Gesichter - Andreas Schäfer - E-Book

Gesichter E-Book

Andreas Schäfer

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Beschreibung

Familienurlaub auf einer griechischen Insel. Auf der Rückreise wird der Neurologe Gabor Lorenz am Hafen von Patras Zeuge, wie ein junger Mann auf einen Lastwagen springt, um unbemerkt auf die Fähre zu gelangen, mit der auch Lorenz und seine Familie nach Italien übersetzen. Das Bild lässt Lorenz nicht mehr los. Während der Überfahrt sucht er den Mann und wirft eine Tüte mit Lebensmitteln in den Laster, in dem der Fremde sich versteckt. Zu spät fällt ihm ein, dass sich darin auch Postkarten mit seiner Berliner Anschrift befinden. Es dauert eine Woche, bis die erste dieser Karten bei Familie Lorenz ankommt, abgestempelt in Modena. Kurze Zeit später die zweite – mit Münchner Poststempel. Da weiß Lorenz, dass der Flüchtling näher kommt, dass er auf dem Weg ist zu ihm. Ein diffuses Gefühl von Bedrohung schleicht sich in Lorenz’ Alltag, das sich als Misstrauen in alle Lebensbereiche frisst. ›Gesichter‹ ist ein großer Roman, ein spannendes Seelendrama, das davon erzählt, wie jemand alles aufs Spiel setzt, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu erkennen.

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Seitenzahl: 279

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Andreas Schäfer

GESICHTER

Roman

eBook 2013

© 2013 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Thorsten Marquardt

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8753-8

www.dumont-buchverlag.de

1

Das Meer war schiefergrau, aufgebrochen vom Wind. Männer von der Besatzung winkten Autos zur Rampe. Ein Grenzsoldat verriegelte die Hecktüren eines Lastwagens. Die Luft roch nach Abgasen und verbranntem Gummi.

Gabor Lorenz stand auf der Pier, beruhigt vom Blick auf die andere Seite des Golfs. Die Berge hinter den Küstenhügeln wirkten im Dunst wie eine Fata Morgana, und auf der Uferlinie flackerten schon winzige Lichter: Das zerfurchte Wasser, die Silhouetten des Gebirgsmassivs und, von einer Nadel ins Bild gestochen, die Reihe leuchtender Punkte – er sog die Ansicht auf, als könne er sie mitnehmen wie einen Talisman. Er hatte keine Ahnung, was nach ihrer Rückkehr, was in den Wochen bis zu seinem Vortrag geschehen würde, doch in diesem Augenblick fühlte er sich vorbereitet, sicher. Obwohl das Schiff in Kürze auslaufen würde, war er noch einmal an Land gegangen. Aber es gab nichts zu tun. Er hatte nur diesen Moment für sich allein gebraucht, den letzten Blick aus der Sorglosigkeit des Sommers.

Er schlenderte die Auslagen der Touristengeschäfte entlang, kaufte an einem Stand Bananen und dachte an die Insel. An das Rascheln der Gräser und die rauen Trittsteine auf dem Weg durch die Macchia hinunter zum Strand. Gestern Morgen hatten Ziegen inmitten ihres Kräuterbeets gestanden und mit klingenden Halsglöckchen Thymian und Salbei gezupft, während er mit seiner Frau und den Kindern wenige Schritte entfernt auf der Terrasse gefrühstückt hatte, leise, um ihren Besuch nicht zu vertreiben.

Der dröhnende Motor eines anfahrenden Lastzugs schreckte ihn auf. »Ψάρια-Pesci-Fische« prangte in eisblauen Lettern auf der Seitenwand, darunter schnappten Comicfische mit gebleckten Zähnen nach ihrem eigenen Schwanz. Als der Fahrer den Gang wechselte, setzte der Lärm kurz aus und kam als tiefes, auf der Betonfläche hallendes Brummen wieder. Da bemerkte Gabor eine Gestalt, die am Anhänger des Lastwagens herlief, geduckt, als wollte sie nicht gesehen werden. Im nächsten Moment sprang der Mann in die Nische zwischen Zugmaschine und Hänger und stemmte sich mit einer geschickten Bewegung in die Höhe. Der Saum der Jeans, der Turnschuh wie schwebend in der Luft – schon war von ihm nichts mehr zu erkennen. Gabor starrte ungläubig auf die Stelle, wo er gerade noch eine Hand und den Ärmel eines blauen Sweatshirts gesehen hatte und sich jetzt die Kante eines Stahlprofils langsam entfernte. Er blickte sich um, als hätte er etwas Verbotenes getan. Der Einweiser ging weiter neben der Fahrerkabine. In der Nähe der Müllcontainer unterhielten sich zwei Polizisten, die Maschinenpistolen locker über der Schulter. Ein junges, mit Rucksäcken beladenes Paar eilte vorbei. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Mit seufzenden Federn stießen die Vorderräder auf das Eisen der Rampe, dann schepperte der Laster die Auffahrt hinauf und verschwand im Bauch der Fähre.

Der Himmel war niedrig, wolkenverhangen. Auf der Straße hinter dem Stacheldrahtzaun rauschte der Feierabendverkehr. Die Obsttüte schlug gegen seinen Oberschenkel, während Gabor der Gangway zustrebte, mit einem erhebenden Gefühl des Auserwähltseins und einem darüber vor Schreck geschrumpftem Herzen, das, hart wie eine Holzkugel, gegen die Innenseite seines Brustkorbs hämmerte.

Er fand seine Familie im »Children’s Paradise«, einem fensterlosen Raum unter dem Hauptdeck, und der Anblick seines Sohnes auf der Plattform eines Klettergerüsts rührte ihn, als hätte er ihn lange nicht gesehen. Mit spitzem Schrei fiel Malte in die offenen Arme seiner Schwester, um gleich darauf, begleitet von Eroberungsgeheul, die Rutsche hinaufzustürmen. Eine junge Mutter führte an ihren Zeigefingern ein kleines Kind auf ein Becken mit bunten Bällen zu, sonst war nur Berit anwesend. Einen Kugelschreiber zwischen den Lippen, saß sie auf einer Bank hinter Miniaturhäusern aus pinkfarbenem Plastik und studierte etwas in ihrem zerfledderten Italien-Führer.

»Sag mal, irre ich mich oder befand sich diese Spielhölle vor vier Wochen noch an Deck? Riechst du das? Ammoniak. Die Klimaanlage ist kaputt«, sagte er.

Berit blickte auf, schenkte aber nicht ihm, sondern den Kindern ein Lächeln.

»Vielleicht nicht das gleiche Schiff?«, murmelte sie und las dort weiter, wo die Spitze ihres Zeigefingers lag.

Malte schrie: »Ungerecht«, als Nele ihn dort oben stehen ließ und zu ihnen kam. Ledersandalen, Pumphosen aus türkisem Leinen, weißes Herrenunterhemd, aus dem ihre Schultern und Oberarme fast schwarz hervorsehen – sie hatte diesen Sommer nicht nur ihre pastellfarbenen Shirts gegen die zeitlose Kluft der Hippies getauscht, ihr Gang hatte auch etwas irritierend Frauliches bekommen.

»Gab nur Bananen«, sagte er.

»Keine Pfirsiche?«

»Nur Bananen, leider.« Die Enttäuschung machte aus seiner vierzehnjährigen Tochter wieder ein hilfloses Mädchen. »Kein Wunder, dass du k.o. bist. Ich hab’s genau gehört. Es war nach eins.« Wortlos wandte sie sich ab. »Warum hast du ihn uns nicht mal vorgestellt?«, rief er ihr hinterher.

»Lass sie«, nuschelte Berit und klappte den Reiseführer zu. »Du wirst begeistert sein, aber ich verrate nichts.«

Natürlich nicht. Er fuhr meistens, und sie kümmerte sich um die Gestaltung der Pausen und die Wahl der Überraschungsunterkünfte. Auf der Hinreise hatte sie ihn erst in ein verwunschenes Bergdorf gelotst und darauf in eine von Touristen vergessene Ausgrabungsstätte, die sich – wie von ihr hingezaubert – in der Nähe der Autobahn bei Fano aufgetan hatte.

»Was mit Heizung wäre schön«, sagte er, denn in der Pension hatten wegen der ewigen Schattenlagen spätherbstliche Temperaturen geherrscht. Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich Berits Augen zu Schlitzen.

»Malte, das Schiff legt ab«, sagte sie. »Wir wollen nach oben.« Erst jetzt fiel Gabor auf, dass der Kunstrasen unter seinen Füßen vibrierte. Statt zu kommen, verkroch Malte sich in eines der Häuschen, reichte Nele etwas Unsichtbares durch eine Fensterluke und lachte, als sie die Speise zum Mund führte. Nele klammerte sich dabei am Dach des Zwergenhauses fest, als würde sie sonst vor Müdigkeit umkippen. An den letzten Abenden war sie nach dem Essen noch ins Dorf gegangen, hatte die folgenden Vormittage verschlafen und es vorgezogen, den Rest des Tages mit ihrer neuen Bekanntschaft zu verbringen. Die Überfahrt von der Insel nach Piräus hatte sie, die Stöpsel ihres iPods in den Ohren, auf einer Bank verschlafen und während der drei Autostunden nach Patras schweigend auf die tanzenden Wellen des peloponnesischen Golfs geblickt.

»Völlig übernächtigt«, sagte Berit, nachdem sie eine Weile schweigend das Spiel ihrer Kinder beobachtet hatten.

Als hätte Nele gemerkt, dass über sie gesprochen wurde, zog sie ein komisches Gesicht.

»Geht schon«, rief sie. »Ich komme mit ihm nach.«

An Deck herrschte das übliche Gedränge bei Auslaufen der Fähre. Passagiere drückten sich an die Reling, Rucksacktouristen hatten zwischen den überdachten Bänken mit Isomatten und ausgerollten Schlafsäcken Reviere für die Nacht markiert. Sie ergatterten eine Lücke am Geländer und blickten auf den Hafen und die Uferstraße, Berits Oberkörper ruhte an seiner Brust. Die von Reifenspuren überzogene Pier war leer, Polizisten und Grenzer verschwunden, Auffahrrampe und Treppe längst eingezogen. Ein Junge wuchtete die letzte Tauschlaufe über einen Poller, die wie eine Schlange ins aufgeschäumte Wasser glitt. Der erste Moment zu zweit, seit sie im Morgengrauen durch ihr Haus geschlichen waren, um Mäusefallen in der Vorratskammer und vor der Küchentür zu deponieren. Er drückte seine Nase in Berits Haar, suchte nach einer Stimmung, einer Besonderheit, nach einem sprechenden Detail aus den vergangenen Wochen, um es zu einem weiteren Bild des Sommers zu küren, aber unablässig dachte er daran, was er dort unten beobachtet hatte und was ihm nun wie eine Einbildung vorkam.

»Ich hoffe, das mit der Grube ist bald vorbei«, sagte Berit.

»Welche Grube?«

»Maureen und Timothy. Das Leck in der Abwassergrube. Das verunreinigte Trinkwasser.«

Maureen. Gabor sah ihren silbernen Haarschopf vor sich, der sogleich hinter der metallic grünen Hecktür des Range Rovers verschwand. Fluchend versuchte die ältere Dame einen vollen Wasserkanister von der Ladefläche zu heben, und um ihre Qualen zu beenden, sprang Gabor ihr bei, wuchtete das Monstrum aus dem Wagen, trug es durch den Garten zur Haustür und weiter bis zur offenen Küche. Noch als er ihn längst abgesetzt hatte und mit dem Daumen die schmerzende Kerbe in seiner Handfläche rieb, schimpfte sie über die verkommenen Insel-Handwerker, die erst beim Bau der Grube gepfuscht hätten und jetzt mit fadenscheinigen Argumenten die Reparatur verzögerten. »Keinen Euro kriegen die. Keinen einzigen.« Maureen und Timothy, das früh pensionierte Ärztepaar aus London Hampstead, das seit fünf Jahren das aufwendig instand gesetzte Haus auf dem benachbarten Grundstück bewohnte, von denen vor allem Timothy die ersten drei ihrem Anwesen an der Dordogne nachgejammert und die letzten zwei damit gedroht hatte, den ganzen rubbish wieder zu verkaufen und nach Kroatien umzusiedeln, wo die Preise noch realistisch und die Menschen bescheidener wären. Stramme Walker, die im Morgengrauen die Hänge des Profitis Ilias hinaufstürmten, Schachspieler, Winterschwimmer mit fester, immerbrauner Haut. Berit ließ sich hin und wieder zu einem Aperitif auf ihre Terrasse locken, aber Gabor hielt sich meistens fern und vermied, wenn es ihm denn gelang, auch das fachbezogene Geplänkel, das Maureen, die lange auf einer Notfallstation gearbeitet hatte, über das Feldsteinmäuerchen hinweg führen wollte, indem er so tat, als begriffe sein Fachidiotenhirn ihre Anspielungen nicht. Berit glaubte, dass die beiden ihren britischen Dünkel nur hervorkehrten, weil sie vor fast einem Jahrzehnt ihre Insel verlassen hatten und seitdem heimatlos durch den Süden des Kontinents tingelten, als Schutz, als eine Art Sicherheit gewährende Maßnahme. Aber ihn interessierte nur das, was er sah und hörte, und das waren süffisant gelüpfte Augenbrauen und abfällige, zustimmendes Lachen erpressende Bemerkungen über Land und Leute. Immerhin vergötterten sie Malte, der sie Mo und Timmy nannte und bei ihnen ein- und ausspazierte, als wäre er dort zu Hause. Ein Zuhause, in dem trotz Klimaanlage und Satellitenschüssel für Empfang der BBC neuerdings unkomfortable Zustände herrschten, denn durch ein Loch in der Abwassergrube gelangte auf geheimnisvolle Weise verunreinigtes Wasser in ihre Leitungen und schoss als bräunliche, intensiv riechende Brühe aus den Hähnen.

»Ein paar Wasserkanister schleppen schadet gar nicht«, sagte er.

Berit löste seine Hände von ihrem Bauch und beugte sich vor. Eine Möwe schnappte im Flug nach Brotstückchen, die jemand so geschickt in die Luft warf, dass der Vogel nur den Schnabel aufzureißen brauchte.

»Eben habe ich etwas beobachtet«, sagte er. »Ein blinder Passagier. Ist neben einem Laster hergelaufen und dann aufgesprungen. Ein Junge, ein Mann, ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.«

»Wahrscheinlich einer von den Männern hinter dem Zaun«, sagte Berit und stützte sich auf die Reling.

»Du hast Männer am Zaun gesehen?«

Sie sah ihn an, erstaunt, dann belustigt. Eine Nadel, die tief in ihm einen Punkt der Empörung traf. Sein Rücken verhärtete sich, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub und zur kleiner werdenden Stadt blickte. Die Kuppeln der Kirchen in der Altstadt waren von einem kreidigen Rot, und die Betonbauten am kahlen Hang weiter oben verloren mit jedem Meter an Hässlichkeit. Die Gipfellinie des Bergmassivs hinter Patras erinnerte ihn an einen gestauchten Wurm.

»Und, hat er’s geschafft?«, fragte sie.

In diesem Moment erscholl vertrautes Begeisterungsgeschrei. Ihr Sohn stürmte ihnen entgegen, die Arme wie Flügel ausgebreitet, und warf sich gegen Berits Beine, während Nele mit hängenden Schultern weiter hinten stehen blieb. Sie sah aus, als bräche sie gleich in Tränen aus.

»Was ist los?«, fragte er, nachdem er zu ihr gegangen war.

Nele schwieg. Er berührte sie am Arm.

»Komm. Wir gehen ein bisschen.«

In der ersten Woche waren Nele und er das einzige Mal diesen Sommer zusammen gewandert: vom letzten Perlendorf zu den verfallenen Kapellen von Paleochora und dann über die steinige Ostflanke bis zum Höhenweg, der sie durch flechtenüberzogenes Geröll zum nördlichsten Gipfel der Insel geführt hatte. Wie eine Gallionsfigur thront hoch über der zerklüfteten Steilküste eine Kapelle mit knatternder Flagge im Wind. Stunden später waren sie müde in die Korbsessel von Ilias’ Café gefallen und Nele hatte, albern vor Erschöpfung, Schulgeschichten erzählt, denen er kaum folgen konnte. Zwei Wochen später wäre solch eine Vertrauensseligkeit unvorstellbar gewesen, Nele war nur noch gelangweilt mit einer Schnute herumgelaufen und hatte für alles, was er sagte, ein genervtes Stöhnen übrig. Dennoch versuchte er jetzt an die schweigsame Wanderverbundenheit anzuknüpfen, indem er sie auf den offenen Seitengang führte und mit ihr zum Bug spazierte. Es ging ein schwacher Wind, der Himmel hatte sich zugezogen, erst weit über den Festlandbergen franste die Wolkendecke zu Schlieren aus und offenbarte einen rötlichen Abendhimmel. Die Küste, die ihm vom Hafen so verlockend erschienen war, hatte aus der Nähe keinerlei Reiz. Nichts als eintöniges Gesträuch. Sie setzten sich in einen Aufenthaltsraum, in dem einige Rucksackjungen auf dem Boden schliefen, und Nele zog sofort einen Fuß auf das Polster des Sitzes, stützte ihr Kinn aufs Knie und verharrte in abwartender Eidechsenstarre.

»Schön, dass du noch einmal mitgekommen bist«, sagte er, als für sein Empfinden genug Zeit vergangen war.

Seine Tochter rührte sich nicht.

»Sehr müde?«

Statt einer Antwort die Andeutung einer Grimasse, zu der sie mit den Augen rollte. Er sah sie lächelnd an, bis ihr hin und her schlingernder Blick widerwillig in seinen rastete.

»Vermisst du ihn schon?«

Sie zog sich eine Strähne vors Gesicht, kastanienbraunes Haar, das als zentimeterbreiter Vorhang straff bis zum Kinn lief. Vor drei Jahren, als ihr Körper begonnen hatte sich zu verändern, hatten sich kleine Ausbuchtungen auf ihrer Nase bemerkbar gemacht, charmante Ansätze winziger Flügelchen, die ihre bis dahin makellose Spitze verbreiterten, und sie hatte im Badezimmer regelrechte Verzweiflungstänze aufgeführt und war, um den erschreckenden Plan ihres Wachstums zu durchkreuzen, vergeblich wochenlang mit einer aufgesteckten Wäscheklammer herumgelaufen. Jetzt schnellten ihre Augenbrauen zusammen, als kämpfte sie gegen die Wucht einer Erinnerung.

»Ach, ich will ihn sowieso nicht wiedersehen. Er lästert so viel.«

»Über dich auch?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Vielleicht ist er nur nervös, wenn er mit dir zusammen ist.«

»Papa!«

Die Abscheu auf ihrem Gesicht über seine Ahnungslosigkeit, als hätte er das Schlimmste, das Dümmste gesagt, das überhaupt möglich war. Gabor musste an den Mann auf dem Laster drei oder vier Decks unter ihnen denken, dessen Angst, entdeckt zu werden, er sich konkreter vorstellen konnte als das Empfindungsgemisch, das seine Tochter zu quälen schien.

»An welchem Strand wart ihr denn?«

»Mal hier, mal dort. Er hatte ein Boot.«

»Ein Ruderboot?«

»Ein Motorboot. Wir warten bei den Nordbuchten .«

Um seine Bestürzung nicht zu zeigen, starrte Gabor durch die Glastür ins Treppenhaus, wo alles messingfarben glänzte, der Handlauf, die Rahmen der Bilder und die Einfassung des Übersichtsplans, während er für einen schmerzhaften Moment seine Tochter auf der weißen Lederbank eines Sportbootes neben einem der Russen sah, die neuerdings in den Perlendörfern residierten, denn die Buchten der Nordhälfte waren nur mit Schnellbooten zu erreichen.

»Was für ein Motorboot?«

»Ein Boot halt. Zum Wasserskifahren.«

Ihr Gesicht war unter dem braunen Vorhang nicht mehr zu sehen. Sie pulte am Nagel ihres kleinen Zehs. Er wartete, jetzt Nele fest im Blick, aber sie schaute nicht auf.

»So, meine Liebe, jetzt reicht’s aber. Ich kann verstehen, dass du deinen Eltern nicht erzählst, wen du wann triffst, aber du bist vierzehn Jahre alt und gestern Nacht um halb zwei nach Hause gekommen! Wie alt ist der Kerl?«

Sie spreizte ihren kleinen Zeh ab, auf dessen Nagel der graue Lack wie eine Ascheflocke saß.

»Ist doch egal. Ich seh ihn sowieso nicht wieder.«

»Das ist nicht egal.« Sie schwieg. »Ich höre.«

»Achtunddreißig. Aber was spielt das –«

Er war so perplex, dass ihm die Worte fehlten. Er stammelte: »Nele, weißt du, dass …« Doch sie schob ihr Haar zur Seite und zeigte ihr Grinsen, triumphierend und enttäuscht darüber, dass er sich so leicht hinters Licht führen ließ.

»Mensch Papa! Er ist achtzehn. Es war das Boot seines Vaters. Wir waren am Steinstrand um die Ecke, wo früher die Taverne mit dem Strohdach stand.« Sie kicherte, wollte etwas sagen, doch im nächsten Moment starrte sie abwesend durch die Scheibe. »Ich bin müde«, sagte sie.

Er begleitete sie zur Kabine, und Nele wälzte sich so, wie sie war, auf die obere Koje und zog wortlos das Laken bis unters Kinn.

Als er leise die Tür hinter sich zuzog, kam ein Mann mit gerötetem Gesicht schwankend den Gang entlang. Gabor nickte, blieb aber unbewegt stehen, die Hand noch am Knauf, selbst als der Mann schon in seiner Kabine verschwunden war. Das Dröhnen der Maschinen klang fern. Er schloss die Augen, um das leichte Schwanken des Schiffes wahrzunehmen, aber da war nur die gleichmäßige Erschütterung der Auslegeware unter seinen Schuhen. Sein Magen hob sich, als er an die Kraft dachte, mit der die gewaltigen Schrauben den Rumpf durchs Wasser schoben. Wahrscheinlich dunkelte es bereits, war die Küste nur noch eine entfernte Ahnung. Gabor sah den menschenleeren Gang hinunter, die Dutzenden geschlossenen Türen aus furniertem Kirschholz.

Wir sind im Restaurant direkt hinter den lärmenden Spielautomaten. Und ihr? Bringst du für Malte eine Banane?, hatte Berit geschrieben. Er starrte aufs Display, während er an den Moment auf der Pier dachte: die gebückte Haltung des Mannes, ein kurzer Anlaufschritt, dann ein Sprung und der schnelle Griff, mit dem er sich in die Lücke gezogen hatte, eine fließende Bewegungsabfolge wie tausendmal geübt. Er tippte: Sie ist müde. Ich bringe sie zur Kabine. Er schickte die Nachricht ab und schaltete das Telefon aus.

Es gab weder Kontrolleure noch sonst jemanden. Auf der Treppe drückte sich nur ein Zimmermädchen mit einem Wäschesack verschämt an ihm vorüber. Er hatte erwartet, dass die Tür zu den Parkdecks abgeschlossen sein würde, aber als er die Klinke drückte und die Schulter gegen das schwere Eisen stemmte, wich sie zurück. Der Lärm war ohrenbetäubend, ein Klopfen oder Stampfen, das den Boden zittern ließ. Die Decke war so niedrig, dass er sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Im bläulichen Licht der Leuchtstoffröhren standen die Reihen der Wagen so eng, dass sich die Türen kaum öffnen ließen. Gabor zögerte. Es war kein Mensch zu sehen. Er stieg über Tauberge, zwängte sich an einem Motorrad vorbei, das mit Gurten gesichert wurde, und gelangte über eine Treppe auf das tiefer liegende Deck. Hier unten war die Luft noch drückender, es roch nach Diesel und dem gummierten Plastik der Planen, und es kam ihm vor, als hätte das Schiff Schräglage, der Boden neigte sich, aber das musste eine Täuschung sein. Die Lastwagen bildeten gewaltige Mauern, und in den Nischen und Zwischenräumen war niemand zu sehen.

Er bewegte sich planlos, ohne Vorsatz. Eingeklappte Spiegel, Straßenkarten, Thermoskannen auf den Ablagen hinter den Windschutzscheiben. Die meisten Wagen hatten griechische Kennzeichen, einige Züge kamen aus Deutschland oder Österreich. Türkei, Rumänien, er bemerkte einen aus Italien, doch die Scheibe war nicht getönt wie die des Fischtransporters. Er blieb stehen und lauschte. Nur der Lärm der Maschinen. Er ging auf die Knie und schaute zwischen riesigen Rädern unter den Fahrgestellen hindurch. Nichts. In der Nähe des Bugs entdeckte er endlich die Comicfische auf der Seitenwand. Gabor musste sich erst bis zur Schiffswand vorarbeiten, näherte sich dem Transporter von hinten. Er balancierte über Gerüststangen und Eisenträger, die sich festgezurrt an der Wand türmten, drückte, als er nah genug gekommen war, seinen Rücken nach hinten, um den Schriftzug zu lesen – »Ψάρια-Pesci-Fische« –, doch in diesem Moment musste sich die Sicherung gelöst haben, denn die Stangen unter ihm begannen zu schlingern, sein Fuß trat ins Leere, er verlor das Gleichgewicht und konnte gerade noch die Hände hochreißen, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu fallen.

Verschwommen sah er die Rundung eines Reifens, weiter hinten die weiße Bananentüte, die bis eben an seinem Handgelenk gehangen hatte. Erst jetzt spürte er das Kratzen der staubigen Luft in der Nase. Er konnte seinen rechten Fuß nicht bewegen. Zwei Stangen hatten ihn unter sich begraben. Er schloss die Augen, hielt die Luft an und zog vorsichtig, aber der Druck auf dem Knöchel war zu stark. Er legte seine Wange auf den geriffelten Eisenboden, wartete einen Moment und versuchte es erneut, aber es ging nicht. Plötzlich war da ein Scharren, direkt neben ihm. Als er die Augen öffnete, sah er Jeansbeine und das Gummi von Turnschuhsohlen. Gabor hob den Kopf und blickte erstaunt in das Gesicht eines Mannes. Er hatte dunkle Locken mit einer kalkweißen Staubschicht, die Wangen waren eingesogen, die Augen aufgerissen, als wäre auch er verwundert, Gabor zu sehen, doch bevor er etwas sagen konnte, verschwand der Mann aus seinem Blickfeld. Kurz darauf verringerte sich das Gewicht, und Gabor zog den Fuß vorsichtig hervor. Im nächsten Moment wurde er unter den Achseln gepackt und nach oben gerissen. Der stechende Geruch nach Schweiß und lange getragener Kleidung nahm ihm fast den Atem. Während Gabor den Fuß belastete, explodierten Sterne vor seinen Augen, doch der Schmerz ließ schnell wieder nach. Der Mann stand neben ihm, unruhig, obwohl er sich nicht bewegte. Er war einen halben Kopf kleiner als er, seine Schultern waren unter dem blauen Sweatshirt angezogen, und jetzt fielen Gabor die dichten Brauen auf, sichelförmig geschwungen, die fordernde Ungeduld in seinem Blick. Gabor lehnte die Schulter gegen den Laster, um seinen Fuß zu entlasten, und als wäre dies eine Aufforderung, lief der andere an der Seitenwand entlang, einen Rucksack über der Schulter, den Gabor vorher übersehen hatte, wandte sich noch einmal um, bevor er hinter den Wagen huschte. Mit zwei Schritten war Gabor bei der Tüte mit den Bananen, hob sie auf, ohne auf das Stechen im Knöchel zu achten. Er humpelte dem Mann hinterher bis zur Rückseite, wo die Klappe offen stand. Kälte strömte ihm entgegen, als er die Tür weiter öffnete. Er spürte den Blick aus dem Innenraum, schleuderte die Tüte hinein und schloss den schweren Türflügel.

Wenig später saß er auf dem Klodeckel einer Herrentoilette und betastete die aufgeschürfte Haut an seinem Spann und die Schwellung oberhalb seines Knöchels. Er spürte bei jedem Schritt noch ein leichtes Ziehen, humpelte aber nicht mehr. Beruhigt zog er Socke und Schuh wieder an, klopfte den Staub von den Kleidern und verließ die Kabine. Im Vorraum inspizierte er im Spiegel seine Wange, aber die Rötung war so schwach, dass sie bei der Bräunung seines Gesichts kaum auffallen dürfte. Seine Augen waren geweitet, als hätte er eine Prüfung bestanden.

»Da ist er ja!«, sagte Berit, als Gabor sich zu ihnen setzte. Sie hatten schon gegessen und spielten an einem Fenstertisch Uno.

Sein Sohn sagte stolz: »Ich gewinne!«

»Ich habe sie ins Bett gebracht. Sie war müde.« Er warf Berit einen schnellen Blick zu und hoffte, dass sie nicht nach der Banane für Malte fragte, aber sie nickte nur, während sie die Karten verteilte, und als sie lächelnd aufschaute, flutete Wärme seinen Bauch. Ihr Haar war mit einer Spange im Nacken zusammengefasst und die Sommersprossen auf ihrer Stirn hatten sich unter der Sonne zu einem Fleck mit dem gezackten Umriss eines unbekannten Landes zusammengeschlossen. Die ausgeprägten Wangenknochen, ihre gerade Nase und der vorspringende Mund, nach sechzehn Jahren staunte er noch immer über die Klarheit ihrer Konturen. Ihr Gesicht schien den Raum zu teilen, vorwärtszustreben, geradewegs auf ihn zu.

»Hast du Hunger?«

Er schüttelte den Kopf. Sie spielten drei Partien und ließen ihren Sohn die letzten beiden gewinnen. Danach kletterte Malte auf Berits Schoß und zog ein Buch mit Vogelzeichnungen aus der Tasche. Übermütig tippte er auf die Bilder und krähte: »Blaumeise. Rabenkrähe. Purpurreiher. Zebrafink.«

Gabor bewegte unter dem Tisch seinen Fuß hin und her. Selbst das Pochen hatte inzwischen nachgelassen, stellte er erleichtert fest, und während Berit mit Malte das Buch durchsah, fielen ihm die Karten ein. Wie im letzten Jahr hatte er auch diesen Sommer fünf oder sechs Postkarten an Berit geschrieben, hingeworfene Aufzeichnungen von dem, was er hörte oder roch, Dialogfetzen vom Nachbartisch, Einkaufslisten, Aufzählungen unscheinbarer Dinge, die ihm ins Auge fielen, kurze Momentaufnahmen, die er in den nächsten Wochen in unregelmäßigen Abständen in den Briefkasten werfen würde, um sie als romantische Kassiber in den wieder einsetzenden Alltag zu schmuggeln und die Leichtigkeit des Sommers bis in den Herbst zu erhalten. Nach dem Urlaub im vergangenen Jahr hatte er die erste schon von einer italienischen Raststätte abgeschickt und die restlichen in Berlin immer dann eingeworfen, wenn die Ferienstimmung drohte in Vergessenheit zu geraten. Als die erste Karte eintraf, hatte Berit einige Sekunden verständnislos auf den kryptischen Text gesehen, bis sie das G. am Ende schließlich mit ihm in Verbindung brachte. Ihre Überraschung, ihre erst gerührte, dann impulsive Reaktion hatten ihn selbst verwundert. Bis in den klammen Oktober hinein hatten die Karten an der Lampe ihres Nachttischs gelehnt, und jedes Mal, wenn er beim Betreten des Schlafzimmers einen Strandausschnitt oder den wolkenumkränzten Kegel des Profitis Ilias sah, war alles wieder da, auf den zwanzig Quadratmetern eines Reihenhauszimmers mit Blick auf Ahornhecke und Berliner Mischwald: der erhabene Wind, die Hitze, die schwadenweise aufsteigenden Düfte nach Lorbeer, Thymian und Melisse.

Unwillkürlich rutschte seine Hand unter das Revers seines Jacketts, in dessen Futter der Umschlag mit den Karten steckte, doch als seine Finger den Stoff der Tasche ertasteten, war sie leer. Er klopfte auch die anderen Taschen ab. Nichts. Bis ihm einfiel, dass er den Umschlag beim Bezahlen des Obstes mit dem Portemonnaie aus dem Sakko gezogen und danach zu den Früchten in die Tüte gesteckt hatte. Er hatte die Karten, auf denen groß und deutlich ihre Adresse stand, dem Mann in den Laster hinterher geworfen.

»Warum guckst du so?«, fragte Berit. »Du denkst wieder an deinen Vortrag, oder? Mach dir keine Sorgen.«

In ihrer Stimme war ein nicht zu überhörender Unterton. Sie ging davon aus, dass er die Stelle ohnehin bekäme, und hielt seine Zweifel für Eitelkeit.

Als Arzt war Gabor daran gewöhnt, Dinge genau zu betrachten, sein Möglichstes zu tun, und wenn das nicht ausreichend war, die Schicksale seiner Patienten schnell hinter sich zu lassen, sonst hätten sie ihn inzwischen um den Verstand gebracht. Er bedauerte den Verlust der Karten, aber sie beschäftigten ihn nicht weiter. Nachts in der Enge der Kabine – Berits Hand ruhte auf seiner Brust und er hörte den Atem seiner schlafenden Kinder – hatte er eine Weile wach gelegen und an den Mann in seinem Versteck gedacht, und auch während des Frühstücks blieb das Wissen um ihn als unangenehmes Kratzen am Rand seines Bewusstseins präsent, doch spätestens, als er mit Malte im Pool auf dem Sonnendeck herumtollte, schüttelte er die letzten Reste dieses Unbehagens von sich. Dennoch war Gabor froh, als am nächsten Nachmittag die Küste Apuliens mit ihren unansehnlichen Hochhaussiedlungen sichtbar wurde und er die Fähre und das, was sich auf ihr abgespielt hatte, bald würde vergessen können.

2

Der Blick ging von der Kirche am Stern über den Gasometer bis zu den Hochhäusern an ihrer Autobahnabfahrt, aber trotz der spektakulären Aussicht war der Raum meist leer. Die Schalensitze aus Plastik erinnerten an den Wartesaal eines Einwohnermeldeamts, der Fernseher war winzig und aus irgendeinem Grund roch es unangenehm nach Bohnerwachs. Wenn sich doch einmal ein Patient hierher verirrte und im Bademantel vor dem Morgenprogramm hockte oder ein Buch las, weil er das Gejammer seines Zimmernachbarn nicht ertrug, verließ er kurz nach ihrem Erscheinen den Raum. Zwei Ärzte auf Patiententerritorium wirkten offenbar bedrohlich.

Auch jetzt war niemand da, und Gabor drehte dem gut gelaunten Moderator die Stimme ab, bevor er im Stehen ungeduldig durch eine Autozeitschrift blätterte, während Kaffee aus dem Automaten in einen Becher lief. Es war wie immer, und es ärgerte ihn: Selbst wenn Gabor zu spät kam – Yann erschien noch später. Als Gabor gerade gehen wollte, stand der alte Freund, die Arme ausgebreitet, in der Tür.

»Man kann es sehen: Du warst auf einer Insel!«

»Wie du aussiehst, brauch ich dir nicht zu sagen.«

Sie umarmten sich, kurz und fest.

Yann wippte zufrieden auf den Fußballen. Er war schon seit zwei Wochen wieder zurück, aber sein langes helles Haar war noch strohig von der andalusischen Sonne und seine Gesichtshaut von einer tiefen Bräune, die nur Seglern oder Surfern oder, wie in Yanns Fall, Kiteboardern vorbehalten war, also den Verrückten, die von morgens bis abends über aufgewühltes Wasser bretterten.

»Kaffee?«

Yann schüttelte den Kopf, und sie stellten sich ans Fenster. Die Glaskuppel des Reichstages gleißte im Morgenlicht, trotz der frühen Stunde wand sich schon der Ameisenzug der Besucher die Spirale hinauf. Aus dem Tiergarten schob sich der lang gezogene Quader des Kanzleramtes, weiter hinten ragten Dachbögen einer Konzerthalle aus den Bäumen. Aus einer Art Besitzerstolz heraus hatte Gabor bei der Stationsbesichtigung vor drei Jahren Yann diesen Raum als Letztes gezeigt, und seitdem eröffneten sie ihre Zusammenkünfte immer gleich: mit andächtigem Schweigen. Gabor hob den Becher an die Lippen, sog vorsichtig die bittere Flüssigkeit in den Mund. Die Freude darüber, wieder hier zu stehen, war größer als erwartet.

Sie hatten in Freiburg zusammen studiert und sich danach über zehn Jahre aus den Augen verloren. Während Gabor in Köln und Zürich die Stufen bis zur Facharztprüfung erklomm, war Yann in Freiburg geblieben, um nach einem Erfolg versprechenden Anfang in der Phantomschmerzforschung plötzlich zu kündigen und erst auf Lanzarote, später in einem Krankenhaus auf Fuerteventura und schließlich in einer Klinik in Mexico City das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Schon während des Studiums hatte Gabor über die Leichtigkeit gestaunt, mit der Yann der Stoff zuflog, und sich über die Gleichgültigkeit gewundert, die er seiner Begabung entgegenbrachte. An einem frühsommerlichen Sonntagabend vor drei Jahren, Berit und er saßen gerade mit dem im Kinderwagen schlafenden Malte beim Essen auf der Terrasse, hatte er aus dem Nichts heraus bei ihm angerufen und Gabor unumwunden um einen Job gebeten. Zu seiner eigenen Verwunderung hatte es Gabor keinerlei Mühe gekostet, Yann die Stelle eines Stationsarztes zu beschaffen, außerdem nahm er ihn in seine Forschungsgruppe zur Gesichtsblindheit auf, in der Yann sich zum Chefautor entwickelte, was angesichts seiner Erfahrung nicht verwunderte, obwohl ihn die Fragen der Prosopagnosie nicht sonderlich interessierten.

»Herrlicher Wind«, sagte Yann. »Und bei euch?«

»Heiß. Kaum Wanderungen, wenige Ausflüge. Aber Malte behauptet jetzt, er könne schwimmen, was nicht stimmt.« Gabor kniff die Augen zusammen, um die Farben der Flagge zu erkennen, die vor dem Kanzleramt an einem Mast hing. »Und Nele ist unglücklich verliebt. Ein absolutes Geheimnis. Wir wissen nicht einmal, wie er heißt.«

»Sind doch schön, solche väterlichen Sorgen.«

Statt etwas zu erwidern, nickte Gabor Richtung Tiergarten.

»Wer ist da zu Besuch?«

Yann hob den Sucher seines Mobiltelefons vors Auge, zoomte den marmorhellen Kasten heran. Ein paar Sekunden herrschte Stille.

»Slowenien. Und wie geht es Berit?«

»Der neue Job gefällt ihr. Das Wort ›Schweigepflicht‹ hat in unserer Familie neuerdings eine ganz andere Bedeutung.«

»Das musst du verstehen. Endlich hat sie Arbeit, die sie mag. Ausgleichende Gerechtigkeit nennt man so etwas.«

Etwas störte ihn an Yanns Parteinahme für Berit, wahrscheinlich nur die Tatsache, dass Gabor keinen ähnlich vertraulichen Satz über Yanns Frau sagen konnte, denn Yann war nicht verheiratet. Einmal hatte er eine gewitzte Anwältin in knallengen Jeans mit zu ihnen gebracht, ihren Namen danach aber nie wieder erwähnt, und Gabor ging davon aus, dass Yann ihr unstetes Studentenleben von damals bis heute fortsetzte. Er brachte Yann deshalb noch immer mit einem unerhört gut aussehenden Mädchen mit Locken und heller Porzellanhaut in Verbindung, mit dem er zusammen gewesen war, bevor Gabor nach Köln gezogen war. Aus den Augenwinkeln sah Gabor auf dem Bildschirm den hellen Fleck einer Wetterkarte, Europa farblich aufgeteilt nach den Temperaturzonen, der Zipfel unten rechts leuchtete Dunkelrot.

»Kommst du Freitag zum Essen?«, fragte er.

»Gern«, sagte Yann. Und dann, bevor Gabor danach fragen konnte: »Übrigens: Keine Neuzugänge, die für uns interessant sein könnten.«

Der knappe Bericht der Stationsschwester, den er im Glasverschlag der Anmeldung zur Kenntnis nahm, durchs Fenster eine nach Tegel einschwebende Maschine im Blick, deren Unterseite wie schmorend im Licht gleißte. Die konzentrierte Stille während der Röntgenbesprechung, die Gerüche und bekannten Wege. Gabor glitt in die Abläufe hinein wie Finger in einen Handschuh, der sich so bequem der Haut anschmiegt, dass er sich fragte, wie er dieses vertraute Gefühl jemals hatte vergessen können. Ein spätsommerlicher Tag, die Schule hatte begonnen, und auf der Station lag selbst am Mittag noch eine verschlafene Stille. Aber er vergaß sein Mobiltelefon lautlos zu stellen. Während der Oberarztvorstellung drangen zweimal die rauchigen Klagelaute von Miles Davis’ »Kind of Blue« aus seiner Hosentasche, was seine jungen Kollegen mit versteinerten Mienen überhörten. Wieder in seinem Zimmer, sah er eine Weile auf das Display, bis er die Nummer endlich Timothy und Maureen auf der Insel zuordnete. In Sorge, dass etwas mit dem Haus nicht in Ordnung sein könnte, wollte er gleich zurückrufen, wurde aber unterbrochen.

»Entschuldigung. Ich habe geklopft, ich dachte … Ich komme später wieder.« Das Gesicht bleich, als hätte sie in den letzten Wochen auch die Nächte auf der Station verbracht, stand eine seiner Mitarbeiterinnen in der Tür.

»Was gibt’s denn?«

»Ich wollte, wahrscheinlich wissen Sie es schon«, sagte Lavinia Seidler. »Wir haben einen Patienten mit kongenitaler Prosopagnosie. Höchstwahrscheinlich.«

Überrascht drückte er den Rücken in die Lehne.

»Nein. Das weiß ich noch nicht.«

Sie stemmte die Hände in die Taschen ihres Kittels, während ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huschte. Lavinia. Was immer ihre Eltern sich bei der Wahl dieses Namens von ihrer Tochter erträumt hatten – sie dürften zufrieden sein. Keine Opernsängerin, aber seit einem Jahr in seiner Gruppe und so ehrgeizig, dass sie das Team bald wieder verlassen würde. Wie er war auch sie über die Demenzforschung zur Gesichtsblindheit gelangt, doch die immer gleiche spitzfindige Frage – warum können manche Menschen keine Gesichter wiedererkennen? – und die bescheidenen Behandlungsmöglichkeiten der Betroffenen hatten schon begonnen, sie zu langweilen. Ihr Forschungshunger würde sie vermutlich erst zu einem der spektakulären bildgebenden Verfahren treiben, um sie darauf, diesen Dreischritt hatte Gabor bei der nachwachsenden Generation mehrfach beobachtet, zu den Geheimnissen der tiefen Hirnstimulation zu führen.

»Männlich oder weiblich?«, fragte er.

»Männlich. Sechsundfünfzig. Wurde nach einem Verkehrsunfall mit leichtem Schädelhirntrauma zur Beobachtung aufgenommen und klagte über Photopsien. Nur ein leichtes Flimmern, das innerhalb weniger Stunden nachließ. Ich habe den Prominententest durchgeführt. « Sie versuchte ernst zu bleiben, aber ihr Mundwinkel zuckte, als sie sagte: »Zwanzig Prozent. Hat nicht einmal Michael Jackson erkannt. Station zwei. Karsten Sieverth.«