Gespräch und Gestalt - René Scheu - E-Book

Gespräch und Gestalt E-Book

René Scheu

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Beschreibung

Im Zeitalter der schrillen Identitäts-Forderungen und überzeichneten Selbstbilder in den sozialen Medien ist Individualität fluide geworden. Sie zeigt sich nicht mehr im Beharren auf den immer gleichen stereotypen Merkmalen, sondern in der gelassenen Fähigkeit, etwas aus den Zufällen menschlicher Begegnungen zu machen. Es gilt die Devise: Wenn zwei aufeinandertreffen, ist immer alles möglich. René Scheu pflegt die journalistische Technik des Interviews als Rahmen, in dem sich diese neue Kraft des Individuellen entfalten kann. Sein Fragen und sein Zuhören geben ganz unterschiedlichen Zeitgenossen eine erkennbare Gestalt im anhaltenden Kommunikationsfluss und zugleich die Gelegenheit, sich selbst anders und neu kennenzulernen. René Scheu im Gespräch mit: Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Klaus Doldinger, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Slavoj Žižek und anderen. Mit einem Essay von Hans Ulrich Gumbrecht.

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René Scheu

Gespräch und Gestalt

Entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Klaus Doldinger, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Anna Zeiter, Slavoj Žižek und anderen

Herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht

NZZ Libro

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2021 (ISBN 978-3-907291-47-4)

Korrektorat: Sigrid Weber, Freiburg i. Br.

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-907291-48-1

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG

INHALTSVERZEICHNIS

ZUM GELEIT

Engagierte LeseanleitungVon Hans Ulrich Gumbrecht

SIEBZEHN INTERVIEWS

INTELLEKTUELLE

1     Jörg Baberowski

2     Ayaan Hirsi Ali

3     Peter Sloterdijk

4     Markus Gabriel

5     Frank A. Meyer

6     Slavoj Žižek

KÜNSTLER

7     Elif Shafak

8     Maxim Biller

9     Ilana Lewitan

10   Klaus Doldinger

11   Woody Harrelson

12   Oliver Stone

MACHER

13   Lars Windhorst

14   Ueli Maurer

15   Angelo van Tol

16   Anna Zeiter

17   Rolf Dobelli

NACHWORT

Gestalten der GegenwartEin Nachwort zum Fluchtpunkt der Interviews von René ScheuVon Hans Ulrich Gumbrecht

QUELLENANGABE UND DANK

BILDNACHWEISE

BIOGRAFISCHE ANGABEN

Zum Geleit

Engagierte Leseanleitung

Von Hans Ulrich Gumbrecht

Eigentlich müssen alle möglichen «Gebrauchsanleitungen» irritieren in einer Gegenwart, deren dauerndes Pochen auf individuelle Unabhängigkeit einer Tendenz gegenübersteht, noch die banalsten Register alltäglichen Verhaltens hinter dem Vorzeichen der «Ethik» verbindlich zu machen. Der Entschluss, dieses Buch trotzdem mit einigen Lektürevorschlägen zu eröffnen, folgt dem engagierten Wunsch, meine eigene Begeisterung für die Interviews von René Scheu ansteckend zu machen. Wer allerdings schon weiss, aus welchem Impuls und mit welchem Ziel er die siebzehn grossartigen Gespräche lesen möchte, der braucht die folgenden «Anleitungen» nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Geschichtlich gesehen geht die Gattung «Interview» auf die Jahre nach 1850 in den Vereinigten Staaten zurück. Die sich damals ausbildende Öffentlichkeit machte zuerst die Neugierde legitim, mehr über das private Leben weit sichtbarer Protagonisten zu erfahren. Nicht alle Personen, die René Scheu seit gut einem Jahrzehnt interviewt hat, gehören aber zu den wahren Protagonisten unserer Zeit. Eher repräsentieren und illustrieren die meisten von ihnen einige gesellschaftliche Rollen, die das Inhaltsverzeichnis dieses Buchs als «Intellektuelle», «Künstler» und «Macher» unterscheidet.

Die beiden im Buchtitel genannten Begriffe «Gespräch» und «Gestalt» hingegen wollen gemeinsam darauf verweisen, dass solche Rollen und ihre individuellen Ausprägungen durch Interviews nur selten als schon fertige «Identitäten» beschrieben werden, sondern dort erst ihre Formen finden, sich verschieben und dann fortentwickeln. Eben solche Prozesse der Gestaltausbildung (einschliesslich ihres Auslösens wie ihrer Steuerung durch den Gesprächspartner) machen die hier abgedruckten Texte auf exemplarische Weise nachvollziehbar und verständlich. Dies ist eine erste – man könnte sagen: die soziologisch relevante – Funktion ihrer Veröffentlichung als Buch.

Zugleich kommt den Scheu-Interviews auch ein besonderer historischer Stellenwert zu. Denn als Serie lenken sie unsere Aufmerksamkeit – in einigen Fällen vielleicht zum ersten Mal – auf wiederkehrende Strukturen und Tendenzen des Alltags, die die Gegenwart von all den ihr vorausgegangenen vergangenen Gegenwarten als geschichtlichem Kontrasthintergrund abheben. Der Hauptbefund in dieser Hinsicht lässt sich mit einer paradoxalen Formel fassen: Es ist zu einem Massenphänomen, ja geradezu zu einer Massenverpflichtung geworden, sich selbst entschlossen zum exzentrischen Individuum zu stilisieren.

Welche Schlüsse ein Leser der Scheu-Interviews aus dieser zweiten, der geschichtlichen Beobachtung ziehen, welche Hypothesen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft er daraus entwickeln möchte, bleibt ihm natürlich selbst überlassen. Immerhin kann er in der zweiten Hälfte des «Nachworts» einige Vorgaben zum zentrifugalen Weiterdenken finden, die als ein intellektueller Impuls wirken, ihn aber keinesfalls verpflichten sollen. Denn aus historischer Perspektive hat diese Sammlung von Interviews allein den Status einer Dokumentation, nicht den Anspruch einer definitiven Auslegung.

Als «Autor» dieses Buchs, insofern er es war, der aus den Gesprächen als Primärmaterialien Texte gemacht hat, hält René Scheu sein individuelles Profil von Gespräch zu Gespräch mit Geschick und Diskretion bedeckt. Wer diesen Meister des Interviews persönlich kennenlernen möchte, der ist gut beraten, ihn in ein hochkarätiges Restaurant einzuladen.

Der Wert seiner Interviews als Qualitätsproduktion wird nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sehr wahrscheinlich aufgrund der Tatsache steigen, dass Scheu nun eine Aufgabe ausserhalb der journalistischen Welt übernommen hat. Umso schöner wäre es, wenn die Lektüre auch als Ermutigung wirkte, ihm im Stil der Gesprächs- und Interviewpraxis nachzufolgen. Auch das Wort «Stil» erfasst einen paradoxalen Sachverhalt, nämlich das Aufscheinen von Kontinuität auf Strecken der Variation und Veränderung.

SIEBZEHN INTERVIEWS

INTELLEKTUELLE

1Jörg Baberowski

In einem Veranstaltungsinserat bin ich zufälligerweise auf seinen Namen gestossen: Jörg Baberowski sollte am 2. Mai 2017 zu einem Podium nach Zürich kommen. Thema: Russland verstehen. Den Osteuropa-Historiker, Stalin-Kenner und Gewaltforscher wollte ich schon lange treffen – sein Buch über die Räume der Gewalt hatte mich fasziniert, seine Videos auf Youtube zeigten einen Mann mit scharfem Verstand. Ausgerechnet er, der moderne Gewaltdynamiken so gekonnt analysierte wie kaum ein anderer, wurde von linksradikalen Studenten an der Humboldt-Universität zu Berlin gestalkt und gemobbt. Deshalb wollte ich nicht über ihn schreiben, sondern mit ihm reden. Also schrieb ich ihm ein paar Zeilen und fragte, ob er früher anreisen könne. Er sagte gleich zu. Wir trafen uns am 1. Mai 2007 – beiden fanden wir, dass man am Tag der Arbeit am besten arbeitet – und sprachen über akademische Freiheit heute. Wechselseitige Sympathie war von Anfang an da, wir machten es uns im Komitee-Zimmer – dem legendären Sitzungszimmer – des NZZ-Gebäudes an der Falkenstrasse bequem und legten los. Das Gespräch war vom ersten Augenblick temporeich. Nach vollbrachter Tat gönnten wir uns ein Abendessen in der Kronenhalle.

Jörg Baberowski, 1961 geboren, ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Herausgeber zahlreicher Fachzeitschriften und Bücher. Zu seinen vielbeachteten Monographien zählen Räume der Gewalt und Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt.

[1]

Jörg Baberowski: «Die Linke macht den Menschen wieder zum Gefangenen seines Stands»

Herr Baberowski, was ist ein Rassist?

Das ist jemand, der davon überzeugt ist, dass Menschen unterschiedlichen, biologisch definierten Rassen angehören. Rassisten glauben auch, dass es eine Hierarchie der Rassen gibt und dass die biologische Ausstattung von Rassenkollektiven handlungsleitend ist. Zugespitzt formuliert: Rassisten schliessen von der Hautfarbe auf das Verhalten der Individuen.

Also kann es so etwas wie kulturellen Rassismus eigentlich gar nicht geben?

Doch, den gibt es. In der Sowjetunion der Stalinzeit dominierte diese Form der Stigmatisierung. Der Kulturrassist schreibt Menschen aufgrund ihrer kulturellen Herkunft Eigenschaften zu, die er für verwerflich hält. Wie der biologische Rassist auch, glaubt er daran, dass die kulturelle Determinierung handlungsleitend ist. So gab es in der Sowjetunion eine Hierarchie der Nationen, die kulturell begründet wurde. Muslime galten als rückständig, europäische Nationen als modern. Die Verfolgung und Deportation der Tschetschenen oder Krimtataren war zweifellos eine Praxis des kulturellen Rassismus.

Der Kulturrassist hält aber im Gegensatz zum biologischen Rassisten gewissermassen am Bildungspostulat fest – die kulturelle Determination lässt sich überwinden, während die biologische unveränderbar ist?

Davon waren die Kommunisten überzeugt. Kulturen werden nicht als ewig vorgestellt. Menschen können ihre Sitten und Gebräuche ändern. Man kann sie dazu bringen, ihrer Religion abzuschwören. Die Kommunisten wollten deshalb Menschen verändern, formen und umerziehen. Darin unterschieden sie sich von den Nationalsozialisten, denen es auf die Vernichtung ihrer Opfer, nicht auf Umerziehung ankam.

Rassismus zeichnet sich durch feste, unverrückbare Zuschreibungen aus. In Europa ist gegenwärtig oft von «dem» Islam die Rede, der das Denken und Handeln «der» Muslime bestimme. Beruhen solche Pauschalisierungen folglich auf rassistischem Denken?

Wer unterstellte, die Religionszugehörigkeit determiniere das Verhalten von Menschen, wäre zweifellos ein Kulturrassist. Die Behauptung, alle Muslime seien rückständig, ist insofern kulturrassistisch. Dagegen liesse sich einwenden, dass es keine Religion ohne die Menschen geben kann, die sie pflegen. Deshalb ist der Glaube so vielfältig wie die Lebensweisen von Menschen, die ihn angenommen haben. Es gibt keinen Islam, der das Denken und Handeln von Menschen anleitet. Es gibt immer nur Individuen, die von sich sagen, sie seien vom Glauben geleitet. Gott ist jemand, der nicht einfach da ist, sondern erkannt werden will.

Es kommt immer darauf an, wie sich das Individuum zu seiner Religion verhält.

Genau. Hierzulande beruht die Zugehörigkeit zu einer Religion auf einer individuellen Entscheidung, so wie auch die Hinwendung zum Atheismus ein Handeln aus Selbstbestimmung und Freiheit ist. Paradoxerweise pflegen aber besonders viele Muslime die Vorstellung kulturell determinierten Handelns und bestreiten, dass auch Traditionen ergriffen und bewahrt werden müssen: durch die selbstbestimmte Entscheidung freier Menschen. Sie projizieren ihre Auffassung auf die scheinbar haltlose Welt der Ungläubigen in ihrer Umgebung und behaupten dann, dass die westliche Kultur unheilbar verdorben sei.

Die aufgeklärten Eliten wittern notorisch in medialen und akademischen Diskursen kulturellen Rassismus. Sehen sie im besten Fall die eine Hälfte – und blenden die andere aus?

Die meisten Menschen in West- und Mitteleuropa sind tolerant und weltoffen, und diese Wirklichkeit erleben wir schon seit Langem als eine Errungenschaft. Mit der Einwanderergesellschaft haben sie längst ihren Frieden gemacht und sehen auch die Vorteile, die sich daraus ergeben haben. Aber viele Menschen begreifen nicht, dass es auch Einwanderer gibt, die das Projekt der offenen Gesellschaft ablehnen. Gerade in geschlossenen Gesellschaften ist der Kulturrassismus weit verbreitet. Offenheit kann sich nur leisten, wer in Sicherheit und Wohlstand lebt und nichts zu verlieren hat. Wer keine Wahlmöglichkeiten hat, begegnet dem Wandel und den Fremden mit Skepsis. Wenn Menschen, die in engen, repressiven Verhältnissen leben, in den Westen kommen, erleben sie einen Kulturschock. Sie müssen erst einmal lernen, dass Juden und Christen Menschen mit gleichen Rechten sind.

Bassam Tibi, selbst Muslim und lange Zeit Professor für internationale Beziehungen in Göttingen, hat in seinen Büchern diesen Lernprozess beschrieben, den er selbst durchgemacht hat. Längst nicht alle Einwanderer überwinden ihren Rassismus, und nicht jedem gefällt, was ihm die offene Gesellschaft anzubieten hat. Die Anwälte ungesteuerter und unkontrollierter Einwanderung in den westlichen Gesellschaften weigern sich, diese Wirklichkeit überhaupt wahrzunehmen.

Die Antwort hängt wohl vom Standpunkt ab. Vor dreissig Jahren war ein Rechtsradikaler noch ein Faschist oder ein Nationalsozialist. Wähler der NPD galten als rechtsradikal. Später galten alle Menschen als rechtsradikal, die sich rechts von der CDU verorteten. Heute ist der Begriff inhaltsleer. Potenziell rechtsradikal ist jeder, der sich nicht selbst als links bezeichnen mag.

Der Publizist Rüdiger Safranksi sprach jüngst von deutschen Gleichsetzungsdelirien: rechts gleich rechtsradikal gleich rechtsextremistisch gleich Schmuddelecke. Teilen Sie seine Einschätzung?

In Deutschland ist das in der Tat so. Die Koordinaten haben sich in den letzten Jahrzehnten verschoben. Wer wagt es heute noch, von sich zu behaupten, er sei rechts? Ein Rechter, nun ja, das ist so jemand wie ein Pädophiler oder ein Kinderschänder. Der Begriff dient in erster Linie als Diffamierungsvokabel, um Andersdenkende aus dem demokratischen Diskurs auszuschliessen.

Woran machen Sie diese Verschiebung fest – und wie genau ging sie vonstatten?

Es gibt keine Konservativen mehr. Franz Josef Strauss hat von sich mit Stolz gesagt, er sei ein Konservativer und Rechter – das ist heute undenkbar. Wer sich dem sozialdemokratisch-ökologisch-dirigistischen Konsens verweigert, bezeichnet sich im besten Fall als Mensch der politischen Mitte. Diese Verschiebung der Koordinaten konnte nur gelingen, weil die Linke die Deutungshoheit errungen hat und allein darüber befinden kann, wer als links und wer als rechts zu gelten hat. Dumm nur, dass Liberale und Konservative sich diesen Spielregeln unterworfen haben, deren Geltung sie nicht einfach wieder aufkündigen können.

Was ist denn heute eigentlich links?

Vor Jahrzehnten galt als links, wer in der sozialen Frage als Anwalt der Schwachen auftrat. Heute gilt als links, was eine Wohlstandselite der Gesellschaft verordnet: staatliche Bevormundung der Bürger, Selbstbestimmung auf Kosten anderer, die Tribalisierung und Ethnisierung der Gesellschaft, offene Grenzen und die Verteufelung des Nationalstaats, die Anbetung der Globalisierung, die Moralisierung aller politischen Fragen und die Rehabilitierung der Religion gegenüber der Aufklärung.

Das ist ein ziemlich heterogener Cocktail.

Zugegeben: Niemand hätte es vor vierzig Jahren für möglich gehalten, dass solche Standpunkte einmal für links gehalten werden würden. Das Programm der Grünen ist mittlerweile der Massstab, an dem sich die Wählbarkeit von Parteien bemessen lassen muss. Solange die meisten Bürger in den europäischen Ländern den Staat als Instrument verstehen, das für die Verwirklichung des Menschenglücks verantwortlich ist, wird sich daran auch nichts ändern.

Die Linken haben also die Macht an sich gerissen? Das hört sich nach Verschwörungstheorie an.

Die Linken haben die kulturelle Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis angestrebt und durchgesetzt. Dieser Kampf um Hegemonie wird nicht in der Politik ausgefochten, denn Politik reagiert nur, sie vollzieht, was der Deutung schon unterworfen worden ist. Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sprechen nur noch eine Sprache und unterscheiden sich nicht mehr voneinander. Die eigentlichen Auseinandersetzungen vollziehen sich in den zivilgesellschaftlichen Institutionen, in den Medien, im Bildungswesen, an den Universitäten. Dort aber ist die kulturelle Hegemonie der Linken auf eine Weise strukturell gesichert worden, dass Widerstand zwecklos ist.

Halt, das ist zu defätistisch gedacht. Die Leute, die das Geld haben, ticken tendenziell bürgerlich, ihre Organisationen ebenfalls, viele Bürger setzen weiterhin lieber auf Eigenverantwortung statt auf staatliche Unterstützung. Wie kommen Sie darauf, dass linke Ideologen das Zepter übernommen haben?

Achten Sie auf den Sprachgebrauch. Gerade im bürgerlichen Milieu sprechen die meisten Menschen dieselbe genormte Sprache und geben sich Mühe, gegen die Auflagen des Tugenddiktats nicht zu verstossen. Denn wer etwas kann und etwas ist, kann auch vieles wieder verlieren. Die Gegenwehr fällt auch deshalb so schwach aus, weil Liberale und Liberalkonservative es gar nicht darauf abgesehen haben, andere Menschen zu erziehen. Sie wollen sie einfach nur gewähren lassen. Ihnen kommt es gar nicht darauf an, dass alle das Gleiche sagen, weil sie im Wettbewerb einen Freiheitsgewinn sehen.

In der Tat. Das ist ja gerade die Stärke des Liberalismus.

Ja, aber es ist zugleich seine grösste Schwäche – er kann mit intoleranten Eiferern nicht umgehen, die die Welt zum Besseren bekehren wollen. Von Heinrich Popitz, dem grossen Soziologen der Machttheorie, wissen wir: Entschlossene Minderheiten, die genau wissen, was sie wollen, verfügen über einen Informations- und Organisationsvorteil gegenüber all den vielen, die nicht organisiert sind. Sie verbünden und verbinden sich in Institutionen und Interessengruppen, vernetzen sich in den Medien und in der politischen Sphäre, tauschen Wissen aus, unterstützen einander. So entsteht ein dicht gewobenes Geflecht von Theorien, Programmen, Begriffen und Initiativen, die den Eindruck erzeugen, als sei, was die Minderheit denkt, die Meinung aller Menschen. Ist dieser Eindruck erst einmal erzeugt, treiben jene, die die Meinungen machen, alle anderen vor sich her. Niemand will jetzt noch abweichen. Und wenn am Ende alle dieselbe Sprache sprechen, ist bald auch das Denken gleichgeschaltet.

Die Wirtschaftsverbände müssen die Interessen ihrer Mitglieder nach aussen vertreten und im Inneren Zusammenhalt stiften. Das gelingt nicht, wenn sie Opposition spielen. Im kleinen Kreis sagt man einander noch, was man denkt. Im öffentlichen Raum präsentieren die Verbände das Image ihrer Mitglieder und vertreten, was zum guten Ton gehört.

Gerade in der Wirtschaftswelt hat sich eine Anpassung an den hegemonialen Diskurs vollzogen, der vor Jahrzehnten nicht denkbar gewesen wäre. Die Selbstbeschreibungen der Verbände und Unternehmen sind entlarvend. Aber auch im wirklichen Leben selbst gibt es Übereinstimmungen zwischen Wirtschaftsliberalen und linken Weltverbesserungsromantikern. Beide beklatschen aus unterschiedlichen Gründen die Öffnung der Grenzen für jedermann. Die einen wollen grenzenlos Gewinne machen, die anderen träumen von der Weltgesellschaft.

Eine solche Interessenkongruenz kommt immer wieder vor, klar. Sie aber sprechen so, als würde jemand im Hintergrund die Fäden ziehen. Wer soll denn das sein – die Sozialistische Internationale?

Zöge jemand die Fäden, wäre es einfach, sie ihm auch wieder aus der Hand zu nehmen. Die Wirkung der kulturellen Hegemonie und ihrer politisch korrekten Sprache besteht ja gerade darin, dass es keinen Urheber mehr gibt, dass sich die repressiven Strukturen verselbstständigt und von benennbaren Personen emanzipiert haben. Niemand verordnet etwas, aber alle glauben, sie müssten etwas tun, weil es alle anderen auch tun. Wie wirkmächtig die Hegemonie des politisch Korrekten ist, können Sie jederzeit an sich selbst erproben, und zwar genau in jenem Moment, in dem der Sprachautomat in Ihnen das Sprechen übernimmt.

Nun argumentieren Sie deterministisch.

Sie sind selbstverständlich frei, den Sprachautomaten in Ihnen abzuschalten. Nur machen Sie sich dann unbeliebt. In einem Sitzungsraum, in dem alle formelhaft sprechen, sagen Sie einfach das Gegenteil, wenn es um Fragen der Einwanderung, um Muslime, Trump, Gender oder die grüne Ideologie geht. Was wird geschehen? Niemand wird Ihnen sagen, dass Ihr Argument nicht plausibel sei. Vielmehr werden alle betreten auf den Tisch schauen und im besten Fall vorgeben, gar nicht gehört zu haben, was gesagt worden ist. Niemand wird Ihren Einwand für diskussionswürdig halten. Die Botschaft ist klar: «So etwas» sagt man nicht – und wer es dennoch tut, muss damit rechnen, aus dem Diskurs ausgeschlossen zu werden.

Auf die politische Korrektheit wird seit einiger Zeit lustvoll eingedroschen. Aber eine überlegte, angepasste Wahl der Sprache ist ja auch Ausdruck von Respekt. Können Sie dies nachvollziehen?

Sie dürfen einen weissen, ungebildeten Mann aus der Unterschicht nach Herzenslust beleidigen. Kein Tugendwächter würde sich darüber empören. Höflichkeit und Respekt im Umgang miteinander sind unabdingbar für eine offene, liberale Gesellschaft – aber Respekt heisst auch: dem Gesprächspartner freies Denken und Sprechen zuzumuten. Die Tabuisierung ist ein Akt der Respektlosigkeit, weil sie dem anderen unterstellt, er sei zu dumm zu verstehen, was gesagt wird. Die Achtundsechziger haben anfangs selbst gegen die Tabuisierung aufbegehrt – gegen das Schweigen ihrer Eltern, die Nazis gewesen waren, sie geduldet oder sich ihnen unterworfen hatten. Die Achtundsechziger setzten sich mit den Schrecken der Vergangenheit auseinander, aber sie legten zugleich den Grundstein für die Moralisierung des Politischen, indem sie entschieden, worüber und wie über die Vergangenheit noch gesprochen werden konnte. Seither ist der Widerstand gegen einen toten Diktator Legitimation genug, um sich moralisch über andere Menschen zu erheben. Alle anderen Bevormundungsstrategien folgen dem gleichen Muster. Wer über Rassismus, Kolonialismus, über Krieg und Frieden oder das Verhältnis der Geschlechter anders urteilt, als es der hegemoniale Diskurs erlaubt, wird moralisch diskreditiert.

Sie beschreiben eine Tendenz, die ich ebenfalls beobachte: Die Zugehörigkeit zu einer Peer-Group wird wichtiger als die gemeinsame Orientierung an so etwas wie der Wahrheit. Dies führt zu einer Verarmung des öffentlichen Diskurses.

Nicht um die Plausibilität von Argumenten geht es, sondern darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Eine sachliche Auseinandersetzung ist unter solchen Umständen unmöglich. Daran sind jene, die die Moral auf ihrer Seite wissen, auch gar nicht interessiert. Wer ein Argument nicht danach beurteilt, ob es plausibel ist, sondern danach, wer es vorträgt, muss seinen Verstand überhaupt nicht mehr bemühen. Man erzielt einen Machtgewinn durch Diskreditierung. Und man nimmt dafür in Kauf, dass die Aufklärung auf dem Altar der wahren Tugendlehre geopfert wird.

Es lassen sich verschiedene Arten und Steigerungsformen der Diffamierung des Sprechenden unterscheiden. Stufe 1, ziemlich harmlos: Der andere ist ein Idiot. Stufe 2: Der andere ist ein schlechter, also ein moralisch minderwertiger Mensch. Stufe 3: Der andere ist krank.

Ja, und dann gibt es noch eine vierte Stufe: Der andere gehört zu einer Gruppe, die das Recht auf freie Meinungsäusserung verwirkt hat und die man diskreditieren darf, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Ein weisser, heterosexueller Mann darf Rassist genannt werden, eine Frau mit passendem Migrationshintergrund darf hingegen sagen, was sie über andere denkt. Über Schuld und Verantwortung müssen Deutsche anders sprechen, als es Türken oder Arabern gestattet ist. Manche glauben auch, Weisse dürften keine Bluesmusik hören, weil sie sich kulturell aneigneten, was ihnen nicht gehöre. Im Grunde gesteht dieser Essenzialismus Menschen gar nicht mehr zu, durch Reflexion klüger zu werden. Alle sollen bleiben, was sie sind.

Die Reflexion über den eigenen Standpunkt gehört zur intellektuellen Redlichkeit. Aber in ihrer Extremform führt diese Art der angeblich progressiven Diskurskritik zu einer Ethnisierung des Sprechens. Wie stehen Sie dazu?

Wer so denkt, denkt vormodern. Die Aufklärung hat uns darüber belehrt, dass Argumente unabhängig von der Person gelten sollen. Die Linke hat sich von dieser Errungenschaft freien Denkens verabschiedet. Sie hat den Menschen wieder zum Gefangenen seines Stammes, seines Standes, seiner ethnischen und religiösen Zugehörigkeit gemacht. In dieser Wirklichkeit kann man Prestigegewinne erzielen, wenn man sich auf Herkunft und Kultur beruft. Recht hat nicht, wer das bessere Argument auf seiner Seite hat, sondern wer belegen kann, einer diskriminierten Opfergruppe anzugehören. Dieser Verlockung können nur wenige Menschen widerstehen. Inzwischen empfinden sich auch jene, die von den Eliten als «white trash» bezeichnet werden, als Opfer. Und sie haben Erfolg damit, wie die Wahlen in den USA gezeigt haben.

Eine trotzkistische Kleinstpartei hat Sie nun aufgrund Ihrer kritischen Äusserungen gegenüber Angela Merkels Willkommenskultur coram publico als «rassistisch» und «rechtsradikal» diffamiert – und was zuerst nur in den Social Media kursierte, ist in der deutschen Öffentlichkeit plötzlich zu einem «Kasus Baberowski» geworden. Was genau passiert da?

Diese stalinistische Sekte bedient sich der Instrumente des hegemonialen Diskurses, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie sprechen überhaupt nicht darüber, wonach ihnen eigentlich der Sinn steht: über Klassenkampf, Revolution und Diktatur. Sie diskreditieren vielmehr jene, deren Weltbild ihnen nicht gefällt, als Rassisten, Rechtsradikale und Hitler-Verehrer. Das funktioniert in Deutschland immer. Für diesen Aufmerksamkeitsgewinn nehmen die Extremisten sogar in Kauf, dass ihr eigentliches Anliegen, die Verherrlichung der bolschewistischen Gewaltdiktatur, auch für sie selbst aus dem Blick gerät.

Warum haben sie es gerade auf Sie abgesehen?

Ich habe vor einiger Zeit einen bekannten britischen Historiker in mein Doktorandenkolloquium eingeladen, den Autor einer Biografie über Trotzki. Diese Einladung empfanden die Sektierer als Beleidigung ihres Religionsstifters und forderten mich auf, meinen Gast wieder auszuladen. Das lehnte ich ab, und seither verfolgen die Extremisten mich mit Verleumdungen.

Ausgangspunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung war mitunter ein Beitrag, den Sie in der FAZ veröffentlicht hatten. Darin analysierten Sie die Folgen der Flüchtlingskrise und beurteilten die Lage anders als die Bundesregierung. Da könnte man ja einfach sagen: Da übertreibt einer, er setzt auf Panikmache.

Im Urteil steht, dass man sich gefallen lassen müsse, «rechtsradikal» genannt zu werden, unabhängig davon, ob der Vorwurf tatsächlich zutreffe oder nicht. Gegenstand des Urteils war unter anderem die Frage, ob durch die Einwanderung von Millionen der Überlieferungszusammenhang unterbrochen werde, der eine Gesellschaft zusammenhält. Und ob ein solcher Hinweis auf die Bindekräfte sozialer Gruppen rechtsradikal genannt werden dürfe. Wenn nun Begriffe, die im Zentrum der hermeneutischen Philosophie Gadamers stehen, unter Nazi-Verdacht geraten, können wir uns jede kritische Diskussion darüber, was Gesellschaften zusammenhält, ersparen.

Sie nehmen für sich in Anspruch zu sagen, was Sie denken. Das müssen Sie folgerichtig auch anderen zugestehen. Leisten Sie mit Ihrer Klage nicht dem Vorschub, was Sie bekämpfen: der Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Natürlich dürfen Sie sagen, was Sie wollen, sofern Sie anderen keinen Schaden zufügen. Die Justiz ist blind für die Bedeutungsverschiebung der Begriffe. Wer im öffentlichen Raum als linksextrem bezeichnet wird, kann mit den Schultern zucken, denn er ist weiterhin satisfaktionsfähig. Rechtsradikal ist hingegen jemand, der aus dem Gespräch ausgeschlossen und stigmatisiert ist. Es handelt sich um einen diffamatorischen Begriff, dessen Verwendung anderen Menschen Schaden zufügt. Gegen ihn muss man sich wehren, wenn man sich von den selbsternannten Tugendwächtern nicht moralisch erledigen lassen will.

Das mag sein. Aber gleichzeitig muss jemand, der rechtsradikal denkt, auch als rechtsradikal bezeichnet werden können. Der Begriff soll ja nicht verboten werden.

Das ist völlig klar. Aber es müsste argumentativ nachgewiesen werden. Denn es ist bekannt, worauf faschistisches und nationalsozialistisches Denken beruht. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass Einwanderung nicht über das Asylrecht gesteuert werden sollte, dass eine Willkommenskultur von der Obrigkeit nicht gegen den Willen der Bürger verordnet werden kann und dass die Einwanderung von Millionen fremder Menschen eine Gesellschaft vor Herausforderungen stellt, denen sie besser gewachsen wäre, wenn sich diese Einwanderung massvoll und verträglich vollzöge. Inzwischen kann sich selbst der Kanzlerwahlverein wieder an Selbstverständliches erinnern.

Fürchten Sie um Ihren guten Ruf als Historiker?

Nein. Zwar verfolgen diese feigen und bösartigen Kampagnen immer das Ziel, dass am Ende etwas am Opfer hängenbleiben möge. Das gelingt den Denunzianten auch. Dennoch kann jeder lesen, was ich geschrieben habe. Darauf vertraue ich. Ich habe das Projekt der Aufklärung nicht aufgegeben.

Der Politikwissenschafter Herfried Münkler wurde ebenfalls in einem Blog angeprangert – die Universitätsleitung agierte ziemlich hilflos. Ist die Freiheit von Forschung und Lehre in Gefahr?

Sie ist in Gefahr, wenn die Universitäten Fanatikern, Eiferern und Tugendaposteln das Feld überlassen. Die Universitäten, an denen einst das wilde Denken zu Hause war, an denen man intellektuell etwas wagen konnte, haben sich in Orte des Konformismus verwandelt. Im Falle Münklers stellte sich am Ende heraus, dass eine einzige Person hinter der Kampagne stand. Die Täter brauchen den Schutz der Anonymität, um ihr Vorhaben auszuführen. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als die Konventionen des politisch Korrekten zu bedienen, und schon singen alle das gleiche Lied, ganz gleich, von welchem Taktstock sie sich dirigieren lassen. Wenige können im Netz eine Rufmordkampagne ins Werk setzen, die den Anschein erweckt, als werde sie von einer Bewegung getragen. Und so kommt es, dass sie Wirkungen auch dann erzielen, wenn sich dahinter niemand verbirgt.

Sehen Sie sich selbst als Opfer einer Rufmordkampagne?

Ja, zweifellos. Der Soziologe Heinrich Popitz hat Gewalt als Machtaktion definiert, die auf die Verletzung oder die Beseitigung des Körpers zielt. Psychische Gewalt erfüllt dieses Kriterium – sie verursacht Schmerzen. Und man kann ihre Urheber benennen. Wer öffentlich ausgestellt, diffamiert und verleumdet wird, soll sich schlecht fühlen. Das ist das Ziel solcher Kampagnen. Wenn man am Ende schweigt, ist das Ziel psychischer Gewalt erreicht. Dagegen kommt man nur an, wenn man sich wehrt.

Sie sind weiterhin in Amt und Würden als ordentlicher Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität, Sie schreiben und treten im Fernsehen auf.

Das stimmt alles. Aber in der Öffentlichkeit sind Sie angreifbar, müssen sich dem Druck der Verhältnisse ganz anders aussetzen als jemand, dessen Urteile gar nicht wahrgenommen werden. Ein Hartz-IV-Empfänger ist ohnmächtig, wütend, aber er hat nichts zu verlieren. Wer sich indessen in die Öffentlichkeit begibt und sagt, was nicht gesagt werden darf, riskiert Ruf und Ansehen.

Nun stilisieren Sie sich als Ketzer. Radikalisieren Sie sich innerlich?

Ich gebe mir Mühe, nüchtern zu bleiben und auch meine eigene Situation mit kühlem Blick zu betrachten. Selbstradikalisierung führt in die Isolation. Aber ich will mich nicht beugen, sondern sagen, was der Fall ist.

Sie machen einen Schritt zurück und agieren als Anthropologe Ihrer selbst. Gewinnen Sie dadurch Souveränität zurück?

Ja, das versuche ich. Eigentlich müsste man den Irrsinn ignorieren, der einem zugemutet wird, wenn nicht andere Menschen an ihn glaubten. Jemand setzt eine Verschwörungstheorie in die Welt, und sofort müssen jene, die beschuldigt werden, zu den Anschuldigungen Stellung nehmen. Die Beschuldigten geben also zu, dass Vorwürfe plausibel sind, auf sie selbst aber nicht zutreffen. Mit dem Spiel der Verdächtigung können Menschen vernichtet werden. Ich muss das nicht tun, denn ich bin ein Historiker, dessen Bücher jeder lesen kann und dessen Auffassungen lesenden Menschen bekannt sind. Ich kann auf meine Texte verweisen. In ihnen steht, was ich denke und was ich für plausibel halte.

Nutzen Sie Ihren Opferstatus, um auf sich aufmerksam zu machen?

Wer öffentlich angegriffen wird, muss sich wehren. Man darf Fanatikern und selbsternannten Moralaposteln nicht die Deutungshoheit überlassen. Auch in der linken Szene wird inzwischen erkannt, dass die Überschreitung von Grenzen auf ihre Urheber zurückfällt. Denn die Verleumder bedenken nicht, dass es in der postheroischen Gesellschaft von Vorteil ist, ein Opfer zu sein. Wer als Opfer wahrgenommen wird, kann sich Gehör verschaffen. Wäre ich ein hilfloser und machtloser Hartz-IV-Empfänger, könnte man mich leicht zum Schweigen bringen.

Dann würden wir dieses Gespräch kaum führen.

Und niemand würde überhaupt bemerken, was geschieht. Wer sprechen und schreiben kann, soll aber sagen, was der Fall ist. Genau das tue ich, auch wenn ich lieber an meinem nächsten Buch weiterschreiben würde.

2Ayaan Hirsi Ali

Ayaan Hirsi Ali bin ich zum ersten Mal im Jahre 2011 in St. Gallen begegnet, die Studenten der Hochschule hatten sie damals eingeladen. Die Frau hatte eine ganz eigene Ausstrahlung. Sie sprach sehr ruhig, fast flüsternd, und ihre Aussagen hatten doch eine enorme Sprengkraft. Da waren viel Freundlichkeit und Zurückhaltung, aber auch Unbestechlichkeit und Präzision. Im Feuilleton der NZZ habe ich später bei unterschiedlichen Gelegenheiten Essays von ihr publiziert. Einer provozierte besonders viele Reaktionen, er erschien im September 2020. Ayaan argumentierte, dass Islamisten und Wokeisten (von «woke», «wach», also: Erwachte, Sensible, politisch Korrekte) mehr verbindet, als ihnen lieb sein kann. Beide gehen von einer religiösen Dogmatik aus, beide wollen Häretiker mundtot machen, beide zielen auf die Dehumanisierung aller Andersdenkenden. Das Thema wollte ich vor dem Hintergrund der neulinken Identitätspolitik mit ihr vertiefen. Die Terminsuche für unser Skype-Interview war nicht ganz einfach, und am Ende fiel das Gespräch ausgerechnet auf ihren Geburtstag – den 13. November. Im virtuellen Gespräch war sie so freundlich und unbestechlich wie damals in St. Gallen.

Ayaan Hirsi Ali, 1969 geboren, stammt aus Somalia und flüchtete in den frühen 1990er Jahren in die Niederlande. Durch ihre Kritik des Islam und ihr politisches Engagement zugunsten von Frauen wurde sie weltbekannt. Seit 2007 lebt die Politikwissenschafterin und Autorin in den USA, zurzeit ist sie Research Fellow an der Hoover Institution in Stanford.

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Ayaan Hirsi Ali: «Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen»

Ayaan, lassen Sie uns gleich in medias res gehen, dahin, wo es weh tut. Sie sind schwarz, Sie sind eine Frau, Sie sind eine Feministin, Sie waren in Somalia Opfer einer echten patriarchalischen Gesellschaft. Warum werden Sie von den linksliberalen urbanen feministischen Eliten in den USA und anderswo trotzdem nicht umworben?

Ich denke, das liegt daran, dass ich deren Erwartungen zuverlässig enttäusche. Solche Enttäuschungen ist das mächtige linke Establishment in diesen konformistischen Zeiten kaum mehr gewohnt. Das macht sie ziemlich wütend.

Was haben Sie denn Böses gesagt?

Nichts, denn das liegt mir fern. Aber ich spiele ihr Spiel nicht mit. Ganz einfach: Ich weigere mich, das Opfer zu sein, das sie in mir sehen wollen. Würde ich es spielen, könnte ich alles bekommen, was ich will. Denn die akademischen Amerikaner sind geradezu besessen von den Themen Rasse und Sklaverei. Wenn ich sie daran erinnere, dass auch die Sklaverei eine Lieferkette kennt, hören sie weg und wechseln das Thema. Wo ich herkomme, wissen das alle: Auch Afrikaner versklaven Afrikaner, das war im 18.Jahrhundert so, als afrikanische Helfershelfer den Sklavenhändlern zuarbeiteten, und es ist heute so. Rassismus und Sklaverei zählen zum Schlimmsten, was die Menschen tun, seit es sie gibt, aber sie sind keine westliche Spezialität. Eine westliche Spezialität ist allerdings ein Leben in Freiheit.

Mit der Freiheit ist es so eine Sache. Man sucht sie, wenn man sie nicht hat. Man spürt sie irgendwann nicht mehr, wenn man sie endlich hat. Und man bemerkt sie erst wieder, wenn man sie nicht mehr hat.

Ich sage freiheraus, was ich denke: Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen, in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Sie hat es zustande gebracht, die Unterdrückung der Frau, den Feudalismus und das Stammesdenken zu überwinden. Sie hat gesellschaftliche Offenheit, politische Freiheit, technische Innovation und wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen. Ich leugne nicht, dass andere Kulturen ebenfalls ihr Besonderes und Wertvolles haben – aber die Freiheit der westlichen Kultur ist für alle Menschen von unschätzbarem Wert. Das sage ich als gebürtige Somalierin. Und das hören die linksliberalen Eliten nicht gerne.

Das ist paradox, denn es ist genau diese Freiheit, die es ihnen erlaubt, die eigene Ordnung madig zu machen und einen breiten Kulturrelativismus zu pflegen. Wer sich so unangreifbar weiss, der hat gut reden.

Das stimmt. Und diese Eliten leiden an kognitiver Dissonanz. Sie haben ihr Narrativ, wonach die westliche Kultur bloss auf Unterdrückung, auf der Perpetuierung von Unterdrückern und Unterdrückten beruht. Und wenn dann plötzlich jemand aus einem echten Unrechtsstaat kommt, in dem Menschen systematisch unterdrückt werden, und ihnen sagt, dass sie falschliegen, wenn sie ihre eigene Kultur schlechtmachen und stattdessen fremde Kulturen idealisieren, nun ja, dann haben sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie überdenken ihre Position. Oder sie diffamieren die Person, die solche unerhörten Dinge von sich gibt. Normalerweise tun diese Leute Letzteres – und machen die kognitive Dissonanz zum Dauerzustand.

Das tribale Denken greift allerdings auch in unseren Breiten um sich. Es wird in öffentlichen und zuweilen auch in privaten Diskussionen nicht mehr darauf geachtet, was jemand sagt, sondern bloss darauf, wer etwas sagt – wobei die Identität allein durch Gruppenzugehörigkeiten definiert wird. Als weisser heterosexueller Mann habe ich mittlerweile denkbar schlechte Karten – ich verkörpere das neue Klischee des Bösen par excellence.

Wir erleben durch einen Teil der Gesellschaft gerade die Dämonisierung des weissen Mannes. In jedem weissen Mann – so das hyperradikale linke Narrativ, das in den USA längst etabliert ist und in Europa auch immer weitere Kreise zieht – steckt ein Unterdrücker, ein Täter, ein Patriarch. Er vereinigt auf sich alles Geld und alle Macht der Welt. Was immer er sagt, steht deshalb unter Verdacht – er will damit bloss seine Machtstellung, seine Privilegien, seine Dominanz verschleiern oder rechtfertigen. Und ich frage mich tatsächlich, warum viele diesen Blödsinn einfach so hinnehmen. Wo bleibt der Widerstand?

Guter Punkt. Die meisten ziehen den Kopf ein. Doch indem man auch in kritischer Absicht ständig darüber schreibt, trägt man unfreiwillig zur Etablierung dieser Denkstereotype bei.

Das ist zu kurz gedacht. Denn dieses Narrativ wird auch stärker, wenn man es nicht entzaubert. Genau das ist es ja, was in den letzten Jahren geschah. Und es geht so, nach einer Art neo- oder vulgärmarxistischem Muster: Es gibt nur Unterdrücker und Unterdrückte, also Machtverhältnisse. Anders als im Marxismus ist es jedoch nicht die soziale Stellung, sondern die Gruppenzugehörigkeit, die darüber entscheidet, wo man in der Unterdrückungshierarchie steht. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Kategorien und also auch keine Versöhnung, es gibt bloss den Kampf, und da sind alle Mittel erlaubt. Das sind keine Denkstereotype mehr, das ist längst zur echten Glaubenslehre geworden.

Haben Sie einen Namen für sie?

Nennen wir sie die Woke-Glaubenslehre: Je schwächer du angeblich bist, desto mehr Macht steht dir zu. Entweder du teilst diese Dogmen, und dann gehörst du dazu, zählst zu den Guten und Gerechten. Oder du weigerst dich, sie anzuerkennen, weil du von den Vorteilen einer individuellen Leistungs- und Kompetenzgesellschaft überzeugt bist, und gehörst zu den Abtrünnigen. Diese Religionslehre hat ihre Priester. Die wichtigste Priesterin in den USA heisst Alexandria Ocasio-Cortez – mit über zehn Millionen Followern auf Twitter.

Okay. Aber Hand aufs Herz – wer glaubt wirklich an diese Dogmatik? Das klingt nach einer sehr abgehobenen, weltfremden Lehre. Lassen sich der Mann oder die Frau von der Strasse davon überzeugen? Und glauben die Eliten ernsthaft daran?

Jetzt wird es interessant. Nehmen wir zuerst die Eliten. Es gibt die kulturellen Eliten, die auf ihren Bildungsbesitz achten, es gibt die wirtschaftlichen Eliten, die mehr auf ihren Profit schielen, und es gibt die politischen Eliten, die es auf ihre Macht abgesehen haben. Sie alle spielen das Spiel längst mit. Manche von ihnen fühlen sich schuldig, weil sie eben Geld, Bildung, Macht haben. Andere fühlen sich nicht schuldig, wollen sich aber nicht exponieren, sondern in Ruhe ihr Leben führen und ihren Besitz pflegen. Und nochmals andere fürchten sich vor der radikalen Rechten und sind im Prinzip für alles zu haben, was der Etikette nach aus der linken Ecke kommt. Deshalb schauen die Eliten zu, dulden die neue Glaubenslehre oder tragen sie pro forma sogar mit.

Das wäre dann reiner Opportunismus.

Natürlich. Und das gilt auch für den Mann oder die Frau von der Strasse. Wenn du unter harten Bedingungen bei Ben & Jerry’s Ice Cream arbeitest, während dein oberster Chef lauthals die gewaltbereite «Black Lives Matter»-Bewegung unterstützt, dann zuckst du innerlich zusammen. Du verspürst Wut. Aber am Ende schweigst auch du – weil du deinen Job nicht verlieren willst und eine Familie durchzubringen hast.

Wenn Sie recht haben, hiesse das, dass eine kleine Minderheit von Aktivisten alle anderen Bürger vor sich hertreibt.

So verhält es sich in der Tat. Sie schreien laut, sie sind sehr effektiv und höchst gefährlich. Sie finden Verbündete in den Eliten, die sich einen Nutzen von der neuen Glaubenslehre versprechen. Die setzen über alte Medien und soziale Netzwerke ganze Industrien, Firmen, Hochschulen und Parlamente moralisch unter Druck. Sie haben schon Lehrstühle und sitzen schon in Parlamenten. So hat sich ihr sprachliches Framing mittlerweile bis in den Alltag hinein durchgesetzt, alle reden die ganze Zeit von den Idealen von Ergebnisgleichheit, Inklusion und sozialer Gerechtigkeit. Und Leute wie Sie und ich, akademisch nicht unbeleckt, keine Profiteure des Systems, unabhängig, schütteln den Kopf. Aber gegenwärtig hört uns kaum jemand zu.

Sind Sie frustriert?

Nein. Ich bin im Reinen mit mir – und ich höre nicht auf zu sagen, was ich denke, und zu begründen, was ich sage. Und tief in meinem Innern bin ich überzeugt, dass diese ganze Woke-Glaubenslehre irgendwann so schnell verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Sie ist wie Zuckerwatte: bunt, schrill, aber sie schmeckt zu süss, man kann nicht zu viel davon essen, weil einem sonst schlecht wird, und der intensive Geschmack vergeht im Nu.

Was macht Sie da so sicher?

Umschwünge gehen heutzutage schnell vonstatten, gleichsam über Nacht. Ich erinnere mich an die Partei der Arbeit, eine stolze sozialdemokratische Partei in den Niederlanden. Sie hat über hundert Jahre lang beachtliche Ergebnisse erzielt, des Öfteren den Ministerpräsidenten gestellt. In den Wahlen von 2017 sackte sie aber völlig ab – und dürfte sich von dieser Niederlage kaum mehr erholen. Ähnliches geschah mit der SPD in Deutschland und mit der Labour Party unter Jeremy Corbyn in Grossbritannien. Werden die Parteien zu Sekten, verlieren sie plötzlich den Rückhalt der meisten ihrer Wähler.

Sie reden von Glaubenslehre und Sekten. Das wirkt zunächst eher paradox – sind denn die Leute, die der Wokeness anhängen, nicht betont atheistisch unterwegs?

Doch, das sind sie. Die neue Glaubenslehre duldet keinen Gott über oder neben sich. Insofern ist sie keine Religion, sondern eher eine Form des aggressiven New Age, also ein Religionsersatz. Sie hat einen einseitigen Blick auf die Geschichte des Westens, die ihrer Meinung nach allein auf Rassismus, Ausbeutung und Kolonialismus beruht. Was Ihnen Ihre Eltern hoffentlich beigebracht haben – hart zu arbeiten, das Gesetz zu beachten, das Eigentum anderer zu respektieren –, all diese Tugenden gelten den neuen Jüngern nichts mehr. Sie nennen es «whiteness» und wollen es überwinden. Und zuletzt lehnen sie das jüdisch-christliche Erbe radikal ab – und machen die Traditionen schlecht.

Wenn ich Sie so reden höre, denke ich an Revolutionäre, an eine Art postmoderne Jakobiner. Ist das, was diese Leute antreibt, der Hass auf die eigene Kultur?

Zweifellos – an der Oberfläche. Der Selbsthass, die Selbstscham werden zur Schau getragen. Dahinter verbirgt sich aber eine eigenartige Form eines moralischen Überlegenheitsgefühls nach der Logik: Wer sich erniedrigt, erhöht sich zugleich. Er liebt sich im Selbsthass, ist der moralische, erhabene, unfehlbare Mensch, der letztlich auf alle anderen herabsieht.

Sie sind muslimisch erzogen worden. Sind Sie denn selbst eigentlich gläubig?

Nein. Ich bin nicht fromm. Ich habe die Religion meiner Eltern hinter mir gelassen. Aber ich unterschätze nicht das Potenzial, den Wert und die Funktion von Religion. Ich würde nie im Leben sagen, dass Religion nur etwas für die Dummen sei, wie viele Intellektuelle glauben …

… frei nach Marx: Opium des Volkes.

Obama sprach in diesem Sinne, als er einmal über die Arbeiter sagte, sie würden sich mitunter «an Waffen oder Bibeln klammern», wenn es ihnen schlecht gehe. Die christliche Religion ist für Obama so etwas wie der Strohhalm der Verzweifelten – und viele, die sich zum Establishment zählen, denken so. Oder sie denken, der Glaube führe automatisch zu Intoleranz und Gewalt. Aber das ist eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. Religion stiftet Gemeinschaft, bringt Leute zusammen, macht sie zu selbstbewussten Individuen, weil sie sich von Gott angesprochen, geliebt und getragen fühlen. Es war diese Dimension, auf die ich einmal neidisch war.

Wie meinen Sie das?

Ich erinnere mich, wie ich meinem Vater, der in den USA und Italien studiert hatte, sagte: Schau dir die Frauen in christlichen Ländern an, sie sind frei zu tun, was immer sie wollen. Schau dir die wissenschaftlichen Errungenschaften an. Schau dir den Wohlstand und die Liberalität an. Und dann schau dir an, was die islamische Kultur erreicht hat. Schau, wie sie mit Frauen umgeht. Man hatte mir beigebracht, dass meine Kultur allen anderen überlegen sei. Aber das war empirisch falsch, und das liess mir keine Ruhe. Ich ertrug die kognitive Dissonanz nicht länger, und 1992 gelang es mir, nach Europa zu flüchten.

Es war für Sie das gelobte Land.

Ja, zu Beginn. Die Leute waren damals noch stolz auf ihr Gemeinwesen, auf ihre politische Kultur, die Marktwirtschaft, die Demokratie. Seither hat sich im mentalen Haushalt der Leute viel verändert, in Europa und den USA. Der Wohlstand ist weiter gestiegen, aber es ist, als hätte sich eine grosse spirituelle Leere ausgebreitet. Und nichts vermag diese Leere zu füllen. Schauen Sie – als ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt war und es unserer Familie an allem fehlte, fragte ich mich: Warum tut Gott uns das an, warum lässt er uns leiden? Was ist der Sinn meines Lebens, warum wurde ich geboren? Die Leute im Westen sind materiell saturiert, die meisten haben zu viel Geld, zu viel Unterhaltung, zu viel Technologie, zu viel Freizeitangebote. Aber sie stellen sich irgendwann immer noch dieselbe Frage – was soll das alles? Worum geht es eigentlich? Sie spüren die Leere weiterhin, und das macht sie fast wahnsinnig.

Verstehe ich Sie richtig – Sie sagen, dass die meisten im Westen nicht aus Not, sondern aus Überdruss zu Systemkritikern werden?

Bestimmt. Es geht ihnen zu gut, nicht zu wenig gut. Sie leiden nicht an Mangel, sondern an Überfluss. Die Woke-Leute sind letztlich Nihilisten, die diese Leere spüren und sagen: Es geht um nichts, es gibt keinen Sinn des Lebens, lasst uns das ganze System niederreissen. Aber natürlich gibt es auch die, die an den Lippen von Autokraten, Tyrannen und Imamen hängen, die ihnen versprechen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Der jüngst verstorbene Schriftsteller und Philosoph Roger Scruton, ein treuer Freund, der mir sehr fehlt, pflegte zu sagen: Wenn wir unsere innere Leere nicht selbst füllen, dann werden sie andere füllen.

Wie füllen Sie Ihre Leere?

Konservative haben es bestimmt leichter als Progressive, auch wenn sie wie ich nicht an Gott glauben. Ich liebe meine Familie, für die ich sehr dankbar bin. Und ich pflege Umgangsformen und Traditionen, ich lebe wie eine funktionale Christin: nicht im eigentlichen Sinne fromm, aber aufgehoben in einer Alltagskultur.

Sie waren einst Muslimin, Sie wurden zur Atheistin – und heute sind Sie eine Kulturchristin.

Ganz konkret: Ich glaube, dass Sie, René, ein guter Mensch sind und dieses Interview mit den besten Absichten führen. Und Sie glauben, dass ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen Rede und Antwort stehe. Ich traue Ihnen, Sie trauen mir, wir haben eine implizite Vereinbarung. Wir teilen unsere Gedanken für diese Zeit, wir behandeln uns mit Respekt und Anstand, wir teilen bestimmt manche Ansichten, in vielen Fragen sind wir uns jedoch nicht einig, aber wir lernen voneinander – das ist es, was dem Leben Freude und Fülle gibt.

3Peter Sloterdijk

Peter Sloterdijk ist der Letzte seiner Art, ein gelehrter Philosoph von erhabener Heiterkeit. Niemand heute kann so schreiben und sprechen wie er, so ausschweifend, so grosszügig und so konzise. Ist der Denker richtig in Form, unterhält er sich mit seinem anderen Ich, ohne oder mit Publikum, je nachdem. Solche Zwiegespräche von Sloterdijk mit Sloterdijk ergeben also entweder schöne, voluminöse Bücher oder eben gemeinschaftlich geteilte Glücksmomente der besonderen Art. Das folgende Gespräch hat tatsächlich vor Publikum stattgefunden – im Juni 2013. Das liberale Debattenmagazin Schweizer Monat