1,99 €
Im französischen Zentralmassiv liegt das kleine Dorf Beaulence, das zum Schauplatz unbeschreiblichen Grauens wird. Der Satan persönlich zieht die Fäden bei den schrecklichen Vorfällen, die sich dort ereignen. Hexen haben sich in dem Dorf eingenistet, und
ihre Anführerin ist die scheinbar junge Lucienne Delors. Doch so jung, wie sie aussieht, ist sie nicht - seit über 300 Jahren treibt sie schon ihr Unwesen, denn sie ist Luzifers Tochter.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 129
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Luzifers Tochter
Vorschau
Impressum
Luzifers Tochter
von Philippe Pascal
Die Abenddämmerung legte sich bereits über das Land, als Jacqueline Gilesse durch das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs von Beaulence trat. Als wäre es ein Willkommensgruß aus dem Jenseits, drang der schaurige Ruf eines Nachtvogels von den bewaldeten Hügeln, die den Gottesacker an drei Seiten umgaben. Fröstelnd lenkte die junge Frau ihre Schritte den kiesbestreuten Mittelweg des Friedhofs entlang. In den Kronen der Ulmen beiderseits des Weges rauschte der kühle Aprilwind, der den Bäumen ein dämonisches Leben einzuhauchen schien. Wie leises Wispern klang das Rascheln, und die vom Wind hin- und hergerüttelten Äste glichen gierig greifenden Riesenfingern.
Dem kleinen Dorffriedhof haftete schon bei Sonnenschein die Ausstrahlung des Verwunschenen und Geheimnisvollen an; im Zwielicht des ausklingenden Tages wirkte er geradezu gespenstisch – eine Kulisse wie geschaffen für das Böse ...
Noch ahnte Jacqueline nichts von dem Grauen, das hier auf sie lauerte. Auf dem Friedhof von Beaulence sollten Ereignisse ihren Auftakt nehmen, die ein ganzes Dorf in unvorstellbare Wiese mit den Raffinessen der Höllen konfrontieren würden. Niemand anderer als der Teufel persönlich zog die Fäden!
Jedes Mal, wenn Jacqueline Gilesse durch das Portal des Friedhofs von Beaulence schritt, hatte sie das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.
Schon beim ersten Anblick der steinernen Grabtafeln fiel alles Gegenwärtige wie ein Kokon von ihr ab, und der dunkle Schmetterling schmerzhafter Erinnerung begann mit seinen noch feuchten Flügeln zu schlagen. Er flatterte zurück in die jüngste Vergangenheit. Jacqueline Gilesse dachte an ihren Sohn Dominique, der im Alter von drei Monaten plötzlich verstorben war.
Vor einer Woche hatte man den Säugling zu Grabe getragen, und seither suchte Jacqueline Gilesse jeden Abend die letzte Ruhestätte ihres Sohnes auf, um dort stumme Zwiesprache mit ihm zu halten.
Dominique war ein Wunschkind gewesen, der glanzvolle Höhepunkt in der gemeinsamen Lebensplanung von Jacqueline und ihrem Gatten Bernard, den sie vor nicht ganz einem Jahr geheiratet hatte. Die Geburt war komplikationslos verlaufen, sodass Jacqueline schon nach wenigen Tagen als frisch gebackene Mutter das Spital mit einem gesunden Jungen wieder verlassen hatte. Von da an war Dominique der Mittelpunkt des familiären Geschehens gewesen, und er hatte sich unter der Fürsorge und Pflege seiner Eltern prächtig entwickelt – bis er dann eines Morgens tot in seiner Wiege gelegen hatte.
Der Schock über das unerwartete Ableben des Kindes hatte Jacqueline und Bernard Gilesse getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nie waren bei dem Jungen Anzeichen irgendeiner Krankheit auszumachen gewesen, und er hatte vor Gesundheit nur so gestrotzt.
Nicht einmal geweint oder geschrien hatte er in jener Nacht, in der ihm die Wiege gleichsam zum Grab geworden war. Nahezu übergangslos hatte er sich aus den Armen des Schlafes in die Arme dessen Bruders begeben – in die Arme des Todes.
Dr. Georges Piquet, der junge Arzt von Beaulence, hatte die Diagnose ›Plötzlicher Kindstod‹ gestellt, ein abruptes Aussetzen lebenswichtiger Körperfunktionen beim schlafenden Säugling – ein wahres Schreckgespenst aller jungen Eltern, dem die Medizin noch immer hilflos gegenüberstand. Der Priester des Dorfes hatte anstatt der bevorstehenden Taufe das Begräbnis des Kindes zelebrieren müssen. Der letzte Weg des kleinen Dominique Gilesse führte zum Friedhof – für seine Mutter wiederholte er sich seither täglich.
Nach etwa hundert Metern bog Jacqueline auf einen von Gräbern gesäumten Nebenweg ab, auf dem es noch düsterer zu sein schien als auf dem übrigen Friedhof. Die Schatten der Dämmerung nisteten wie eine immer dichter werdende schwarze Bedrohung zwischen den steinernen Inschriftentafeln und ließen alles zu einem schemenhaften Halbdunkel verschmelzen.
Auf die herrschenden Lichtverhältnisse war es zurückzuführen, dass Jacqueline nicht schon von Weitem die eigenartige Form des Grabhügels auffiel. Erst als sie nur mehr wenige Meter von der letzten Ruhestätte ihres Kindes entfernt war, stutzte sie.
Irgendetwas an dem Grab stimmte nicht!
Unwillkürlich beschleunigte die junge Frau ihre Schritte, dann hielt sie so abrupt inne, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.
An der letzten Ruhestätte des kleinen Dominique hatten sich Grabschänder zu schaffen gemacht und den Ort des stillen Andenkens auf das Brutalste entweiht!
Der Hügel des Kindergrabs war aufgebrochen, Erdhaufen und Kränze mit verdorrten Blumen und Trauerschleifen lagen rings um einen schmalen, in die Tiefe führenden Schacht.
Hier hatte jemand einen Schauplatz der Verwüstung hinterlassen, wie er schlimmer nicht sein konnte.
Jacqueline hatte auf einmal das Gefühl, ihr Herzschlag würde aussetzen. Zögernd trat sie an den Rand des Grabes.
Am Grund des Schachtes stand ein aufgebrochener und leerer Kindersarg! Von der Leiche des Säuglings fehlte jede Spur.
All der Schrecken, den sie empfand, brach aus Jacqueline Gilesse als lang gezogener Schrei hervor, so schrill, als wollte sie sämtliche Tote des Friedhofs wieder zum Leben erwecken.
Die junge Frau warf sich auf den Absätzen herum und rannte zum Ausgang des Friedhofs zurück.
Das aufgebrochene und ausgeraubte Grab, den Schauplatz des grässlichen Verbrechens, ließ sie hinter sich zurück ...
†
Fünf Tage nach jenem furchtbaren Vorfall herrschte in dem Ort noch immer tiefe Betroffenheit über die grauenvolle Tat. Es gab kaum einen Einwohner der Siebenhundert-Seelen-Gemeinde, der sich vom Raub der Kinderleiche nicht erschüttert zeigte. Selbst äußerlich schien sich das kleine Dorf im Herzen des französischen Zentralmassivs verändert zu haben. Über Nacht hatte sich die Idylle des Ortes und seiner näheren Umgebung auf subtile Weise ins Gegenteil verkehrt.
Der Hauch von Romantik, den die verwinkelten Gassen von Beaulence bisher ausgeatmet hatten, war einer nahezu körperlich spürbaren Beklemmung gewichen. Selbst die steinernen Häuser der Ansiedlung wirkten, als wollten sie aus Furcht vor einem unbekannter Feind noch näher aneinanderrücken. Von den schroffen Höhenzügen, die das Dorf umgaben, schien auf einmal eine unsichtbare Drohung auszugehen, und den dichten Nadelwäldern auf den Flanken der Bergkämme haftete plötzlich etwas Düsteres, Geheimnisvolles an.
Über Beaulence lastete eine gedrückte Stimmung.
Abgesehen von den schockierten Eltern, machte der Leichenraub vor allem Dr. Georges Piquet, dem jungen Arzt von Beaulence, schwer zu schaffen. Als Mediziner, weil Jacqueline Gilesse – seit dem Tod des Jungen ohnehin schwer depressiv – durch das Verbrechen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Und als Mensch, weil ihn die Sache auch persönlich mit einer tiefen Abscheu erfüllte.
Schon die Diagnose ›Plötzlicher Kindstod‹ war dem jungen Arzt nicht leicht über die Lippen gekommen. Und als ob der plötzliche, unerwartete Tod des Kindes nicht schon genug gewesen wäre, hatten unbekannte Täter auch noch die Leiche des Jungen aus dem Sarg gestohlen!
Der Arzt hatte sich noch in der Nacht des Verbrechens zum Haus der Familie Gilesse begeben, um die unter Schock stehende Frau zu behandeln, und seither sah er täglich nach ihr.
Auch an diesem Tag war der Mediziner wieder bei Jacqueline gewesen, um ihren Gesundheitszustand zu überprüfen und um mit ihrem Mann zu sprechen.
Mittlerweile hatte sich die Frau bereits etwas erholt, aber natürlich litt sie noch unter dem furchtbaren Vorfall. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie das traumatische Ereignis einigermaßen überwunden hatte.
Für diesen Nachmittag stand noch ein Hausbesuch bei Gustave Chauvin im Terminkalender des Arztes. Der Mann hatte am Morgen angerufen, über Fieber und Übelkeit geklagt, und der junge Arzt hatte versprochen, vorbeizuschauen.
Georges parkte seinen Citroën vor dem Haus von Chauvin, der nur unweit von den Gilesses wohnte, nahm seine Arzttasche aus dem Wagen und betrat durch das unversperrte Gartentor das Grundstück.
Georges war ein dunkelhaariger junger Mann von Mitte dreißig. Er war von mittelgroßer Statur und hatte einen schlanken Körper. Mit seiner betont legeren Kleidung und der runden Brille hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem verkrachten Studenten aus dem Pariser Künstlerviertel Montmartre als mit einem herkömmlichen französischen Landarzt. Die Dorfbevölkerung hatte Georges wohl deshalb zu Beginn seiner Praxiseröffnung Misstrauen entgegengebracht.
Das sympathische Äußere und die offene Art des Jungmediziners hatten allerdings bewirkt, dass er von den hier ansässigen Menschen als Nachfolger des bisherigen Arztes inzwischen akzeptiert wurde, zumal er selbst aus Beaulence stammte und hier aufgewachsen war.
Kaum hatte Georges die Klingel gedrückte, wurde ihm schon geöffnet.
Gustave Chauvin trug einen zerknitterten Pyjama, und seine schlechte körperliche Verfassung war ihm auf den ersten Blick anzusehen. Er wirkte ausgelaugt und abgezehrt, sein Gesicht war blass, die Wangen eingefallen, und die Augen wurden von einem seltsam matten Glanz beherrscht.
»Gut, dass Sie da sind, Monsieur le docteur.« Er begrüßte den jungen Arzt mit einem schwachen Händedruck. »Ich fühle mich schon den ganzen Tag wie gerädert.«
»Wahrscheinlich haben Sie sich bloß eine harmlose Erkältung geholt«, antwortete Georges, der eintrat und hinter sich die Tür schloss. »Bei den derzeit herrschenden Temperaturschwankungen nicht verwunderlich. Wenn sich Sonnenschein, Regen und Schnee nahezu stündlich abwechseln, kann der menschliche Organismus schon mal leicht aus dem Gleichgewicht geraten.«
Gustave Chauvin führte den Mediziner durch den Hausflur ins Schlafzimmer. Dort ließ sich der erschöpfte Mann wieder auf sein Bett sinken. Georges stellte seine Arzttasche auf einem neben dem Bett stehenden Stuhl ab.
»Mein Magen spielt verrückt, Doktor. Seit heute Morgen plagen mich in regelmäßigen Abständen furchtbare Krämpfe, allerdings keine gewöhnlichen Magenschmerzen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe das Gefühl, in meinem Inneren befänden sich irgendwelche Fremdkörper. Und dann ist da noch dieser eigenartige Brechreiz – ohne dass ich mich bis jetzt allerdings übergeben konnte.«
Der Mann zeigte auf einen Plastikeimer, den er vorsichtshalber neben das Bett gestellt hatte.
Georges setzte sich neben den Patienten auf das Bett, horchte ihn ab und sah in seinen Rachen. Dabei konnte er allerdings nichts Beunruhigendes feststellen.
Aufgrund der Beantwortung einiger Fragen, die er dem Mann noch stellte, schloss der Arzt eine Blinddarmentzündung oder Lebensmittelvergiftung als Ursache der Beschwerden aus.
»Sie leiden unter einer vorübergehenden Gastritis«, stellte Georges schließlich fest. Er holte aus seiner Tasche zwei Medikamentenpackungen hervor und beschriftete sie mit den erforderlichen Einnahmedosierungen. »Ich lasse Ihnen eine Schachtel Paracetamol hier. Das beruhigt die Magenschleimhäute. Und hier noch ein Antemetikum gegen den Brechreiz. Bleiben Sie vorerst im Bett, nehmen Sie viel Flüssigkeit zu sich und möglichst leichte Schonkost. In zwei Tagen sehe ich noch mal bei Ihnen vorbei, bis dahin müssten sich Ihre Beschwerden deutlich ...«
Der Mediziner kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.
Gustave Chauvin verzerrte plötzlich das Gesicht bis ins Fratzenhafte, presste sich beide Hände auf die Magengegend und warf sich zurück auf die Matratze. »Es ... fängt ... wieder an!« Sein Gesicht wurde noch keine Spur bleicher. »Diese Schmerzen ... bringen mich um! O Gott, so schlimm ... war es noch nie! Schnell, Doktor, den Eimer! Ich muss mich übergeben!«
Georges sprang auf, schnappte sich den Plastikeimer, und Chauvin, der von irrsinnigen Krämpfen geschüttelt wurde, beugte sich über den Eimer und begann zu würgen.
Zuerst rann nur klebriger Speichel aus dem weit geöffneten Mund. Dann aber erbrach er sich unter einem erneuten heftigen Würgen vollends – und Georges Piquet glaubte, seinen Verstand verlieren zu müssen.
Wenn Gustave Chauvin vorhin gemeint hatte, in seinem Leibesinneren irgendwelche Fremdkörper zu verspüren, so hatte er damit durchaus richtig gelegen.
Vor den schockgeweiteten Augen des fassungslosen Arztes spie der Mann zwei mittelfingerlange rostige Nägel aus, die mit einem hässlichen Geräusch auf den Boden des Eimers fielen!
†
»Schatz, wo ist denn der Majoran?« Die Hektik, die in der Stimme von Claudine Piquet mitklang, war unüberhörbar.
Georges Piquet, der im Esszimmer des Hauses gerade den Tisch deckte, warf einen gequälten Blick in Richtung Küchentür.
»Woher soll ich das denn wissen?«, rief er genervt. »Sieh vielleicht einmal dort nach, wo du deine Gewürze auch normalerweise aufbewahrst! In deiner Hexenküche kennst du dich doch am besten aus!«
Da Georges seiner Frau momentan sowieso nur im Weg gestanden hätte, blieb er nach dem Decken des Tisches im Esszimmer. Seit dem Nachmittag herrschte im Haus der Piquets eine leicht gereizte Stimmung, für die es vordergründig keinen Anlass zu geben schien.
Dass Gustave Chauvin zwei rostige Nägel ausgespien hatte, wollte dem jungen Arzt einfach nicht in den Kopf und machte ihn völlig desinteressiert für alles andere um ihn herum.
Gustave Chauvin hatte dem Arzt versichert, die Nägel nicht verschluckt zu haben, woran Georges auch nicht den geringsten Zweifel hegte.
Was für eine Ursache aber gab es dann für das Erbrechen der beiden Stahlstifte?
Georges Piquet befand sich alles andere als in der richtigen Stimmung für ein gemeinsames Abendessen mit der besten Freundin seiner jungen Frau. Hätte er die beiden Frauen allerdings allein gelassen, hätte er damit todsicher einen handfesten Krach heraufbeschworen.
Claudine freute sich schon seit Wochen auf diesen Termin, denn seit Georges vor etwa einem Jahr seine Praxis in Beaulence eröffnet hatte, litt Claudine in dem Dorf unter gewissen Anpassungsschwierigkeiten. Die Abgeschiedenheit des Ortes und die Eigenbrötlerei der meisten hier lebenden Menschen vertrugen sich eben nur schwer mit dem Gemüt einer lebenslustigen jungen Frau, die ihr ganzes bisheriges Leben in einer Großstadt verbracht hatte.
Georges war der schlanken Französin mit dem brünetten Pagenkopf zufällig in Clermont-Ferrand begegnet, als er noch Student gewesen war. Die beiden hatten sich ineinander verliebt, und schließlich hatten sie geheiratet – obwohl damals schon feststand, dass Georges nach Beendigung seiner Ausbildung zurück nach Beaulence gehen würde. Für ihn war immer schon klar gewesen, dass er als Arzt einmal den Menschen seines Heimatortes helfen wollte.
Obgleich Claudine das verstand und ihren Mann auch unterstütze – sie wirkte in seiner Ordination als Sprechstundenhilfe –, kam sie mit dem Leben in Beaulence nicht ganz zurecht. Das von erloschenen Vulkankratern und stillen Bergseen beherrschte Zentralmassiv wurde nicht umsonst als ›das tote Herz Frankreichs‹ bezeichnet.
Der wildwüchsige und urtümliche Charakter des Landstrichs hatte bis heute das Entstehen einer funktionierenden Wirtschaft verhindert, die ganze Region litt unter einer zusehends um sich greifenden Abwanderung. Der zweifelsohne bestehende Reiz des Zentralmassivs wurde mittlerweile zwar für den sogenannten ›sanften Tourismus‹ genützt, doch trotz dieser neu geschaffenen Einnahmequelle war es immer noch die Einsamkeit, die diese Gegend tatsächlich beherrschte.
Abgesehen von ihrem Mann hatte Claudine Piquet in Beaulence erst zu einem Menschen wirklich Anschluss gefunden, und zwar zu der ihr gleichaltrigen Lucienne Delors. Die junge Frau, die in Clermont-Ferrand als Hebamme arbeitete, war Claudine von Anfang an mit Freundlichkeit begegnet und ihr schon bald zu einer echten Freundin geworden.
Vor einem halben Jahr hatte Lucienne ihr einen kleinen schwarzen Kater geschenkt. Zu Georges' großem Missfallen war aus dem einst so niedlichen Kätzchen nicht nur ein äußerst gefräßiges Exemplar eines stattlichen Haustigers geworden, er war manchmal sogar versucht, dem Tier eine gewisse Hinterlist zuzuschreiben.
Er hütete sich allerdings davor, diese Einschätzung seiner Frau gegenüber zu erwähnen. Claudine hing sehr an dem Kater, der Georges zuweilen mit einer regelrechten Feindseligkeit begegnete.
Nachdem Claudine schon einige Male bei Lucienne auf Besuch gewesen war, hatten die Piquet heute zum ersten Mal Lucienne zu sich eingeladen.
Georges und Lucienne duzten sich zwar, im Gegensatz zu Claudine kannte er die junge Frau aber nur flüchtig. Sie war in dem Dorf nicht aufgewachsen, sondern erst kurz vor den Piquets hierhergezogen – ein Umstand, der dem Arzt etwas seltsam vorkam. In Clermont-Ferrand hätte sie wesentlich näher bei ihrem Arbeitsplatz gewohnt.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, riss Georges aus seinen Grübeleien. Unwillkürlich blickte er sich um.
Wie er erst jetzt bemerkte, war Charles – so hieß der schwarze Kater – zwischenzeitlich auf einen der Stühle gehüpft und sah ihn aus seinen bernsteinfarbenen Augen lauernd an. Für den Bruchteil eines Augenblicks kam es Georges sogar so vor, als könne das Tier seine Gedanken lesen.
Plötzlich begannen die Schnurrbarthaare des Katers erregt zu zucken. Er sprang mauzend vom Stuhl und lief durch das Zimmer in den Flur, von wo kurz darauf das Läuten der Türglocke zu vernehmen war. Charles schien das Nahen des Besuches instinktiv gespürt zu haben.
Ehe Georges über das Verhalten des Tiers noch weiter nachdenken konnte, hörte er, wie Claudine aus der Küche eilte, um die Haustür zu öffnen.
Bei dem Besuch handelte es sich um niemand anderen als Lucienne Delors. Die Freundin seiner Frau war auf die Sekunde pünktlich.