Gestörte Balance - Fritz J. Raddatz - E-Book

Gestörte Balance E-Book

Fritz J. Raddatz

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Beschreibung

In seinem Roman lotet Fritz J. Raddatz die Klüfte und Risse aus, die sich trotz aller Verbundenheit zwischen die Beziehung zweier Menschen schieben: Myriam und Oliver. Sie, die erfolgreiche Kostümbildnerin, ist trotz Hosenanzug, Kongreßreferaten und Fernsehaufträgen nicht die obligate «Karrierefrau»; er, in Deutschland geborener Sohn spanischer Gastarbeiter, ist Archivar, nicht nur im Beruf, sondern auch als Protokollant des eigenen Verletztseins – ein modernes Liebespaar. Geschickt und mit einem Hauch von Perfidie spiegelt der Autor die splitternden Varianten von Glück – die beiden schreiben, unabhängig voneinander, Tagebuch. Da spleißt sich im nächtlichen Notat gemeinsam Erlebtes auf in getrennt Erfahrenes – ein Abendessen mit Freunden, eine Paris-Reise, die gemeinsam gehörte CD von Thomas Manns «Wälsungenblut»: was er lustig findet, ist in ihrer Erinnerung peinlich, was ihr großartig erscheint, ist ihm gar politisch verdächtig. Es ist, als liefen zwei Tonspuren zu einem Film. Sie lieben einander dennoch. Auch noch, als ein anderer Mann auftaucht. Der Roman bekommt durch diesen Dritten, durch das immer magnetischer werdende «magische Dreieck», in dem sich die Beteiligten finden, Spannung. Höhepunkt wird eine Venedig-Reise Myriams mit diesem Berliner Arzt; durch ihn, der als Kind den gelben Stern trug, erfährt sie Oliver neu und nah. Verrat, der keiner ist.

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Seitenzahl: 189

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Fritz J. Raddatz

Gestörte Balance

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In seinem Roman lotet Fritz J. Raddatz die Klüfte und Risse aus, die sich trotz aller Verbundenheit zwischen die Beziehung zweier Menschen schieben: Myriam und Oliver. Sie, die erfolgreiche Kostümbildnerin, ist trotz Hosenanzug, Kongreßreferaten und Fernsehaufträgen nicht die obligate «Karrierefrau»; er, in Deutschland geborener Sohn spanischer Gastarbeiter, ist Archivar, nicht nur im Beruf, sondern auch als Protokollant des eigenen Verletztseins – ein modernes Liebespaar.

Geschickt und mit einem Hauch von Perfidie spiegelt der Autor die splitternden Varianten von Glück – die beiden schreiben, unabhängig voneinander, Tagebuch. Da spleißt sich im nächtlichen Notat gemeinsam Erlebtes auf in getrennt Erfahrenes – ein Abendessen mit Freunden, eine Paris-Reise, die gemeinsam gehörte CD von Thomas Manns «Wälsungenblut»: was er lustig findet, ist in ihrer Erinnerung peinlich, was ihr großartig erscheint, ist ihm gar politisch verdächtig. Es ist, als liefen zwei Tonspuren zu einem Film.

Sie lieben einander dennoch.

Auch noch, als ein anderer Mann auftaucht. Der Roman bekommt durch diesen Dritten, durch das immer magnetischer werdende «magische Dreieck», in dem sich die Beteiligten finden, Spannung. Höhepunkt wird eine Venedig-Reise Myriams mit diesem Berliner Arzt; durch ihn, der als Kind den gelben Stern trug, erfährt sie Oliver neu und nah. Verrat, der keiner ist.

Über Fritz J. Raddatz

Fritz J. Raddatz war der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Franςois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982–2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.

Inhaltsübersicht

Myriams Tagebuch1.1.Olivers Tagebuch1.1.Myriams Tagebuch2.1.Olivers Tagebuch3.1.Myriams Tagebuch4.1.Olivers Tagebuch5.1.Myriams Tagebuch6.1.Olivers Tagebuch6.1.Myriams Tagebuch12.1.Olivers Tagebuch14.1.Myriams Tagebuch16.1.Olivers Tagebuch16.1.Myriams Tagebuch20.1.Olivers Tagebuch22.1.Myriams Tagebuch25.1.Olivers Tagebuch27.1.Myriams Tagebuch1.2.Olivers Tagebuch2.2.Myriams Tagebuch5.2.Olivers Tagebuch6.2. frühmorgens, hellwachMyriams Tagebuch10.2.Olivers Tagebuch18.2.Myriams Tagebuch20.2.Olivers Tagebuch20.2.Myriams Tagebuch1.3.Olivers Tagebuch3.3.Myriams Tagebuch6.3.Olivers Tagebuch7.3.Myriams Tagebuch7.3.Olivers Tagebuch8.3.Myriams Tagebuch9.3.10.3.Olivers Tagebuch11.3.11.3.Myriams Tagebuch12.3.Olivers Tagebuch12.3.Myriams Tagebuch13.3.Olivers Tagebuch13.3.Myriams Tagebuch14.3.Olivers Tagebuch14.3.Myriams Tagebuch25.3.Olivers Tagebuch25.3.Myriams Tagebuch1.4.Olivers Tagebuch2.4.Myriams Tagebuch4.4.Olivers Tagebuch6.4.Myriams Tagebuch12.4.Olivers Tagebuch13.4.Myriams Tagebuch15.4.Olivers Tagebuch15.4.Myriams Tagebuch18.4.Olivers Tagebuch20.4.Myriams Tagebuch22.4.Olivers Tagebuch24.4.Myriams Tagebuch25.4.Olivers Tagebuch25.4.Myriams Tagebuch1.5.3.5.Nachtrag 5 Uhr morgensOlivers Tagebuch3.5.Myriams Tagebuch5.5.Olivers Tagebuch6.5.Myriams Tagebuch10.5.Olivers Tagebuch13.5.Nachtrag vom nächsten TagMyriams Tagebuch15.5.Olivers Tagebuch15.5.17.5.Myriams Tagebuch20.5.Olivers Tagebuch23.5.Myriams Tagebuch30.5.Olivers Tagebuch4.6.Myriams Tagebuch20.6.Olivers Tagebuch22.6.Myriams Tagebuch28.6.Olivers Tagebuch30.6.Myriams Tagebuch2.7.Olivers Tagebuch6.7.Myriams Tagebuch20.7.Olivers Tagebuch25.7.26.7.Myriams Tagebuch27.7.Olivers Tagebuch1.8.Myriams Tagebuch10.8.25.8.15.9.Olivers Tagebuch18.9.Der Passage auf ...

Myriams Tagebuch

1.1.

Das Jahresende schwang nicht aus, ging vielmehr unter in einer verkicherten Feierei, wobei vielleicht dieses Frühlingswetter der Toskana einem die Seele falsch färbt. Silvester mit Sonne, Pinien und Palmen stimmt nicht. Dabei war ich es ja, die das gewollt hatte – das schöne Haus unseres toten Freundes wiedersehen: sein Lebenstraum, den er sich erfüllt hatte, als die AIDS-Schatten immer länger wurden; bis sie ihn einholten. Ich wollte auch, daß wir zu diesem ersten Jahrestag bei seinem Freund sind, der das Haus wie eine große Porträtplastik aus Stein und Holz zum Andenken an Werner hält. Dennoch bin ich wie von einem Messer geritzt, nervös, traumgeplagt – so sehr mit mir uneins, daß ich nach jahrelanger Unterbrechung mein Tagebuch wieder aufnehme. Ich brauche mich als Gesprächspartner. Am dämlichsten war wohl die Idee, Olivers deutsche Kusine für diese Woche dazuzubitten (damit wir zwei «Pärchen» sind?). Eine unerträgliche Schnattergans, Mischung aus kindisch und störrisch, aus deren Spatzengehirn ein unentwegter Kauderwelsch-Strom rinnt: «Wo ist mein gelbes T-Shirt?» – «Wie geht die Kaffeemaschine auf?» – «Ich habe Schorf am Kopf» – «Dieser Joghurt schmeckt mir nicht» – «Was heißt Kalium auf italienisch?» – «Das Geländer hat auf meinem Badeanzug Flecken gemacht!». Ein Chaos-Genie, ein vergreistes Kind, das sich im Wohnzimmer nackt auf die Couch legt: «Ich bin jetzt müde.»

Rührend und ein bißchen befremdend, daß Oliver das erträgt, wie er dennoch liebevoll den Tisch deckt oder Obstsalat mit extra viel Kiwis macht, während ich meinen Band Tolstoi-Tagebücher wie eine Monstranz zur Abwehr der üppigen «Ich weiß nicht, wohin ich meinen Führerschein gelegt habe»-Teufelin vor mich hinhalte. Was wenig hilft – selbst die scheinbar bittere Bilanz des proletarischen Grafen kurz vor seinem Tod, «Wie seltsam, ich liebe mich und keiner liebt mich», wirkt auf mich eher kokett als ehrlich, und Eintragungen wie «Heute gut gedacht» oder «Heute seelisch gut gewesen» schmecken wie süße Watte.

Olivers Tagebuch

1.1.

Im falschen Film (hoffentlich nicht im falschen Jahr?), erträglich nur durch die Besetzung der Hauptrolle – meine witzige, immer noch gutaussehende und leicht mannstolle Kusine.

Das Haus grimassiert. Es hat was – fast hätte ich geschrieben – «Unnatürliches», jedenfalls Groteskes, wenn von zwei schwulen Liebhabern der kultiviertüberlegene stirbt und sein «Bübchen», nun Erbe, gleichsam im zu großen Anzug herumlümmelt. Schon am Begrüßungsabend fläzte er sich, Beine auf dem Tisch, im Sofa und gab zu verstehen, «Hier bin ich jetzt der Herr». Auf meine Bemerkung darüber reagierte Myriam wohl richtig, mit einem mir aber dennoch fremden Argument; ich würde das schließlich bei jedem Paar akzeptieren, wieso eigentlich nicht bei Schwulen. Stimmt – eine Witwe «darf» sich in ihrem Haus bewegen. Hier geht mir was gegen den Strich. Der schöne italienische Marmoreßtisch, die zwei mächtigen Leuchter aus Palermo, der (falsche) Kouros neben dem Kamin, die alten Balken – irgendwie kommt unser Hausherr mir wie ein Okkupant vor. Es schickt sich nicht. Fügt sich nicht. Mochte auch die klebrige Beicht-Geschichte nicht, die er uns bei sinkender Sonne und steigendem Barolo erzählte, daß Werner noch vor einem Jahr sich Hals über Kopf in einen 22jährigen Kaufhausjüngling verliebt habe; die Story einer Betrügerei bliebe alltäglich – aber der Ton der «verlassenen Frau» ist mir eklig. Wie bei «richtigen» Paaren geht der Mann mit einer Jüngeren fremd, die natürlich «die Trulla», «die Schlampe», «seine Kleine» ist – so empfand sich hier ein Mann bis in den Sprachgestus hinein als Frau. Es sei ja nur «um das junge Fleisch gegangen», «ich kann ja nichts dafür, daß ich nicht mehr 22 bin», und «das Jüngelchen» hätte den Leberkranken nicht pflegen, sondern ihm nur «ins Portemonnaie» fassen können. Und Werner habe soviel rumliegen lassen – offenbar Steuergeschichten oder so was –, «wenn das Bübchen das gefunden hätte»; aber er habe das ja schon zweimal mitgemacht, einmal sei es ein halbes Jahr gegangen, und «ihn sich jedesmal zurückgeholt und verziehen». Weiß nicht genau, warum ich derlei schwer ertrage.

Ob mir solche Tiraden auch das Buch vergällen, das mir Myriam so liebevoll-begeistert empfahl? Ich fand diesen Ungarn Péter Nádas mehr ein Stagione-Kunststück; ohne erzählerischen Atem und voller falscher Bilder, und ich freute mich, als sie zugab, «Du hast recht – malvenfarbig geht sowenig wie opalfarben, weil es Malven und Opale in vielerlei Farben gibt».

Wie ein Ertrinkender zu Myriam geschwommen, die nach nun acht Jahren noch immer mein Begehren kopfwirbelnd zündet. Sie hat diese durchsichtige Haut, «in» der man die Adern küssen kann, und wenn meine Zunge ihre Schenkel innen netzt, ist meine Gier, nicht nur in ihr zu sein, sondern sie zu sein, ganz eines, ihren Körper zu füllen, daß es nur noch einen aus uns beiden gibt, schädelsprengend. Ich liebe sie wie mich. Ertappe mich, wie ich hinterher meine Brusthaare streichele, mit den Fingern ihrer Nässe.

Myriams Tagebuch

2.1.

Daß Oliver die Nacht zu mir kam, blieb seltsam milchigfern. Er war so sehnsüchtig – schmerzlich, seine Zärtlichkeit eine Art Hilferuf. Aber sein Körper fremd, ein anderes, weit weg, obwohl in mir. Berührung ist nur eine Randerscheinung. Meine Phantasie griff nicht nach ihm. Vielmehr tobte Schrecken in mir, während er mich umarmte: als er meine Lider küßte, überschwemmte mich der Angsttraum, blind zu werden. Ist das noch der Schock der Augenhintergrundspiegelung, der ich mich im Dezember unterzog? In mir schwemmte ein Satz hoch, den ich kürzlich las: «Sie haben Retinitis pigmentosa», hatte da ein Augenarzt gesagt, «das ist ein degeneratives Netzhautleiden, wodurch Sie nach und nach erblinden werden.»

Der Horrorfilm «nie mehr blühende Bäume, nie mehr eine Skulptur, nie mehr einen Körper sehen» raste bei der so fernen Nähe seines Körpers durch mein Hirn, riß auf in ein Bacon-Bild und in die jähe Erinnerung an seinen Satz (den ich in einem Nachruf las), «Man wird geboren und man stirbt. Das ists». In diese Fetzen hinein ergoß sich Oliver, und dabei durchschoß mich die Erinnerung daran, wie ich vor Jahr und Tag in Paris den genialen – und berühmten und reichen – Maler schon morgens sturzbetrunken das Café «Aux deux Magots» verlassen sah, schwankend, abgerissen alt, müde, unerkannt, ein im Irgendwo verschwindender Schatten. Ich blieb als Pfütze.

So konnte ich das mit großem Aufwand arrangierte Abendessen heute nicht genießen. Fühle mich grau und müde und alt und kann den bis lange nach Mitternacht währenden Lemurentanz nicht mehr fixieren.

Olivers Tagebuch

3.1.

Muß man dem «neuen Hausherrn» immerhin lassen: Er hat wirklich Oberkellnerqualitäten. Jedenfalls war der gestrige Abend mit komischen Gästen und köstlichem Essen eine gelungene Inszenierung. Begann mit beißenden Komplimenten eines italienischen Lithokünstlers über die «etwas farbigen Teppiche», den «leicht bitteren Wein» und amüsantem Streit zwischen ihm und einem Kunstkritiker aus Mexiko über die gefälschten Lithos von Dalí, Chagall und de Chirico («Na hören Sie mal, ich stand doch daneben, als die leere Bögen signierten.») Am komischsten Myriams Freundin Dagmar, eine etwa vierzigjährige Tessinerin aus sehr reichem Hause, die ohne Zurückhaltung von ihrer Affäre mit einem Zirkusdompteur erzählte («Haben Sie schon mal nach dem ersten Koitus einem Tiger ins Auge gesehen?») und daß der gelegentlich bei Kreuzfahrten Zauberkunststücke vorführte und daß sie als seine Hilfszauberin 1-Dollar-Trinkgelder bekommen habe von den neunzigjährigen Millionären, die ihr verziehen, als sie herausfanden, daß hinter ihr ein großes Vermögen steht: «Sie reisen ja wohl inkognito.»

Dieses gemütliche Steinhaus in Volterra wirkt auf mich wie eine Bühne, auf der Myriam, schön und schmal und schweigend, sich abhebt, eine abweisende Blume im Tonkrug. Ich liebe sie, wie sie die Skurrilitäten meiner aufgedrehten Kusine mit ihren großen Augen durchschneidet. Ich liebe ihre Hingabe, die Zartheit ihres Körpers.

Myriams Tagebuch

4.1.

Doch noch ein Nachtrag zu diesem vertändelten Abend vorgestern, bei dem mich wieder Olivers Weichlichkeit irritierte. Er löst sich in solchen Fasel-Gesellschaften auf wie ein Stück Zucker im Tee. In gewisser Weise scheut er selbst bei so minderen Anlässen Verantwortung; wie ja stets: als mir vor zwei Monaten am Münchner Hauptbahnhof ein Taxi die Autotür einbeulte, stieg er aus – «Ich hol dann rasch ein paar Zeitungen» – und war weg, statt mir bei dem üblichen Gezänk, Nummern notieren und all dem Kram zu helfen; dabei hätte er, schließlich sind wir nicht verheiratet, sich als Zeuge melden können. Wenn wie kürzlich an einem Sonntagvormittag die Klinke zur Badezimmertür abbricht, muß ich einen Notdienst anrufen, und er bleibt im Bett. So «macht er die Flunder», wie meine Freundin Dagmar das nennt, vor dieser gräßlichen Kusine, applaudiert mit gefälligem Lachen ihren grellen Selbstinszenierungen.

Sie lebt, von irgendeinem Fabrikanten geschieden, seit langem in Italien, in einem offenbar verkommenen Haus bei Lucca, voller Hunde, Katzen, Ziegen, zwei Schildkröten und einem Affen. Lustig ist allenfalls ihr stehengebliebenes Deutsch, sie sagt «Herzeleid» oder «er besaß eine Schrägband- und Hosenbundfabrik».

Eine schrille Mischung aus Kindfrau (von 60 Jahren!), Landstreicherin, Hure und Copain mit zu großen Ohrringen, zu knalligen Gürtelschnallen und zu kurzen Röcken. Sie verläßt sich auf ihren Gurr-Effekt, dem sogar ein Mann bei der AVIS-Autovermietung erliegt – strahlend erzählt sie, wie der spät abends am Telefon sagte, «Warum kommen Sie nicht jetzt gleich mal vorbei, ich bin alleine im Büro».

Wie Oliver über diese einfältige Einteilung der Welt in Mann und Frau lachen kann, ist mir unerfindlich, rückt ihn fort von mir. Für diese gern reisende Pailletten-Dame besteht der Mann aus einem ewig erigierten, stets begehrlichen Penis, an dem ärgerlicherweise die Brieftasche nicht direkt hängt; folglich wird jeder kleine Polizist, jeder Kellner, jeder junge Soldat hüftschwingend und augenblinzelnd taxiert; und ebenso folglich wird der Mann als «bestimmend» akzeptiert: «Was willst du, daß wir jetzt machen?», «Wo willst du sitzen?», «Willst du Wein trinken?» Diese gräßliche Mischung aus Willenlosigkeit und Instinkt hat offenbar Wirkung auf Männer; eine leere Vase, die rot wird, wenn man rotes Wasser hineingießt, und grün, wenn es grünes ist. Der Lebensrhythmus einer Qualle, die träge und ziellos dahinschwappt, wo die Welle namens Leben sie hinspült – mal vier Jahre in eine reiche Liaison in Marokko, mal kümmerlich in die rue de l’Echaudée in Paris, mal englisch, mal italienisch, mal französisch ihre Maximen plappernd, «weiche Brötchen esse ich nicht gerne», «Salat mache ich nie in Tonschüsseln an» oder «heute wasche ich mir das Haar». Diese Kreuzung aus Raubtier und Totalweib beherrschte mit ihren Anekdoten und Geschichtchen den Abend – mit dem Jeep ohne Zulassung durch Yucatan, mit den Strümpfen voller Coca-Blätter zum Machu-Picchu, mit dem Händler gefälschter präkolumbianischer Skulpturen im Londoner Ritz, «und was glitzert, das muß ich haben – ob bei Cartier oder beim Straßenjungen in Fez». Eine weiße Negerin. Was für eine gerade, auf angenehme Weise knochige Person ist dagegen die Mutter unseres Gastgebers, die den letzten Tag zu Besuch kam. Übermorgen Abreise.

Olivers Tagebuch

5.1.

Cafard. Weiß den Grund nicht. Verkrieche mich vor dem Südgelächel, dieser ewigen Tier-Sonne, liege mit Kopfweh und Magenschmerzen hinter geschlossenen Vorhängen, kann mich selber nicht fühlen, falle in ein schwarzes Loch. Der letzte Tag – morgen reisen wir ab – zerstört durch den Besuch der allzu rüstigen Mutter unseres Freundes, die das Haus wie eine Festung stürmte, «Ach, Burkhardt, was bist du doch reich geworden, ach, ne Dusche hast du auch, ich liebe Duschen, und wo schlafe ich, schönes Bild da, ist das Wunderlich (es ist ein Foto), und das Foto von dir, aber du siehst ja ganz blond darauf aus (es ist ein Foto des toten Freundes), ja, ein Glas Sekt nehme ich noch, aber dann Schluß, na, noch ein letztes. Aber jetzt habe ich Hunger.»

Wir aßen draußen, die Pinien nähten langsam den Himmel zu, aber dieser mümmelnde Mund war nicht zu stopfen. Unter dem Ruf «ich esse abends so gut wie gar nichts» verschwinden Artischocken und Oliven und Zucchini und Salami, der Wein ist alle, «Ist das deine letzte Flasche Rotwein? Rotwein hat mir der Arzt empfohlen, darf ich mir noch diese (vierte!) Scheibe, wie heißt das?, Bressaola nehmen», und während Burkhardt eine neue Flasche Wein holt, geht sie ans Telefon, ihre Tochter in Hannover anrufen, man hört sie sagen, «Ja, wir fangen gerade an zu essen», zurückgekehrt, lobt sie den Gorgonzola, den Ziegenkäse, «herrlich, diese Butter, wenn das dein Vater noch wüßte, hast du noch etwas Brot», und quittiert sich zufrieden, «manchmal könnte ich lachen, wenn ich daran denke, daß ich gleich 75 bin». Ein Weib, wie abmontiert von der Porta Westfalica.

Doch dieser Tigertank, eine teutonische Gegen-Juno zu meiner mittelmeerischen, leichtfüßigen Kusine, kann ja alleine nicht der Grund sein, daß ich so verzagt bin. Vielleicht ist es nur die Furcht vor der ungeliebten Routine im Archiv, zumal vor dieser auf Perfektion getrimmten Erfassungsarbeit der nächsten Monate, mit der wir Bibliothek und Archiv umstellen müssen von Hand auf elektronische Benutzung. Bleibt meine Freude auf die Abende bei Myriam, die Nächte mit ihr.

Myriams Tagebuch

6.1.

Wie dumm-richtig man reagieren kann. Den ersten Abend zu Hause krochen wir zueinander, Oliver ging gar nicht in seine Wohnung, ich machte – als wollte ich toskanische Düfte fortwedeln – ein extra-deutsches Essen mit Kaßler, Sauerkraut, Bier und Korn. Hörten ein Weihnachsgeschenk, Franz Schuberts Streichquartette, gespielt vom Melos-Quartett, und für mich war es hinterher am schönsten: als dieser zottelige Bär neben mir lag, ich die feucht verkräuselten Haare streichelte, Hüften und Rücken mit den Fingerkuppen entlangfuhr. Dieser 35jährige hat noch immer etwas Knabenhaftes, beim Lieben in seiner Wildheit Schüchternes, Fragendes, als müsse es etwas hinter der Liebe geben. Er ist mir näher, wenn er fern ist, schläft. Ich spüre ihn tiefer, wenn er neben mir liegt, nicht auf mir.

Olivers Tagebuch

6.1.

Erfüllte Nacht mit Myriam. Erschöpft. Schöpfe sie aber nie aus.

Fand in einem dieser zum neuen Jahr geschenkten Kalender einen Satz von La Rochefoucauld: «Ältere Männer, die nicht lächerlich erscheinen wollen, sollten nicht von der Liebe reden als einer Sache, an der sie noch Anteil nehmen könnten.»

Ab wann ist man ein «älterer Männer»?

Myriams Tagebuch

12.1.

Ich sitze in einem dieser drittklassigen Konferenzhotels in Erlangen mit Schuhputzmaschine neben dem Lift, Pfefferminzbonbon auf dem Kopfkissen und Plastikbechern mit himbeerparfümiertem Joghurt auf dem Müsli-Haferflocken-Dörrpflaumen-Frühstücksbüffet. «Gerne stellen wir Ihnen ein Föhn gegen Fand zur Verfügung» klebt im Bad und an der Zimmertür «Von 6.30 bis 10.00 Uhr bieten wir Ihnen reichhaltiges Bufet in unserem Frühstücksraum, das sich im Untergeschoß befindet».

Da kommt mir wieder mal meine verquere Lebenssituation hoch (wobei ich nicht mal die Freischaffende und ihre ewige Jagd nach dem Scheck meine) – «bloß eine Frau», die Kostüme entwirft, für die Requisite, das politisch-historische und kunstgeschichtlich-richtige Detail in Filmen und Fernsehspielen verantwortlich ist, nehmen mich die Herren Autoren, Regisseure, Dramaturgen «außerhalb meines Schubfachs» nicht ernst. Man hilft mir aus dem Mantel, aber man will nicht hören, was ich denke. Man sagt schon mal, «Dies Türkis steht Ihrem Rötlich-Blond besonders gut», aber in ihren Gesprächen wassern sie über mich hinweg. Sie sind dankbar, wenn ich darauf hinweise, daß das Ostberliner «Ganymed» 1989 geschlossen war, man da also keine Szene aus der Wendezeit hinverlegen kann, oder daß das berühmte «Plaste und Elaste» nicht aus Skopau, sondern aus Schkopau kam, eine Packung Speisestärke «Weizenin» hieß und der Rotkäppchen-Sekt ein Etikett «Grand Mousseux-Rosé halbsüß» hatte. Aber eine Meinung möchte ich bitte nicht haben.

Am Abend in der Bar vermurrte ich ganz und gar, während dieser selbstgefällige holländische Romancier seine netten, flachen, routinierten Szenen vortrug, alles ohne Fehl und Tadel, ordentlich gebaute Sätze, die auf der Flamme einer kleinen Phantasie schmoren. Das bleibt intellektuell auf dieser Goethe-ist-einmalig-, Mozart-ist-frühvollendet-, Michelangelo-ist-ein-Genie-Ebene. Schon der Malewitsch-Satz, daß Michelangelos David mehr die Schönheit des männlichen Körpers vorführe als die des Kunstwerks, wäre da Sakrileg; ich zitierte ihn aus Bosheit. Diese Leute befriedigen Erwartungshaltungen. Auch politisch.

So ein Schweizer Journalist, an der berühmten Goldküste des Zürichsees wohnend, pensionsberechtigter Professor auch noch, der vor der «Hetzjagd» der bösen Westdeutschen auf die verwirrten Ossis warnte, man müsse doch verstehen … Kopfnickende Zustimmung. Die wollen halt ihren Pakt mit einer Diktatur auch nie untersucht sehen. Die ewige Redefigur, «Ich kann für mich nicht garantieren, wie ich mich verhalten hätte», sagt genug. Es gab ja einige, die … Wohltuend ein nervöser junger Leipziger (hatte als Regieassistent bei der DEFA offenbar eine Art Arbeitsverbot), der sich über des bräsig-selbstzufriedenen Schweizers Gefasel von «Gnade und Grazie» empörte und dünngeschliffen von Stasi-Honoraren für bestimmte Lyriker, von Autos, Landhäusern und Honecker-Privatnummern in den Notizbüchern gewisser Autoren sprach.

Früh am nächsten Morgen weckte mich der Schweizer – immerhin höflich, dachte ich – per Telefon. Er stand aber an der Rezeption, wo eine Regelung der Übernachtungskosten nicht bekannt war, und wollte – wieso von mir? – wissen, «ob wir etwa unsere Zimmer selber bezahlen müssen». O du meine Schweiz.

Zu Hause angekommen – ein fast gewöhnlicher Strauß billig-teurer roter Rosen. Das ist doch keine Frage des Geldes. Im Gegenteil – er verdient weniger als ich, aber klumpt dann mit plumpen, «zu großen» Einkäufen herum. Oliver lernt nie Geschmack.

Olivers Tagebuch

14.1.

Ganz unangemessen: Werde von Frauen verfolgt. Ich! Unattraktiver kann ein Mann doch wohl nicht sein – mit Mitte 30 wahrlich nicht mehr «lecker». Halbglatze, etwas bullig trotz meiner schmalen Schultern. Der unansehnliche Durchschnittstyp. Aber beim Bademeister meiner wöchentlichen Sauna werden Briefe mir ganz unbekannter Frauen abgegeben, die schon nicht mehr eindeutig, sondern obszön sind. In der U-Bahn drückte mir eine gutaussehende Dunkelblonde, die ich fast allmorgendlich sehe, ein Wochenmagazin in die Hand; da hatte ein Wiener Theatermacher in einem Interview gesagt, seine Lieblingsvorstellung von Tod sei, in einer Frau zu sterben. Das war mit Farbstift angestrichen … Und gestern – Myriam ist zwei Tage zu einer Regiebesprechung – gerate ich im «Klopstock» in eine Geburtstagsfete, bei der ich eine Freundin aus der Studentenzeit wiedertreffe, die tatsächlich noch immer irritierend wie früher ist mit diesen nur nach oben gebogenen grün-gelb schillernden Katzenaugen und einem Gurren, das meine Magennerven trifft. Mir ist, als trinke sie mich aus, wenn sie ihr Glas leert. Habe ein schlechtes Gewissen, als hätte ich mit all diesen Frauen geschlafen, und stelle Myriam einen herrlichen Blumenstrauß hin.