Geschwisterliebe - Stephan Hähnel - E-Book

Geschwisterliebe E-Book

Hähnel Stephan

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Beschreibung

Das Jahr 1970 steht politisch ganz im Zeichen der von Kanzler Willy Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik gegenüber der DDR. Unterdessen wird der Kriminaloberkommissar Otto Kappe in West-Berlin von seinem Vorgesetzten beauftragt, einen ungelösten Fall des Vorjahrs neu aufzurollen: Im September 1969 wurde in der Nähe der Blockhütte Nikolskoe im Ortsteil Wannsee die Leiche einer jungen Frau gefunden. Gerichtsmedizinische Untersuchungen haben ergeben, dass die Frau erschlagen worden war, doch Kappe und sein Assistent Hans-Gert Galgenberg haben weder die Identität der Toten noch die Hintergründe der Tat klären können. Kappe erkennt schnell, dass die Wiederaufnahme dieses Falls einen politischen Hintergrund hat. Der Verfassungsschutz vermutet einen Zusammenhang zwischen der ermordeten Frau und dem berüchtigten Fluchthelfer Wilfried von Thalmann – und daraus könnten sich Irritationen bei den politischen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der DDR-Führung über Erleichterungen beim Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin ergeben. Mürrisch machen sich Kappe und Galgenberg an erneute Nachforschungen, als plötzlich der Fotograf Volker Diedrich tot aufgefunden wird, der einen spektakulären Fluchtversuch aus Ost-Berlin dokumentiert hat. Kappe ahnt, dass der neue Mordfall mit dem alten in Verbindung steht, hat doch auch der tote Fotograf für Wilfried von Thalmann gearbeitet …

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Stephan Hähnel

Geschwisterliebe

Der 31. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Stephan Hähnel, 1961 in Berlin geboren, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Der «Meister des schwarzen Humors» ist Initiator des Berliner Krimimarathons und hat ihn vier Jahre lang geleitet. Er reüssierte zunächst mit kriminaler Kurzprosa und veröffentlichte dann im Jaron Verlag seine Kriminalromane um den eigenwilligen Ermittler Morgenstern (zuletzt «Verschwiegene Wasser», 2016).

Originalausgabe

1. Auflage 2018

© 2018 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-95552-041-0

Inhalt

Cover

Titel

Autor

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

Es geschah in Berlin …

EINS

Dienstag, 16. Juni 1970

DER FEINE HERR IM ANZUG spendierte dem heruntergekommenen Mann im Café Breslau die dritte Runde Molle mit Korn. Der Schluckspecht konnte sein Glück kaum fassen. Es war noch früh am Abend, und die Tische waren übersichtlich besetzt. Gegenüber, vor dem Rathaus Friedenau, stand ein Chor ältlicher Damen der Heilsarmee. Sie sangen mit brüchigen Stimmen kirchliche Lieder. Wenige Passanten blieben stehen. Die meisten hasteten nach Hause, um den Feierabend zu genießen. Andere interessierten sich mehr für die weltlichen Angebote rund um den Breslauer Platz und die Rheinstraße. Auf ein Zeichen hin füllte der Wirt die leeren Gläser mit Schultheiss Pilsener und öffnete eine neue Flasche Korn. Dem Inhaber der Kneipe war es gleichgültig, wer die Rechnung bezahlte. «Solange der Sesselfurza blecht, is mir dit recht», murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart und servierte dem ungleichen Paar am Ende des Tresens eine neue Runde. Normalerweise verwies er derart abgehalfterte Typen sofort aus der Kneipe. Wer von dem obdachlosen Pack meinte, diskutieren zu müssen, bekam schnell einen Satz warme Ohren.

«Schon ma wat von Seife jehört?», blaffte er den Mann mit dem eingefallenen Gesicht und dem beeindruckenden Trinkerzinken an, der gierig den Korn in sich hineinkippte und anschließend den letzten Tropfen im Schultheiss versenkte. Ohne eine Antwort zu erwarten, notierte der Wirt mit einem Bleistiftstummel zwei weitere Runden auf dem Deckel des Anzugträgers. Dann klemmte er sich den Stift hinters Ohr, begab sich ans andere Ende des Tresens und spülte Gläser. Ihn interessierte nicht, welchen Geschäften die beiden nachgingen. Der Mann mit dem eleganten Anzug war in den letzten Wochen häufig mit abgerissenen Typen im Café Breslau erschienen. Er hatte sie großzügig eingeladen und ihnen flüsternd etwas eingetrichtert. Reden konnte der Kerl wie ein Wasserfall. Schlimmer als die alten Truden vom Wohlfahrtskommando, dachte der Wirt. Er überlegte kurz, ob er das Fenster schließen sollte. «Du, Herr, stehst vor der Türe», stimmte der Frauenchor voller Inbrunst ein neues Lied an.

«Jäste wärn mir lieber», nuschelte der Wirt missmutig vor sich hin und schlurfte in die Küche, das Revier seiner Frau, um nach dem Rechten zu schauen.

«Das ist absolut sicher. Du gibst mir deinen Pass. Dafür zahle ich dir fünfhundert Mark, in bar auf die Hand», erklärte der Anzugträger mit gedämpfter Stimme seinem Gast, der ihn zweifelnd anstarrte.

«Und wat sag ick den Bullen?»

«Na, einer deiner Schnapsbrüder hat dir die Brieftasche geklaut. So was kommt doch ständig vor. Du erhältst einen neuen Ausweis. Das war’s. Leichter lässt sich Geld nicht verdienen.»

Der Mann, dessen Leben seit geraumer Zeit nicht mehr in geordneten Bahnen verlief, betrachtete gierig sein Bier und schüttelte nachdenklich den Kopf. «Ick weeß nich. Kommt mir unjesetzlich vor. Dit is doch illejal, oder? Da komm ick bestimmt in ’ne Bredullje. Abjesejen davon, kann ick mir ja nich vorstellen, dass eener im Osten die gleiche Visage hat wie icke.»

«Das lass meine Sorge sein!»

Enttäuscht schaute der Mann auf sein leeres Schnapsglas. Bedauernd trank er einen kräftigen Schluck Bier. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Du machst wat mit dem Bild, wa? Dit tauschste aus, oder?» Er zog seinen Pass aus der Innenseite des heruntergekommenen Jacketts und betrachtete das Foto. Da sah er noch gut aus, vier Jahre jünger und nicht so verhärmt wie jetzt. Sichtbar ratlos strich er mit dem Finger über die Hohlniete und ließ ihn anschließend über das Glas kreisen. «Een bisschen muss ick noch nachdenken!», sagte er fordernd. «So janz überzeucht bin ick noch nich, vastehste?» Erneut hob er das Bierglas, prostete einem imaginären Kumpan zu und kippte das Schultheiss in sich hinein.

Der Anzugträger holte ein zusammengerolltes Bündel Scheine aus der Hosentasche, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. «Wenn wir uns einig sind, steht die nächste Runde auch auf meinem Deckel.» Mit Nachdruck stellte er die Rolle mit den Fünfzigern zwischen sich und die leeren Gläser. «Sind wir uns einig?»

Der Mann mit dem beeindruckenden Trinkerzinken schaute nervös in den Schankraum, griff nach den Scheinen und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Niemand schien etwas mitbekommen zu haben. «Du bescheißt mir doch nich, oder?»

«Zähl nach!»

Einen Augenblick lang überlegte der verwahrloste Mann offenbar, ob er dem Vorschlag folgen sollte. Als aber einer der Gäste aus einem nicht ersichtlichen Grund loslachte, entschied er sich dagegen. Stattdessen schob er seinen Ausweis über den Tresen.

In diesem Moment kam der Wirt aus der Küche und leckte sich die Finger ab. Anscheinend war er zufrieden mit dem, was in der Küche für den Abend vorbereitet wurde. Auch wenn er den Eindruck machte, dass er sich dem ehernen Gesetz verpflichtet fühlte, niemals etwas zu sehen oder zu hören, was ihm Schwierigkeiten bereiten könnte – der vornehm gekleidete Mann spürte sehr wohl, dass der Wirt ihn argwöhnisch musterte.

«Noch mal das Gleiche und die Rechnung bitte!», rief er. Zufrieden mit dem Geschäft, ließ er den Blick über den sich zunehmend füllenden Gastraum schweifen. In einer Ecke entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Er ließ sich nicht anmerken, dass er darüber alles andere als glücklich war. Ein leichtes Nicken genügte als Begrüßung. In diesem Moment beschloss er, seinen Geschäften künftig in einer anderen Kneipe nachzugehen.

Am Abend legte er den Ausweis in einen Tresor, in dem schon vier weitere lagen. Die Investition lohnte sich. Auf dem Markt der Freiheit brachte jeder von ihnen mindestens fünftausend D-Mark ein. Wenn er es intelligent anstellte, noch mehr. Je schwieriger es wurde, die Mauer zu überwinden, desto stärker stiegen die Preise. Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaft war ein einträgliches Geschäft. Der Tresor war unauffällig in einem alten Werkzeugschrank untergebracht, auf dem das Wort Schmiermittel zu lesen war, eine Bezeichnung, die er in diesem Zusammenhang durchaus angemessen fand. Mehrere Geldbündel und weitere Dinge, die offiziell niemand besitzen durfte, stapelten sich neben den Pässen. Im unteren Tresorfach lag eine Akte, die er sorgfältig aufbewahrte und die er respektvoll Lebensversicherung nannte.

ZWEI

Donnerstag, 18. Juni 1970

ANGESTRENGT lauschte Kai Jürgens dem Prasseln des Regens. Kam es ihm bloß so vor, oder nahm das monotone Rauschen ab? Nur vereinzelt beleuchteten Blitze den Himmel. Er zählte die Sekunden, bis es donnerte. Besorgt hob er seinen Kopf. Es war stockdunkel, kein Mond war erkennbar. Seit einer halben Stunde entlud sich ein Gewitter, das sich tagsüber zusammengebraut hatte, im Süden Berlins. Langsam zog es in Richtung Potsdam. Seit Wochen verfolgte Jürgens den Wetterbericht. Dass in dieser Nacht ein Unwetter tobte, war ein Glücksfall. Er hatte innig gehofft, dass es regnen würde. Und auch wenn er von sich nicht behaupten konnte, ein gläubiger Mensch zu sein – er schaute gen Himmel und dankte Gott für sein Einsehen. Vorsichtig blickte er auf seine Uhr. Aber weder die Zeiger noch die kleinen Punkte, die für die Ziffern standen, leuchteten. Eine Sekunde überlegte Kai Jürgens, ob er die Leuchtkraft mit seiner Taschenlampe auffrischen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Viel zu gefährlich. Seit Stunden saß er im Grenzgebiet, um herauszufinden, wann die Posten ihre Runde machten. Sie mussten jeden Moment an ihm vorbeikommen. Alle dreißig Minuten schlurften zwei Grenzsoldaten über den festgetretenen Weg und prüften den Sandstreifen auf Fußspuren. Sonderlich ernst nahmen sie ihre Aufgabe nicht. Dennoch, jede Veränderung wäre ihnen vermutlich aufgefallen. Plötzlich hörte Jürgens leise Stimmen. Die Grenzstreife war näher als erwartet. Noch verstand Kai Jürgens nicht, worüber sich die Soldaten unterhielten. Er lauschte angespannt. Ein Geräusch ließ ihm schlagartig die Haare zu Berge stehen. Es war ein Hecheln, das Hecheln eines Hundes. Offensichtlich hatte es einen Wachwechsel gegeben, und die neuen Posten versahen ihren Dienst mit einem Grenzhund. Ängstlich drückte er sich noch tiefer ins Gebüsch.

«Haste schon von die Typen jehört, die in Schönefeld fliehen wollten und sich umjebracht haben?», fragte der kleinere der zwei Grenzer. Ob der Neuigkeit, die er erzählen konnte, schwang Stolz in seiner Stimme mit.

«Mensch, halt doch mal die Luft an! Deinetwegen kommen wir noch in Teufels Küche!», erwiderte der andere in tiefstem sächsischem Dialekt und konnte dabei eine gewisse Gereiztheit kaum unterdrücken. «Wann soll das denn gewesen sein?»

«Is schon een Weilchen her. Anfang März. Jescheiterte Flugzeugentführung. Een Pärchen wollte ’ne Antonow An-24 entführen, um innen Westen abzuhauen. Hat aber nicht jeklappt. Der Pilot is in Schönefeld jelandet, anjeblich wejen Spritmangels. Und da haben unsere Jungs schon uff dit asoziale Pack jewartet. Dummerweise haben sich die beeden aber ’ne Kugel inne Birne jejagt. Haben Schiss jekricht vor de Strenge der Staatsmacht.» Der Kerl lachte. «Dumm jelaufen, wa!»

«Das hast du aber nicht aus unseren Medien!»

«Nee, natürlich nich. RIAS.»

Beide schwiegen einen Augenblick.

«Solltest vorsichtiger sein, wem du was erzählst. Feind lauscht mit.»

«Biste von Horch und Guck? Du wirst mir doch nich melden, oder?»

Inzwischen waren die Grenzsoldaten auf gleicher Höhe mit Jürgens. Der Hund wurde unruhig. Ein Knurren, das zunehmend bedrohlicher klang, war deutlich zu vernehmen. Dann schlug der Schäferhund entschieden an. Die beiden Grenzer blieben schlagartig stehen, rissen ihre AK 47 von den Schultern und richteten die Waffen auf das Unterholz. Der Sachse suchte mit der Taschenlampe nach verräterischen Spuren. «Kommen Sie raus, oder wir lassen den Hund los!», brüllte er, als wäre er fündig geworden.

Kai Jürgens, der auf den Boden gepresst lag, zitterte. Konnten sie ihn sehen? War die Flucht gescheitert, kaum dass sie begonnen hatte?

«Letzte Warnung! Wir machen von der Schusswaffe Gebrauch!»

Das Klicken der durchgezogenen Kalaschnikow ließ das Blut in seinen Adern erstarren. Vorbei. Sie hatten ihn aufgespürt. Der Hund musste ihn gewittert haben. In dem Moment, in dem sich Kai Jürgens seinem Schicksal beugen wollte, brach kaum zehn Meter entfernt ein Wildschwein aus dem Gebüsch. Es starrte die Grenzer gleichgültig an und marschierte unbeeindruckt den Postenweg entlang. Weitere Schweine folgten. Sie nahmen ebenfalls keine Notiz von dem kläffenden Hund und den beiden Soldaten. Nur die Frischlinge beäugten die Grenzer und rannten der Rotte Augenblicke später aufgeregt hinterher.

«Timur und sein Trupp», meinte der Sachse und sicherte die Maschinenpistole. «Unsere posteneigenen Schweine. Sind meistens harmlos. Nur wenn die Viecher Junge haben, ist es besser, Abstand zu halten. Eine Bache kann sehr gefährlich werden. Das weiß ein Neuling wie du natürlich nicht.»

Noch immer spielte der Hund verrückt und bellte hinter den Schweinen her. Wütend zog der Grenzer an der Leine. Der Schäferhund jaulte vor Schreck auf. «Ich zieh dir eine über, wenn du nicht die Schnauze hältst. Bei Fuß, blöde Töle!»

Die Grenzer schlurften weiter. Der Hund lief, wie ihm geheißen, brav neben dem Hundeführer her. Ein letzter verstohlener Blick zu jenem Gebüsch, in dem Jürgens lag, und ein bedauerliches Winseln, dann verschwand er mit den Soldaten hinter der nächsten Kurve.

Einen Augenblick zwang sich Kai Jürgens noch zur Ruhe und lauschte auf den Regen, der wieder stärker zu werden schien. «Jetzt oder nie!», flüsterte er, steckte den rechten Arm durch die Sprossen der dreiteiligen Fensterputzleiter und schulterte sie. Um jedes Klappern zu verhindern, hatte er sie mit Filz beklebt. Schnell überquerte er den Postenweg. Seine Schuhe sanken tief in den losen Sand ein, bevor er den Zaun erreichte. Kein wirkliches Hindernis. Aber es folgten weitere, bis er vor der eigentlichen Mauer stand. Drei Meter war sie hoch. Zwischen den Pfosten waren die Betonplatten übereinandergereiht. Er würde sich quer daraufsetzen, ein Bein im Osten, das andere in der Freiheit, schnell die Leiter hochziehen und auf der westlichen Seite wieder hinunterklettern.

DREI

Freitag, 19. Juni 1970

ALS HANS-GERT GALGENBERG das Büro betrat, erkannte Kriminaloberkommissar Otto Kappe sofort, dass etwas vorgefallen sein musste. Mit den Jahren hatte er gelernt, am Gesichtsausdruck seines Kollegen abzulesen, ob dieser im nächsten Moment über private, berufliche oder politische Ungeheuerlichkeiten zu referieren gedachte. Das Thema Fußball-WM in Mexiko konnte er ausschließen. Deutschland blieb nach dem Jahrhundertspiel vor zwei Tagen gegen Italien und der ärgerlichen 4:3-Niederlage nach Verlängerung nur der Kampf um Platz drei. Gestern hatten sie ausgiebig über das Spiel diskutiert. Das war also eindeutig nicht der Grund für Galgenbergs heutige Erregtheit. Ein weiterer kurzer Blick genügte, und Kappe tippte auf private Neuigkeiten. Galgenberg schien übermüdet, er war rot vor Aufregung und voller Vorfreude, die neuesten Nachrichten zu verkünden.

«Dit gloobste nich! Weeßte, wat mir heute Nacht passiert is?»

Kappe schüttelte ahnungslos den Kopf, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und deutete mit beiden Händen an, dass er wissbegierig sei. Galgenberg liebte schon immer das Berlinerische, seit er aber dem Verein zur Erhaltung der Berliner Mundart beigetreten war, durfte Kappe regelmäßig dessen bühnenreifen Ausführungen lauschen.

«Stell dir vor, da träumste von de Adria – Strand, Sonne, knappe Bikinis, wohin de schaust –, und plötzlich macht dir deine Frau wach. Nachts um drei! Panik inne Stimme. Angeblich hätten wa Einbrecher im Haus. Ick dachte, ick krieg ’nen Herzkasper. Einbrecher! Bei uns in Steinstücken! Wenn es eenen sicheren Ort uff de Welt jibt, dann ja wohl die Insel vor de Insel. Wer solln da klauen? Rin kommste nich in die Exklave und raus ooch nich. Jedenfalls nich nachtens. Da passt der olle Ossi uff.»

Vor ein paar Jahren waren Hans-Gert Galgenberg und seine Frau Sabine nach Steinstücken gezogen, offiziell wegen der günstigen Immobilienpreise. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, dass Galgenberg wegen der stetig steigenden Arbeitsbelastung bei der Berliner Polizei versucht hatte, die Notbremse zu ziehen. Er glaubte, die exponierte Lage der West-Berliner Exklave in der Ostzone schütze ihn vor Fragen wie «Könntest du mal schnell vorbeikommen?» oder «Wäre es möglich, dass du kurzfristig für den Kollegen x oder y einspringst?». Doch er hatte sich getäuscht. Sein Chef Otto Kappe nahm auf derartige Befindlichkeiten keine Rücksicht. Nun lebte Galgenberg gut bewacht und abgeschirmt, zumindest vor unerwartetem Besuch, in der kaum einen Kilometer langen und dreihundert Meter breiten Exklave, die zum Ortsteil Wannsee zählte. Seitdem hatte er die beste aller Ausreden, wenn er zu spät zum Dienst erschien: «Die Grenzposten sind schuld. Kontrollieren mir immer janz jenau. Keene Ahnung, warum. Die wissen bestimmt, dass ick een treuer Staatsdiener bin.»

«Und was ist nun gewesen?», erkundigte sich Kappe und schaute prüfend auf die Uhr. «Und wenn es recht ist, bitte die Kurzfassung!»

Galgenberg verdrehte die Augen, setzte sich an seinen Schreibtisch, der gegenüber dem von Kappe stand, und lehnte seinen Oberkörper über die Arbeitsplatte. «Plötzlich hör ick ooch wat. Ick spring uff, greif mir dit Erstbeste, wat ick fassen kann, so een Unjetüm von Vase, wo Sabine im Spätsommer imma die Bumskeulen rinstellt, und schleich uffn Hof.» Galgenberg sprang wieder auf und unterstrich das Gesagte mit vollem Körpereinsatz. «Und tatsächlich, im Schuppen seh ick Licht. Ick, mutig wie ick bin, reiß die Tür uff, dit glasierte Steingutteil von irgend so een Designer einsatzbereit über meenem Kopp – und wat bejegnet mir da?»

Kappe, der Galgenbergs Vortrag amüsiert verfolgte, zuckte ahnungslos mit den Schultern und wollte schon zu raten beginnen.

«Otto, sag nischt! Kommste nie druff. Also, wie ick da so stehe in meinem jestreiften Pyjama, barfuß, da entdeck ick in meenem Schuppen een Fensterputzer im Tarnanzug. Een echter Republikflüchtling. Na, der hat sich vielleicht erschrocken! Hätt nich viel jefehlt, und der wär wieder zurück in Osten jemacht.»

«Ein Fensterputzer?»

«Een Flüchtling mit so eener Fensterputzleiter zum Zusammenschieben! Kräftiger junger Mann, noch janz grün hinter de Ohren, neunzehn Jahre, aber ziemlich clever. Dit Prachtstück von eener Leiter hat sich Gefreiter Jürgens, Kai Jürgens, so heißta nämlich, quasi vom Rückwärtigen Dienst der Nationalen Volksarmee ausjeborgt. Die brauchten so een Vehikel, um die Fenster eener alten MIG zu putzen. Dit is een Hobby von General von Trallala zu Sowieso. Dit Flugzeug steht uffn Granitsockel vor de Kommandantur. Wenn der Lametta-Heini meinte, die Fenster von dem Vogel sehen matt aus, dann wurde jeputzt. Im ersten Diensthalbjahr regelmäßig jeden Sonnabend. Und dafür brauchste so een Teil. Dit is Joldstaub im Osten. Die haben ja nischt. Und wat macht der Sprutz? Klaut dit jute Stück und nutzt den Urlaub bei de NVA dazu, dem Arbeiter- und Bauernparadies Tschüss zu sagen. Mann weg. Leiter ooch. Dit Jesicht von dem Oberoffizier hätte ick ma sehen wollen!»

Kappe kannte Galgenberg eine mittlere Ewigkeit, aber selten hatte er ihn so begeistert gesehen. Wenn es gegen den Osten und dessen Staatsführung ging, lief der Kriminalassistent regelmäßig zu Hochform auf. Und seit West-Berlin ein Eldorado für Bundeswehrverweigerer geworden war, sich zunehmend Hessisch, Schwäbisch, Bayerisch und andere unverständliche Dialekte in die Alltagssprache mischten, schien sein Kollege umso mehr von der Notwendigkeit überzeugt zu sein, die Berliner Mundart retten zu müssen. Kappe schaute seinen Kriminalassistenten amüsiert und erwartungsvoll an. Als dieser nicht weitersprach, tat er ihm den Gefallen und fragte neugierig: «Und was ist dann passiert?»

«Na, ick hab den erst mal einjekleidet. Ordentliche Hose, hellet Hemd und meine Lieblingslederjacke von Woolworth, die mir leider nich mehr passt. Du weeßt schon, die schnieke braune mit die geschwungenen hellen Linien uffn Rücken, wat wie een Adler aussieht. Dit Teil is zwar een bisschen abjelebt, aber immer noch eene echte Oogenweide. Kannst doch keenen inna Einstrich-Keinstrich-Uniform durchn Westsektor latschen lassen. Schnieke sieht der Junge jetz aus. Und dann hab ick die Amis ausm Bett jeklingelt und ihnen den Neubürger übergeben. Na, die haben Oogen jemacht! Montach is Wachwechsel. Da fliegen die Amis den bestimmt ooch mit aus.»

Fast wäre Kappe aufgestanden und hätte seinem Kollegen stolz die Hand geschüttelt, besann sich dann aber der wirklichen Probleme. Und davon gab es einige. «Kriminalrat Keunitz will uns sehen. In fünf Minuten. Keine Ahnung, was der will.»

Galgenberg verdrehte die Augen und seufzte theatralisch. «Wat? Der Chef persönlich? Otto, mich grault’s!»

«Mir grault’s, heißt das», verbesserte Kappe ihn. «Das ist der Akkudativ. Der echte Berliner verwendet immer ‹mir›, selbst wenn es richtig ist. Kollege, du musst noch viel lernen!»

«Es ist das erklärte Ziel unseres neuen Polizeipräsidenten, dass wieder Frieden herrscht in der Stadt. Hübners Linie scheint daher zu heißen: Die Polizei hat zwar nicht mit dem Einsatz von Gewalt begonnen, aber sie soll ihn beenden. Mit anderen Worten: Ab sofort ist Weichspülen angesagt.» Kriminalrat Friedhelm Keunitz konnte seine Abneigung gegen die Politik des neuen Polizeipräsidenten Klaus Hübner kaum verhehlen. «Schlimm genug, dass wir ständig mit diesen Chaoten zu tun haben, mit ihrem ‹Ami-Go-Home›- und ‹Ho-Ho-Ho-Chi-Minh›-Geschrei. Allein wegen der Straßenschlacht vor dem Amerikahaus in der Hardenbergstraße Anfang Mai haben wir immer noch diverse verletzte Polizisten zu beklagen. Verdammt, wir sind doch nicht die, die Krieg in Vietnam führen! Und dann noch die gewaltsame Befreiung von diesem Andreas Baader. Bin gespannt, was da noch auf uns zukommt.» Wütend schlug Keunitz auf ein Blatt namens Agit 883, ein anarchistisch-libertäres Periodikum aus der linken Szene, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Kopfschüttelnd deutete er auf einen Artikel: Die Rote Armee aufbauen!

Otto Kappe wusste zwar nicht genau, um was es ging, las aber ein paar Zeilen: Genossen von 883 – es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Allesbesserwissern zu erklären, sondern den potenziell revolutionären Teilen des Volkes.

Kappe kannte derartige Polemik aus anderen anarchistisch gefärbten Artikeln, die zuweilen bar jeder Vernunft schienen. Selbst sein Sohn Peter sympathisierte seit Jahren mit der revolutionären Studentenbewegung. Immer häufiger hatten sie sich wegen ihrer unterschiedlichen politischen Sichtweisen gestritten. Otto Kappes Frau Gertrud litt darunter, und zusehends ging ein Riss durch die Familie. Er war nicht schuldlos daran, aber er vermochte zurzeit nicht auf seinen Sohn zuzugehen. Glücklicherweise hatte der Anfang des letzten Jahres sein Studium der Psychologie beendet und durfte sich jetzt Diplom-Psychologe nennen. Seit Monaten ruhte der Kontakt, und Otto Kappe spürte, dass sie sich immer weiter voneinander entfernten. Er zwang sich, den Gedanken an den Sohn zu verscheuchen, und las verärgert den Aufruf dieser Fanatiker. Die Zeitschrift war keine zwei Wochen alt. Verständnislos überflog Kappe den Artikel und verharrte beim letzten Satz: Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen!

Keunitz, der seinem Blick folgte, sagte, noch immer aufgebracht: «Aber deswegen habe ich Sie nicht hergebeten.» Er nahm das Machwerk mit spitzen Fingern und ließ es in einem Schubfach verschwinden. «Der Grund, warum ich mit Ihnen reden möchte, hat mit dem leidigen Thema Fluchthilfe zu tun. Willy Brandt und Walter Scheel sind intensiv mit Moskau im Gespräch, um den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und den sogenannten Entspannungsprozess zu fördern. Außerdem munkelt man, dass unser Kanzler in Erfurt mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, über künftige Besuchserleichterungen gesprochen hat. Sieht so aus, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Da geht es um viel mehr als nur um ein befristetes Passierscheinabkommen für uns West-Berliner.»

Erstaunt schauten sich Kappe und Galgenberg an. Fluchthilfe war für die meisten West-Berliner immer noch eine ehrenwerte Handlung. Zwar drehte sich langsam der Wind. Dennoch, niemand in der eingemauerten Stadt empfand es als Verbrechen, jemandem in die Freiheit zu verhelfen. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass die Bundesregierung die Fluchthilfe bisher, wenn auch verdeckt, unterstützt hatte. Selbst der Verfassungsschutz hatte seine Finger im Spiel und warnte Fluchthelfer, wenn ihm bekannt wurde, dass die Staatssicherheit der DDR ihnen auf die Spur gekommen war. Es fiel nicht in den Aufgabenbereich der Mordkommission, sich um derartige Angelegenheiten zu kümmern.

Als könnte Keunitz Kappes Gedanken lesen, hob er beschwichtigend die Hand. «Sie bearbeiten doch beide den Fall der unbekannten Toten von Nikolskoe?»

Kappe, der immer hellhörig wurde, wenn es um neue Details für nasse Fische ging, wie ungeklärte Fälle intern genannt wurden, schaute erst den Chef aller Mordkommissionen und dann Galgenberg an. «Mein letzter Stand ist, dass wir alle diesbezüglichen Ermittlungen einstellen sollten. Das war Ihre Anweisung! Wenn ich mich nicht täusche, ist das nicht einmal ein halbes Jahr her», bemerkte er gereizt. Nur mit Grausen erinnerte er sich an den ungelösten Mordfall. Sie hatten weder die Identität der Leiche klären noch den Mörder überführen, geschweige denn auch nur ansatzweise ein Mordmotiv ermitteln können. Stattdessen hatte seine intensive Beschäftigung mit dem Fall zu einer bedrohlichen Ehekrise geführt.

«Bis auf Weiteres – das waren meine Worte gewesen. Das gilt immer für derartige Verbrechen. Außerdem, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?», zitierte Keunitz Konrad Adenauer gereizt und ergänzte: «Die Herren vom Verfassungsschutz haben uns freundlicherweise einen Hinweis zukommen lassen. Wir sollen doch mal einem Herrn Wilfried von Thalmann genauer auf die Finger schauen. Fluchthelfer und Lebemann. Dürfte Ihnen kein Unbekannter sein. Eine nicht näher benannte Quelle habe den Hinweis gegeben, dass zwischen der Toten von Nikolskoe und diesem Herrn eine Verbindung bestehen könnte.»

«Der schöne Willi?», fragte Galgenberg verwundert. «Finger dreckig machen ist eigentlich keine Stärke dieses Herrn.»

Kappe, dem die Wut das Gesicht rot färbte, konnte sich nur mit Mühe beherrschen. «Sehe ich das richtig, wir sollen möglichst viel Dreck aufwühlen, damit die Herren Politiker ungestört mit den Kommunisten verhandeln können?»

Keunitz lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. «Ich würde das nicht so formulieren und öffentlich auch niemals zugeben, aber ja, es trifft wohl den Kern der Sache. Mir ist allerdings mehr daran gelegen, dass das Verbrechen in Nikolskoe aufgeklärt wird. Das ist unsere Aufgabe oder, besser gesagt, Ihre. Also, noch mal das ganze Programm!»

«Ick gloob, mein Schwein pfeift! Sind wa von de Mordkommission jetzt der Stadtreinigung zujeordnet?», empörte sich Galgenberg, der offensichtlich vergessen hatte, dass er vor seinem Chef stand, und seine Bemerkung sofort bereute.

«Kollege Galgenberg, ein bisschen mehr Gelassenheit, wenn ich bitten darf! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Mörder der Toten von Nikolskoe überführt worden ist, ja dass überhaupt irgendeine Erkenntnis in diesem Fall vorliegt. Also reißen Sie sich bitte zusammen! Und kommen Sie mir nicht mit irgendwelchem Stammtischgezeter. Sie sind Polizist, vergessen Sie das nicht!»

Galgenberg hob entschuldigend beide Hände. Kappe stand wie versteinert vor dem Schreibtisch. Dass man sie beauftragte, einen Fall neu aufzurollen, der noch vor Kurzem als hoffnungslos eingestuft worden war, empfand auch er als Kritik an ihrer Arbeit.

Keunitz ahnte offenbar, dass es tief im Innern des Kriminaloberkommissars Kappe rumorte. «Anfang September muss ich turnusmäßig eine Leistungsbeurteilung abgeben, die darüber entscheidet, ob Sie und Ihr Kollege Galgenberg höhergestuft werden. Die Zeiten, in denen nach Alter und Gewicht befördert wurde, gehören glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Es gilt das Leistungsprinzip – für alle Mitarbeiter der Mordkommissionen.» Freundlich, wenn auch wenig überzeugend fügte er hinzu: «Politik ist nicht meine Besoldungsstufe und, da stimmen Sie mir sicherlich zu, Ihre erst recht nicht. Außerdem bin ich zu alt für derartige Spiele! Also tun Sie mir den Gefallen, und gehen Sie dem Hinweis unserer Staatsschützer nach. Möglicherweise bringt das was. Ach ja, und reden Sie zuerst mit der Gerichtsmedizin. Es gibt interessante neue Informationen. Im Gerichtsmedizinischen Institut hat es übrigens eine Personalaufstockung gegeben. Ich bin überzeugt, Sie werden begeistert sein.»

Das Telefon klingelte. Keunitz deutete mit einem Nicken an, dass die Unterredung beendet war. Er legte die Hand auf den Hörer, nahm ihn aber noch nicht ab. «Und, Herr Kappe – wie sagten Sie so treffend? –, wühlen Sie möglichst viel Dreck auf!»

Kaum hatten Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg das Büro ihres Chefs verlassen, verkündete Galgenberg mit empörter Stimme: «Otto, ick gloob dit nich! Bei dem müssen ja die Nerven blank liegen. Kann mich nich erinnern, dit der mir mal so anjefaucht hat.»

Kappe entfuhr nur ein zischender Laut. Wieder auf jenen Fall angesetzt zu werden, der ihn monatelang erfolglos beschäftigt hatte, löste in ihm Wut und Verzweiflung aus. Gertruds Beschwerden über die vielen Überstunden und darüber, dass er sogar Arbeit mit nach Hause genommen hatte, klangen ihm noch immer in den Ohren. Einmal hatte sie wütend erklärt, dass sie nicht mehr gewillt sei, sich hinter einer Leiche anzustellen, bis der geliebte Göttergatte bereit war, mit ihr über die täglichen Probleme ihres gemeinsamen Lebens zu reden.

Tatsächlich hatte sich Kappe derart in den Fall der Toten von Nikolskoe verbissen gehabt, dass er auf jede Störung aggressiv reagiert hatte. Selbst das Faustballtrainig hatte er monatelang ausfallen lassen, und auch die Kegelabende bei den Rattenkönigen Charlottenburg in jener Zeit konnte er an fünf Fingern abzählen. Zwischen Otto und Gertrud kriselte es seitdem bedenklich. Noch dazu hatte sein Sohn im Spätsommer des letzten Jahres völlig unerwartet Berlin den Rücken gekehrt. Ausgerechnet Hermann Kappe, der Großonkel und Oberkriminaler der Familie, der seinen Lebensabend am Gümser See im Wendland verbringen wollte, schien Peter sozusagen abgeworben zu haben. Alle in der Familie hatten von der Entscheidung seines Sohnes, Berlin zu verlassen, gewusst, nur Otto nicht. Als Peter schließlich doch mit ihm hatte reden wollen, hatte er nur kurz von seinen Unterlagen aufgeschaut und lapidar bemerkt: «Reisende soll man nicht aufhalten.»

Seitdem arbeitete Peter in der Wendland-Klinik, in einer eher übersichtlichen Abteilung, die psychisch Erkrankte behandelte. Die Familie drohte auseinanderzubrechen, und Otto war daran nicht unschuldig. Erst nachdem er die Akte Nikolskoe auf Keunitz’ Anweisung im Schubfach hatte verschwinden lassen, hatte sich die Situation mit Gertrud wieder zum Besseren gewendet. Das war nun kaum ein Vierteljahr her.

«Wir können unmöglich einfach beim schönen Willi klingeln und behaupten, es gebe da so einen Hinweis von jemandem, der obergeheim ist, quasi de facto nicht existiert. Demnach solle er etwas mit einer Leiche zu tun haben, zu der wir aber leider überhaupt nichts sagen können», unterbrach Galgenberg Kappes Gedankengang.

Wieder einmal stellte Kappe fest, dass der ehrenwerte Kollege immer dann zu berlinern aufhörte, wenn die Situation ernst wurde.

Um die Absurdität ihrer Aufgabe zu verdeutlichen, schlug sich Galgenberg mehrfach kräftig mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Wat solln der schöne Willi darauf antworten? Der lacht sich doch scheckich. Dit können wa voll verjessen!»

Das mit dem Hochdeutsch klappt allerdings nur, wenn Galgenberg nicht wütend ist, stellte Kappe in Gedanken fest. Im Prinzip sah er es genauso wie sein Kollege. Sie hatten nichts in der Hand, um Keunitz den Wunsch zu erfüllen, Dreck aufzuwirbeln. Sie sollten den Hinweis vom Verfassungsschutz mit Vorsicht genießen. Nachgehen aber mussten sie ihm. Es war unmöglich, die Sache zu ignorieren. Doch auch wenn die Informationen äußerst dürftig ausfielen – sie waren ein kleiner Strohhalm. Vielleicht könnten sie den Fall Nikolskoe doch noch aufklären. «Hast du eine Ahnung, wo der schöne Willi sein Domizil hat?», erkundigte sich Kappe.

«Ick gloobe, in Alt-Lübars. Hat so een ufjepeppten Bauernhof jekooft. Über dit Anwesen stand ma wat inne Zeitung.»

«Fahr da am Montag vorbei. Nimm Kynast mit. Schaut euch um. Redet mit ein paar Leuten. Sagt, dass eine unbekannte junge Frau im vergangenen Herbst tot aufgefunden wurde und wir deshalb ermitteln. Alter, Körpergröße und Haarfarbe kennt ihr. Welche Kleidung sie am Tag ihres Todes trug, ist auch wichtig. Ach ja, und dass sie womöglich einen Gehfehler hatte. Dass es um Mord geht, erwähnt ihr allerdings nicht. Über alle anderen Details schweigt bitte auch. Ist jemandem im Mordzeitraum etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Die Frau wurde zwischen November 1968 und Februar 1969 umgebracht. Hat irgendjemand die Frau beobachtet? Lasst euch sehen, und wenn einer von Willis Leuten fragt, zeigt eure Ausweise, sagt was von Routineuntersuchung und verweist darauf, dass wir uns in den kommenden Tagen wieder melden werden. Mehr als auf den Teppich klopfen können wir momentan nicht. Vielleicht staubt es ein bisschen. Wenn wir Glück haben, wird jemand nervös.»

Galgenbergs Stöhnen kam tief aus seinem Innern. «Ick hab schon so wat befürchtet. Alles klar, ick kümmere mir drum!»

Einen Augenblick lang standen beide auf dem Flur, starrten durch ein Fenster auf die Keithstraße und beobachteten die vorbeihastenden Passanten.

«Und was machen wir jetzt, so kurz vorm Wochenende?», erkundigte sich Galgenberg vorsichtig mit deutlicher Betonung des letzten Wortes.

«Ich habe noch etwas in Kreuzberg zu erledigen», erwiderte Kappe. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: «Außerdem brauche ich dringend Luft. Ich muss das erst mal verdauen. Geh du zurück ins Büro und stell bitte alles, was wir über diesen Wilfried von Thalmann haben, zusammen. Presseartikel über den bunten Vogel wären auch ganz schön. Ich komme später nach.»

«Dann muss ick in die Stadtbibliothek.»

«Dann mach das!», sagte Kappe schulterzuckend.

Galgenberg zog die Stirn kraus und schaute seinen Chef an, der drehte sich um und lief mit energischen Schritten den Gang entlang.

Im Auslieferungslager des Berliner Fuhrunternehmens Liebscher genossen die Fahrer ihre Mittagspause. Niemand kümmerte sich um Helmut Gebhard, der die Lieferpapiere für die kommende Tour ins Bundesgebiet prüfte. Alles schien vollständig und korrekt zu sein. Der Lkw war mit Kisten voller Mikrofone beladen, die neuesten, die es derzeit auf dem Markt gab, die Hecktür war verplombt. Gebhard lief ruhig um das Fahrzeug herum und überprüfte die Reifen. Niemand störte ihn. Er öffnete die Fahrertür, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn in Startposition, zog dann den Aschenbecher aus seiner Halterung und drückte kräftig auf das darunterliegende Blech, auf einen unauffälligen Schalter, den nur Eingeweihte kannten. Der Stromkreis schloss sich, und ein Anlassermagnet entriegelte verborgene Stifte im Bodenblech. Um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete, schaute Gebhard prüfend zum Kabuff, in dem die anderen Kollegen ihre Pause verbrachten. Alles war ruhig. Vorsichtig klappte er den Fahrersitz nach vorn. Nun brauchte er nur noch die Bodenplatte wegzuschieben, und ein eigens präparierter Hohlraum wurde sichtbar. Viel Platz bot er nicht. Er reichte gerade für eine Person, die sich in Embryonalhaltung zusammenkrümmte. Das Versteck lag gut getarnt zwischen Motor und Tank. Selbst Spürhunde schlugen wegen des starken Benzin- und Ölgeruchs nie an, wenn er jemanden darin schmuggelte.

Sieben Fluchten hatte Helmut Gebhard bisher mit dem umgebauten Lkw des Fuhrunternehmens ermöglicht. Das Versteck war perfekt. Selbst eine einstündige Inspektion am Grenzübergang Staaken war erfolglos gewesen.

Diesmal würde er die Ladung an einen Partner in Hamburg liefern und anschließend hochwertiges Papier laden, das er am Montag an die Bundesdruckerei in der Kommandantenstraße hinter dem Axel-Springer-Haus übergeben musste. Niemand in der Firma ahnte, dass er in der Nähe von Nauen einen kurzen Zwischenstopp auf einem Waldweg einlegen würde. Nur der Inhaber der Firma Liebscher wusste von dem Umbau des Lkw und seinen regelmäßigen Aktionen. Gebhard kannte das Gerücht, dass der Chef des Unternehmens, Bernd Liebscher, seinen Bruder bei einem Fluchtversuch verloren hatte, als der im Februar ‘64 versucht hatte, den Teltowkanal zu durchschwimmen. Offensichtlich fühlte sich Liebscher schuldig am Tod seines Bruders, weil er ihn nicht von dem irrsinnigen Plan hatte abbringen können. Seitdem tat er alles dafür, anderen bei ihrer Flucht zu helfen. Für ihn war eine derartige Hilfe anscheinend das einzige Mittel, um Abbitte zu leisten.

Den Umbau des Lkw hatte Wilfried von Thalmann an einem Wochenende auf seinem Anwesen vornehmen lassen. Die Idee stammte von einem befreundeten Fluchthelfer, der mit