Gespenster-Krimi 96 - Philippe Pascal - E-Book

Gespenster-Krimi 96 E-Book

Philippe Pascal

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Beschreibung

Die Lichtkegel der Scheinwerfer glitten wie tastende Geisterfinger über die kurvenreiche Höhenstraße. Gerard Dupin steuerte den weißen Renault mit sicherer Hand durch die zerklüftete Gebirgslandschaft, aber seine Ruhe übertrug sich nicht auf seine Beifahrerin.
Yvonne Laurent saß stocksteif auf ihrem Polstersitz, die Rechte um den Haltegriff geklammert, und starrte mit verzagten Gesichtszügen durch die Windschutzscheibe ins Freie. Tagsüber hatte sie die Wildnis der französischen Pyrenäen als faszinierend empfunden, aber im Dunkel der Nacht verursachte sie ihr Unbehagen. In der Fantasie der jungen Frau gebar die nächtliche Natur unzählige Schreckgespenster und gaukelte ihrem Gehirn bedrohliche Trugbilder vor ...


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Inhalt

Cover

Das Dorf der Gnome

Vorschau

Impressum

Das Dorf der Gnome

von Philippe Pascal

Die Lichtkegel der Scheinwerfer glitten wie tastende Geisterfinger über die kurvenreiche Höhenstraße. Gerard Dupin steuerte den weißen Renault mit sicherer Hand durch die zerklüftete Gebirgslandschaft, aber seine Ruhe übertrug sich nicht auf seine Beifahrerin.

Yvonne Laurent saß stocksteif auf ihrem Polstersitz, die Rechte um den Haltegriff geklammert, und starrte mit verzagten Gesichtszügen durch die Windschutzscheibe ins Freie. Tagsüber hatte sie die Wildnis der französischen Pyrenäen als faszinierend empfunden, aber im Dunkel der Nacht verursachte sie ihr Unbehagen. In der Fantasie der jungen Frau gebar die nächtliche Natur unzählige Schreckgespenster und gaukelte ihrem Gehirn bedrohliche Trugbilder vor ...

Am Horizont hoben sich die Konturen zerklüfteter Höhenzüge vom helleren Nachthimmel ab – und wurden in Yvonnes Vorstellung zum gezackten Rückenkamm eines urzeitlichen Riesentiers, das sich dort vorne zur Ruhe begeben hatte, aber jederzeit aus seinem Schlaf erwachen konnte, um Tod und Zerstörung über die Bewohner der umliegenden Bergdörfer zu bringen.

Die am Straßenrand wachsenden Kiefern glichen stummen, bedrohlichen Gestalten mit ausgebreiteten Armen. Der volle Mond, der hoch am Himmel stand und die Berge, Täler und Schluchten in seinen bleichen Schein tauchte, verwandelte sich in ein riesiges Auge, das Yvonne bis auf den Grund ihrer Seele blickte und dort ihre geheimsten Ängste erkannte.

Die vereinzelt über den Himmel treibenden Wolken wirkten wie grotesk aussehende Dämonen mit Schwingen, Rüsseln und Klauen, die einander hinterherjagten, dabei beständig ihre Gestalt änderten und einem unbekannten Ziel entgegenstrebten.

Gerard Dupin waren derartige Assoziationen fremd. Er betrachtete die nächtliche Landschaft als das, was sie war – eine durchs Gebirge führende Wegstrecke, die er und seine Freundin passieren mussten, um zu ihrem gemeinsamen Urlaubsziel zu gelangen.

Diese Sichtweise entsprach seiner Persönlichkeit ebenso wie seiner beruflichen Qualifikation. Der hochgewachsene und durchtrainierte Endzwanziger mit den männlich-markanten Gesichtszügen und dem dichten blonden Haar arbeitete als Außenarchitekt bei einem renommierten Architekturbüro in Toulouse. Dort bestimmten Berechnungen, technische Zeichnungen und Baupläne seinen Alltag, aber Logik und Vernunft prägten auch sein Denken, wenn er nicht im Businessoutfit hinter seinem Schreibtisch saß, sondern in ausgewaschenen Jeans und einem Leinenhemd in den Sommerurlaub fuhr.

Wie dieser ablaufen sollte, darüber referierte er voller Begeisterung seit der letzten Abzweigung. Als Gespräch konnte die einseitige Kommunikation nicht bezeichnet werden, denn Yvonne sprach seit Minuten kein Wort mehr, was Gerard bisher aber nicht aufgefallen war.

»Wir müssen ja nicht gleich am ersten Tag eine Wandertour unternehmen«, meinte er im Plauderton. »Ich weiß zwar, dass wir das so geplant hatten, aber man soll nichts übertreiben. Etwas ausspannen und am Pool in der Sonne liegen täte uns nach der langen Anreise sicher auch gut. Wir dürfen ja auch unsere Kondition nicht überschätzen. Die Spaziergänge, die wir normalerweise in der Gegend um Toulouse unternehmen, sind schließlich nicht mit den Bedingungen im Hochgebirge zu vergleichen. Außerdem wurde im Wetterbericht eine Hitzewelle angekündigt, die dürfte aber auf dieser Seehöhe nicht ganz so schweißtreibend verlaufen. Apropos, wie hoch liegt eigentlich unser Hotel? ... Yvonne, ich habe dich etwas gefragt. Hörst du mir überhaupt zu? Yvonne?«

Die Erwähnung ihres Namens riss Yvonne Laurent wieder zurück in die Wirklichkeit. »Was hast du eben gesagt?«, fragte sie verwirrt.

»Ich wollte wissen, ob du mir überhaupt zuhörst. Aber anscheinend warst du mit deinen Gedanken woanders. Träumst du schon mit offenen Augen?«

»Ich habe Angst«, gestand sie leise.

Die Erwähnung dieses einen Wortes reichte aus, dass sich auch bei Gerard jegliche Ferienstimmung schlagartig verflüchtigte.

»Angst?«, wiederholte er ungläubig und wandte seiner Freundin kurz den Kopf zu. »Wovor, bitte, hast du plötzlich Angst? Hier gibt es weit und breit nichts, wovor man sich fürchten müsste. Wir fahren in die Ferien, erleben eine wunderbare Sommernacht und sind umgeben von unberührter Natur.«

»Das ist es ja gerade!«, beharrte Yvonne energisch. In ihrer Stimme schwang mühsam unterdrückte Panik mit. »Diese einsame, nächtliche Gegend ist mir unheimlich. Ich werde das Gefühl nicht los, als würden in der Dunkelheit unzählige unbekannte Gefahren lauern.«

Yvonne war etwas jünger als ihr Freund und trug ein knielanges Sommerkleid, das die schlanken Beine ebenso erkennen ließ wie die Ansätze der festen Brüste. Dichtes schwarzes Haar umrahmte das Oval ihres Gesichts, dem die hoch angesetzten Wangenknochen und die leicht schräg stehenden grünen Augen etwas Katzenhaftes verliehen.

Seit knapp einem Jahr betrieb sie sie in Toulouse eine gut gehende Blumenhandlung, die Reise in die Pyrenäen war ihr erster längerer Urlaub seit der Geschäftseröffnung. Beim Zusammenstellen von Blumensträußen und Schmücken von Kränzen kamen ihr ihre Kreativität und Fantasie durchaus zugute, aber in Situationen wie dieser zeigte sich die Kehrseite ihrer Begabung.

»Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war, den diesjährigen Sommerurlaub in den Bergen zu verbringen?«, wandte Gerard ein. »Du wolltest ausdrücklich einmal etwas anderes erleben, als Tag für Tag am Strand in der Sonne zu braten. Außerdem hast du vorgeschlagen, den Großteil der Strecke bei Nacht zurückzulegen. Weniger Verkehr und weniger Hitze, das waren deine Argumente.«

»Ja, ich weiß«, gab sie genervt zu. »Da habe ich mir die Fahrt durch die nächtlichen Pyrenäen aber noch anders vorgestellt.«

»Du bist einfach überarbeitet, das ist alles«, redete Gerard beruhigend auf sie ein. »Der Aufbau deines Geschäfts, ein Jahr ohne wirklichen Urlaub, so etwas zehrt an den Nerven und fordert irgendwann seinen Tribut. Solange du dich in die Arbeit gestürzt hast, hat dich das quasi betäubt. Jetzt aber, wo du auch räumliche Distanz zu den Dingen schaffst, dein Kopf allmählich frei wird und du nicht ständig an deine Blumenhandlung denkst, bricht sich die ganze Belastung ihre Bahn in Form von diffusen Ängsten. Andere Leute bekommen in vergleichbaren Situationen Erschöpfungszustände oder Magenbeschwerden. Glaub mir, in ein paar Tagen ist das alles vergessen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die echte Erholung nicht zu Beginn des Urlaubs einsetzt, sondern erst etwas später.«

»Du findest wie immer für alles eine logische Erklärung«, stellte sie lächelnd fest und wirkte nun schon etwas entspannter.

Einen Lidschlag später gefror ihr Lächeln.

Der Renault rollte auf eine schmale Schlucht zu, die ein klotziges Felsmassiv kerbte. Ihr Eingang gähnte düster, die Straße schien geradewegs ins schwarze Nichts zu führen.

Wie in einer Gruft!, dachte Yvonne schaudernd, als der Wagen in die Schlucht fuhr. Die turmhohen, fast senkrecht ansteigenden Wände schienen mit jedem zurückgelegten Meter näher zusammenzurücken und erzeugten bei Yvonne ein Gefühl bedrückender Beklemmung, das sich bleischwer auf ihre Brust legte. Die Beklemmung wuchs, drohte ihr den Atem zu rauben – und löste sich plötzlich auf wie ein mitternächtlicher Spuk um Schlag eins, als die Landschaft nach kurzer Wegstrecke abermals ihren Charakter änderte.

Yvonne registrierte mit einem Stoßseufzer der Erleichterung, dass die Felswände links und rechts der Fahrbahn zurückwichen und sich zu einem weitläufigen, kreisrunden Talkessel öffneten, in den die Straße sanft abfiel. Bedingt durch das kurzzeitig erweitere Blickfeld, wirkte der Vollmond plötzlich übergroß. Deutlich war die Musterung auf seiner Oberfläche zu erkennen, nur stellenweise verdeckt von schwarzen Wolkenfetzen, die wie Tintenpatzer am Himmel standen.

Gerard war Yvonnes neuerliche Anspannung nicht entgangen, dennoch hatte er sie darauf bewusst nicht angesprochen. Nun aber, wo sich das Landschaftsbild wieder harmonischer präsentierte und Yvonne etwas gelöster wirkte, hielt er einige aufmunternde Worte für angebracht.

»In spätestens einer Stunde checken wir in unserem Hotel ein«, erklärte er optimistisch, als sie die ebene Talsohle erreicht hatten und der Renault auf der von Wäldern gesäumten Straße wieder beschleunigte. »In zwei Stunden liegen wir in einem weichen Bett, und schon in zwei Minuten haben wir wieder Kontakt zur Zivilisation, genauer gesagt zu einem Dorf namens ...«

»Vorsicht!«

Der Warnruf Yvonnes riss Gerard das Wort von den Lippen – aber er wäre auch verstummt, wenn seine Freundin keinen Ton von sich gegeben hätte. Die sich überschlagenden Ereignisse forderten seine volle Aufmerksamkeit und zwangen ihn zu einer blitzschnellen, nahezu automatisch ablaufenden Reaktion.

Die Lichtstrahlen der Scheinwerfer erfassten ein Tier, das am rechten Fahrbahnrand, knapp zwanzig Meter voraus, aus dem Unterholz brach und über die Straße setzte. Gerards erster Gedanke galt einem Reh, aber dieser Gedanke entsprang mehr seiner Erwartung als seiner konkreten Wahrnehmung. Im nächsten Moment dachte er an ein Wildschwein, worauf der gedrungene Körper und die kurzen Beine schließen ließen. Dann aber glaubte er die Gestalt eines Menschen auszumachen – eines kleinen, vornübergebeugten und nackten Menschen, der mit wirbelnden Schritten über die Straße lief!

Ein Kind!, schoss es Gerard durchs Gehirn. Gütiger Himmel, dort vorne läuft ein Kind über die Straße!

Noch während all diese Gedankenfetzen in Sekundenbruchteilen auf ihn einstürmten, betätigte er Kupplung und Bremspedal. Gleichzeitig umklammerten seine Fäuste das Lenkrad so fest, als könnte er allein dadurch den Renault zum Stehen bringen. Das Kreischen der über den Asphalt radierenden Reifen, das durch das Spaltbreit geöffnete Seitenfenster drang, vermischte sich mit dem schrillen Schrei, den Yvonne nun ausstieß, und stach schmerzhaft in seine Trommelfelle – eine akustische Symphonie des Wahnsinns, die perfekt zu dem Gesicht passte, das sich Gerard nun zuwandte und für die Dauer eines Atemzugs deutlich zu erkennen war.

Der Kopf, auf selber Höhe wie jener Gerards, war vollständig kahl und wies eine graue, feucht glänzende Haut sowie spitz zulaufende Ohren auf. Anstelle der Nase gab es nur zwei winzige Löcher, der Mund war wie zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Die im Verhältnis zum restlichen Gesicht übergroß wirkenden gelben Augen schlossen sich soeben im Lichtreflex, geblendet durch die Scheinwerfer.

Die Erleichterung, dass es kein Kind war, das ihm da unvermittelt vors Auto gelaufen war, verwandelte sich in blankes Entsetzen über das Aussehen des Wesens. Wesen war die richtige Bezeichnung, denn das Geschöpf konnte weder als Mensch noch als Tier bezeichnet werden.

Das Gesicht verschwand im selben Moment, in dem das Wesen von dem heranrasenden Wagen erfasst und durch die Luft gewirbelt wurde. Gerard hörte noch ein dumpfes, metallisches Geräusch, dann kam der Renault mit einem Ruck zum Stehen. Die beiden Menschen wurden kurz nach vorne geschleudert, dank der Sicherheitsgurte aber wieder zurück auf ihre Sitze gedrückt.

Gerard schlug das Herz bis zum Hals, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Erst nach Sekunden registrierte er, dass Yvonne nicht mehr schrie. Er sah kurz zu ihr hinüber und erkannte, dass sie ihr Gesicht in den Händen barg und weiterhin auf die Straße starrte. Ungläubiges Staunen und Fassungslosigkeit standen in ihren weit aufgerissenen Augen.

Seine Rechte drehte mit einer mechanischen Bewegung den Zündschlüssel herum, und das Motorengeräusch erstarb.

Abgrundtiefe Stille senkte sich auf die einsame Landstraße in den nächtlichen Pyrenäen, wo der Urlaub von Gerard Dupin und Yvonne Laurent eine unerwartete Wendung erfahren hatte.

Sie hatten Erholung gesucht – und waren dem Grauen begegnet.

»Bist du verletzt?«, erkundigte sich Gerard besorgt, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte.

Yvonne nahm die Hände vom Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin in Ordnung.« Nach kurzer Sprechpause fragte sie ruhig und entschlossen: »Gerard, was war das?«

Ihr Freund presste verbissen die Lippen aufeinander. Insgeheim hatte er gehofft, Yvonne hätte das eigenartige Geschöpf nicht bemerkt – weil sie ihre Augen in Erwartung des Zusammenpralls instinktiv geschlossen hatte, weil sie der Überzeugung war, irgendein Wildtier gesehen zu haben oder aus einem sonstigen Grund. In diesem Fall hätte er sich nämlich einreden können, dass ihm seine Nerven einen Streich gespielt hatten und das merkwürdige Wesen gar nicht existierte, dass es tatsächlich bloß ein Wildschwein oder vielleicht sogar ein Bär gewesen waren, die hier in den Pyrenäen immer noch vorkamen.

Er hätte diesen Selbstbetrug akzeptiert, wäre es ihm so doch möglich gewesen, etwas zu ignorieren, was der Vernunft und seinem rationalen Weltbild widersprach. So aber musste er das scheinbar Unmögliche als Tatsache anerkennen, was ihm unendlich schwerfiel.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. »Ich bin nur grenzenlos erleichtert, dass es kein Kind war, wie ich kurz geglaubt habe. Nicht auszumalen, wenn ich ein Kind angefahren hätte! Andererseits – was sollte ein Kind mitten in der Nacht in dieser Gegend zu suchen haben? Nein, es war überhaupt kein Mensch. Es war aber auch kein Tier, denn es lief auf zwei Beinen über die Straße und hatte kein Fell. Und dann dieses Gesicht! Irgendwie menschenähnlich, gleichzeitig aber völlig grotesk anzusehen ...«

Er sprach nicht weiter, atmete hörbar aus und starrte mit verkniffener Miene in die Nacht, als könnte sie ihm eine Antwort auf seine Frage geben.

»Was immer es auch gewesen ist, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich davon zu überzeugen, ob es da hinten tot auf der Straße liegt«, brach Gerard nach ewig währenden Sekunden endlich das Schweigen. »In diesem Fall muss ich die Unfallstelle sichern und werde das Ding dabei zwangsläufig zu Gesicht bekommen. Sollte es hingegen den Zusammenstoß überlebt haben und weitergerannt sein ...«, er überlegte kurz, »können wir uns schon mal den Kopf zerbrechen, was wir der Polizei und der Versicherung erzählen. Die Wahrheit scheidet aus, denn die glaubt uns sowieso keiner. Ein unbekanntes Wesen, das aussieht wie der Bruder von E.T., dem Außerirdischen, und uns um zwei Uhr nachts im Gebirge vors Auto läuft – man würde uns für verrückt halten.«

»Ich komme mit«, stellte Yvonne entschlossen klar. Ihre irrationale Ängstlichkeit von vorhin war einem Verhalten gewichen, das der Situation angepasst war – und dafür gab es einen guten Grund.

All ihre bisherigen Ängste entsprangen nur ihrer Fantasie. Das Aussehen einer Wolke oder eines Baumes, die Enge einer dunklen Schlucht, das alles stellte an sich nichts Bedrohliches dar, sondern bezog seine Gefährlichkeit nur aus der Vorstellung, was der Baum oder die Wolke sein könnte, was in der Schlucht passieren könnte. Gerade diese Ungewissheit verstärkte noch das Gefühl der Hilflosigkeit und produzierte Furcht. Das eigenartige Geschöpf war hingegen eine Tatsache gewesen. Yvonne hatte es mit eigenen Augen gesehen, und wenn es wirklich da hinten auf der Straße lag, würde sie es – zumindest theoretisch – auch mit eigenen Händen berühren können.

Selbst wenn es verschwunden war, so würde der Wagen Spuren des Zusammenpralls zeigen, die unzweifelhaft von der Begegnung mit dem unheimlichen Wesen kündeten. Die mögliche Bedrohung hatte konkrete Formen angenommen, und somit konnte man auf sie reagieren.

Yvonne war der Situation nicht wehrlos ausgeliefert, sondern konnte sie durch ihr Handeln aktiv beeinflussen, was die Angst automatisch minderte. Natürlich war weiterhin Vorsicht geboten, aber diese Vorsicht war völlig natürlich. Zusätzlich trieb sie die Neugier aus dem Wagen, und außerdem wollte sie ihrem Freund beistehen können, falls noch einmal irgendetwas Unerwartetes passierte.

Gerard nahm die Entscheidung seiner Freundin ohne Widersprich zur Kenntnis. »Wie du meinst«, erwiderte er nur und löste seinen Sicherheitsgurt.

Er schaltete die Warnblinkanlage ein, entnahm dem Handschuhfach eine Taschenlampe und stieg zeitgleich mit Yvonne aus dem Fahrzeug.

Im Freien schlug ihnen augenblicklich kühle Luft entgegen, denn im Hochgebirge sanken die Temperaturen auch in Sommernächten empfindlich ab. Gerard hatte die Taschenlampe kaum angeknipst, als Yvonne plötzlich innehielt und den Kopf nach rechts wandte, wo vorhin das seltsame Wesen aufgetaucht war.

Durch den nächtlichen Wald wehten undeutliche Stimmen, die abrupt abbrachen und im nächsten Moment vom Geräusch sich rasch entfernender Schritte und raschelnden Laubes abgelöst wurden. Es hörte sich an, als würde jemand plötzlich das Weite suchen, der noch kurz zuvor zu der Straße vordringen wollte.

»Warte, Gerard!«, stieß Yvonne aufgeregt hervor, dabei so laut sprechend, dass sie gerade noch zu verstehen war. »Da ist jemand im Wald!«

Ihr Freund trat zu ihr heran, richtete den Strahl der Taschenlampe ins Unterholz und lauschte, konnte aber nichts Verdächtiges bemerken. Nur einige Nachtfalter und Mücken tanzten im Schein der Lampe, und die Fäden eines Spinnennetzes glänzten silbern im künstlichen Licht.

»Ich höre nichts«, stellte er fest. »Du musst dich getäuscht haben.«

»Jetzt höre ich auch nichts mehr«, flüsterte Yvonne hastig. »Aber vorhin habe ich Stimmen und Schritte vernommen.«

»Das hast du dir bloß eingebildet, weil deine Nerven überstrapaziert sind. Komm jetzt, wir müssen die Unfallstelle besichtigen«, drängte Gerard und marschierte los. Yvonne warf noch einen misstrauischen Blick in Richtung des nun wieder dunklen Waldes und schloss sich dann ihrem Freund an.

Die beiden folgten dem diesseitigen Straßenrand, der suchende Lichtfinger der Taschenlampe tastete über den Asphalt. Ihre innere Anspannung wuchs mit jedem zurückgelegten Schritt, beiderseits der Straße erhob sich die dunkle, schweigende Wand des Waldes, als hielte die Natur selbst angesichts des dramatischen Vorfalls den Atem an.

Das Pärchen musste nicht lange suchen, schon nach wenigen Schritten entriss der Lichtstrahl der Dunkelheit einen Straßenabschnitt, wo der gleichförmige Asphaltbelag eine unförmige Musterung aufwies.

Als Gerard und Yvonne im nächsten Moment vor der betreffenden Stelle verhielten, erkannten sie im Schein der Lampe Glas- und weiße Lacksplitter sowie mehrere unterschiedlich große Flecken einer schwarzen, zähflüssigen Substanz, die irgendwie an Teer erinnerte.

»Was ist das?«, fragte Gerard, während er erstaunt zu Boden blickte. »Irgendeine Flüssigkeit, die aus dem Motorraum ausgetreten ist?«

»Es ist Blut«, sagte Yvonne mit tonloser Stimme. »Schwarzes Blut, das nur von dem Wesen stammen kann. Sieh nur, die Spur führt deutlich über die gesamte Breite der Straße. Würde die Flüssigkeit von unserem Wagen stammen, wäre sie nur auf einer Fahrbahnhälfte vorhanden.«

Gerard schüttelte fassungslos den Kopf. »Schwarzes Blut, unglaublich.« Der Lichtstrahl der Taschenlampe folgte der Blutspur bis zum gegenüberliegenden Straßenrand, dann überquerten die beiden die Fahrbahn. Dort kündeten niedergedrücktes Gestrüpp und geknickte Zweige vom weiteren Fluchtweg des Wesens, der sich alsbald in der Dunkelheit verlor. Tropfen schwarzen Blutes klebten auf Blättern und Farnen.