sie glaubte ihm. Wollte ihm glauben. Es folgten unzählige Momente, in denen sie am liebsten ihre Koffer gepackt hätte, um zu gehen, doch immer wieder schaffte er es, sie mit seinen blumigen Worten einzulullen.
Sie war damals so naiv, das weiß sie, aber jetzt hat sie einen Plan.
2. Lexie
Es ist dunkel, als sich meine Blase meldet. Der Drang ist groß, aber ich will mein kuscheliges warmes Bett nicht verlassen. Mit geschlossenen Augen und eisernem Willen versuche ich, in meine Traumwelt zurückzukehren, in der ich am Strand sitze und zu den unzähligen Sternen hinaufstarre. Das Rauschen des Meeres, nicht weit von mir, wirkt beruhigend und auffordernd zugleich.
Ich muss nicht pullern, ich muss nicht pullern!
Das versucht mein Traum-Ich meinem realen Ich mental zu suggerieren. Ich bleibe standhaft.
Plötzlich türmt sich vor mir eine Welle auf und spült etwas an den Strand. Neugierig laufe ich im Krebsgang zu dem Gegenstand hinunter. Warum normales Gehen in diesem Traum keine Option ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Das Ding im feuchten Sand sieht aus wie eine große dunkle Kiste und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als alter Röhrenfernseher. Prompt flackert er auf, als ich ihn berühre.
Keine Ahnung, woher er seinen Strom bezieht.
Gespannt beobachte ich den Bildschirm und erkenne einen Ausschnitt aus meiner Lieblingsserie »Dornen im Wind« mit niemand Geringerem als Tom Hardt, dem heißesten Schauspieler der nördlichen Hemisphäre. Ich kenne die Folge, kann sie sogar mitsprechen. Plötzlich dreht er sich um, unsere Blicke kreuzen sich. Seine Lippen bewegen sich synchron zu meinen. Doch dann:
»Da bist du ja.«
Verwirrt starre ich ihn an.
Mit einem seligen Lächeln läuft er auf mich zu, bis er von innen gegen den Bildschirm knallt. Benommen hält er sich den Kopf, während ich mir das Lachen verkneifen muss.
Er lässt sich von diesem Hindernis nicht aufhalten und schlägt das Glas mit seinem blanken Ellenbogen ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Mir tut allein vom Zusehen der Arm weh, und ich überlege, welches Lied der Musikantenknochen wohl zum Besten geben würde.
Mühsam zwängt sich Tom mit dem Oberkörper voran durch die Röhre, dann steht er in seiner ganzen Pracht vor mir. Eine Ausgeburt grenzenloser Attraktivität, die mich auf eine bezaubernde Art und Weise sabbern lässt – nicht wie eine Gestörte. Tom Hardts grüne Augen durchdringen mein Innerstes und jagen mir einen wohligen Schauer durch den Körper. Wenn er mich jetzt berührt, zerspringe ich vor Verzückung. Sein Gesicht kommt meinem immer näher. Ich spüre ein prickelndes Knistern zwischen uns. Gleich werden sich unsere Lippen treffen. Mein Herz vibriert vor Erwartung. Ich schließe die Augen, öffne leicht den Mund und …
Ssst, ssst.
Irritiert sehe ich mich um.
Etwas raschelt neben mir, und im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ein Toaster stürzt aus dem Gebüsch auf mich zu. Er hat riesige Kulleraugen, die in mir sofort den Beschützerinstinkt wecken. Ich möchte ihn in den Arm nehmen und knuddeln. Er grinst mich breit an, denn außer tadellos funktionierenden Augen besitzt er ebenfalls einen Mund.
Mit zartem, hohem Stimmchen schreit er mir entgegen: »Toaster, Toaster.«
Ich freue mich über diese präzise Selbsteinschätzung und möchte etwas erwidern, als …
Ssst, ssst.
Verdammt, das darf doch wohl nicht wahr sein.
Mein rechtes Auge öffnet sich in Zeitlupe. Es ist dunkel und ich liege auf der Seite. Unkoordiniert taste ich nach meinem Smartphone. Es gleitet mir aus der Hand. Ich versuche es erneut, hebe schwerfällig den Kopf und blinzle auf das Display, das mich vor lauter Helligkeit fast erblinden lässt.
ES IST 4:42 UHR. GEHT’S NOCH???
Mein Kopf knallt ungebremst zurück auf das Kissen. Jammernd verfluche ich die Welt und entschließe mich, diese unerhörte Störung zu ignorieren.
Es ist still.
Die Katze liegt eingerollt an meinen Hintern gekuschelt und schläft. Ab und zu höre ich sie atmen. Ich schließe die Augen und versuche, wieder an den Traum anzuknüpfen, kurz vor dem Kuss, aber es gelingt mir nicht. Meine volle Blase und die eingehenden Nachrichten halten mich davon ab. Mühsam quäle ich mich mit dem Smartphone aus dem Bett. Kitty mauzt mich vorwurfsvoll an. Mit halbgeschlossenen Augen tappe ich durch das Schlafzimmer. Das Handy leuchtet mir den Weg. Ich sehe nach, wer zu dieser Zeit der Meinung ist, mir seine Lebensgeschichte offenbaren zu müssen. Es ist mein Mobilfunkanbieter. Ich könnte im Strahl brechen. Haben die nichts Besseres zu tun, als mich um diese unatheistische Uhrzeit mit Werbung vollzuspamen? Die Ader an meiner Schläfe pocht verdächtig, und ich schnaufe schwer angesichts so viel geballter Unverschämtheit. Der Gang zum Badezimmer kommt mir entsetzlich weit vor. Aber es muss sein, wenn ich keine Pfütze in der Wohnung haben möchte.
Im Wohnzimmer nehme ich eine dezente Veränderung wahr. Irgendetwas ist merkwürdig. Neugierig sehe ich in die Richtung, die mich in meiner peripheren Wahrnehmung irritiert. Erschrocken weiten sich meine Augen und fallen fast aus den Höhlen.
Da ist jemand.
Mein Herz gerät außer Kontrolle und überschlägt sich beinahe. Mitten im Raum, sanft erleuchtet vom Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster, steht ein Mann. Ein riesiger Mann, gehüllt in einen dunklen Mantel. Reglos steht er da.
»Wer sind Sie?«, will ich wissen, trotzdem ich starr vor Angst bin.
Keine Reaktion.
»Hey, wie sind Sie hier reingekommen?«, versuche ich es erneut, kann meiner Stimme aber nicht das Zittern nehmen.
Sein Kopf schnellt ruckartig in meine Richtung. Der eisige Blick aus seinen fast schwarzen Augen durchbohrt mich förmlich. Mit einem Satz bin ich wieder im Schlafzimmer, versperre die Tür von innen und zerre panisch die Kommode davor. Ich zittere am ganzen Körper, mein Puls rast wie nach einem Marathon, und ich halte mir die Hand vor den Mund, um den Schrei in meiner Kehle zurückzudrängen.
Wer zum Teufel ist das? Wie ist der hier reingekommen und was will er von mir?
Ich sehe mich um und suche mein Smartphone. Es ist weg. Hektisch durchwühle ich das Bett, aber es bleibt unauffindbar. Kitty sitzt währenddessen am Fenster und leckt sich in aller Ruhe die Pfötchen. Ist ihr die Dramatik der Lage nicht bewusst? Sollten Tiere nicht instinktiv spüren, wenn etwas nicht stimmt?
Als ich mir die Haare aus dem Gesicht streichen will, entdecke ich mein Telefon: Es liegt auf der Kommode. Ich muss es dort abgelegt haben, als ich sie zum Schutz mühsam vor die Tür gezogen habe. Ungeschickt versuche ich, die Entsperr-PIN einzugeben, doch meine Finger-Augen-Koordination lässt mich kläglich im Stich. Beim dritten Mal habe ich es endlich geschafft. Der Schweiß steht mir auf der Stirn und droht in zarten Rinnsalen hinunterzufließen. Ich laufe gehetzt auf und ab, während ich die Notrufnummer der Polizei eintippe. Angespannt warte ich auf ein Zeichen. Nichts passiert. Ich blicke auf das Display. Meine Unfähigkeit lässt mich aufstöhnen, es endet in einem undefinierbaren Quieken. Panisch tippe ich auf den grünen Hörer und vernehme das Tuten.
»Notruf der Polizei. Was kann ich für Sie tun?«
3. P-013
Höchstens acht Quadratmeter misst der Raum, in dem ich mich befinde. Kein Fenster nach draußen. Keine Bilder, keine Farbe. Nur die fleckige Matratze auf dem Boden und die Essensreste auf dem Tablett neben der Tür.
»Die karge Ausstattung ist zu Ihrem Schutz«, hat mir der Mann gesagt, mit dem ich vorher nur über das Telefon kommuniziert hatte. Auch wenn es mir merkwürdig vorkam, habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich brauchte das Geld.
Er ist spät dran. Nervös kratze ich mir über den Dreitagebart. Die Wanduhr, die hinter einem Drahtgeflecht laut vor sich hin tickt, bestätigt meine Vermutung. Vor einer halben Stunde hätte unser Gespräch anfangen sollen. Vielleicht ist etwas dazwischengekommen? Das kann vorkommen. Dennoch macht sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. Ich schiebe es beiseite und schaue aus dem kleinen Fenster, das in die Tür eingelassen ist. Der Flur ist dunkel. Auf der gegenüberliegenden Seite sehe ich zwei weitere Türen wie diese. Dahinter brennt Licht, wie bei mir. Zwei Augen starren mich aus einem der Fenster an. Dann ragt eine Hand, die sich zum Gruß erhebt, empor. Ich winke zurück. Die Person scheint Mühe zu haben, hinauszugucken, denn ich sehe sie immer nur für einen kurzen Moment, dann verschwindet sie wieder. Vermutlich steht sie auf Zehenspitzen und muss die Waden entlasten, denn nach einigen Sekunden taucht sie erneut auf. Auf den ersten Blick tippe ich auf eine Frau. Die Augen sind schwarz umrandet und das, was ich sehe, wirkt eher feminin. Ich wende mich ab und setze mich auf die Matratze. Bevor ich darin versinke, geht ein Ziehen durch meine rechte Seite. Sie ist zu weich, um gut schlafen zu können, zumindest für mich. Aber vielleicht ist auch das »nur zu meinem Schutz«. Ich stoße ein lautes Schnauben aus. Als sich meine Nasenflügel bewegen, schießt ein stechender Schmerz durch meinen Kopf, und eine Erinnerung setzt ein.
»So läuft das, mein Freund. Wer nicht zahlen kann, wird zum Sandsack.« Der Schläger beugt sich zu mir hinunter. Das aufdringliche Aftershave, das ihn umgibt, attackiert meine Sinne. Ich huste dagegen an. Er packt mich am Kragen. »Du hast zwei Wochen. Danach gehört dein Arsch für immer mir.« Seine raue Stimme dringt tief in mein Bewusstsein, auch wenn ich das Gefühl habe, neben mir zu stehen. Er zeigt mir ein breites Grinsen, das einen Goldzahn offenbart. Das reflektierende Licht zieht mich für einige Sekunden in seinen Bann. Dann lässt er los und mein kraftloser Oberkörper sackt zu Boden. Als er aufsteht, tritt er noch einmal zu. Dann geht er und lässt mich in meinem Blut liegend auf dem nassen Asphalt zurück, und ich verfluche den Tag, an dem ich zum ersten Mal in dieses verdammte Wettbüro gegangen bin.
Ich starre an die Decke des winzigen Raumes. In einigen Tagen muss ich das Geld liefern. Einen Teil habe ich schon zusammen. Den zweiten bekomme ich nach Abschluss der Studie. Beim Gedanken an den Schläger stößt es mir kalt auf. Die Aufregung, die mich packt, ist riesig. Ich stehe auf und spüre sofort wieder den Schmerz in den Rippen. Kurz halte ich inne und versuche, mir durch langsames tiefes Atmen Linderung zu verschaffen. Es funktioniert nicht. Ich presse vorsichtig meinen rechten Arm gegen die Seite und begebe mich in eine Art erholsame Schonhaltung. Angespannt gehe ich vor der Tür auf und ab. Meine Nase fängt an zu laufen. Als ich mit dem Ärmel darüber wische, sehe ich rot.
4. Lexie
»Hier ist niemand, Frau Kerner. Wir haben alles abgesucht«, erklärt der Polizist. Ich glaube ihm, aber die Furcht bleibt.
»Sollen wir jemanden für Sie anrufen, damit Sie nicht allein bleiben?«, fragt er besorgt.
Ich schüttle den Kopf.
Nachdem sich die beiden Polizisten verabschiedet haben, schließe ich mich ein. Erst in der Wohnung und dann im Bad. Erschöpft lasse ich mich gegen die Wand sinken, schluchze tief und fange an zu weinen. Kitty schlängelt sich durch die Katzenklappe und sieht mich an. »Miau«, mauzt sie und drängt ihren Kopf gegen meine Hand, damit ich sie streichle. Ich setze sie mir auf den Schoß und vergrabe mein Gesicht in ihrem weichen dunklen Fell. Sie lässt es zu. Ihr gleichmäßiges Schnurren beruhigt mich ein wenig. In meiner Brust breitet sich eine gähnende Leere aus, die schmerzt und sich langsam mit Verzweiflung füllt. Eine düstere Schwere erfasst meinen Körper, bis ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Dann gleite ich in einen traumlosen Schlaf.
Ein paar Stunden später wache ich mit schmerzendem Nacken auf. Ich liege auf dem Badvorleger, verwirrt darüber, warum. Dass ich mir gestern Abend einen Pflaumenwein auf nüchternem Magen gegönnt habe, kann mich doch nicht so derbe ausgeknockt haben. Kopfschmerzen oder andere katerähnliche Symptome sind zumindest nicht spürbar. Ich erinnere mich an einen seltsamen Traum von einem gruseligen Typen, der in meiner Wohnung stand. Oder war es gar keiner? Ich schüttle die Erinnerung daran ab, verdränge sie in die hinterste Ecke meines Verstandes und gehe auf die Toilette.
Ich starte den Tag wie üblich. Als Erstes setze ich meine Gute-Laune-Playlist in Gang, um die nächtlichen Dämonen zu vertreiben und auf Touren zu kommen. Es funktioniert. Gemeinsam mit meiner guten Freundin Pink tanze ich ausgelassen durch die Wohnung. Es gibt kein besseres Work-out. Danach dusche ich mit Justin. Timberlake, nicht Bieber, versteht sich. Als ich frisch wie der Frühling duftend aus dem Bad komme, entdecke ich zwei Nachrichten auf meinem Smartphone.
Didi: Hey Süße, du musst mal für mich einspringen, ich kann heut nicht.
Didi: Ich weiß, es ist kurzfristig, aber es ist wirklich wichtig! Bitte!!! :*
Ich bezweifle die Notwendigkeit ihrer Bitte. Garantiert ist es so wichtig wie damals, als sie lieber an den See gefahren ist, anstatt zu arbeiten. Oder als sie einen neuen Kerl kennengelernt hat und lieber Zeit mit ihm verbringen wollte. Ich wäge das Für und Wider dieser Nachricht ab. Einerseits habe ich keine Lust, denn ich hatte gestern die Spätschicht. Mein Kopf fühlt sich träge an. Andererseits bedeutet es mehr Kohle für mich, wenn ich für sie übernehme. Das Extrageld könnte ohne Umschweife in meine Urlaubskasse fließen. Noch ein wenig unmotiviert antworte ich ihr.
Ich: Geht klar!
Ich: Du schuldest mir was!
Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich beeilen sollte, damit ich nicht den Bus verpasse und zu spät zu Didis Schicht komme. Es ist mir ein Rätsel, warum sie sich immer für den frühen Freitagsdienst einträgt, denn bis auf wenige Ausnahmen lässt sie sich an diesem Tag regelmäßig vertreten. Ich gehe wieder ins Bad, um mich für die Außenwelt herzurichten. Die Ringe unter den Augen, ein Vermächtnis der beschissenen Nacht, wecken in mir das Bedürfnis, mir die Haut vom Gesicht zu reißen. Zum Glück gibt es Make-up, um die Sache halbwegs in den Griff zu bekommen. In einem stillen Stoßgebet danke ich all den Kosmetikkonzernen, die es möglich machen, dass ich mich gleich wieder wie ein normaler Mensch fühle. Mein Dank gilt jedoch nur den Konzernen, die keine Tiere für ihre Testzwecke missbrauchen.
Man stelle sich mal vor, die Vierbeiner würden das mit uns machen:
In einem kleinen Labor, am Rande der Stadt. Edelstahl dominiert den Raum und lässt alles steril erscheinen.
Nackt liege ich auf einer kalten Bahre, die unangenehm gegen mein Steißbein drückt. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, denn ich bin gefesselt. Nur den Kopf kann ich heben und senken, aber was nützt das? Neben mir raschelt Papier. Eine affenähnliche Gestalt beugt sich über mich. Auf dem Schild an seinem weißen Kittel steht: Dr. Jim Panse. Jegliche Denkprozesse in meinem Hirn setzen aus, und ein unmenschlicher Schrei löst sich aus meiner Kehle.
»Lassen Sie mich gehen«, keife ich ihn an, sodass sich ein paar Speichelspritzer in sein Gesicht verirren. Dieser Forderung verleihe ich Nachdruck, indem ich an den Fesseln zerre, bis mir fast schwarz vor Augen wird. Übel riechender Schweiß rinnt mir aus jeder Pore.
Angst.
»Na, na, ganz ruhig, Kleines. Nur ein Spritzerchen, dann haben wir es geschafft.«
Ein Spritzerchen? Was genau meint er damit? Das beruhigt mich nicht ein Stück. Vielmehr sorgt es dafür, dass meine Panik anschwillt. Wie konnte ich nur in so eine absurde Situation geraten? Verzweiflung macht sich in mir breit, als die Hoffnung dahinschwindet, dass das hier nur ein böser Traum ist. Hektisch sehe ich mich um, suche einen Ausweg aus dieser Lage und finde keinen. Tränen bahnen sich einen Weg nach draußen und fluten meine Wangen.
Nachdem Dr. Jim diverse Vitalwerte meinerseits überprüft hat, veranlasst er die Assistentin, ein dickärschiges Nilpferd, meine Augenlider mit einer Art Tesafilm nach hinten zu kleben, damit jegliches Blinzeln unmöglich wird. Was haben die mit mir vor? Ich fühle mich schutzlos ausgeliefert und gerate in Panik, als ich die Augen nicht mehr schließen kann. Dann scheint der Doktor bereit zu sein. In der Hand hält er eine Ampulle mit einer durchsichtigen Flüssigkeit und beugt sich über mich. Sein muffiger Körpergeruch steigt mir in die Nase. Während ich mich vergeblich wehre, tröpfelt er mir das Zeug ins rechte Auge. Es brennt höllisch, und ich schreie schmerzerfüllt auf. So laut, dass sich Schwester Nilpferd die empfindlichen Ohren zuhalten muss. Dr. Jim reagiert nur mit einem dezenten Gähnen, während die Tropfen meine Hornhaut verätzen. Schweiß steht mir auf der Stirn. Verkrampft spannen sich meine Muskeln an. Der Blick auf der rechten Seite wird allmählich trübe, bis ich nichts mehr sehen kann. Ich winde mich heftig, der Gedanke an Flucht wird übermächtig. Meine Augen tränen unkontrolliert und ich versuche vergeblich, mich von den Fesseln zu lösen. Angst und ein unbändiger Überlebenswille durchströmen meinen ganzen Körper. Er lässt mich vor Wut schreien und zittern. Dr. Jim packt unsanft mein Gesicht mit einer Hand. Zu beschäftigt damit, in mein lädiertes Auge zu schauen, lockert er den Griff um meinen Kiefer, und ich nutze die Chance um kraftvoll zuzubeißen.
Ein ohrenbetäubender Schrei ertönt.
Blut spritzt.
Schwester Nilpferd kommt panisch angerannt und zerrt den Chef aus meinem Beißbereich. Worte wie »Säubern« und »Tetanus« dringen an mein Ohr. Das Blut des Doktors läuft mir übers Kinn.
Und das alles nur, weil eine Straußendame unbedingt eine neue Wimperntusche benötigt, die ihre ohnehin schon langen Wimpern länger machen soll.
Die Welt ist doch gestört!
Lachend schüttle ich den Kopf.
Da sich die Zeit plötzlich in Luft aufgelöst hat, entfällt das Frühstück, und ich krame aus dem Kühlschrank einen Auflauf, den ich in meine Tasche stopfe. Schuhe anziehen, Schlüssel greifen und schon stürze ich aus dem Haus in einen Tag voller Möglichkeiten und Herausforderungen.
5. Toni
Müde reibt sich Toni über das stoppelige Kinn. Endlich Feierabend. Während er die Wache verlässt, verabschiedet er sich von den Kollegen und läuft in Richtung Ausgang.
»Bis Montag«, brüllt Sascha, sein Partner, ihm hinterher.
Schnell hebt Toni die Hand zum Gruß und drängt sich durch die Tür, die sich langsam vor ihm schließt. Bloß weg hier, bevor ihm irgendjemand ein Gespräch aufdrängt. Heute erträgt er kein Gequatsche, er will allein sein. Unangenehm zieht sich sein Magen zusammen. Seit Stunden hat er nichts mehr gegessen. Bauchreibend steigt er in sein Auto, kann sich aber nicht entschließen loszufahren.
Wieso muss er ausgerechnet an diesem Wochenende freibekommen? Hätte es nicht das nächste sein können? Vermutlich dachte der Chef, er würde ihm einen Gefallen tun. Dem ist nicht so, allerdings hatte er keine Lust, ihm das Warum näher zu erläutern. Also hat er geschwiegen, als der Dienstplan feststand.
Sein Blick huscht zu dem kleinen dunklen Fleck auf dem Beifahrersitz. Er zieht ihn in eine vergangene Zeit, die nicht mehr zu ändern ist. Nicht weit vom Hier und Jetzt, und doch fühlt sie sich so fern an, als wären Jahrzehnte verstrichen und nicht erst ein paar Monate. Nachdenklich reibt sich Toni über die Stirnfalte zwischen den Augenbrauen und stößt geräuschvoll die Luft aus.
Ein lauter Knall lässt ihn zusammenzucken. Sein Herz gerät außer Kontrolle und pumpt sich in Rage. Neben dem Auto steht Sascha, die flache Hand an der Scheibe, und grinst breit.
Toni dreht den Schlüssel im Zündschloss und lässt das Fenster auf der Fahrerseite hinunter. »Spinnst du?«
Sascha geht nicht darauf ein. »Hast du heute Abend Lust auf eine Runde Bowling oder Dart? Sandra lässt fragen.« Er rollt demonstrativ mit den Augen und grinst verschwörerisch.
»Danke, aber heute nicht. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen«, antwortet Toni wenig enthusiastisch, denn ihm ist klar, dass Saschas kleine Schwester auf ihn steht.
»Sicher?« Sascha zögert kurz und fixiert seinen Freund. »Okay, aber wenn du nicht allein sein willst, ich bin für dich da.«
»Ich weiß, danke. Aber das ist nicht nötig.« Er ringt sich ein Lächeln ab, hofft, dass es seinen Kumpel zufriedenstellt, und verabschiedet sich. Sascha entfernt sich nickend, während Toni den Motor startet und losfährt.
Aus den Lautsprechern fordert Dita Rantel: »Ich will nichts mehr hör’n, ich will nichts mehr seh’n …«
»Wem sagst du das?«, flüstert Toni und lacht bitter auf.
Dita rappt sich die Wut aus dem Bauch und lässt ihn mit einem leeren Gefühl im Herzen zurück. Es ist die Playlist seines Bruders, die ihn an eine heftige Diskussion erinnert, die sie einmal über diese »Musik« hatten:
»Müssen wir uns diesen Mist anhören?« Genervt sieht er zu Danilo.
»Was ist? Das ist das Leben. Er kotzt sich über das gesellschaftliche System aus. Der Song ist über 20 Jahre alt und hat nichts von seiner Aktualität verloren.« Danilo gestikuliert wild auf dem Beifahrersitz herum, während der Kaffee in seinem Becher bedrohlich an den Rand schwappt.
»Das mag ja sein, aber für mich klingt er wie ein unreflektierter Jugendlicher, der kurz vor einem Amoklauf steht.«
»Na, er hat genug von der ganzen Scheiße, die so abläuft. Und wenn sich nichts ändert, muss man seinen Unmut in die Welt brüllen, verstehst du?« Er zeigt zum Autoradio. »Man darf den Inhalt der Texte nicht zu wörtlich nehmen, aber die Wut und Frustration sind echt. Es ist wichtig, sich Luft zu verschaffen. Der Ärger muss raus, sonst passieren schlimme Dinge.« Er atmet tief durch. »Die Musik transportiert den Frust einer ganzen Generation. Denk mal darüber nach.« Damit lässt er sich wieder entspannt in seinen Sitz gleiten und wippt im Takt mit dem Kopf.
Mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung schüttelt Toni den Kopf. Sein kleiner Bruder war zwar in vielen Dingen etwas naiv und eher zurückhaltend, aber wenn es um Ungerechtigkeit ging, blühte er auf und ging dagegen an. Und den Treibstoff dafür holte er sich über die Musik.
Die Erinnerung schmerzt in der Brust.
Unmittelbar vor der Haustür parkt er den Wagen, starrt nochmals auf den leeren Beifahrersitz und atmet schwer aus. Jetzt sollte er erst einmal frühstücken und sich hinlegen. Der Nachtdienst hat ihn ordentlich geschlaucht.
6. Caro
Als Franks Wecker klingelt, tut sie, als würde sie schlafen. Caro spürt, wie er sich zu ihr hinüberbeugt. Seine Hand schlüpft unter die Decke und berührt sie an der Hüfte. Eine Gänsehaut überzieht ihren Körper, und sie zuckt zusammen. Früher hätte sie sich über so eine morgendliche Geste gefreut, heute stößt es ihr bitter auf.
»Mann, Caro, hab dich nicht so. Ich könnte ein bisschen Zuneigung vertragen«, säuselt er ihr ins Ohr.
Caro regt sich langsam und murmelt verschlafen: »Du, ich hab Kopfschmerzen, heute nicht.«
»Heute nicht? Willst du mich verarschen?« Wütend starrt er sie an. »Es wird Zeit, dass du mir mal wieder zeigst, wie sehr du mich liebst, meinst du nicht? Ich gebe dir so viel, aber du liegst mir ständig mit Kopfschmerzen in den Ohren, wenn ich mal ein bisschen ficken will.« Er setzt sich auf. »Wenn ich heute Abend nach Hause komme, will ich, dass du dir ein paar nette Dessous für mich anziehst. Und dann vögel ich dir deine Kopfschmerzen schon heraus.« Seine Stimme klingt bedrohlich. Dann erhebt er sich und schlurft ins Bad.
Caro atmet erleichtert auf. Für den Moment ist sie entkommen. Sie überprüft den Schlafmittelvorrat, den sie hinter dem Nachtschränkchen versteckt hat. Für heute reicht es.
Zum Glück ist er morgens sonst nicht sehr gesprächig. So weit es ihr möglich ist, versucht sie, sich von ihm fernzuhalten und legt ihre Arbeitszeiten so, dass sie erst später ins Büro fahren muss, um ihm nicht pausenlos ausgeliefert zu sein. Es ist erstaunlich, welche Umgehungsstrategien man im Laufe der Jahre entwickelt, um sich das Leben leichter zu machen. Früher war Caro unbeschwert und lebenslustig, ein kontaktfreudiger Mensch, der gern und viel lachte, aber diese Eigenschaften sind mit der Zeit wie eingefroren. Sie hat sie gegen Vorsicht und Zurückhaltung eingetauscht.
Ihre Gedanken wandern zu Youko. Sie haben sich an der Uni kennengelernt, als sie beide im gleichen Labor arbeiteten. Das war, bevor sich Caro für einen anderen Berufsweg entschieden hatte. Die schlechteste Entscheidung, die sie je hätte treffen können, dachte sie zumindest. Youko war so, wie Caro einmal war, die pure Lebensfreude. Sie genoss die Zeit mit ihr, die ihr wieder ein bisschen mehr Normalität bescherte und die negativen Momente in ihrem Leben für eine Weile ausblendete.
Mit einem lauten Knall fällt die Haustür ins Schloss. Caro steht auf und eilt zum Fenster. Hinter dem Schutz der Gardine beobachtet sie, wie Frank zu seinem Auto läuft und einsteigt. Als der Motor aufbrummt und der Wagen aus der Einfahrt rollt, atmet sie erleichtert auf. Sich voreilig in Sicherheit zu wähnen, diesen Fehler hat sie einmal gemacht und bitter bereut. Nachdem sie dachte, er wäre gegangen, hatte sie die Musik aufgedreht und war durch die Wohnung getanzt, als er plötzlich vor ihr stand. Es gab einen riesigen Krach darüber, wie »kindisch« sie sich verhielte. Sie war damals 22 Jahre alt und verstand die Welt nicht mehr.
»An meiner Seite hast du einwandfrei zu funktionieren und dich nicht wie ein Kind zu benehmen. Wenn ich mich nicht auf dich verlassen kann, muss ich jemand anderen mit der Leitung beauftragen.«
Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. Sie hatte bloß im Haus getanzt. Wen hätte das stören sollen? Wenn Frank nicht zurückgekommen wäre, hätte er es nicht einmal mitbekommen. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass er ihr wegen so einer Lappalie den Job wegnehmen könnte. Der Leitungsposten war ihre große Chance gewesen, sich zu beweisen und Erfahrungen zu sammeln. »Bitte, tu das nicht! Du kannst dich immer auf mich verlassen«, flehte sie ihn an. Eine solche Unterwürfigkeit war nicht ihre Art, aber in diesem Moment war ihre Zukunft in Gefahr. Sie hatte hart dafür gearbeitet, um auf dieser Position zu landen. Natürlich war es hilfreich, mit dem Chef liiert zu sein, aber eben nicht alles. Dass sich der Gewinn seit der Eröffnung verdoppelt hatte, war ihr Verdienst gewesen, nicht seiner. Er interessierte sich kaum für das Geschäft, hatte nur seine Boxkämpfe im Sinn, die er promotete.