Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden - Gottfried Orth - E-Book

Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden E-Book

Gottfried Orth

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - wie macht man das? Dies war eine der Kernfragen Marshall Rosenbergs, als er im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) entwickelte. Wertschätzung aller Menschen war ihm ein zentrales gesellschaftliches wie spirituelles Anliegen. Grundlage der GFK ist eine Haltung, die einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst und anderen erleichtert und vertrauensvolle Beziehungen ermöglicht. Das Buch führt zunächst im Sinne eines Lehrbuchs in Spiritualität, Haltung und Methode der GFK ein. Im zweiten Teil wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie GFK helfen kann, lebendige Beziehungen in Kirchen und Gemeinden zu gestalten und die theologische Reflexion zu bereichern. Mit Beiträgen von Gerlinde Fritsch, Britta Lange-Geck, Jutta Salzmann, Cornelia Timm und Barbara Wündisch-Konz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 296

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gottfried OrthGewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden

Über dieses Buch

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – wie macht man das? Dies war eine der Kernfragen Marshall Rosenbergs, als er im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) entwickelte. Wertschätzung aller Menschen war ihm ein zentrales gesellschaftliches wie spirituelles Anliegen. Grundlage der GFK ist eine Haltung, die einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst und anderen erleichtert und vertrauensvolle Beziehungen ermöglicht. Das Buch führt zunächst im Sinne eines Lehrbuchs in Spiritualität, Haltung und Methode der GFK ein. Im zweiten Teil wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie GFK helfen kann, lebendige Beziehungen in Kirchen und Gemeinden zu gestalten und die theologische Reflexion zu bereichern. 

Mit Beiträgen von Gerlinde Fritsch, Britta Lange-Geck, Jutta Salzmann, Cornelia Timm und Barbara Wündisch-Konz.

Gottfried Orth, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig, Mitglied im Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training, Leiter des Projektes Gewaltfreie Kommunikation – Theologie, Religionspädagogik, Schule.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2016

Coverfoto: © Sirawit Klabdee – iStock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-479-6

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-480-2 (EPUB), 978-3-95571-481-9 (MOBI), 978-3-95571-482-6 (PDF).

Vorwort

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – wie macht man das? Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet – geht das überhaupt? Dies waren zwei der Fragen Marshall Rosenbergs, als er im Zusammenhang der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Gewaltfreie Kommunikation ‚erfunden‘ hat. Wertschätzung aller Menschen war ihm wie Martin Luther King zentrales politisches wie spirituelles Anliegen. In Beratungs- und Mediationsprozessen wie in innergesellschaftlicher und internationaler Politikberatung hat Rosenberg sodann seinen Kommunikationsansatz erprobt, weiterentwickelt und weltweit bekannt gemacht.

Wie geht das, den Nächsten lieben und sich selbst dabei nicht übersehen? Mit viel Engagement ehrenamtlich in der Kirchengemeinde mitarbeiten und zugleich ein liebevoller Ehemann oder eine treu sorgende Mutter sein? Als Pfarrerin oder Pfarrer guten Gewissens Nein sagen? Oder wertschätzend ein Nein hören? Oftmals sind haupt- wie ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kirchen und Gemeinden überlastet und wirken daher eher missmutig, als dass sie mit Freude ihre Arbeit tun können. Selbstwertschätzung und Selbstsorge sind wesentliches Anliegen Gewaltfreier Kommunikation – mit nachgewiesenen salutogenetischen, d. h. gesundheitserhaltenden und gesundheitsfördernden Effekten. Sie nimmt damit ein traditionelles Anliegen christlicher Spiritualität auf, das Bernhard von Clairvaux so formulierte:

„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger als Gott zu sein. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.“1

Dieses Zitat halte ich für so bedeutsam, dass es Ihnen an einer weiteren Stelle des Buchs begegnen wird.

Grundlage dieser Methode Gewaltfreier Kommunikation ist eine Haltung, die einen wertschätzenden und gütigen Umgang mit sich selbst und anderen erleichtert und vertrauensvolle Beziehungen ermöglicht. Es geht darum, die Praxis des Gebets und der politischen Arbeit für den Frieden – Spiritualität und Straße gehören zusammen! – zu ergänzen dadurch, dass wir lernen, auch eine Sprache des Friedens einzuüben und zu sprechen. Dazu gehört es, uralte gesellschaftliche Konditionierungen zu durchbrechen und jenseits derer zu spüren und auszudrücken, was jetzt in mir lebendig ist. Darauf zu achten erscheint mir als ein Stück Herzensbildung bedeutsam und friedensfördernd. Gewaltfreie Kommunikation ist ein Werkzeug, dies zu erlernen.

Das Buch führt im Sinne eines Lehrbuchs in Methode, Haltung und Spiritualität Gewaltfreier Kommunikation ein und zeigt an konkreten Beispielen aus dem Gemeindeleben, wie Gewaltfreie Kommunikation helfen kann, lebendige, gewaltfreie und sanftmütige Beziehungen in Kirchen und Gemeinde zu gestalten. Dabei stand ich vor der Frage, wen ich direkt in den Übungen dieses Buchs ansprechen soll, kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen allgemein, Pfarrerinnen und Pfarrer, ehrenamtliche Frauen und Männer, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen unserer Kirchen und Gemeinden engagieren. Ich habe mich für die Pfarrerinnen und Pfarrer entschieden, weil sich bei Ihnen die unterschiedlichen Kommunika­tionsstränge in Kirchen und Gemeinden kreuzen und zusammenkommen. Gleichwohl beansprucht das Buch, auch über diesen engeren Adressatenkreis hinaus lehrreich zu sein.

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Den ersten Teil einleitend (1.) gebe ich Ihnen ausgehend von meiner ‚Entdeckung‘ Gewaltfreier Kommunikation einen kurzen Überblick über diese. So können Sie sich vorstellen, was Sie im ersten Teil dieses Buchs erwartet. Ich folge dann der von Hilde Fritz und mir2 entwickelten Systematik unserer Einführungen in Gewaltfreie Kommunikation, um Sie mit Erläuterungen und Übungen zu deren Haltung und Methode bekannt zu machen.

Ich lade Sie zunächst ein, Gewaltfreie Kommunikation als Haltung kennenzulernen und sich mit einem Denken vertraut zu machen, das seinen Ausgangspunkt bei den Bedürfnissen der Menschen nimmt, bei ihren Sehnsüchten und Wünschen (2.). Dem folgt (3.) ein Kapitel über die Methode Gewaltfreier Kommunikation, das vierschrittige Kommunikationsmodell, das Rosenberg entwickelt hat. Dieses Modell dient dem Gebrauch einer gewaltfreien und friedensförderlichen Sprache, der Einübung einer gewaltfreien Haltung und der immer wieder damit verbundenen Selbstrefle­xion. Haltung und Methode verbinden sich im 4. Kapitel in einem ersten großen Lernfeld, wenn Ihr Gesprächspartner oder Ihre Gesprächspartnerin eine Bitte Ihrerseits mit „Nein“ beantwortet. Das Kapitel bietet Informationen und Übungen dazu an, auf ein Nein gewaltfrei und wertschätzend zu reagieren. Zur Haltung Gewaltfreier Kommunikation gehören Begeisterung, Wertschätzung mir selbst und anderen gegenüber, Selbst-Empathie und Empathie. Selbstliebe, Selbstsorge und Selbsteinfühlung sind Voraussetzung dafür, anderen Menschen empathisch begegnen zu können (5.). Dem Thema „Wertschätzung“ ist ein weiteres Kapitel gewidmet, in dem es vor allem um Selbstwertschätzung und um Möglichkeiten wertschätzender Gemeindeentwicklung geht (6.). Den ersten Teil abschließend steht ein neuer Umgang mit Macht im Zentrum (7.): die Bevorzugung schützender und die Ablehnung strafender Anwendung von Macht.

Alle sieben Kapitel leite ich ein mit spirituellen Impulsen. Es sind meist Ideen zu oder kleine Auslegungen von biblischen Texten. Dabei geht es mir darum zu verdeutlichen, dass Gewaltfreie Kommunikation sich auf vielfache Weise mit biblischen Traditionen verknüpfen lässt und oftmals ‚neue‘ Perspektiven zu ‚alten‘ Erzählungen ermöglicht.

Insgesamt mache ich Ihnen unterschiedliche Textangebote. So finden sich auch immer wieder mir wichtige kurze literarische, poetische, biblische oder wissenschaftliche Texte, die zu Unterbrechungen einladen sollen. Sie können diese auch als Anregung für Kurzandachten oder Leseimpulse in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen Ihrer Arbeit nutzen.

Im zweiten Teil des Buchs finden sich Beiträge zu Gewaltfreier Kommunikation in verschiedenen kirchlichen Arbeitsfeldern sowie zu eher systematisch-theologischen Themen. Für diese Überlegungen habe ich Kolleginnen aus kirchlichen und anderen Arbeitsfeldern gewonnen. Die Texte, die unterschiedliche Formen von (eher) wissenschaftlich bis (eher) essayistisch auszeichnen, samt einem Interview mit Gerlinde Fritsch, bei der ich wesentlich Gewaltfreie Kommunikation gelernt habe, sind allesamt Versuche, Chancen der Integration Gewaltfreier Kommunikation in kirchliche Arbeitsfelder und theologische Reflexion zu bedenken. Ich danke Gerlinde Fritsch, Britta Lange-Geck, Jutta Salzmann, Cornelia Timm und Barbara Wündisch-Konz, dass sie sich mit ihren Praxiserfahrungen und Denkwegen auf dieses Wagnis eingelassen haben. Wir alle wünschen uns Unterstützung und Kritik mit dem Ziel, eine gewaltfreie und wertschätzende Sprache, die die Autonomie der Menschen achtet und ihre Wünsche nach Geborgenheit und Gemeinschaft ernst nimmt, in Kirchen, Gemeinden und weit darüber hinaus zu erlernen und zu praktizieren.

Dass ich dieses Buch so schreiben konnte, verdanke ich neben den Mitautorinnen vielen Menschen: den Lehrenden und Studierenden an unserem Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig, für die ich stellvertretend Frau Miriam Löhr nennen möchte, die in großer Aufmerksamkeit und Klarheit das Buch in allen seinen Teilen Korrektur gelesen hat. Ich danke dem Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training und den Teilnehmenden an meinen Fortbildungen in ganz verschiedenen Kontexten für Zustimmung und Skepsis. Dankbar bin ich schließlich für ungezählte Mailwechsel mit teilweise mir unbekannten Menschen, die für sich auf dem Weg sind, Gewaltfreie Kommunikation mit ihrem christlichen Glauben zu verknüpfen. Conny Timm beendet ihren diesen Band abschließenden Beitrag mit einem Satz, dem ich dankbar zustimmen mag: „Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude.“

Für Zustimmung und Kritik und für Anfragen zu Fort- und Weiterbildungen wenden Sie sich bitte per Mail an mich ([email protected]) oder – speziell für Fortbildungen – auch an das ORCA-Institut ([email protected]).

An Pfingsten 2015

Gottfried Orth

TEIL I: GEWALTFREIE KOMMUNIKATION ENTDECKEN

1. Einleitung: „Sieh die Schönheit in mir …“ – ein kurzer Überblick über Gewaltfreie Kommunikation

2008 lernte ich Gewaltfreie Kommunikation kennen und entdeckte sie als eine lange gesuchte und immer wieder versuchte Möglichkeit, wie beispielsweise die neutestamentliche Weisheit und die ihr korrespondierende Einladung der Nächsten- und Selbstliebe praktisch gelebt werden können. Ich empfand diese Entdeckung zugleich als Bestätigung und Herausforderung zu kritischer Selbst- und Praxisreflexion: Was denke ich? Wie fühle ich mich in dieser Situation? Was brauche ich für mich? Was ist mir wichtig? Und mich faszinierte der Zusammenhang von Haltung und Methode, von Schönheit und ethischem Anspruch (klassisch: von Evangelium und Gesetz), von alltäglichen Möglichkeiten, sich selbst zu verändern und sein Leben reicher werden zu lassen und damit verbundener gesellschaftlicher Veränderung. Ja, so könnte es gehen! So könnte Gewalt3 unterbrochen werden, vielleicht sogar Gewaltfreiheit möglich werden.

„Die franziskanische Tradition hat eine Ur-Geschichte solcher Gewaltunterbrechung festgehalten. Bei Gubbio in Umbrien lebte ein gewaltiger Wolf, der Tiere und Menschen verschlang. Aus Angst vor ihm trauten sich die Bewohner nicht mehr aus der Stadt. Franz von Assisi ging dem Wolf entgegen, seine Gefährten blieben aus Angst zurück. Der Wolf stürzte zähnefletschend auf ihn zu. Der Heilige sprach ihn als ‚Bruder Wolf‘ an und machte das Zeichen des Kreuzes über ihm. Der Wolf sperrte seinen schon geöffneten Rachen zu und ließ sich zu Füßen des kleinen unbewaffneten Mannes nieder. Franz sagte zu ihm: ‚Du bist jedermanns Feind. Ich aber möchte, Wolf, mein Bruder, dass Friede sei zwischen ihnen und dir.‘ Er schließt dann eine Art Bund, in dem die Einwohner sich verpflichten, den Wolf zu füttern, damit er niemals mehr Hunger leiden muss, und der Wolf ihm, Pfote in Hand, verspricht, niemandem, weder Mensch noch Tier, mehr Schaden zuzufügen. Dieser Vertrag wird öffentlich besiegelt, der Wolf lebt noch zwei Jahre, von den Bürgern geachtet und von den Kindern geliebt.“

Dorothee Sölle, bei der ich diese Geschichte gefunden habe, erzählt sie „nicht wegen des Wunders, sondern um den Begriff Unterbrechung der Gewalt zu klären.“ Sie erläutert:

„Er trägt zwei Elementen Rechnung, dem Realismus und der Hoffnungsfähigkeit. Er verleugnet die Realität der Kreisläufe nicht. ‚Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend immer Böses muss gebären‘, heißt es bei Schiller im Wallenstein. Das Ziel des anderen Umgangs mit der Gewalt ist es nicht, eine konfliktfreie Welt zu schaffen und möglichst alle Wölfe auszurotten. Doch es gibt auch die Unterbrechung ihrer Zwangsläufigkeit, die Überraschung und die Möglichkeit, der alles beherrschenden Gewalt ein ‚Nein‘ entgegenzusetzen, das ihren absolut erscheinenden Zwang unterbricht.“4

Es ist zunächst der Blick nach außen, den diese Ur-Geschichte der Gewaltunterbrechung ermöglicht. Auf ihre Weise macht diese franziskanische Geschichte einen gewichtigen Teil des bereits formulierten Zusammenhangs von Selbstveränderung und gesellschaftlicher Veränderung deutlich.5 Und sie ermöglicht auch einen Blick nach innen, lädt dazu ein, ‚den inneren Wolf‘ zu umarmen.

Darauf spielt Lisa F. Oesterheld in einem kleinen unveröffentlichten Gedicht an, wenn sie schreibt:

unter Wölfen

den inneren Wolf
in mir und dir
anschauen
die Sehnsucht sehen
die lebendige
welche uns verbindet
dem Wolf die Hand
reichen
und staunen
wenn Pfote
Hand und Herz
einander berühren

(Mit freundlicher Genehmigung von Lisa F. Oesterheld. http://www.lisaoesterheld.de/)

Seit 2008 nun lerne ich, wie Pfote, Hand und Herz einander berühren können, und gebe Gewaltfreie Kommunikation weiter in Workshops und Fortbildungen. Ich merke dabei, wie dominant alte erlernte Verhaltensmuster sind, und zugleich bin ich begeistert, kritischer, zweifelnder und immer wieder auch mühsamer Lerner Gewaltfreier Kommunikation zu bleiben.

Die Theorie erscheint einfacher als die Praxis. Ich wurde 2009 Dekan an der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften und nahm mir vor, mein Dekanat mit den Möglichkeiten Gewaltfreier Kommunikation zu gestalten. Es sind viele beglückende Erfahrungen, die dadurch möglich wurden. Als ich nach dem Dekanat 2011 wieder ‚normales‘ Fakultätsratsmitglied wurde, wurde es anstrengender, diese Haltung fortzuführen. Inhaltliche Auseinandersetzungen und Mehrheitsentscheidungen, um die gerungen werden muss, machen Gewaltfreiheit und Wertschätzung schwieriger als in der unabhängigeren ‚Machtposition‘ ohne Stimmrecht im Fakultätsrat.

Ich entdecke die Vielfalt und Differenziertheit von Gefühlen, ihrer Wahrnehmung und ihres Ausdrucks und um wie vieles bunter und lebendiger die Welt um mich herum wird, wenn ich sie differenziert wahrnehmen und benennen lerne. Bedeutsam wurde mir die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Strategien: Wie oft streiten wir um Strategien und verrennen uns darin. Ein typisches Beispiel: „Ich möchte heute Abend gerne mit dir ausgehen.“ – „Och nee, schau doch lieber mit mir das Fußballspiel im Fernsehen an, das ich so gerne heute Abend sehen will.“ Und schon beginnt ein Streit in dieser Paarbeziehung: Fernsehfußball oder Ausgehen. Es geht um Strategien. Das vielleicht dahinter stehende Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Nähe kommt dabei gar nicht zur Sprache. Fußball oder Ausgehen sind Thema und nicht mehr das, was sich dahinter vielleicht verbirgt und beiden wichtig ist: sich das Bedürfnis nach Nähe, Gemeinschaft und Verbundenheit zu erfüllen …

An diesem Lernen und Üben möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, anhand von Beispielen aus dem alltäglichen Leben in Familie, Kirche oder Gemeinde gerne teilhaben lassen. Dazu zunächst ein Überblick, was Sie in diesem Buch erwartet. Ich möchten Sie vertraut machen mit den fünf Grundannahmen Gewaltfreier Kommunikation:

„Alle Menschen möchten ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen.

Wir leben in anregenden und wohltuenden Beziehungen, wenn wir diese Bedürfnisse durch Zusammenarbeit statt durch aggressives Verhalten erfüllen.

Jeder Mensch hat bemerkenswerte Ressourcen und Potenziale, die uns erfahrbar werden, wenn wir durch Einfühlung mit ihnen in Kontakt kommen.

Jedes Verhalten ist der mehr oder weniger gelungene Versuch, ein Bedürfnis zu erfüllen.

Jedes Bedürfnis dient dem Leben, insofern gibt es keine negativen Bedürfnisse!“

6

Im Zentrum Gewaltfreier Kommunikation steht also die Wahrnehmung dessen, was ich selbst und andere Menschen zum Leben brauchen. Verbindung zu mir selbst und anderen, so die bereichernde Erfahrung Gewaltfreier Kommunikation, wird möglich, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ebenso wahr- und wichtig nehme wie die meiner Mitmenschen. Bedürfnisse zeigen die Schönheit der Menschen.

Doch wie spüren wir eigentlich, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht? Das zeigen uns unsere Gefühle. Sie sind so etwas wie der Wegweiser zu unseren Bedürfnissen. Deshalb kann es eine Hilfe sein, sie differenziert zu spüren und ausdrücken zu können. Es gibt mehr Gefühle als „gut“ oder „schlecht“, mehr als „geil“, „scheiße“, „cool“ oder „geht so“ …

Um den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen auf die Spur zu kommen, hat Marshall B. Rosenberg das Modell der vier Schritte entwickelt. Er versteht diese Schritte als Hilfe, die Haltung Gewaltfreier Kommunikation einzuüben, und sie sind für mich zu einem wichtigen Instrument der Selbstreflexion meines Denkens, Sprechens und Handelns geworden.

Weitere Informationen über Marshall Rosenberg bzw. das Center for Nonviolent Communication im Internet unter http://www.CNVC.org.

Die vier Schritte bedeuten ganz selbstverständlich zunächst eine Entschleunigung der Situation und unserer Reaktionen. Allein dies erscheint mir als ein großer Vorteil: Ich kann den Zwischenraum zwischen Reiz und Reaktion vergrößern und damit Freiheitsspielräume entdecken, anders zu reagieren, als ich konditioniert bin und es gewöhnlich tue. Und: Auch die geringfügigste Entschleunigung erscheint mir heute als politischer Akt.

Marshall B. Rosenberg hat dieses Kommunikationsmodell im Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren nicht zuletzt aufgrund eigener Gewalterfahrungen wie eigener Gewaltanwendung als Jugendlicher in seinem damaligen Heimatstadtteil in Detroit entwickelt. Rosenberg praktizierte es und entwickelte es weiter als Hilfe in sowohl alltagssprachlichen Zusammenhängen als auch bei persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Konflikten. So ging es ihm nicht lediglich um eine gewaltfreie und wertschätzende Art zu kommunizieren, sondern immer auch um social change in unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und Kontexten.

„Jedem Menschen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können. Wenn ich mich dafür entscheide, in jedem Menschen seine Schönheit zu sehen, dann behandle ich auch mich selbst mit Liebe. Das habe ich mir nicht ausgedacht, alle Religionen sagen das auf ihre Weise: ‚Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet‘, ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘.“7

Bei seinen Workshops benutzte M. Rosenberg zwei Handpuppen: den Wolf und die Giraffe. Das habe ich in meinen Fortbildungen übernommen, und so begegnen Ihnen in diesem Buch und anderen Texten zur Gewaltfreien Kommunikation auch diese beiden symbolisch gebrauchten Tiere: Wolf und Giraffe oder auch die Ausdrücke „wölfisch“ und „giraffisch“.

© Etan J. Tal

Wenn ich Kinder frage, wofür die Giraffe steht, so antworten sie oft: „Das ist das Tier, das von oben guckt.“ Das empfinde auch ich als eine zutreffende Kennzeichnung. „Giraffen“ haben viel Überblick. Zudem ist die Giraffe das Landtier mit dem größten Herzen. Und da Gewaltfreie Kommunikation sich selbst als eine Sprache des Herzens versteht, hat Rosenberg dafür die Giraffe gewählt. Der Wolf steht – und damit tun wir ihm, wenn man sich die Sozialstruktur und Lebensweise von Wolfsrudeln anschaut, sicherlich Unrecht, denn es ist hier eher der Wolf der Märchen gemeint – für Aggressivität und Gewalt, für Fressen und Gefressenwerden. So hat Gewaltfreie Kommunikation als Puppenspiel auch etwas Spielerisches und Leichtes.

Und Wolf und Giraffe haben auch ganz unterschiedliche Ohren: Ja, sie hören ganz verschieden. Und auf das Hören kommt es in Gewaltfreier Kommunikation genauso an wie auf das Sprechen: Wenn M. Rosenberg in seinen Workshops die Wolfs- oder Giraffenohren aufsetzt, dann kann er damit vier Arten verdeutlichen, wie Menschen hören können:

Die Wolfsohren kann er nach innen richten: Ich urteile (negativ oder positiv) über mich, z. B. „Das schaff ich nie, da bin ich viel zu faul dazu“ oder „Ich bin der Schönste“ …

Die Wolfsohren kann er nach außen richten: Er urteilt über andere oder belegt sie mit Etiketten, z. B. „Der ist ja nur blöd“ oder „So ein Depp“ …

Man kann aber auch die Giraffenohren aufziehen, und dann verändert sich das Hören radikal!

Die Giraffenohren kann Rosenberg nach innen richten, und er hört in sich hinein, was ihn bewegt: Er achtet auf seine Gefühle und seine Bedürfnisse.

Schließlich kann er die Giraffenohren nach außen richten und hören, was eine andere oder einen anderen bewegt: Er achtet auf ihre / seine Gefühle und ihre / seine Bedürfnisse.

Wenn ich Gewaltfreie Kommunikation als Haltung verstehe, dann sind die Ohren entscheidend, denn mit Giraffenohren kann ‚ich‘ hören, was ‚du‘ nicht sagst – und eine neue Verständigung kann möglich werden.8

Die Einleitung abschließend möchte ich die Frage beantworten, warum ich es für chancenreich erachte, dass Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden praktiziert wird. Ich sehe mindestens sieben Chancen:

Gewaltfreie Kommunikation tut gut! Sie hat erwiesenermaßen einen salutogenetischen Effekt – was bei der chronischen Arbeitsüberlastung vieler hauptamtlicher MitarbeiterInnen in Kirchen und Gemeinden bereits einen Wert für sich darstellt, wenn möglichst viele lernen, gut für sich selbst zu sorgen und zu akzeptieren, dass andere dies auch tun.

Gewaltfreie Kommunikation erlebe ich als eine Umgangsform, die auf wechselseitiger Achtung und gegenseitiger Wertschätzung beruht. Sie kann so dazu beitragen, im Miteinander Selbstverantwortung für jeweils den eigenen Beitrag anzuregen und Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber einzuüben.

Gewaltfreie Kommunikation hilft dabei, in Konflikten die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu formulieren. So können Schuldzuweisungen eher vermieden und Diagnosen eher unterlassen werden. Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten und mit Heterogenität wird möglich.

Gewaltfreie Kommunikation kann dazu beitragen, einvernehmliche Vereinbarungen zu treffen, um die immer wieder neu gebeten werden kann. Dabei können wir mit Gewaltfreier Kommunikation üben, ein „Nein“ auf eine Bitte von uns konstruktiv zu hören oder auf Bitten anderer selbst „Nein“ zu sagen.

Gewaltfreie Kommunikation hilft zur Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion.

Gewaltfreie Kommunikation kann dabei helfen, unterschiedliche Felder haupt- und ehrenamtlicher Arbeit in Kirchen und Gemeinden zu integrieren, weil wir gut mit uns selbst verbunden unsere Arbeit neu wahrnehmen und konkrete Aufgaben bejahen und ablehnen lernen.

Gewaltfreie Kommunikation hilft dabei, gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und spirituelle und politische Wege der Gewaltfreiheit zu gehen.

Aufgrund dieses Chancenblicks und meines eigenen Lernprozesses wage ich eine prognostische Antwort auf eine Frage, die Sie sich vielleicht stellen: Was verändert sich eigentlich, wenn ich Gewaltfreie Kommunikation lerne? Meine Antworten:

In jedem Fall: Sie selbst …

In jedem Fall: Ihre Art und Intensität des Zuhörens …

Wahrscheinlich: Ihre Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den vielen Menschen, die in Kirchen und Gemeinden ein Stück Heimat (auf Zeit) suchen oder gefunden haben …

Wahrscheinlich: Der Arbeitsalltag von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, weil sie in ihren Arbeits- und Lebenszusammenhängen glücklich(er) werden können …

Vielleicht: Das Leben in Kirchen und Gemeinden wird leichter und schöner – und ansteckender …

Vielleicht: All die vielen großen und kleinen Arbeiten, die zum Gelingen des Lebens in Kirchen und Gemeinden beitragen, glücken eher, weil Bedürfnisse wichtig genommen werden und Beziehungen wachsen können, weil empathischer Umgang entspannt und Sicherheit schenkt im Verstandensein und Verstehenwollen – und so können wir die Wunder vielleicht sehen, die auf uns warten, denn es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden …

Und vielleicht lesen Sie biblische Texte mit ‚neuen‘ Augen, wenn Sie beginnen, das Kommunikations- und Handlungsmodell Gewaltfreier Kommunikation hermeneutisch zu wenden für eine Relektüre biblischer und theologischer Texte. Für mich war damit eine Fülle spiritueller Entdeckungen verbunden.

Ich lade Sie dazu ein, diese Prognosen für sich zu überprüfen. Ich habe an mir selbst und in ganz unterschiedlichen Fortbildungsveranstaltungen wahrgenommen, dass zu den dafür notwendigen Veränderungsprozessen Ausdauer, Mut, Widerständigkeit und eine gehörige Portion Ehrlichkeit im Umgang mit sich selbst gehören. Dies wünsche ich Ihnen, wenn Sie sich nun auf dieses Buch einlassen. Und ich wünsche Ihnen beim Lesen und Üben die gleiche Freude, die ich beim Konzipieren und ­Schreiben hatte.

2. Bedürfnisse, Gefühle und Strategien – Das Zentrum Gewaltfreier Kommunikation

Was willst du, dass ich für dich tun soll? – Biblische Inspirationen

Ich möchte zunächst von einer Wundergeschichte erzählen, die Markus berichtet (10, 46–52): Jesus heilt einen Blinden. In der revidierten Lutherübersetzung von 1984 ist der griechische Text so übersetzt:

Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.

Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!

Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.

Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.

Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf Jesus: Er überfällt den Blinden nicht einfach mit irgendetwas – nicht einmal mit einem Heilungswunder. Jesus respektiert die Würde und die Autonomie des blinden Mannes: Was soll ich für dich tun? Jesus fragt nach den Bedürfnissen des Blinden: Was brauchst du? Sie sollen im Zentrum stehen. Wann frage ich, wann fragen Sie, wenn wir mit Erwachsenen oder vor allem, wenn wir mit Kindern zusammen sind, nach deren Bedürfnissen: Was brauchst du? Was ist dir jetzt wichtig? Aus Jesu Frage „Was soll ich für dich tun?“ spricht die Achtung vor diesem Fremden am Wegesrand, den andere zum Schweigen bringen wollten. Er soll rufen und reden dürfen, er soll „Ich“ sagen können.

„Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“, „Herr, ich möchte wieder sehen können!“ Ein blinder Bettler richtet Bitten an Jesus. Zunächst bittet der Blinde um Erbarmen, ein uns fremd gewordenes Wort: Es bedeutet mitfühlen, mitempfinden, Anteil nehmen, Mitgefühl zeigen. Der Blinde bittet um Empathie. Die Menschen verweigerten ihm genau das: Schweigen sollte er. Doch der Blinde steht zu seinem Bedürfnis, und er schrie lauter: „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Und Jesus unterbricht seinen Weg, hält inne, hat in diesem Moment nichts Wichtigeres zu tun: Er wendet sich dem Blinden zu. Präsenz! Der mitfühlende Jesus fragt den Blinden, was er tun solle. „Herr, ich möchte sehen können!“ Mitgefühl ist das Erste, was er braucht, einen, der Anteil nimmt an seinem Leben. Und im Vertrauen auf solches Mitgefühl kann er dann bitten: „Herr, ich möchte sehen können!“ Physical needs stehen im Zentrum dieser Wundergeschichte.

Einiges wird diesen Bitten innerlich vorausgegangen sein: Möglicherweise ist der Blinde zutiefst verzweifelt. Und er kennt den Grund seiner Verzweiflung: sein unerfülltes Bedürfnis zu sehen. Und dahinter stehen vielleicht noch zwei andere Grundbedürfnisse, die Grundlage aller unserer Bedürfnisse sind: das Bedürfnis nach Autonomie – endlich mal nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sein müssen, einfach Ich sein können – und das Bedürfnis nach Verbindung und Gemeinschaft – endlich gleichberechtigt dazugehören können. Vielleicht – eine waghalsige Vermutung, ich gebe es zu, doch Juden kennen ihre Schrift – hat sich Bartimäus mit seinem Bedürfnis nach Autonomie und Verbundenheit und Gemeinschaft auch an Psalm 31 erinnert: „Denn du, Gott, bist mein Fels und meine Burg“ (Vers 4) und „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Vers 9). „Denn du, Gott, bist mein Fels und meine Burg“ – „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ – Verbundenheit. Und „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – „Herr, ich möchte wieder sehen können!“ – Autonomie.

Der Blinde kennt seine Situation, nimmt seine Gefühle wahr, entdeckt die dahinter liegenden Bedürfnisse, und jetzt gibt’s nur noch eines: Ich möchte, dass dies wahr wird. Und er bittet Jesus um Mitgefühl und darum, sehen zu können. Und er sieht. Und er geht. Und er folgt nach.

Es gibt ein Gedicht einer zeitgenössischen italienischen Dichterin, Patricia Cavalli, dessen letzte Zeile unserer Geschichte einen schönen Gedanken hinzufügt. Das Gedicht heißt „Guarda!“, „Schau her!“. Und die letzte Zeile lautet: „Schau mich an! Auferstehe mich!“9

Ich habe nun nichts anderes getan, als mit den Möglichkeiten Gewaltfreier Kommunikation diese Geschichte nachzuerzählen. Im Anschluss an diese Wundererzählung fallen mir vier Wünsche an Sie ein, wenn Sie jetzt dieses Kapitel über Bedürfnisse, Gefühle und Strategien lesen und bearbeiten:

Ich wünsche Ihnen, dass Sie wie der Blinde in unserer Wundergeschichte zu Ihren Bedürfnissen stehen! Dies erscheint mir als ein guter Weg, sehender zu werden!

Ich wünsche Ihnen, dass Sie wie der Blinde in unserer Wundergeschichte darum bitten können, dass Ihr Leben schöner und reicher wird. Das erscheint mir als die eine Hälfte eines guten Wegs, glücklicher zu werden.

Mein dritter Wunsch: Ich wünsche Ihnen, dass Sie wahrnehmen, wenn Menschen um Sie herum, wer auch immer in der Gemeinde, in der Stadt oder an anderem Ort, zu Ihnen sagen oder auch nur so tun, als ob sie sagten: „Schau mich an. Auferstehe mich.“ Das erscheint mir als die andere Hälfte des Wegs, glücklicher zu werden.

Und schließlich wünsche ich Ihnen, dass Sie, auch wenn Sie alles zu wissen meinen, niemanden, vor allem nicht Menschen, die Ihnen anvertraut sind oder die jünger sind als Sie oder die sich Ihnen öffnen, überfahren, weil Sie ja wissen, was diese brauchen, sondern sich an diese Jesus-Geschichte erinnern. Auch Jesus hat gefragt: Was brauchst du?

Was wollten Sie für sich tun? – Die Sehnsucht des Anfangs

Als Sie Pfarrerin oder Pfarrer werden wollten, hatten Sie vielleicht die Sehnsucht, mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, das, was Sie lieben und Ihnen wichtig ist, die biblischen Tradi­tionen oder die Hoffnungen der Mütter und Väter des Glaubens auf Gerechtigkeit und Frieden heute zu leben und weiterzugeben, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, einfach eine so gute Pfarrerin oder ein so guter Pfarrer werden zu wollen wie Ihre Lieblingspfarrerin oder Ihr Lieblingspfarrer während Ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Vielleicht war es ja auch ganz anders und Sie wollten sich das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit erfüllen, das in Ihrem Leben bis dato unerfüllt war? Ich nehme an, Sie wollten glücklich werden in Ihrem Beruf und sich dabei einige – viele? – Ihrer Bedürfnisse erfüllen. Welche Sehnsucht trieb Sie an und welche Bedürfnisse waren das, die Sie sich damals mit Ihrer Berufswahl erfüllen wollten, welche anderen sind vielleicht dazugekommen? Ich bitte Sie, sich dies zu vergegenwärtigen und Ihre Bedürfnisse hier zu notieren:

Ich lade Sie ein, bei Ihrer Sehnsucht zu bleiben und mit den Stichworten „Bedürfnisse“ und „Gefühle“ zu beginnen: In Gewaltfreier Kommunikation geht es um eine Haltung, nicht um eine Technik. Diese Haltung hat ganz viel mit dem zu tun, wonach wir uns sehnen – in unserem Beruf wie in unseren privaten Lebenszusammenhängen. Ich versuche immer wieder neu, diese Haltung für mich und andere zu beschreiben: Ich möchte mich auf einen Kommunikationsprozess einlassen, dessen Ausgang offen ist und auf dessen Weg Authentizität und Verständigung möglich werden. Unverzweckt und frei, absichtslos möchte ich da und mit anderen zusammen sein. Dabei geht es also erst einmal nicht um ein zielgerichtetes Handeln wie z. B. um die „Lösung“ von als schwierig empfundenen Situationen / Konflikten, sondern zunächst geht es um mich, um Sie als Pfarrerinnen oder Pfarrer, als haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter in Kirchen und Gemeinden:

Wie kann ich auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso achten wie auf die Gefühle und Bedürfnisse der Kolleginnen oder Kollegen, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Menschen in ‚meiner‘ Gemeinde, denen ich ­begegne?

Und erst dann – und vielleicht wird dies dann leichter oder ganz leicht, wenn ich gut mit mir selbst verbunden bin: Wie kann ich mithilfe von Gewaltfreier Kommunikation und den von ihr angeregten (Selbst-)Reflexionsprozessen (mit Selbst-Empathie und Empathie

10

) anders als bisher mit von mir als schwierig empfundenen Situationen umgehen?

Oder mit Justine Mol: „Bei Gewaltfreiem Kommunizieren geht es nicht darum, zu gewinnen oder recht zu behalten, sondern darum, einander zuzuhören, Unterschiede zu akzeptieren und mit ihnen zu leben.“11

Zu allen Situationen, in denen unsere Gefühle uns anzeigen, dass Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden, gehören auch Handlungen – in der Gewaltfreien Kommunikation spricht man von „Strategien“. Ich biete Ihnen dazu eine erste Übung an.

 ÜBUNG

Bitte beschreiben Sie jetzt in jeweils drei Sätzen drei Situationen Ihrer Arbeit, in denen Sie selbst vorkommen und die Ihnen schwerfallen, wo Sie Probleme sehen, sich unwohl fühlen … Diese drei Herausforderungen sind das Material, mit dem Sie in diesem Kapitel immer wieder arbeiten werden.

Ich beginne mit einer Beispielsituation aus einer meiner Fortbildungen:

Ein Pfarrer berichtet: „Die Leiterin unserer Diakoniestation schreibt mir drei Mails pro Woche. Außerdem möchte sie außerhalb der Dienstbesprechungen mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakoniestation Sondertermine mit mir oder mit mir und weiteren Mitgliedern des Presbyteriums.

Situation 1:

Situation 2:

Situation 3:

2.1 Bedürfnisse

2.1.1 Was verstehen wir in Gewaltfreier Kommunikation unter Bedürfnissen? – Einige Hinweise

Alles, was wir denken, fühlen und tun, hat mit einem Bedürfnis oder mit mehreren Bedürfnissen zu tun. Unsere Handlungen dienen dazu, Bedürfnisse zu erfüllen.12

„Bedürfnisse“ meint hier „universelle Lebensmotive“13: Alle Menschen in allen Kulturen haben dieselben grundlegenden Bedürfnisse, um ein erfülltes Leben zu führen. Bedürfnisse sind nicht an eine Zeit, einen Raum, einen Ort oder eine Person gebunden. Wie wichtig einem Menschen das eine oder andere Bedürfnis gerade ist, hängt von der momentanen individuellen Situation ab.

Bedürfnisse in diesem Sinne sind immer angemessen, immer berechtigt und immer positiv formuliert, weil sie unser Überleben und Wohlergehen sichern.14

Von Bedürfnissen unterscheiden wir Strategien. Das verwechseln wir oft. Ein Beispiel: Ein Pfarrer sagt zu den Mitgliedern seines Kirchenvorstands: „Es ist mir ein großes Bedürfnis, dass Sie pünktlich um 19:30 Uhr zu Sitzungsbeginn da sind.“ Doch dies ist kein Bedürfnis, sondern die Bitte oder Aufforderung zur Pünktlichkeit ist eine Strategie, um ein bestimmtes Bedürfnis des Pfarrers zu erfüllen. Welche Bedürfnisse könnten hinter „19:30 Uhr pünktlich zu Sitzungsbeginn“ stecken? Es könnten sein: Klarheit, Effizienz, Verlässlichkeit, Teamgeist, Wertschätzung …

Ein zweites Beispiel: Um mir das Bedürfnis nach Erholung zu erfüllen, kann ich unterschiedliche Strategien wählen: klassische Musik hören, um den See laufen, mich mit Freunden treffen, shoppen gehen, im Internet chatten, eine Techno-Disco besuchen, im Garten arbeiten, das Auto waschen, einen Krimi lesen, schlafen …

M. Max-Neef, lateinamerikanischer Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, hat – hier vereinfacht dargestellt – aufgrund empirischer Forschung und reflexiver Theoriebildung neun solcher Grundbedürfnisse der Menschen formuliert:

Bedürfnisse des physischen Lebens (Wasser, Essen, Luft usw.)

Sicherheit / Schutz

Verständnis / Empathie

Liebe

Erholung / Spiel

Kreativität

Geborgenheit / Gemeinschaft

Autonomie / Selbstbestimmung

Sinn / Inhalt

Diese Grundbedürfnisse, so Max-Neef, sind unabhängig von den kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer Menschen leben, und daher konstitutiv für alle Menschen.15 Vielleicht fehlt Ihnen so etwas wie ein ‚religiöses Bedürfnis‘, ein Bedürfnis nach Religion. Max-Neef hat nach einem Grundbedürfnis der Menschen nach Transzendenz geforscht, doch konnte er eine entsprechende Vermutung nicht verifizieren. Für mich ist Religion eine Strategie, das Bedürfnis nach Sinn / Inhalt zu erfüllen.16

Eine Liste von Bedürfnissen, die ich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen nutze, ist die folgende, die die Bedürfnisse in einer Sprache formuliert, die auch Kinder verstehen.

Bedürfnisse …

17

Brauchst du …? Möchtest du …?

Erholung

… freie Zeit, Zeit, in der dir keiner sagt, was du tun sollst, …

Kreativität

… deine Kraft spüren, entdecken, was du schaffen kannst, etwas Neues machen, das zu dir passt, …

Identität

… herausfinden, was du wirklich willst, verschiedene Sachen ausprobieren und sie wieder lassen können, wenn es dir damit nicht gut geht, …

Freiheit

… selbst entscheiden, was für dich gut ist, …

Autonomie

… selbst entscheiden, was du tust, selbst aussuchen, was du magst, wählen können, wie du etwas machst, …

Authentizität

… sagen, was wirklich in dir los ist, tun, wonach dir wirklich ist, so sein können, wie du bist, …

Sicherheit

… sehen können, dass es dir bei einer Sache gut gehen wird, …

Kooperation

… dass alle miteinander etwas tun, wir zusammenhelfen, wir ein Team sind, …

Effektivität / (Selbst-)Wirksamkeit

… es schaffen können, dass sich Dinge ändern, …

… etwas erledigen / beenden, was du dir vorgenommen hast …

Gemeinschaft

… Freunde, dass jemand bei dir ist, dass jemand zu dir hält, …

Frieden

… still sein, Ruhe haben, …

Gleichbehandlung

… dass für alle dasselbe gilt, alle gleich viel bekommen, es gerecht zugeht …

Zuneigung

… spüren, dass jemand nahe ist, sehen, dass jemand dich mag …

Mitgefühl

… dass andere bemerken, was mit dir los ist, wie besonders es für dich ist, wie hart / schwer es für dich ist, …

Einbezogensein

… dabei sein bei dem, was passiert, mitmachen, …

Feiern

… zeigen, wie glücklich du dich fühlst, …

Trauern

… zeigen, wie traurig du bist, …

Anregung

… Spaß haben, etwas Neues tun, …

Sinn

… etwas erfahren, fühlen, denken oder tun, das wirklich wichtig ist, …

Kompetenz

… wirklich sicher sein, dass du es tun kannst, zeigen, dass du es schaffen wirst, …

Wertschätzung

… dass andere bemerken, wie wichtig das ist, was du tust, wie wertvoll du für sie bist, …

Ehrlichkeit

… dich verlassen können, dass was einer sagt, auch stimmt, …

etwas beitragen

… helfen können, teilen, …

Gegenseitigkeit, Einvernehmen

… Menschen kennen, die dieselben Ideen haben, Freunde haben, die dasselbe wichtig finden, …

Ordnung / Struktur

… deine Sachen gleich finden können, den Durchblick haben, was gerade passiert, …

Beständigkeit

… drauf zählen können, dass es beim nächsten Mal wieder so ist, …

Respekt

… dich darauf verlassen können, dass du akzeptiert und geachtet bist, …

Rücksichtnahme

… dass deine Bedürfnisse und die der anderen zählen, dass Menschen bekommen, was sie brauchen, sicher sein, dass für alle gut gesorgt ist, …

Unterstützung

… Hilfe, jemanden, der dich unterstützt, …

Verbindung

… spüren können, dass du dazugehörst, …

2.1.2 Übungen zu den Bedürfnissen

Nun geht es darum, Ihre wichtigsten Bedürfnisse im Kontext Ihrer Arbeit herauszufinden. Ich habe dazu eine Idee von Gerlinde Fritsch18 genutzt und daraus folgende Aufgabe notiert (Sie können zur Bearbeitung gerne die Bedürfnisliste benutzen):

 ÜBUNG

Meine persönliche Bedürfnis-Hitliste