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38 Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens stellen sich zum 70. Geburtstag von Thomas de Maizière der Frage: Wenn ich eine Sache in Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft ändern könnte, was wäre das? So entstehen offene und nachdenkliche Essays über zentrale Themen unserer Zeit. Mit Beiträgen von Ralph Brinkhaus, Ulrike Demmer, Kirsten Fehrs, Sigmar Gabriel, Serap Güler, Emily Haber, Stephan Harbarth, Dunja Hayali, Christoph Heusgen, Timotheus Höttges, Wolfgang Holler, Wolfgang Huber, Michael Ilgner, Karl-Ludwig Kley, Ilko-Sascha Kowalczuk, Annegret Kramp-Karrenbauer, Michael Kretschmer, Norbert Lammert, Nathanael Liminski, Bettina Limperg, Klaus Mertes, Friedrich Merz, Hildegard Müller, Sönke Neitzel, Konstantin von Notz, Verena Pausder, Constanze Peres, Karin Prien, Frauke Roth, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Ellen Ueberschär, Arnd Uhle, Kristina Vogel, Jan Vogler, Hans Vorländer, Volker Wieker, Ulrich Wilhelm.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Emily Haber, Karl-Ludwig Kley, Hans Vorländer (Hrsg.)
Gesellschaft der Zukunft
38 Ideen für Neues
Für Thomas de Maizière zum 70. Geburtstag
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: total italic
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara
ISBN (Print): 978-3-451-39631-1
ISBN (EPUB): 978-3-451-83306-9
Vorwort
Den Dienst an der Gemeinschaft pflegenVON FRANK-WALTER STEINMEIER
Staat und Verfassung
Deutschland eine neue Verfassung gebenVON ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Den 9. November als nationalen Feiertag einführenVON NORBERT LAMMERT
Das passive Wahlrecht reformierenVON ARND UHLE
Den öffentlichen Dienst durchlässiger machenVON EMILY HABER
Die Staatsreform von unten denkenVON NATHANAEL LIMINSKI
Politik und Parteien
Die Gesellschaft auf notwendige Zumutungen vorbereitenVON PEER STEINBRÜCK
Der Qualität demokratischer Entscheidungen mehr vertrauenVON MICHAEL KRETSCHMER
Den demokratischen Streit um den besten Zukunftsentwurf erneuernVON SIGMAR GABRIEL
Parlamentarische Arbeit zeitgemäß gestaltenVON RALPH BRINKHAUS
Die deutsche Umsetzungsschwäche behebenVON KARL-LUDWIG KLEY
Den Dank in der Politik rehabilitierenVON HANS VORLÄNDER
Arbeit, Bildung, Kultur
Eine zukunftsfähige Arbeitsphilosophie entwickelnVON MICHAEL ILGNER
Den Lehrkräftemangel behebenVON KLAUS MERTES
Kulturpass für alleVON FRAUKE ROTH
Das Museum zum Ort der Aufklärung machenVON WOLFGANG HOLLER
Das ideale Bildungsdorf errichtenVON ANNEGRET KRAMP-KARRENBAUER
Die ästhetische Ausbildung der Jugend garantierenVON CONSTANZE PERES
Die Musik als Lehrmeisterin für die Gesellschaft verstehenVON JAN VOGLER
Den Bildungsföderalismus reformierenVON KARIN PRIEN
Debattenkultur und Beteiligung
Leiser leben und dafür lauter denkenVON SERAP GÜLER
Das Prinzip der „Gesellschaftsfolgenabschätzung“ einführenVON BETTINA LIMPERG
Menschen mit Behinderung selbstverständlich begegnenVON KRISTINA VOGEL
Dialogräume schaffenVON KIRSTEN FEHRS
Kirche zum Dritten Ort machenVON ELLEN UEBERSCHÄR
Mehr miteinander redenVON ULRIKE DEMMER
Die Schwarz-Weiß-Kommunikation beendenVON DUNJA HAYALI
Digitalisierung, Infrastruktur, Artenvielfalt
Die deutsche Sicherheitspolitik neu aufstellenVON FRIEDRICH MERZ
Einen Nationalen Sicherheitsrat einführenVON CHRISTOPH HEUSGEN
Unsere Wehrhaftigkeit konsequent stärkenVON VOLKER WIEKER
Die Bundeswehr reformierenVON SÖNKE NEITZEL
Afrika in den europäischen Fokus rückenVON STEPHAN HARBARTH
Sicherheits- und Außenpolitik
Aufbruch in den digitalen StaatVON VERENA PAUSDER
Die Mobilität von morgen schaffenVON HILDEGARD MÜLLER
Die Digitalisierung maßvoll nutzenVON WOLFGANG HUBER
Das digitale Klima erneuernVON TIMOTHEUS HÖTTGES
Die Artenvielfalt bewahrenVON ULRICH WILHELM
Statt eines Nachwortes
Alles wird gutVON KONSTANTIN VON NOTZ
Anmerkungen
Über die Autorinnen und Autoren
Über die Herausgeber
Demokratie braucht den öffentlichen Diskurs. Er ist Grundvoraussetzung, um uns verständigen zu können über das, was uns wichtig und gemeinsam ist, aber auch über das, was uns trennt. Demokratien leben von den Unterschieden an Werten, Interessen und Lebensweisen. Demokratien wissen aber auch damit umzugehen. Institutionen, Verfahren und ein Grundkonsens über den zivilen Austrag von Konflikten ermöglichen Willens- und Entscheidungsbildung, somit bürgerschaftliches und staatliches Handeln.
Entwicklungen unserer unmittelbaren Gegenwart stellen Demokratien vor große Herausforderungen. Krisen und die Wiederkehr des Krieges in Europa haben für gesichert und selbstverständlich gehaltene Gewissheiten erschüttert. Mit einem gefühlten Epochenbruch gehen Verlustängste einher. Der Ton der Auseinandersetzung hat sich verschärft, ist rau und verbittert geworden. Wo politische Polarisierung ist, wird gesellschaftliche Spaltung vermutet. Die Sorge um die Demokratie wächst.
Umso wichtiger ist die Reflexion über die gegenwärtige Verfasstheit von Politik und Gesellschaft. Wer die Probleme nicht versteht, kann an Lösungen nicht arbeiten. Dazu ist auch Distanz zu den Aufgeregtheiten und Empörungsritualen der politischen Auseinandersetzungen notwendig. Helfen kann ein Medium, das sich den Clickbaits der digitalen Netzwerke genauso entzieht wie dem Dreisatz-Stakkato von Talkshows. Warum also nicht ein Buch, das aus Versuchen besteht, die Gegenwartslage zu analysieren und Vorschläge über das Notwendige zu machen? Ein Essayband also.
Zumeist brauchen Bücher ein Anliegen und einen Anlass. Der Anlass ist der 70. Geburtstag eines Politikers und Beobachters, der der Bundesrepublik Deutschland in vielen Funktionen gedient hat: Thomas de Maizière. Was im Deutschen etwas altertümlich klingen mag, im Angelsächsischen aber fester Bestandteil des Amtsverständnisses ist, trifft auf den Jubilar in ganz besonderem Maße zu: Thomas de Maizière wusste und weiß, dass ihm – als Abgeordneter, Berater, Chef von Staatskanzlei und Bundeskanzleramt sowie Minister in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und in Berlin – Mandate erteilt und Ämter übertragen wurden, deren Wahrnehmung jeweils ein Maß an Verantwortung erforderte, dem zu entsprechen nur ein ausgeprägtes Gefühl für Pflichtbewusstsein und Respekt vor der Aufgabe ermöglichte. Das Ethos eines demokratischen Politikers, er verkörpert es. Seine Besonnenheit, Offenheit, Ehrlichkeit und Zugewandtheit haben ihn Anerkennung und Sympathie in allen Lagern, auch in denen, die ihm in der Sache widersprochen haben, gewinnen lassen.
Und Thomas de Maizière hatte und hat ein Anliegen, zuletzt in seinen Büchern dokumentiert, das gute Regieren und das Führen in der Demokratie. Politik hat immer mit Macht zu tun. Ohne diese gibt es keine Gestaltung, kein politisches Handeln mit der Absicht der Veränderung der Verhältnisse. Aber es gibt auch Institutionen und Regeln, mit denen pfleglich umzugehen ist, weil sonst die Demokratie Schaden nimmt und Entscheidungen ihre Legitimation, übrigens auch ihre Reversibilität, verlieren. Und es gibt Tugenden, die zu einer verantwortungsethischen Führung in der Demokratie gehören, die jedoch in Auseinandersetzungen oder unter Entscheidungszwängen häufig bis an die Grenze ausgetestet werden: Es ist keine Stilisierung seiner Person, wenn man formuliert, dass Thomas de Maizière in seinem politischen Wirken ganz wesentlich vom klaren Überzeugungsfundament eines genuin demokratischen und moralischen Ethos getragen wurde.
Der vorliegende Essayband versteht sich nicht allein als Festgabe, wenngleich er es auch ist. Das war nicht zu vermeiden, zumal es ja auch darum ging, das Anliegen Thomas de Maizières aufzugreifen, Probleme nach vorne zu denken, aus ihrer Beschreibung Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Aber die versammelten Beiträge sollten auch allein stehen können, anregen, auch streitig sein. Insofern ist kein Almanach der allfälligen Aufgaben auf der politischen Agenda entstanden.
Die Idee zum Buch entstand im Austausch zwischen Freunden und der Familie. Wegbegleiter von Thomas de Maizière aus den unterschiedlichsten Feldern seines politischen und gesellschaftlichen Wirkens wurden angeschrieben und ihnen die eine Frage gestellt: „Wenn Sie eine Sache ändern könnten, was wäre das?“ Viele der Angeschriebenen sagten zu. Und sandten Beiträge, die so verschieden waren, wie es eben die Auswahl der Autoren versprach. Ein jeder, eine jede ist für den jeweiligen Text verantwortlich.
Wir danken allen Autoren und Autorinnen. Wir hoffen, dass mit den Beiträgen inhaltliche Diskussionen angeregt oder intensiviert werden. Wir danken Martina de Maizière und ihrer Tochter Nora Hueck-de Maizière, die die nicht geringe Last der Organisation trugen und es über die ganze Zeit schafften, das Werk vor ihrem stets an allem interessierten Ehemann und Vater geheim zu halten. Wir danken Manuel Herder, dass er dieses Werk in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Dank gilt schließlich Patrick Oelze, dessen inhaltliche Beratung und Lektorat Struktur und Qualität der Beiträge bereichert haben.
Die Danksagung wäre unvollständig, wenn nicht auch die Persönlichkeit bedacht würde, die den Anlass für dieses Buch gegeben hat: Thomas de Maizière. Sein Arbeitsethos, sein Verantwortungsgefühl und sein gesellschaftliches Engagement waren und sind vorbildlicher Dienst an der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.
Emily Haber, Karl-Ludwig Kley, Hans Vorländer
„Regieren“ heißt in der für Thomas de Maizière typisch knappen Weise sein Buch über die Erfahrungen, die er in der Politik gemacht hat. Und das auch mit Recht, denn Regieren, das hat er gelernt, das hat er gekonnt – und das hat er manchmal auch, mehr, als ihm lieb war, gemusst. Regieren als Managen und Verhandeln, als Austarieren und Ausbalancieren, letzten Endes aber eben auch als Entscheiden, als Bestimmen, als Durchsetzen.
Das Buch könnte mit gleichem Recht (aber das hat ihm wahrscheinlich seine preußische Bescheidenheit verboten) auch „Dienen“ heißen. Denn das war sein politisches Wirken für ihn – und das soll nach seinem Verständnis wohl politisches Leben und Wirken überhaupt sein: zu dienen.
Dienen ist heute ein scheinbar altmodisches Wort. Und der Begriff Staatsdiener mit dem man früher jeden Beamten doch auch mit Respekt und ehrenvoll bezeichnet hat, dieser Begriff wird fast nur noch ironisch gebraucht – wenn wieder einmal über die Unbeweglichkeit, die Veränderungsrenitenz oder die angebliche Verschlafenheit der öffentlichen Verwaltung geklagt wird, was ja zu den deutschen Lieblingsbeschäftigungen gehört.
Für Thomas de Maizière jedenfalls war und ist Dienen kein Fremdwort. Und er hat immer gewusst, dass das Wort Minister vom lateinischen ministerium kommt, also vom Dienst und der öffentlichen Übernahme einer Pflicht. Solch einen Dienst leistet nicht nur der Minister, sondern auch jeder Bürgermeister, jeder Landrat und jeder Parlamentarier, ob in Bundes-, Land- oder Kreistagen, ob in Stadt- oder Gemeinderäten. Auch in den Ämtern, an den Schulen oder in der Bundeswehr: Überall wird Dienst am Gemeinwesen geleistet. Davon leben unser Staat und unsere Gesellschaft – und wie gut und wie engagiert dieser Dienst geleistet wird, ob er nicht nur dem Namen nach, sondern auch im Geist des Dienens geleistet wird, davon hängt vieles, ja fast alles ab: Gelingen oder Scheitern.
Da ich darum gebeten wurde, in diesem Buch etwas anzusprechen, das mir besonders wichtig ist, möchte ich kurz skizzieren, warum ich vor einiger Zeit einen verpflichtenden Dienst an der Gesellschaft vorgeschlagen habe. Das hat eine lebendige Debatte ausgelöst, und darüber freue ich mich sehr. Denn das, worum es mir geht, geht uns alle an.
Ein verpflichtender Dienst an der Gesellschaft würde jeder und jedem Einzelnen sehr praktisch vor Augen führen: „Du zählst, du trägst Verantwortung und du bist Teil dieses Gemeinwesens. Du wirst gebraucht, und auch von dir hängt es ab, dass diese Gesellschaft eine gerechte, eine menschliche und nachhaltige ist.“ Daher wäre eine Pflicht auch nicht einfach nur Zwang. Denn wenn alle angesprochen sind und sich alle beteiligen, dann erfahren sie sich auch als gleiche Bürgerinnen und Bürger. Als gleichberechtigt und gleich verpflichtet.
Demokratie, so hat es Thomas de Maizière einmal gesagt, ist eben nicht nur ein Verfahren, dass sich alle paar Jahre wiederholt, sondern zuallererst eine Haltung, die man hat und die man zeigt. Eigenes Denken und eigenes Entscheiden, aber auch der Respekt vor der Meinung und Würde der anderen: Dieses demokratische Denken könne man „nur begrenzt erziehen“, aber man könne „unbegrenzt dazu ermutigen“. Und diese Ermutigung sei nicht nur eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, sie müsse auch an allen Orten des gesellschaftlichen Lebens stattfinden – in den Familien und bei der Arbeit ebenso wie in den Vereinen, Verbänden und ehrenamtlichen Organisationen.
Ich bin daher sehr froh darüber, wie viele Menschen in unserem Land sich bereits heute schon um andere kümmern, um ihre Umwelt, um die Natur, um ihre Stadt und ihr Viertel, um ihren Verein, um ihre Kirchengemeinde. Da ist viel Hilfsbereitschaft und viel Übernahme von Verantwortung. Und all diese Menschen engagieren sich freiwillig. Wie viel ärmer wäre unser Land ohne sie? Wie gefühlskalt wäre es? Jede und jeder, der an einen anderen denkt und nicht nur an sich selbst, macht unser Land, macht unsere Gesellschaft und macht das Leben aller ein kleines Stück besser.
Gleichzeitig aber höre ich aus vielen Vereinen, Notdiensten oder Hilfsorganisationen, dass sich immer weniger Menschen engagieren, dass die Zahl der Mitglieder schwindet und zu wenig Interessierte dazukommen. Oftmals sind es immer dieselben, die das Ehrenamt tragen.
Ich mache mir Sorgen, dass diese Abwendung der Menschen voneinander früher oder später die Grundlage unserer Demokratie aushöhlt. Weil eben nicht mehr an allen Orten des gesellschaftlichen Lebens zum demokratischen Denken und zur demokratischen Haltung ermutigt werden kann. Wer sich nur noch von seiner eigenen Gruppe bestätigen lässt, wer nur noch denkt und fühlt, was in der eigenen Umgebung gedacht und gefühlt wird, der verliert sein Mitgefühl mit anderen und oft auch den Respekt vor ihnen.
Für mich ist die soziale Pflichtzeit daher auch eine Antwort auf die soziale Zersplitterung in unserem Land. Sie wäre eine gemeinsame Erfahrung in einer Gesellschaft, die heute sehr verschiedene Lebenswege kennt. Sie würde gegeneinander abgeschottete Lebenswelten öffnen. Und ich bin mir sicher: Indem wir wieder erleben, was uns verbindet, würden wir auch stärken, was uns verbindet.
Ob es der Sinn des Lebens sei, seine Pflicht zu erfüllen, lautete vor einiger Zeit eine Journalistenfrage an Thomas de Maizière. Es war die letzte Frage eines längeren, sehr persönlichen Gesprächs, und man spürte als Leser förmlich, wie da ein großes Erstaunen mitschwang: Ob es denn wirklich der Sinn des Lebens sein könne, seine Pflicht zu erfüllen? „Ja, darum geht es“, antwortete Thomas de Maizière klar und knapp.
Ich bin mir bewusst, dass es kein kurzer und kein leichter Weg wird hin zu einer sozialen Pflichtzeit. Aber ich bin überzeugt: Sie wäre ein Gewinn für die innere Festigkeit unserer demokratischen Lebensweise in unsicheren Zeiten. Und sie würde alle – für eine bestimmte Zeit, in einem neuen und in einem sehr positiven Sinne – zu Bürgerinnen und Bürgern im Dienst der Gemeinschaft machen.
Weltweit sind Demokratie und Freiheit auch dort in Gefahr, wo sie bislang als unerschütterlich galten: in den Staaten der Europäischen Union und in Nordamerika. Der Angriff von Rechtsextremisten auf den demokratischen Verfassungsstaat und die repräsentative Demokratie folgt in allen Staaten mit ähnlichen Strategien und mit Parteien, die als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus auftreten. Schon lange geht es nicht mehr um „Protest“ oder vermeintliche „Wutbürger“, die über einzelne Erscheinungen der Gegenwart empört sind. Die Herausforderungen durch Globalisierung und digitale Revolution stellen eine enorme Überforderung dar. Viele Menschen sehnen sich nach einer vorgeblichen Sicherheit zurück, die es nie gab, die aber im Rückblick oft als solche erscheint. Verunsicherung führt oft zu einfachen Weltsichten, zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen und Zusammenhänge. Im Kern geht es in diesem harten, globalen Kampf um Freiheit vs. Unfreiheit. Der Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine ist das Symbolbild für diesen Kampf, der mit anderen Mitteln nahezu in jeder westlichen Gesellschaft augenblicklich ausgefochten wird.
Politiker und Politikerinnen können dabei eine simple Beobachtung um ihrer Existenz willen als gewählte Bürger nicht offensiv aussprechen: In jeder Gesellschaft sind 15, 20, 25 Prozent der Menschen nicht für die Grundüberzeugungen des politischen Systems ansprechbar. Und doch ist es ihre selbstgestellte Aufgabe, sich immer und immer wieder gerade um diese „Unerreichbaren“ zu kümmern. Warum eigentlich? Und vor allem: Warum wird jene Mehrheit, die sich täglich für den demokratischen Verfassungsstaat engagiert, so oft „stiefmütterlich“ behandelt?
Angesichts der Bedrohungen benötigen wir eine Stärkung des demokratischen Selbstbewusstseins jener, die in Deutschland das Grundgesetz stärken und mit Leben erfüllen, die den demokratischen Verfassungsstaat vor den Extremisten schützen wollen. Deutschlands Demokratie ist eine Mehrheitsdemokratie von Demokraten und Demokratinnen – ganz anders als die Weimarer Republik.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mittel zur Stärkung der Demokraten und Demokratinnen, von Demokratie und Freiheit ein Weg wäre, vor dem fast alle aktiven Politiker zurückschrecken: Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen.
Abstrakt betrachtet spiegelt eine Verfassung Erfahrungen, die geeignet waren, die Integrität des Einzelnen zu verletzen und die politisches Handeln willkürlich erscheinen lassen könnten. Positiv formuliert setzen Verfassungen Normen, die die Integrität des Individuums zu schützen suchen und einen Normenkanon festlegen, dem sich politisches Handeln zu unterwerfen hat. Es geht also darum, Recht und Ordnung zu normieren. Das zu diskutieren, erfolgt nie zur richtigen Zeit, es ist zu grundsätzlich, als dass es in den Alltag welcher Akteure auch immer passen könnte.
Nach meiner Beobachtung glauben die meisten Verfassungsrechtler, dass bei rechtlichen Fragen, bei Verfassungsfragen zumal, sie zuvörderst oder gar allein gefragt seien. Das verstehe ich sogar. Vertreterinnen sämtlicher Professionen glauben, ein gewisses Vorrecht auf „ihre“ Betrachtungsgegenstände zu besitzen. Das ist nachvollziehbar. Die „anderen“ freilich sind im demokratischen Diskurs gefordert, diese Selbstsicht zu hinterfragen und durch Einwürfe von außen die Debatte zu schärfen. Als Historiker weiß ich, wovon ich rede. Es gibt wohl kaum eine andere Disziplin, die so selbstverständlich gesellschaftlich permanent in ihrer Deutungshoheit – freundlich ausgedrückt – hinterfragt, tatsächlich als geradezu störend und semiprofessionell hingestellt wird wie die Geschichtswissenschaften.
Die Rechtwissenschaften haben es über Jahrzehnte und Jahrhunderte professionell fertiggebracht, eine eigene, von der Alltagswirklichkeit derart entfremdete Sprache zu entwickeln, dass es geradezu anmaßend erscheint, als Uneingeweihter mitreden zu wollen. Der besondere Kniff an dieser Kunstsprache besteht darin, dass sie für den Laien auf den ersten Blick auch noch so aussieht und sich so anhört, als wäre sie verständlich.
Das aber trifft auf Verfassungstexte nicht zu – sollte nicht zutreffen, was aber längst nicht mehr so ist. Unser Grundgesetz, einst ein würdevoller Normenkatalog, ist mittlerweile zu einer Ansammlung höchst wichtiger und ungemein unpassender Artikel geworden. Wer immer eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag hinter sich vereinen kann, scheint Grundgesetzänderungen anzustreben. Ich vermute, dieser Flickenteppich hat viel damit zu tun, dass etwa im aktuellen Bundestag 15 Prozent aller Parlamentarier Juristen sind, ein Anteil, der im Vergleich zu den vorherigen Legislaturperioden sogar noch zurückgegangen ist.
Was ist der gesellschaftspolitische Sinn einer Verfassung? Es geht um einen Rahmen, in dem sich politisches Handeln vollzieht und der das Individuum schützt, und es geht darum, politische Herrschaft und soziale Machtausübung voneinander abzugrenzen. Je weniger in einer Verfassung festgelegt worden ist, je schmaler also eine Verfassung daherkommt, um so besser – eigentlich. Sie ist immer ein Ausdruck der politischen Ordnung. Sie konstituiert nicht diese Ordnung, sondern umgekehrt: Diese Ordnung schreibt sich ihre Verfassung.
In der DDR oder Sowjetunion gab es auch Verfassungen. Spätestens in der Diktatur lernt jedes Kind, dass eine Verfassung ohne die Möglichkeit, deren Gültigkeit und Anwendung unabhängig prüfen zu lassen, keine Verfassung ist. Wir erleben gerade in den USA oder in Ungarn und Polen oder anhand der Debatten in Israel, zu schweigen von Diktaturen wie in Russland, wie problematisch es werden kann, wenn die juristisch obersten Verfassungsschützer nicht mehr die nötige Unabhängigkeit besitzen und die entsprechenden Gremien nicht die gesellschaftliche Diversität wenigstens zu spiegeln versuchen. Als Historiker interessiert mich die Verfassungswirklichkeit weitaus mehr als die Verfassungstheorie.
Ich komme zurück auf die Frage, ob es einen richtigen Zeitpunkt für Verfassungsdebatten gibt. Ich blicke dabei auf den berühmten Artikel 146 des Grundgesetzes, der die Geltungsdauer des Grundgesetzes bestimmt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ 1990 waren sich Politikerinnen und die meisten Juristen einig, dass die Herstellung der deutschen Einheit – egal ob nach Artikel 23 oder Artikel 146 – von einer Verfassungsdiskussion begleitet werden würde.
Seit dem Herbst 1989 hatte sich in der DDR eine Verfassungsdebatte entwickelt, die viele Ostdeutsche als überflüssig ansahen. Zwar wünschten sie die schnelle Streichung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, die die führende Rolle der SED seit 1968 juristisch festschrieb, was auch am 1. Dezember 1989 geschah. Aber insgesamt war die ostdeutsche Gesellschaft wenig mit juristischen und schon gar nicht mit Verfassungsfragen vertraut. Ihr Erfahrungsschatz hatte in dieser Hinsicht nicht viel aufzubieten. Am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“, in der Expertinnen und Experten aus Ost und West mitarbeiteten. Selbst Kanzler Kohl erklärte noch am 11. Februar 1990 nach seiner Rückkehr aus Moskau in einem Fernsehinterview, es müsse eine neue Verfassung erarbeitet werden. „Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.“1 Wenig später erklärte Kohl, die Vereinigung würde nach Artikel 23 zustande kommen. Damit waren Verfassungsfragen scheinbar erledigt. Artikel 146 lautete bis Ende September 1990: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Noch vor dem 3. Oktober 1990 änderte der Bundestag diesen Artikel allerdings, der seither wie bereits zitiert lautet.
Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos. Genug Probleme hätte die Bundesrepublik zu bewältigen gehabt, Probleme, die sich seit Jahren angestaut hatten. Da sei eine Verfassungsdebatte nur hinderlich gewesen. Zumal die große Mehrheit der Ostdeutschen nach genau diesem Grundgesetz strebte und die große Mehrheit der Westdeutschen keine Gründe für eine Verfassungsänderung erkennen konnte. Hinzu käme, dass die Volkskammerwahlen im März 1990 als Plebiszit für Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) galten und es angesichts des engen Zeitplans keine Möglichkeiten für eine neue Verfassung nach Artikel 146 gebe. So wurde damals, so wird heute vielfach argumentiert.
Tatsächlich ist in der Volkskammer die DDR-Verfassung mehrfach geändert worden, um neue Gesetze nicht in Widerspruch zu ihr zu bringen. Zwar hatte die erwähnte Arbeitsgruppe vom Runden Tisch bis zum 4. April 1990 eine neue DDR-Verfassung erarbeitet, eine Rechtsverbindlichkeit war damit aber nicht gegeben. Im DDR-Parlament fanden sich dann jenseits von Bündnis 90 und der SED/PDS auch keine politischen Kräfte, die ernsthaft über eine neue DDR-Verfassung debattieren wollten. Das war angesichts des drängenden Zeitplans und der bereits laufenden Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion auch nachvollziehbar. Nach dem ersten Staatsvertrag, der zum 1. Juli 1990 in Kraft trat, war die rasche Übertragung des Grundgesetzes ohnehin alternativlos geworden. Das Problem einer gemeinsamen deutschen Verfassung blieb gleichwohl bestehen.
Am 16. Juni 1990 gründete sich ein gesamtdeutsches Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder, das sich dem grün-linksliberalen politischen Spektrum zurechnete und viele Wissenschaftler, Politikerinnen und Intellektuelle aus dieser politischen Richtung vereinte. In der Evangelischen Akademie Bad Boll fand nur wenige Tage später eine mit hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Ost und West, darunter Wolfgang Schäuble, besetzte Veranstaltung statt, die einen großen Konsens offenbarte, dass Deutschland eine gemeinsame Verfassung benötige. Der Beitritt nach Artikel 23 GG sei nunmehr unumgänglich; die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung nach Art 146 GG aber im vereinten Deutschland wünschenswert. So argumentierten 1990 nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch hochangesehene Verfassungsexperten. Im Einigungsvertrag ist in Artikel 5 festgehalten worden, dass die Vertragsparteien den künftigen gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfehlen, innerhalb von zwei Jahren die Wirksamkeit von Artikel 146 zu prüfen. Ende November 1991 setzten Bundestag und Bundesrat eine Gemeinsame Verfassungskommission ein. Knapp zwei Jahre später beendete die Kommission ihre Arbeit. Sie schlug einzelne Änderungen vor, das Grundgesetz als solches wurde nicht angetastet. Alles ein ganz normaler Vorgang? Im Prinzip ja.
Das Grundgesetz gilt weltweit als Vorbild. Aus dem Provisorium ist ein Definitivum geworden. Es hat sich bewährt. Aus juristischer Sicht mochte eine neue Verfassung nicht vonnöten sein. Allerdings muss man hinzufügen: In der fast 75-jährigen Geschichte des Grundgesetzes erwiesen sich über 60 Verfassungsänderungen als notwendig, davon etwa die Hälfte seit dem 3. Oktober 1990. Da dabei nicht selten mehrere Artikel angepasst wurden, übersteigt die Zahl der tatsächlichen Artikeländerungen die genannte Zahl etwa um das Dreifache. Es heißt, weltweit sei keine bestehende Verfassung häufiger verändert worden als das Grundgesetz. Man muss wohl kein Experte sein, um zu erahnen, dass nach vielen Veränderungen eine Gesamtneukonstruktion dem Anliegen nicht schaden würde. Dabei würde man wohl wie in den Debatten 1990/91 davon ausgehen können, dass nicht nur das Grundgerüst, sondern auch ein Großteil des Werks übernommen würde. War es daher vielleicht wirklich nicht nötig, in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden? Rechtlich vielleicht nicht. Politisch und kulturell schon eher, da gehen die Meinungen auseinander. Es handelt sich dabei auch nur um Meinungen, weil es niemand wissen kann.
Richard Schröder glaubt, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen wäre dadurch nicht „erheblich gestärkt“ worden.2 Dieser verbreiteten Haltung, die vor allem Konservative und westdeutsche Sozialdemokraten teilen, wird vielfach entgegengehalten, eine durch eine verfassungsgebende Versammlung oder gar durch einen Volksentscheid verabschiedete neue gesamtdeutsche Verfassung hätte signalisiert, es beginne „auf Augenhöhe“ ein neuer Abschnitt deutscher Staats- und Verfassungsgeschichte. Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb 1990, die Westdeutschen „müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, daß sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte.“3
In einem souveränen Akt hätte sich das deutsche Gemeinwesen eine gemeinsame Verfassung gegeben, hinter der sich zukünftig alle Demokraten und Demokratinnen hätten versammeln können. Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste. Natürlich, es ist Spekulation, was eine neue Verfassung wirklich bewirkt hätte. Anders aber als viele andere Wege, die beschritten worden sind und gegangen werden mussten, hätte dieser Weg nichts gekostet, er hätte auch keinerlei Verluste gezeitigt, er trug aber die Chance in sich, mit vergleichsweise geringem Aufwand eine gesamtgesellschaftliche Klammer zur Verfügung zu stellen, die unter aktiver Mitwirkung von allen integrationsfördernd gewesen wäre.
2019 berief die Bundesregierung eine Kommission 30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Sie tagte unter Vorsitz des früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Mitglieder waren aktive und ehemalige Politikerinnen wie Thomas de Maizière, Engagierte aus NGOs, aus der Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft. Es war wohl der seltene Fall einer Kommission, in der Ostdeutsche überwogen (ich erlebte das bereits in der Enquete-Kommission des Bundestages zur SED-Diktatur in den 1990er Jahren). Wir waren uns schnell über viele Fragen, die es anzupacken gilt, einig. Das nun in Halle (Saale) zu errichtende Europäische Zukunftszentrum war der wichtigste Vorschlag dieser Kommission. Mich überraschte am meisten etwas anderes: In einer der ersten Sitzungen schlug ich vor, die Kommission solle eine Verfassungsdebatte in Deutschland anstoßen. Das Ziel solle eine moderne, neue und schlanke Verfassung sein, die das Grundgesetz über Artikel 146 und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung ablöst. Entscheidend dabei wäre, wie ich begründete, der Weg zur neuen Verfassung. Ich stellte mir Stellvertreterdebatten wie in Irland vor, als es um die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung ging. Die Verfassung sollte zur Integrationsklammer aller Demokraten werden, gerade weil sie in einem intensiven öffentlichen Prozess auf allen Ebenen debattiert würde. Ich argumentierte, eine solche Debatte würde die in die Defensive geratene Demokratie stärken und die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse in unserer Gesellschaft anschaulich aufzeigen. Es könnte sich eine lebendige Verfassungsüberzeugung ausprägen, die auf einer lebendigen, gesellschaftlich breit verankerten Verfassungsdebatte basiere.
Ich könnte nicht behaupten, dass ich mit dieser hier in Kurzform dargebrachten Argumentation auch nur in die Nähe einer qualifizierten Mehrheit kam. Fast alle waren dagegen. Das Argument lautete unisono: Das Grundgesetz habe sich bewährt und – das wichtigere Argument – es sei jetzt nicht die richtige Zeit. Auf meinen Einwand, die gäbe es dafür nie, wurde entgegnet, das möge stimmen, aber nun sei die Demokratie umstellt von Extremisten, die in Parlamenten und auf den Straßen gegen unsere Grundordnung mobilmachten. Meine Entgegnung, aber genau diese angeblichen Mehrheitsverhältnisse wollte ich ja mit einer Verfassungsdebatte auch als nicht gegeben überführen, überzeugte nicht. Die Kommission traf die Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihren Stellvertreter Olaf Scholz und Bundesinnenminister Horst Seehofer. Auf einer dieser Sitzungen trug ich mein Anliegen vor – ich war mir ganz sicher, wieder allein zu stehen. Zu meiner Überraschung sagten aber nun sowohl die Kanzlerin wie der Innenminister, sie seien immer gegen eine neue Verfassung gewesen – es sei unnötig gewesen. Nun aber, es war im Januar 2020, sähen sie das anders und wir sollten doch ruhig Vorschläge unterbreiten, wie das initiiert werden könnte. Wenig später kam Covid19 auch in Deutschland mit aller Wucht an – und wiederum waren sich nun fast alle einig, dass es nicht die richtige Zeit für Prinzipielles sei.
Verfassungsfragen kennen kein Verfallsdatum, keinen ungünstigen Zeitpunkt. Sie aufzuwerfen erfordert die Bereitschaft, über den Tag und die nächste Wahl hinauszudenken. Wer die bedrohte Demokratie schützen und stärken möchte, sollte nicht davor zurückschrecken, die Institutionen und ihre allerwichtigste zukunftstauglich zu machen. Mit Karl Raimund Popper gilt es, das „Paradoxon der Toleranz“ in der Demokratie zu diskutieren: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden von Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“4 Er beschwor, (militante, jedenfalls die Demokratie bedrohende) Intolerante notfalls mit Gewalt zu unterdrücken. Dem „Paradox der Demokratie“ hingegen, dass sich eine Mehrheit zur Herrschaft eines Tyrannen entschließt, wusste Popper nur wenige Jahre nach der Machtübertragung Hitlers, dessen Partei in mehreren Wahlen vor 1933 Gewinner war, nichts als den Rationalismus der Aufklärung entgegenzusetzen. Und das ist mit unserem heutigen Wissen dann wohl doch zu wenig. Wir brauchen einen sichtbaren Verfassungspatriotismus, der sich nach meinem Dafürhalten nur in einer breiten Gesellschaftsaussprache über eine neue Verfassung herausbilden kann und wird. Ein neue, von einer großen Mehrheit getragene Verfassung wäre ein Bollwerk gegen alle Antidemokraten – auf lange Zeit hin.
Muss man an historische Ereignisse erinnern, die lange zurückliegen, und ihnen sogar nationale Feiertage widmen? Natürlich muss man das nicht. Aber ebenso wenig ist es ein Zufall, dass solche herausragenden Ereignisse als Gedenktage überall auf der Welt wahrgenommen werden. Es gibt offenbar ein menschliches Grundbedürfnis, das in Erinnerung zu halten und zu rufen, was lange vorbei ist, aber eben von besonderer Bedeutung war. Dies gilt für einzelne Personen wie für ganze Gesellschaften. Unser erstaunlich stabiles Interesse, Jahrestage, Gedenktage und Jubiläen zu zelebrieren, hat mit einer Erfahrung zu tun, die der Philosoph Odo Marquard einmal kurz und prägnant auf den Punkt gebracht hat: „Zukunft braucht Herkunft“. Mit anderen Worten: Die Gegenwart ist nicht nur, aber doch wesentlich das Produkt der Vergangenheit, und die Zukunft ist nur schwer zu bewältigen ohne Bewusstsein für das, was früher war. Historische Gedenktage führen uns diesen Zusammenhang vor Augen und ermutigen, sich mit grundlegenden Fragen zu beschäftigen, für die im Alltag oftmals die Zeit fehlt und die vielleicht auch etwas unbequem sind: Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin?
Nationale Gedenk- und Feiertage sind Ausdruck des Selbstbilds einer Nation und spiegeln ihren Umgang mit der eigenen Geschichte wider. So wird beispielsweise mit dem Jom haAtzma’ut in Israel oder dem Independence Day in den USA der jeweiligen historischen Staatsgründung gedacht. Der Nationalfeiertag in Frankreich erinnert an den Sturm auf die Bastille und den Beginn der Französischen Revolution. In Polen wird am 3. Mai der „Tag der Verfassung“ – in Erinnerung an die erste Verfassung des Landes 1791 – sowie am 11. November der Unabhängigkeitstag gefeiert, der an das Jahr 1918 erinnert, als Polen nach 123 Jahren der Teilung wieder unabhängig wurde. Die Russen begehen seit 1994 den „Tag Russlands“ am 12. Juni als Nationalfeiertag; das Datum bezieht sich auf die russische Souveränitätserklärung noch innerhalb der UdSSR im Jahr 1990. In China feiert man sogar sieben Tage lang die „Goldene Woche“ und erinnert am 1. Oktober an die Gründung der Volksrepublik 1949.
Solche nationalen Gedenktage haben gemeinsam, dass sie die Aufmerksamkeit auf historische Ereignisse lenken, die die Geschichte des jeweiligen Landes maßgeblich geprägt haben. Sie dienen also der Identitätsstiftung. Das Nachdenken über und das Weiterentwickeln des eigenen Selbstverständnisses ist eine essenzielle gesellschaftliche Aufgabe, bei der sich der Staat nicht heraushalten kann. Er muss zur eigenen Geschichte Position beziehen.
In der Bundesrepublik war zwischen 1954 und 1990 der 17. Juni als Tag der deutschen Einheit der deutsche Nationalfeiertag, an dem an den gewaltsam niedergeschlagenen Volksaufstand in der DDR im Jahr 1953 gedacht wurde. Seit Vollendung der Einheit feiern wir den 3. Oktober als gesetzlichen Feiertag auf Bundesebene als Tag der Deutschen Einheit (nun mit großem D); so ist es im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR am 31. August 1990 festgelegt worden. Es ist ein wichtiges Datum und zugleich ein Geburtstag, mit dem sich im Vergleich zu anderen dramatischen Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte fast keine Emotionen verbinden, ein eher technisches, bürokratisches Datum: Am 3. Oktober 1990 wurde der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes rechtswirksam. Dieser Termin wurde von der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR auch deswegen gewünscht, weil wenige Tage danach der nächste Geburtstag dieses gescheiterten Staates fällig gewesen wäre.
Wenn es aber im ewigen Kalender der Menschheitsgeschichte so etwas wie einen „deutschen Tag“ gibt, dann ist es zweifellos der 9. November. An diesem einen Tag konzentrieren sich geradezu Glanz und Elend der turbulenten deutschen Geschichte in einem Datum.
Die Reihe relevanter Ereignisse beginnt mit dem 9. November 1848, an dem der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum, der sich für eine parlamentarisch-demokratische Republik eingesetzt hatte, in Brigittenau im Norden von Wien standrechtlich erschossen wurde. Er hatte sich dort am Revolutionsgeschehen beteiligt, wurde von den kaiserlichen Truppen festgenommen und als Aufrührer zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung markiert den Anfang vom Ende eines ersten Höhepunkts in der deutschen Demokratiegeschichte durch die Revolution 1848/49. Eine stärkere Berücksichtigung der damaligen Ereignisse und ihrer mutigen Protagonisten, deren Einsatz für die Demokratie heute weitgehend vergessen ist, ist in der deutschen Erinnerungskultur schon lange überfällig, zumal es unser heutiges Grundgesetz mit seinem eindrucksvollen Grundrechtskatalog ohne die Frankfurter Paulskirchenverfassung wohl nicht gäbe.
Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann von einem Fenster des Berliner Reichstagsgebäudes die Republik aus; es war der Kulminationspunkt der Novemberrevolution in Deutschland gegen die Staatsführung und Monarchie, die Deutschland in einen fürchterlichen Krieg geführt hatten. In der Folge wurde Deutschland erstmals eine Republik: Am 11. August 1919 verabschiedete die Nationalversammlung in Weimar eine demokratische Reichsverfassung.
Die damit begründete Weimarer Republik ist nicht einmal volljährig geworden. Ihr Scheitern nach weniger als 14 Jahren hatte viele Gründe: Sie hatte von Beginn an viele Feinde und zuletzt zu wenige engagierte Unterstützer. Bereits am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler, in einem Putsch die parlamentarische Demokratie zu beseitigen. Nach ein paar Stunden hatte der Spuk zwar ein Ende, aber Hitler war damit einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Gut neun Jahre später hatte er Erfolg. Er beseitigte unter Beteiligung eines gewählten und zugleich entmündigten Parlaments die Demokratie in Deutschland, stürzte die Welt in einen verheerenden Krieg, beging unsägliche Menschheitsverbrechen und löste unfassbares Leid aus.
Am 9. November 1938 hatte sich in der Reichspogromnacht gezeigt, zu welchem Gräuel das nationalsozialistische Deutschland in der Lage war. Die Novemberpogrome erreichten an jenem Datum ihren grauenhaften Tiefpunkt: Im ganzen Gebiet des Deutschen Reiches wurden jüdische Geschäfte und Einrichtungen zerstört, Synagogen in Brand gesteckt. Hunderte von Juden wurden innerhalb weniger Tage ermordet – ein Fanal des Terrors, der diesem Datum folgen sollte.
Wieder auf den Tag 51 Jahre später fiel in Berlin die Mauer, die nach dem Sieg der Alliierten und der Teilung Deutschlands 1961 von dem sozialistischen Regime in der DDR erbaut worden war – nicht um die eigene Bevölkerung zu schützen, sondern um sie einzusperren. Das, was sich 1989 in Deutschland vollzogen hat, war Ausdruck einer historischen Zäsur der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte. Als im Herbst unzählige ostdeutsche Bürger für die Freiheit auf die Straße gingen und die Berliner Mauer zum Einsturz brachten, das Symbol entsetzlicher politischer Verirrung und menschlicher Tragödien, schufen sie die Grundlage dafür, dass 1990 aus dem Bekenntnis unserer Nationalhymne – Einigkeit und Recht und Freiheit – praktische Gestaltungsprinzipien eines wiedervereinigten Staates wurden. Der 9. November 1989 war der emotionale Höhepunkt der Friedlichen Revolution der Bürger der DDR gegen ein Regime, das seiner Bevölkerung über Jahrzehnte die Freiheit entzogen hatte. Der Mauerfall beschleunigte durch die Symbolkraft der Bilder wie des Ortes den Zerfall der alten Welt des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes und führte binnen knapp eines Jahres zur deutschen Einheit. Er ist weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärer Systeme in Mittel- und Osteuropa geworden.
Damit hat der 9. November auch eine europäische Dimension. Innerhalb kurzer Zeit wurden überall in Mittel- und Osteuropa autoritäre Regime in freien Wahlen durch demokratisch legitimierte Parlamente und Regierungen ersetzt; das machte die Europäische Union, wie wir sie heute kennen, als Gemeinschaft west-, mittel- und osteuropäischer Staaten erst möglich.
Wie in einem Brennglas verdichtet sich in diesem Datum die wechselvolle jüngere Geschichte Deutschlands voll von hoffnungsvollen Höhenflügen, erschütternden zivilisatorischen Abstürzen bis hin zu freudetrunkenen Errungenschaften, eng verwoben mit dem Schicksal Europas. Wie ließe sie sich besser vermitteln und auf den Punkt bringen als an diesem Tag? Kritiker haben vorgebracht, dass das Spektrum der historischen Ereignisse am 9. November zu breit und widersprüchlich sei, dass sich das Gedenken an die Novemberpogrome nicht mit dem freudigen Ereignis des Mauerfalls in Einklang bringen ließe. Aber kommt ebendarin nicht ein geradezu prägendes Merkmal der schwierigen deutschen Geschichte zum Ausdruck? Der vermeintliche Nachteil ist zugleich der größte Vorzug des 9. November als Nationalfeiertag: Das Datum und die damit verbundenen Ereignisse reduzieren den nationalen Gedenktag nicht auf ein einzelnes Ereignis, sondern reflektieren die Komplexität der eigenen Geschichte. Thomas de Maizière hat dazu einmal geschrieben: „Wir sind Erben unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Unsere Vergangenheit prägt unsere Gegenwart und unsere Kultur. Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte. Für uns ist sie ein Ringen um die Deutsche Einheit in Freiheit und Frieden mit unseren Nachbarn, das Zusammenwachsen der Länder zu einem föderalen Staat, das Ringen um Freiheit und das Bekenntnis zu den tiefsten Tiefen unserer Geschichte.“ Genau das kommt beim 9. November zum Ausdruck wie bei keinem anderen Gedenktag.
Es ist sicher richtig, dass Geschichte sich nie wiederholt, aber die Befassung mit historischen Ereignissen taugt mindestens als eine Orientierung für die Bewältigung aktueller und künftiger Herausforderungen. Gerade die Nachkriegsgeschichte Deutschlands belegt eindrucksvoll, dass sich aus der Geschichte eben doch lernen lässt. In diesem Sinne würde der 9. November als Feiertag in einzigartiger Weise die Erinnerung an die grauenvollsten, aber gleichzeitig auch die hoffungsvollsten Episoden in unserer Geschichte wachhalten und verdeutlichen, dass Frieden, Freiheit und Demokratie möglich, aber nie ein für alle Mal gesichert sind. Die Lehren, die wir aus diesem Gedenktag für heute ziehen können, sind ebenso vielfältig wie die historischen Geschehnisse: Demokratie muss erkämpft werden, sie muss aber auch gepflegt und beschützt werden gegen ihre Feinde, denn auch für Demokratien gibt es keine Überlebensgarantie. Wenn durch den 9. November als Nationalfeiertag die historischen Zusammenhänge, die Kontinuitäten und Brüche unserer Geschichte mehr in unser Bewusstsein rücken, wäre dies ein willkommener Beitrag zu unserem demokratischen Selbstverständnis.
Vor allem führen die historischen Ereignisse des 9. November eindrücklich vor Augen, dass jeder Einzelne sich für die Demokratie engagieren muss – eine Botschaft, die mit Blick auf aktuelle Entwicklungen überall in Europa heute wieder besonders geboten ist.
Muss deshalb der 3. Oktober durch den 9. November als Nationalfeiertag abgelöst werden? Natürlich nicht. Wir haben größere und wichtigere Probleme. Aber die Ausgangsfrage war, was ich gern ändern würde.
So wesentlich fachliche Expertise und berufliche Erfahrung in tatsächlicher Hinsicht auch sind, um die Aufgaben eines Parlamentariers erfolgreich bewältigen zu können, so wenig bilden sie in rechtlicher Hinsicht Voraussetzungen für die Übernahme eines politischen Mandates. Vielmehr verzichtet das geltende Recht auf Wählbarkeitsanforderungen, die auf eine abgeschlossene Berufsausbildung und praktische Erfahrung abstellen oder auch nur abzielen würden. Diese offene Ausformung des passiven Wahlrechts hat auf der einen Seite gewichtige Argumente für sich, stellt den demokratischen Verfassungsstaat auf der anderen Seite jedoch auch vor zunehmende Herausforderungen, die Anlass zu einer Reform des geltenden Rechts geben.
Rechtliche Ausgangslage: Die Ausgestaltung des passiven Wahlrechts de lege lata
Das deutsche Staatsrecht der Gegenwart beschränkt sich bei der Ausgestaltung des passiven Wahlrechts auf ein Minimum an Wählbarkeitsvoraussetzungen. Das gilt de lege lata ebenso für die Länder wie auch für den Bund. Stellvertretend belegt dies Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 2 des Grundgesetzes, der seinen heutigen Wortlaut einer 1970 beschlossenen Verfassungsänderung verdankt und bestimmt, dass „wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt“. Das auf diese Weise in Bezug genommene Volljährigkeitsalter lag zum Zeitpunkt der Grundgesetzänderung von 1970 bei 21 Jahren, ist indes durch das 1974 erlassene Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters auf die Vollendung des 18. Lebensjahres abgesenkt worden. Demgemäß legt § 15 des heute geltenden Bundeswahlgesetzes fest, dass wählbar ist, „wer am Wahltage 1. Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist und 2. das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“. Nicht wählbar ist demgegenüber nur, wer infolge Richterspruchs entweder vom Wahlrecht ausgeschlossen ist oder die Wählbarkeit bzw. die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzt. Ähnliche Regelungen finden sich – mit Abweichungen im Detail – auch im Staatsrecht der Länder. Vor diesem Hintergrund eröffnet das geltende Recht heute prinzipiell jedermann die Möglichkeit, sich um ein Landtags- oder Bundestagsmandat zu bewerben bzw. dieses im Falle der Wahl zu übernehmen, sofern nur die formalen Alters- und sonstigen Wählbarkeitsvoraussetzungen gegeben sind.
Für eine solche Ausgestaltung des passiven Wahlrechts sprechen verschiedene Gründe. So dient sie aus der Perspektive des demokratischen Verfassungsstaates zunächst und vor allem der möglichst weitgehenden Realisierung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Prägendes Kennzeichen dieser Demokratie ist die grundsätzlich allen Bürgern offenstehende Möglichkeit der Partizipation. Diese findet ihren Ausdruck in einem entsprechend ausgestalteten Wahlsystem und erfährt eine Konkretisierung nicht nur durch das aktive, sondern auch durch das passive Wahlrecht. Hier spricht sie für eine weitgehend unbeschränkte Zugänglichkeit des Mandats und für eine restriktive Regelung des Ausschlusses von Bürgern aus der Wählbarkeit.
Das Absehen von weitergehenden Wählbarkeitsanforderungen dient indes nicht nur der Verwirklichung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Vielmehr reflektiert es auch die Rechtsstellung des Staatsbürgers, aus der im Sinne eines grundrechtsgleichen Teilhaberechts an der Staatsgewalt nicht nur ein aktives, sondern grundsätzlich auch ein passives Wahlrecht resultiert. Insofern steht die Beschränkung auf ein Minimum an Wählbarkeitsvoraussetzungen auch im Dienste der Verwirklichung eines individuellen Rechts des einzelnen Wahlbewerbers.
Rechtspolitische Analyse: Die Folgen der gegenwärtigen Ausgestaltung des passiven Wahlrechts
Gleichwohl stehen den Vorzügen der geltenden Wählbarkeitsregelung nicht unerhebliche Nachteile gegenüber. Sie resultieren aus dem Umstand, dass junge Menschen – gerade wenn sie sich bereits vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres in den Nachwuchsorganisationen der politischen Parteien engagiert und etabliert haben – nicht selten noch vor dem Abschluss einer Berufsausbildung oder noch vor der erfolgreichen Beendigung eines Studiums die Möglichkeit erhalten, sich mit der Unterstützung ihrer jeweiligen Nachwuchsorganisation und ihrer politischen Mutterpartei aussichtsreich um ein politisches Mandat auf Landes- oder Bundesebene zu bemühen. Selbst wenn es ihnen gelingt, die Ausbildung oder ein Studium vor der Wahl abzuschließen, kommt es nicht selten zu einer Mandatsübernahme noch vor einer ersten regulären Berufstätigkeit, in der praktische Expertise und vielfältige Erfahrungen gesammelt werden könnten. Demgemäß verfügen junge Abgeordnete heute vielfach über ein bereits früh aufgebautes exzellentes Netzwerk innerhalb ihrer jeweiligen Nachwuchsorganisation wie auch innerhalb ihrer jeweiligen politischen Mutterpartei, während es ihnen zugleich nicht selten entweder an einem Ausbildungs- bzw. Studienabschluss fehlt oder an beruflichen und sonstigen Erfahrungen außerhalb des Raumes politischer Parteien mangelt. Begünstigt wird diese Entwicklung dadurch, dass sich der Aufbau persönlicher Kontaktnetze und die Mitwirkung an der Willensbildung in den politischen Parteien heute außerordentlich zeit- und gremienintensiv gestalten, was nicht nur der Erlangung berufsqualifizierender Abschlüsse, sondern auch dem Erwerb praktischer Erfahrungen häufig widerstreitet.
