Unheil des Schweigens - Kat van Arbour - E-Book
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Kat van Arbour

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Beschreibung

Erstmals erschienen 2019 unter dem Titel "VinDicta - Sein ist die Rache". Ein unfreiwilliger Auftragskiller, der eine Ledertasche mit ungewöhnlichem Inhalt mit sich herumschleppt. Ein kurioser Fremder. Ein verschwundener Junge. Und Giselle, die auf ihrer Heimreise ein Buch findet, das all ihre Geheimnisse birgt, an die sie nie wieder denken wollte. Jemand spielt ein gefährliches Spiel.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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SP

 

 

Zum Buch:

Davi ist ein unauffälliger, ruhiger Zeitgenosse, aber er hat in seinem Leben unzählige schlechte Entscheidungen getroffen, die ihn an den Stadtrand von Hamburg geführt haben. Nun sitzt er im Auto und wartet darauf, einen Auftrag zu erledigen, den er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Aber er muss es tun: Vin zwingt ihn dazu.

 

Giselle sitzt auf ihrer Heimreise in einem Zug und liest ein Buch, das sie auf dem Bahnhof gefunden hat. Anstelle eines Liebesromans wird sie jedoch mit dunklen Details ihrer Vergangenheit konfrontiert. Verzweiflung macht sich in ihr breit, denn das verdammte Buch weiß über ihr ganzes Leben Bescheid.

 

Was man verspricht, muss man auch halten, das weiß Joseph ganz genau, besonders wenn es mit einer furchtbaren Drohung einhergeht. Er war erst acht Jahre alt, als er das auf die harte Tour lernen musste und zum Schweigen verdammt wurde. Doch auch als Erwachsener ziehen sich Stille und Verdrängung durch sein Leben wie ein roter Faden. Aber kann das gut gehen?

Erstmals erschienen 2019 unter dem Titel:

»VinDicta – Sein ist die Rache«

 

Impressum

 

Überarbeitete Neuausgabe SP 2021

Erstmals erschienen 2019 unter dem Titel:

»VinDicta – Sein ist die Rache«

 

Copyright © Kat van Arbour

 

Covergestaltung: Katrin Laube

Lektorat: Nina Restemeier

 

Vertrieb über Tolino Media

 

Das Werk und das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

Kat van Arbour

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

 

E-Mail: [email protected]

 

www.katvanarbour.com

 

Kat van Arbour

 

 

Unheil

des

Schweigens

 

 

 

 

 

 

Roman

 

Prolog

 

Während er aus dem Fenster stürzte, war er sich sicher, dass er das Richtige tat. All die Chancen, die er im Leben vertan hatte, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er hätte viele Dinge verhindern und Gutes bewirken können, tat er aber nicht. Jedes Mal hatte ihn die Angst wie gelähmt, und die Hoffnung in seinem Inneren war groß genug, um zu glauben, dass alles von allein gut werden würde. Wie dumm er doch gewesen war.

Aber nicht heute! Heute definierte er sein Leben neu, auch wenn es mit dem Tod begann. Wenn er schon nicht fähig war, all die anderen zu retten, dann wenigstens sie.

 

1. Davi

 

Dunkelheit und Stille zierten die unauffällige Straße am Stadtrand von Hamburg. Die einzige Bewegung war die des frischen Windes, der an den Baumkronen zerrte. Am Straßenrand parkten vereinzelte Autos. In einem davon saß Davi und wartete.

Der Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach vier war. In knapp zwei Stunden würde die Sonne aufgehen. Das konzentrierte Warten strengte ihn an. Die Müdigkeit übermannte ihn, die beste Zeit schlafen zu gehen, aber das würde Vin nicht zulassen. Er gähnte und rieb sich mit den Handballen die Augen.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er daran dachte, wie Maria das tat und so ihre Wimperntusche komplett unter den Augen verteilte. Mit den dunklen Schatten sah sie aus wie ein Waschbär. Sobald er an Maria dachte, durchzog ihn eine wohlige Wärme, dass ihm das Herz aufging, aber nur für einen kurzen Moment, denn dann wurde ihm bewusst, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Er vermisste sie wahnsinnig. Das Wohlgefühl verschwand und hinterließ einen unangenehmen Kloß im Hals.

Ein entgegenkommendes Auto ließ ihn aufschrecken. Er drückte sich tief in den Sitz. Sein Puls raste, und er hoffte, dass niemand auf ihn aufmerksam werden würde. Als der Wagen vorbei war, atmete er laut aus und beruhigte sich langsam.

Entspann dich!

Er riss die Augen auf, um sich besser konzentrieren zu können. Das Auto hätte er viel früher bemerken müssen. Von seinem Platz aus war es ihm möglich, fast einen halben Kilometer der Straße einzusehen. Das war wichtig, wie ihm Vin vor zwei Wochen unmissverständlich eingetrichtert hatte. In seinem Kopf hallte das Gespräch mit ihm nach.

Er sah sich in Vins Wohnung. Sie war klein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet, doch jedes Gerät und Möbelstück war von hochwertiger Qualität. Davi fühlte sich fehl am Platz, irgendwie eingeschüchtert. Er hatte Angst etwas kaputtzumachen und bis an sein Lebensende für Vin arbeiten zu müssen. Und auch wenn er dessen Geschmack durchaus schätzte, war ihm alles andere an diesem Mann zuwider.

Davi befand sich gerade in der Küche, um sich vorsichtig einen Tee aufzugießen, als Vin plötzlich die unerträgliche Stille durchbrach. »Ich habe einen neuen Auftrag für dich!«

Davi zuckte innerlich zusammen.

»Es gibt da jemanden, der noch in seine Spur gewiesen werden muss, du verstehst, was ich meine?« Vin lachte laut auf.

Davi schloss die Augen und atmete kopfschüttelnd aus. »Ich möchte das nicht mehr.« Seine Hände zitterten unkontrolliert, sodass er die dampfende heiße Tasse vor sich abstellte.

»Das ist ganz ehrenhaft, dass du das nicht möchtest, aber was du möchtest, steht hier nicht zur Debatte, mein Lieber.« Seine Stimme wurde fester. »Du wirst tun, was ich von dir verlange, sonst wirst du Maria nie wiedersehen.«

Die Erinnerung an diese Worte schmerzten so sehr in der Brust, dass es ihn fast zerriss. Er rüttelte die Gedanken daran aus seinem Kopf, rieb sich angestrengt über Stirn und Augen und sah nachdenklich auf den Asphalt. Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen. Davi gähnte und ließ die Schultern kreisen, um die erdrückende Müdigkeit zu vertreiben. Doch sie blieb und legte sich schwer über seine Lider.

4:34 Uhr.

Er kramte in der Jackentasche herum und fischte sein Handy heraus, gab die vierstellige PIN ein, den Geburtstag seiner Frau, und tippte eine Nachricht.

»Hi Erik! Ich muss heute länger arbeiten. Mein Akku ist leer, darum schreibe ich nicht von meinem Handy. Bis dann, Kuss.«

Er zögerte, schrieb zu Ende und hielt beim Anblick des Senden-Buttons wiederholt inne. Seine Finger zitterten leicht. Mach schon!

Trotz der warnenden Aufregung, die sich in seinem Inneren breit machte, drückte er schließlich auf Senden. Es musste sein. Er hatte keine andere Wahl. Schwer atmend schloss er die Augen und lehnte für einen kurzen Moment den Kopf nach hinten. In was war er da nur hinein geraten?

Als er wieder aufsah, fühlte er sich nicht besser. Er blickte auf das Handy in seiner Hand und tippte darauf herum, bis sich die Bildergalerie öffnete. Es waren unzählige Fotos, die sich auf sechs Ordner verteilten. Die meisten zeigten Naturaufnahmen, Urlaubsbilder und Schnappschüsse von Maria, doch diese interessierten ihn im Moment nicht. Nach einer Ewigkeit des Herumscrollens hatte er schließlich gefunden, wonach er suchte.

Zwei helle blaue Augen starrten ihm entgegen. Zerzauste dünne Haarsträhnen lagen quer über der verschwitzten Stirn. Der Mund hinter dem Klebeband nur zu erahnen. Blut lief aus einer Wunde am Kopf. Flehend sah ihn der ältere Mann auf dem Bild an, und Davi schluckte schwer.

 

2. Sarah

 

Seit über acht Stunden stand Sarah am Black Jack Tisch und ließ elegant die Karten durch ihre Finger gleiten, als sie endlich das erlösende Schulterklopfen verspürte. Sie beendete den aktuellen Spielzug mit einem Unentschieden, denn der Spieler zu ihrer Rechten, der sich selbst »Der Zocker« nannte, wies die gleiche Anzahl an Punkten auf wie sie.

»Glück gehabt, Mädchen! Hättest du mir jetzt noch das Geld aus der Tasche gezogen, hätte ich dich übers Knie legen müssen«, lachte er süffisant und blies den Rauch seiner billigen Zigarre quer über den Tisch.

Sarah lächelte den in die Jahre gekommenen Sonnyboy freundlich an, auch wenn sich in ihrem Kopf sämtliche verbale Gegenattacken bildeten.

»Ich wünsche noch einen angenehmen Abend, Gentleman«, verabschiedete sie sich. Als sie die Toke Box mit ihrem Trinkgeld zusammen packte, warf ihr »Der Zocker« einen blauen Chip zu.

»Bis morgen, Schätzchen!«

»Vielen Dank! Bis morgen«, antwortete sie höflich, steckte den Zehn-Euro-Chip zu ihrem restlichen Trinkgeld und verließ immer noch lächelnd ihren Arbeitsplatz.

Als sie mit der Hilfe ihrer personalisierten Zugangskarte den Mitarbeiterraum betrat, schraubte sie mit einer dezenten Geste an ihrer Wange das eingefrorene Lächeln runter. Den halben Tag vor sich hinzugrinsen war nicht immer leicht. Als Kartendealer war sie den Launen der Spieler ausgesetzt. An beschissenen Tagen hagelte es üble Beschimpfungen, schleimige Anmachen oder Handgreiflichkeiten. Letzteres kam zum Glück nicht so häufig vor. Aber natürlich war nicht alles schlecht. Es gab auch viele gute Tage, zum Beispiel, wenn die Spieler am Tisch entspannt waren und sich nett unterhielten. Meistens geschah das, wenn sie gewannen. Dann geizten sie auch nicht so mit dem Trinkgeld. Noch nie war Verlieren so lukrativ gewesen.

Sarah ging zu Chantal, um ihre Chips zu tauschen.

»Moin. Wie war dein Tag?«, schnurrte ihre Kollegin ihr Kaugummi kauend entgegen.

»Ganz okay. Der Zocker war heute recht entspannt«, erzählte Sarah. Sie dehnte angestrengt ihren Nacken, bis es knackte.

»Dat hört sich nicht gut an. Du musst endlich mal zu einem Physiotherapeuten«, mahnte Chantal in ihrem unverwechselbaren nordischen Dialekt, während sie Sarah auszahlte.

»Ja, du hast recht. Ich mach das, wenn ich Urlaub habe«, versuchte sie sich aus dieser Unterhaltung zu winden, aber Chantal ließ nicht locker.

»Ich gebe dir morgen die Nummer von meinem, der ist echt spitze. Niemand hat mich so berührt wie er«, schwärmte sie, ohne sich der Mehrdeutigkeit bewusst zu sein. Sarah musste schmunzeln und nickte.

»Versprich mir, dass du ihn anrufst!«

»Okay.« Sarah rollte gespielt mit den Augen.

»Ich nehme dich beim Wort. Wenn du dat nicht tust, leg ich dich übers Knie«, drohte sie lachend.

»Da wärst du schon die Zweite heute«, erwiderte Sarah, mehr zu sich selbst, während sie sich zur Umkleide wendete. Im Laufen hob sie die Hand und wünschte Chantal einen guten Morgen.

Es war um diese frühe Morgenstunde recht frisch draußen, obwohl erst September war. Sarah kramte zwei dünne Handschuhe aus ihrer Jackentasche und schlenderte zu den Fahrradständern.

»Verdammte Scheiße!«

Jemand hatte sich an ihrem Fahrrad zu schaffen gemacht. Das Vorderrad fehlte. Na klasse. Ihre Füße schmerzten so unerträglich wie die Schultern, und sie wollte einfach nur schnell nach Hause. Am liebsten hätte sie sich jammernd auf den Boden geworfen, wollte heulen und schreien wie ein bockiges Kleinkind, aber selbst das erschien ihr heute zu anstrengend. Resigniert wägte sie im Kopf alle Möglichkeiten ab, die ihr blieben, und entschied sich dafür, zur Bahn zu laufen. Ein Taxi wäre zwar die entspanntere Lösung, aber dafür war sie zu geizig. Und so setzte sie sich mit einem tiefen Seufzer in Bewegung.

 

3. Hans

 

Auf dem Weg zum Auto lockerte Hans seine Krawatte. Er öffnete die Fahrertür und ein Schwall heiße Luft strömte ihm entgegen. Es war zwar erst Mai, aber die Sonne brannte schon seit drei Tagen wie im Hochsommer.

Achtlos warf er seine Aktentasche auf den Beifahrersitz, steckte den Autoschlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. Der Motor brummte auf und Hans ließ schnell alle Scheiben hinunter. Er saß noch keine zwei Sekunden im Auto und schwitzte schon so stark, als hätte er eine halbe Stunde intensives Hanteltraining absolviert. Dabei fiel ihm etwas ganz Wichtiges ein. Er stemmte sich mühsam aus dem Wagen, zog die Jacke aus und suchte in den Taschen nach seinem Handy. Als er es in den Händen hielt, überlegte er, ob er seine Frau anrufen oder ihr doch nur eine Nachricht schreiben sollte. Kurzerhand entschied er sich für eine SMS, dann musste er sich nicht auf eine lange Diskussion einlassen, falls sie wieder launisch war.

 

»Ich habe jetzt Feierabend. Gehe zum Training. Bis dann.«

 

Er drückte auf Senden. Überlegte kurz und verschickte zusätzlich ein:

 

»Ich denke an Dich!«

 

Das würde sie besänftigen, für alle Fälle.

Nachdem er das Handy in der Hosentasche verstaut hatte, ließ er sich auf den Fahrersitz plumpsen. Es war zwar noch immer sehr warm im Wageninneren, aber nicht mehr so unerträglich wie beim Öffnen. Hans schnallte sich an und manövrierte den silbernen Ford Mondeo mühelos in den fließenden Feierabendverkehr. Er fuhr nach Norden, in die entgegengesetzte Richtung des Fitnessstudios.

 

Hans parkte sein Auto bei den Ausläufern des Waldes am Stadtrand und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Während er den Waldweg entlanglief, sah er zu, wie sich die Sonne hinter den Büschen versteckte und langsam ihrem Untergang entgegenging. Der Himmel sah aus wie gemalt. Zwischen zwei verwachsenen Büschen, von denen einer voller vertrockneter Blätter war, verließ er den Pfad und bog rechts ab. Noch circa. 550 Meter, dann wäre er am Ziel. Vereinzelte Zweige peitschten ihm gegen Arme und Beine, während er sich durch das Dickicht fortbewegte. Hierher verirrte sich kaum jemand.

Schließlich stand er vor einer verwitterten alten Holzhütte. Vor Jahrzehnten war sie mit Sicherheit ein Schmuckstück gewesen, heute sah man ihr beim Verrotten zu.

Hans stieg die zwei kleinen Stufen hinauf und öffnete die Tür. Sie knarrte und schleifte beim Öffnen leicht über den Boden. Als er eintrat, wehte ihm die deutlich kühlere Luft im Inneren einen sandig-schimmeligen Geruch entgegen. Er sog ihn tief in sich auf, denn so roch die Freiheit. Hier in dieser Hütte hatte er das Sagen und konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Hier war er der König.

»Guten Abend Hans«, ertönte es aus der Ecke, die man von der Tür nicht einsehen konnte.

Erschrocken fuhr er herum und bewegte sich vorsichtig auf die fremde Stimme zu. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«

»Ich habe gelesen, solange ich gewartet habe.«

Es raschelte, und ein Mann erhob sich aus dem alten Ledersessel mit den zerschlissenen Armlehnen und trat vor. Er war etwa Mitte vierzig, schlank und hatte kurzes dunkelblondes Haar, das er trotz der geringen Länge präzise über dem rechten Auge gescheitelt trug. Der Bart war kurz und sah gepflegt aus. Sein Erscheinungsbild wirkte elegant, wie jemand, der sich um Geld keine Sorgen zu machen brauchte. Hans überlegte, doch er kannte ihn nicht.

»Wer sind Sie, verdammt noch mal, und wie sind Sie hier reingekommen?«, verlangte er zu wissen, die Ader auf seiner Stirn pulsierte.

Der Mann lief drei Schritte bis zum Wandregal und stellte das Buch »Taxidermie« zurück. »Interessante Lektüre haben Sie da«, bemerkte der Fremde, ohne auf eine von Hans’ Fragen zu reagieren. Dieser wurde immer wütender.

»Was willst du von mir, du Penner?«

»Na na, vergessen Sie nicht Ihre guten Manieren!«, lachte der Fremde. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Verschwinde, sonst mach ich dir Beine, Arschloch«, drohte Hans und ballte langsam die Fäuste, während der Fremde seelenruhig mit den Fingern über die einzelnen Buchrücken strich. Hans platzte fast vor Wut.

»Ich gehe, wenn Sie mir eine Frage beantworten können, mein Lieber«, sagte der Fremde und sah über die Schulter.

»Was soll der Mist? Verpiss dich!«, brüllte Hans mit zunehmend feuchter Aussprache. Er trat zwei Schritte auf ihn zu und hob den Arm, um dem Fremden eine zu verpassen.

»Nein? Gut, dann haben Sie ihr Schicksal besiegelt.« Mit diesen Worten wirbelte der Fremde herum. In der Hand hielt er eine von Hans’ massiven Messingbuchstützen und holte aus.

 

4. Davi

 

Davi rieb sich die Hände. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es kälter im Wagen. Seit einer halben Stunde geschah nichts, keine Menschenseele war zu sehen. Am liebsten hätte er die Heizung aufgedreht, doch dafür musste er den Motor anlassen und das wiederum hätte seine dringend benötigte Unauffälligkeit gefährdet. Maria hätte gesagt, er solle sich warm anziehen, dann müsse er auch nicht frieren. Sein Herz erwärmte sich bei diesem Gedanken, der Rest seines Körpers blieb kalt. Er schielte zur Ledertasche auf dem Beifahrersitz. Darin hatte er eine Thermoskanne mit heißem Kaffee verstaut. Für alle Fälle. Sie war allerdings nicht der einzige Inhalt der Tasche. Die Souvenirs, die darin lagen, jagten ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Allein schon beim Gedanken an den Rattenschädel schüttelte es ihn. Aber Vin bestand darauf, dass er die Tasche mitnahm. Wahrscheinlich, um ihn daran zu erinnern, dass schlimme Dinge passierten, wenn man sich seiner Verantwortung entzog. Es wirkte, aber seine frierenden Gliedmaßen sehnten sich nach Erlösung. Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch und sah sich wieder in der kahlen Wohnung stehen, mit dem Blick auf die Informationen, die ihm Vin hatte zukommen lassen und die er auf einem zerfledderten Notizblock mitgeschrieben hatte. Seine Schrift war kaum zu entziffern, da seine Hand unkontrolliert zitterte. Dennoch hatten sich Ort und Zeit unvergesslich in sein Hirn gebrannt.

 

Königswiesen, Neugraben-Fischbek

Sonntag, 18.9.

 

Das war jetzt, hier, heute.

Hab dich nicht so!

Der Gedanke an den bevorstehenden Auftrag ließ ihn noch mehr frösteln. Und so griff er schließlich mit nervösen Fingern den Henkel und zog sich die Tasche auf den Schoß. Auch wenn der Kaffee nichts gegen seine Angst tun konnte, erhoffte er sich ein wenig Linderung von der morgendlichen Kälte.

Als er das braune Leder in den Händen hielt, pochte sein Herz schneller. An den abgewetzten Stellen fühlte es sich rau an. Er kam ins Schwitzen. Ein puckernder Schmerz hinter den Augen setzte ein.

Es sind nur Dinge!

Schön und gut, aber diese Dinge sorgten dafür, dass sich ihm der Magen umdrehte und er sich einfach furchtbar fühlte. Nicht, dass er es nicht verdient hätte, sich elend zu fühlen. Er atmete noch einmal tief durch und löste mit zittrigen Fingern den Schnallenverschluss.

Augen zu und durch!

Als er gerade hineingreifen wollte, ließ ihn ein krächzendes Bellen hochschrecken. Davi ließ unvermittelt die Tasche los und fasste sich ans Herz. Schneller als er reagieren konnte, rutschte ihm die Ledertasche von den Beinen. Im letzten Moment bekam er den Riemen zu fassen und hoffte, dass nichts herausgefallen war. Starr saß er da, hielt den Atem an und beobachtete, wie eine ältere Dame mit ihrem Beagle vorüberlief. Oder eher kroch. Während sie sich auf ihren Stock stützte und gemächlich humpelte, blieb der Hund an jedem Grashalm stehen und schnüffelte ausgiebig. Sobald sie seinetwegen anhalten musste, schimpfte sie und zog an der Leine. Davi sah auf die Uhr. Dreiviertel fünf. Wieso war jemand in ihrem Alter um diese Zeit auf der Straße? Sollte sie nicht gemütlich in ihrem warmen Bett liegen und schlafen?

Der Hund wirkte alt, ähnlich wie sein Frauchen. Da war natürlich eine Inkontinenz beim Hund möglich. Er erinnerte sich an Rufus, den Hund seiner Tante, der zu Hause mit zunehmendem Alter in Windeln herumlief. Er schmunzelte, als er daran zurückdachte.

Was auch immer sie dazu bewegte, um diese Uhrzeit Gassi zu gehen, er war sehr froh, keinen Hund zu haben, was ihm so eine nächtliche Tortur ersparte.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit um die nächste Ecke bog, atmete Davi erleichtert auf. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben.

Den Kaffee brauchte er jetzt nicht mehr. Ihm stieg die Hitze bis in die Eingeweide. Vorsichtig zog er die Tasche zwischen den Beinen hoch. Es schien nichts herausgefallen zu sein. Wieder fiel eine Last von ihm ab. Er nahm die Tasche und verstaute sie im Fußraum des Beifahrersitzes, getreu dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn«, auch wenn zu diesem Zweck der Kofferraum sicherlich effektiver gewesen wäre. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte den herausschauenden Lederzipfel an. Hoffentlich hatte das wirklich alles bald ein Ende, so wie es ihm Vin versichert hatte. Aber konnte man einem Teufel wie ihm trauen?

 

5. Sarah

 

Laut Fahrplan sollte die Bahn in zehn Minuten kommen. Bei ihrem Glück hätte Sarah eher mit einer Dreiviertelstunde gerechnet. Sie stellte gähnend den Kragen ihrer Jacke auf, in der Hoffnung, er würde etwas gegen die Kühle des Morgens helfen. Aber das tat er nicht.

Sie schaute auf die Uhr und sah schon vor ihrem inneren Auge die Sonne aufgehen, wenn sie endlich zu Hause ankäme. Sie liebte Sonnenaufgänge. Wenn der Tag langsam erwachte und der Himmel in den tollsten Farben erstrahlte, bis er dem sanften Blau des Tages wich. Auch wenn sie diesem traumhaften Spektakel gern zusah, wollte sie heute nur schnell nach Hause und schlafen. Nachts zu arbeiten war anstrengend, hatte aber auch seine Vorteile. In der Nachtschicht verdiente sie fast das Doppelte an Trinkgeld als in der Tagesschicht, und als bekennende Nachteule kam ihr dieser Rhythmus sehr entgegen. Dagegen sprach, dass sie ihren Freund Erik immer nur kurz sah, denn er arbeitete, wie die meisten Menschen, tagsüber.

»Ntschuldigung, hast du mal ein bisschen Kleingeld?«, nuschelte ihr jemand ins Ohr. Erschrocken fuhr sie zusammen.

Neben ihr wankte eine abgewrackte Punkerin. Sie sah genauso aus, wie Sarah sich fühlte. Erledigt. Der Blick glasig, als wäre sie ganz woanders, die Haare zerzaust und fettig. Sarah schüttelte den Kopf. Der unangenehme Geruch von Schweiß, vermischt mit der Ausdünstung von Alkohol, wehte ihr in die Nase. Es stank fürchterlich. Ekel setzte ein. Sie verzog angewidert das Gesicht.

»Komm schon! Ich brauche was zu trinken«, giftete die Punklady sie an.

Wäre sie nicht so unhöflich und so stark alkoholisiert gewesen, hätte Sarah ihr gern etwas zum Essen oder Trinken spendiert. Hochprozentiges ausgeschlossen. Aber mit ihrem Ton bewirkte sie nur eins, Ablehnung.

»Blöde Schlampe«, brüllte sie in Sarahs Gesicht.

Sarah ballte daraufhin die Fäuste. Wut stieg in ihr auf. Sie hatte nicht das Bedürfnis, sich mit ihr anzulegen, aber es war ein Mechanismus, der ihr half, sich stärker und selbstbewusster zu fühlen. Und falls sie doch plötzlich handgreiflich werden würde, hätte sie wenigstens das Gefühl, schneller reagieren zu können. Die Punkerin war gerade im Begriff sich abzuwenden, als sie kurz innehielt. Ihr Blick veränderte sich. Der Zorn auf ihrem Gesicht wich einem gequälten Ausdruck. Die Wangen blähten sich plötzlich auf, und mit einem erstickten Rülpsen kotzte sie in hohem Bogen neben Sarahs Füße.

Sarah sprang ein paar Schritte zur Seite und hielt sich schnell die Armbeuge vor Nase und Mund. Wenn sie das Erbrochene von dieser unverschämten Tussi roch, würde sie sich auf der Stelle auch übergeben.

Auf ihren Schuhen glänzten ein paar feine Kotzespritzer. Der Ekel nahm zu. Natürlich hatte sie ihre Lieblingsboots an. Sie waren ausgelatscht und überhaupt nicht mehr schön anzusehen, aber Sarah liebte diese Schuhe und würde sie so lange tragen, bis sie ihr von den Füßen fielen. Jetzt waren sie markiert mit den widerlichen Verdauungssäften einer Punkerin. Konnte der Tag noch schlimmer werden?

Während sich ein Bahnmitarbeiter um das kotzende Problem kümmerte, fuhr endlich die Bahn ein. Sarah stieg schnell ein, ließ sich dankbar auf einen leeren Sitz plumpsen und verschnaufte. Leidig sah sie auf ihre Schuhe und verfluchte sich dafür, dass sie nie Taschentücher bei sich trug.

Den Kopf ans Fensterglas gelehnt, sah sie sich im Wagen um. Ein paar Reihen vor ihr saßen zwei junge Teenagerinnen und gackerten wie Hühner. Sie waren im Alter zwischen vierzehn und zweiundzwanzig. Wer war heutzutage schon in der Lage, das genau zu sagen, dank Make-up, Alkohol, Drogen und Zigaretten? Und selbst wenn sie minderjährig waren, hatten sie garantiert gefälschte Ausweise dabei.

Sarah dachte an ihre eigenen Jugendjahre zurück. Damals hatte sie sich einen Dreck um alles und jeden geschert. War sich selbst die Nächste und so geschickt darin, andere zu manipulieren, dass sie alles für sie taten. Sie stellte unscheinbare Mädchen, die gern ihre Freundin werden wollten, bloß, indem sie deren Geheimnisse ausplauderte. Mobbing konnte sie wie kein anderer. Sie war ein richtiges Miststück. Doch dann kam Ben.

Eines der Mädchen kreischte schrill auf. »Und diese hässliche Frisur«, sagte die Blondine im engen Minirock und der grauen Wildlederjacke. Sie wischte dabei auf ihrem Handy hin und her.

»Boah, und was ist denn mit dem verkehrt?«, quietschte die Rothaarige. Sie hielt eine Sektflasche in der Hand und nahm einen riesigen Schluck.

Und auf einmal fühlte Sarah sich zurückversetzt. An den Tag, als die launige, fiese Sarah in ihr, plötzlich verschwand. Sie erinnerte sich daran, dass Ben sie ins Kino eingeladen hatte.

Sie lernte ihn damals im Park kennen. Er sah superheiß aus und war im Gegensatz zu den anderen Jungs cool und unnahbar. Das reizte sie sehr. Er hatte es geschafft, ihr sonst so kaltes Herz zum Glühen zu bringen. Sie war noch nie vorher so verliebt gewesen. Zum ersten Mal hatte sie die sagenumwobenen Schmetterlinge im Bauch gespürt. Doch das wohlige Gefühl wurde schon bald überschattet. Sie hätte es ahnen müssen, denn alles war einfach zu perfekt. Aber sie war schwer verliebt, und die rosarote Brille trübte ihre Sicht.

Sobald sie an den einen Abend im Kino zurückdachte, fing sie an zu zittern, und eine unangenehme Kälte breitete sich in ihrem Magen aus, die ihr fast bis in den Hals kroch.

 

6. Hans

 

Langsam kam Hans zu sich. Sein Kopf fühlte sich an, als klemmte er in einem Schraubstock. Das war der Kater seines Lebens. Er stöhnte mühsam auf. Konnte sich kaum bewegen. Wollte die Augen öffnen, war aber zu benommen. Sein Kinn ruhte auf der Brust. Der Versuch, den Kopf zu heben, schmerzte und so sank er schwer wieder zurück. Sein Mund war staubtrocken. Als er sich mit der Zunge über die spröden Lippen leckte, schmeckte es metallisch.

Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er nicht besoffen war. Die Erinnerung kam zurück, wenn auch nur in brüchigen, kleinen Stückchen. Da war ein Kerl in seiner Hütte. Er kannte ihn nicht, wollte, dass er verschwand, aber das tat er nicht. Hans zwang sich aufzusehen. Versuchte den Schmerz wegzuatmen. Es fiel ihm schwer, aber das war egal. Er musste sich einen Überblick verschaffen. Verschwommen nahm er die Umgebung wahr. Ob er noch in seiner Hütte war? Er registrierte, dass er an einen Stuhl gefesselt war. Sein Bewegungsspielraum war winzig.

Jemand starrte ihn an. Er sah es im Augenwinkel.

»Was wollen Sie von mir?«, brachte er mühsam heraus.

Keine Reaktion.

»Warum tun Sie das?«

Wieder nichts.

Er versuchte, in die Richtung des Fremden zu sehen, was sofort mit einem stechenden Schmerz im Nacken belohnt wurde. Als er es endlich schaffte, entwich ihm ein Lachen, gefolgt von einer tiefen Traurigkeit. Es war nicht der Fremde, der ihn anstarrte, sondern Schrödinger, sein Hund. Die toten Augen des Schäferhundes ruhten auf seinen. Über ihm das Regal mit den präparierten Tierschädeln. Er war noch immer in seiner Hütte. Ein tröstliches Gefühl, jedoch kaum von Bedeutung angesichts seiner Lage.

Eine Tür knarrte. Erschrocken wandte er sich um, begleitet von Schmerz.

»Schön, dass Sie wieder bei sich sind«, rief ihm der Fremde zu, der von draußen hereinkam.

Hans zögerte und überlegte, wie er taktisch am besten vorgehen sollte. Ob er sich auf einen Plausch mit dem Fremden einlassen sollte? Oder wäre es klüger, still zu sein und abzuwarten, was geschehen würde? Fragen perlten scheinbar an dem Fremden ab wie Wasser von einem Lotosblatt. Einen Versuch war es wert, aber er schwieg vorerst.

Der Fremde stand neben Schrödinger, der auf einem Hocker neben dem Tisch saß, und streichelte ihm über den Kopf. Der Gesichtsausdruck des Hundes blieb unverändert, wie seit 4 Jahren, als er ihn eigenhändig ausgestopft hatte, um ihn bei sich zu behalten. Er war ein treuer Begleiter, sein bester Freund, und jetzt berührte dieser elende Fremde ihn. Das entfachte eine unkontrollierte Wut in ihm. In seiner Brust brodelte das Feuer.

»Lassen Sie das, verdammt! Was wollen Sie von mir?«, brach es ungehalten aus Hans heraus, während er mit seinem ganzen Körper an den Fesseln zerrte.

Der Fremde streichelte noch ein letztes Mal über das seidige Fell des Schäferhundes und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch. Er sah Hans an und musterte ihn. Dieses entspannte Verhalten zeigte Wirkung. Wenn Hans eins nicht hatte, dann war es Geduld. Das Atmen wurde zu einem wütenden Schnauben.

»Kennen Sie Ardi?«

Hans verzog verwirrt das Gesicht. Sank in die Tiefen seines Gedächtnisses und fand – nichts.

Er schüttelte den Kopf, vorsichtig, denn der Schmerz war noch immer da. »Wer soll das sein?«

Der Fremde sah lächelnd zu Boden, als hätte er diese Antwort erwartet.

»Ich kenne niemanden, der so heißt«, beteuerte Hans.

»Das ist bedauerlich«, antwortete der Fremde. Er fuhr sich mit dem Finger über die linke Schläfe und zuckte kurz zusammen. Eine Narbe versteckte sich hinter der Augenbraue. Hans versuchte, sich sämtliche Details seines Gegenübers einzuprägen, für den Fall, dass er hier lebend herauskam.

Der Fremde setzte sich gemächlich in Bewegung und lief gemütlich durch die alte Hütte. Sah sich um, begutachtete Hans’ Werkzeuge, die sorgsam auf dem Tisch ausgebreitet waren. Nahm einen Hammer in die Hand. Wog ihn in den Händen. Hans wurde flau im Magen. Was hatte der Spinner vor? Panisch sah er sich um, in der Hoffnung, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, aber es zeigte sich kein Lichtblick.

Der Fremde kam langsam auf ihn zu. Den Hammer noch immer in der Hand. Hans lief der Schweiß vom Gesicht ins Hemd, und ein unkontrollierbares Zittern setzte ein.

»Mann, was wollen Sie von mir? Ich kenne wirklich keinen Ardi! Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Das muss ein Missverständnis sein!«, beteuerte er wimmernd.

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Es ist weder eine Verwechslung noch ein Missverständnis, mein Lieber.« Langsam kam er auf ihn zu. Er schwang den Hammer, spielend wie der Schlagmann beim Baseball.

Hans zermarterte sich das Hirn, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum er in dieser misslichen Lage gefangen war.

»Ich werde Ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen«, verriet ihm der Mann endlich. Jedoch nicht in Form von Worten, wie es schien. Er holte mit der rechten Hand aus. Entsetzt sah Hans auf. Alles verlief wie in Zeitlupe. Nur noch wenige Zentimeter, und der Hammer würde mit seinem Knie kollidieren. Hans schloss die Augen und wünschte sich ganz weit weg.

 

7. Joseph

 

Klare, frische Luft zog durch das geöffnete Fenster ins Kinderzimmer. Draußen war es bereits dunkel und Joseph lag im Bett. Eingekuschelt in seine warme Decke und den alten Kuschelteddy an sein Herz gedrückt, mit dem schon seine Mutter in ihrer Kindheit gespielt hatte. Er war ganz zerschlissen und abgegriffen, aber er war ihm das liebste Spielzeug. Er holte tief Luft, wartete kurz und blies sie wieder aus. Wieso sah man manchmal den Atem? Fasziniert beobachtete er dieses physikalische Phänomen, bis seine Mutter schließlich ins Zimmer kam.

»Na, bist du bereit für den Sandmann?«, fragte sie und schloss eilig das Fenster.

Er nickte, als sie zu ihm sah.

»Bist du auch gut zugedeckt?«

Erneut nickte er.

»Ist alles in Ordnung, Schätzchen?«

Joseph schien ruhiger als sonst. Er nickte.

»Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?«, fragte sie und nahm schon das Gutenachtgeschichtenbuch vom Nachttisch, aus dem sie ihm allabendlich vorlas.

Er schüttelte den Kopf.

»Paul wird schon wieder auftauchen, mach dir bitte keine Sorgen.« Ihr war klar, dass dieser Satz leicht dahingesagt war, aber was blieb ihr anderes übrig?

Er zögerte unmerklich und nickte schließlich. Sie überlegte, ob sie etwas nachlegen sollte, entschied sich aber dagegen. Wenn Joseph etwas wüsste, würde er ihr das sagen, dessen war sie sich sicher. Sie wollte ihre Sorge nicht unnötig auf ihn projizieren und so beließ sie es dabei.

»Ok mein Schatz, dann wünsche ich dir die süßesten Träume, die du dir vorstellen kannst!«

Sie drückte ihn fest an sich, gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und streichelte über den alten Teddy, wie jeden Abend. An der Tür sah sie sich noch einmal um, schenkte ihm ein warmes Lächeln und huschte hinaus. Sie ließ sie einen Spalt breit auf, sodass das Flurlicht dezent ins Zimmer fiel.

»Gute Nacht«, flüsterte Joseph, sah zu seinem Kaninchen Bommel, das neben dem Bett in seinem Käfig saß und an einem Stück Obst knabberte. Dann fing er an zu weinen.

Ganz leise.

 

8. Sarah

 

Es war ein lauer Herbstabend und sie verspäteten sich etwas zur Vorstellung. Nein, nicht Sarah hatte zu lange gebraucht, Ben hielt sich ungewöhnlich lange im Bad auf. Als sie am Kino ankamen, war es schon dunkel im Saal und die Werbung lief bereits. Mit etwas Popcorn und kühlen Softgetränken schlichen sie zu ihren Plätzen. Gemütlich kuschelte sich Sarah an Ben, als ein kleiner Vorfilm anlief. Er hieß »Intervention« und war aufgebaut wie eine Dokumentation.

Die erste Szene setzte auf einer Party ein. Der Amateurfilmer lief zu den Partygästen und interviewte sie. Er fragte die Gäste, ob sie eine gewisse Sarah kannten und wollte wissen, was man von ihr hielt. Erst lächelten alle ganz nett in die Kamera, doch dann schlug die Stimmung schlagartig um und alle zogen bitterböse über diese Sarah her.

Sätze wie »Diese dreckige kleine Schlampe, die sich so unwiderstehlich vorkommt, mit dem ganzen Kilo Schminke im Gesicht« oder »Und die hässlichen Nuttenstiefel, in denen sie nicht mal richtig laufen kann«, ließen Sarah amüsiert auflachen. Ihre Namensvetterin war offensichtlich nicht besonders beliebt.

Plötzlich tauchte ein Gesicht auf, das ihr bekannt vorkam. Es war ein Mädchen namens Anna. Sie sah in die Kamera, den Blick voller Wut, und wetterte mit zornesrotem Gesicht los.

»Sarah? Dieses gemeine Biest. Sie hat meinem Freund erzählt, ich hätte Vaginalherpes und ist dann mit ihm in die Kiste gehüpft. Oh, ich hasse sie abgrundtief. Sie ist bösartig, gemein und liebt nur sich selbst. Karma fickt jeden, du Bitch, warte es ab!« Anna hob drohend den Finger in die Kamera.

Sarah wurde blass, als ihr klar wurde, dass Anna von ihr redete. Sie versank tiefer in ihrem Sitz.

»Was ist los?«, fragte Ben, dem nicht entging, dass sie sich plötzlich verkrampfte.

»Nichts«, presste sie heraus.

Als Nächstes erkannte sie einen Jungen, dessen Namen sie allerdings vergessen hatte.

»Sarah? Oh ja, die werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Sie hat meinen Bruder ausgenutzt und ihm das Herz gebrochen. Dieses Miststück ist echt das Allerletzte!«

Das nächste Opfer stand schon bereit. Susi.

»Sie wollte unbedingt mit mir shoppen gehen, weil sie angeblich meinen Stil so toll fand.

---ENDE DER LESEPROBE---