Wertschätzung leben - Gottfried Orth - E-Book

Wertschätzung leben E-Book

Gottfried Orth

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wertschätzung annehmen und ausdrücken Wertschätzung ist die vielleicht wichtigste Ressource für gelingende Beziehungen in allen persönlichen und gesellschaftlichen Bereichen: Werden Menschen wertgeschätzt, so werden sie als Menschen wahrgenommen und gesehen – unabhängig von dem, was sie leisten oder nicht, ob sie gesund sind oder krank, ob sie viel oder wenig haben. Nach einer Einführung in die Methode der Gewaltfreien Kommunikation erläutert der Autor facettenreich das Konzept „Wertschätzung“ als Haltung, die damit beginnt, dass ich mich selbst wertschätze. Erst das ermöglicht die Wertschätzung anderer. Der zweite Teil des Buches ist Handlungsfeldern und Orten wertschätzender Beziehungen gewidmet: Familie, Partnerschaft, Schule, Arbeitsplatz, bis hin zu Formen wertschätzender Organisationsentwicklung. Zahlreiche Übungen helfen den Leser*innen, eine innere Haltung zu entwickeln, die Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber erleichtert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gottfried OrthWertschätzung leben

Über dieses Buch

Wertschätzung anerkennen und ausdrücken 

Wertschätzung ist die vielleicht wichtigste Ressource für gelingende Beziehungen in allen persönlichen und gesellschaftlichen Bereichen: ­Werden Menschen wertgeschätzt, so werden sie als Menschen wahrgenommen und gesehen – unabhängig von dem, was sie leisten oder nicht, ob sie gesund sind oder krank, ob sie viel oder wenig haben. 

Nach einer Einführung in die Methode der Gewaltfreien Kommunikation erläutert der Autor facettenreich das Konzept „Wertschätzung“ als Haltung, die damit beginnt, dass ich mich selbst wertschätze. Erst das ermöglicht die Wertschätzung anderer. Der zweite Teil des Buches ist Handlungsfeldern und Orten wertschätzender Beziehungen gewidmet: Familie, Partnerschaft, Schule, Arbeitsplatz, bis hin zu Formen wertschätzender Organisationsentwicklung. Zahlreiche Übungen helfen den Leser*innen, eine innere Haltung zu entwickeln, die Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber erleichtert.

Prof. em. Dr. Gottfried Orth, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig, Mitglied im Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training, Leiter des Projektes Gewaltfreie Kommunikation – Theologie, Religionspädagogik, Schule.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2021

Coverfoto: © zakalinka – stock.adobe.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2021

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0190-8

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0232-5 (EPUB), 978-3-7495-0234-9 (PDF), 978-3-7495-0233-2 (EPUB für Kindle).

„dass wir an der äußeren Welt nichts verbessern können,
solange wir uns nicht selbst im Innern gebessert haben“
Etty Hillesum, Das denkende Herz
Tagebucheintragung am 19. Februar 1942

Vorwort

Reich beschenkt dadurch, dass ich Gewaltfreie Kommunikation lernen konnte und weiter lerne, und begeistert von ihren Möglichkeiten schreibe ich dieses Buch, in das gleichwohl auch Teile meiner wissenschaftlichen Arbeit eingehen. So hat dieses Buch zum Thema Wertschätzung und zur Gewaltfreien Kommunikation nicht die Form psychologischer oder sozialwissenschaftlicher Objektivität, wenn es denn so etwas geben mag, sondern es ist geprägt von einem engagiert-subjektiven Zugang.

Wertschätzung: ein Bedürfnis und ein Wert, der in aller Munde ist, und zugleich ein Begriff, der – so scheint es mir – immer unklarer wird, ganz abgesehen davon, dass infrage steht, wie eine wertschätzende Sprache ihren Ausdruck finden und eine Praxis der Wertschätzung gelingen kann. Doch was macht heute Wertschätzung vielleicht wichtiger denn je? Und weiter: Was verstehen wir unter Wertschätzung, wenn wir von ihr im Kontext Gewaltfreier Kommunikation reden? Was gehört zum Umfeld von Wertschätzung als Bedürfnis und Wert? Was bedeutet eine wertschätzende Sprache und wie ‚funktioniert‘ sie? Wie kann Wertschätzung praktisch werden: Wie kann ich Wertschätzung konkret einer anderen Person gegenüber formulieren und wie kann ich Wertschätzung annehmen? Wie sieht dies in unterschiedlichen Handlungsfeldern und Organisationen aus, also beispielsweise Wertschätzung in Alltagsbeziehungen mit Kindern, in der Schule, im Hospiz oder Wertschätzung in hierarchischen Organisationen? Gibt es so etwas wie eine wertschätzende Organisationsentwicklung? Und nicht zuletzt wenigstens in einem Ausblick und als Gesprächsimpulse möchte ich anregen zu Überlegungen einer Ethik der Wertschätzung als Rahmen wertschätzender Umgangsformen in Sprache und nichtsprachlicher Lebenspraxis. Mit diesen Fragen formuliere ich einen Rahmen, innerhalb dessen ich über Wertschätzung nachdenken und meine Erfahrungen aus vielen Seminaren und Trainings zu Gewaltfreier Kommunikation weitergeben möchte.

Die überragende Bedeutung von Wertschätzung im Zusammenhang mit der von Marshall Rosenberg entwickelten Gewaltfreien Kommunikation wird auch daran deutlich, dass einige Trainerinnen und Trainer Gewaltfreier Kommunikation mittlerweile von wertschätzender Kommunikation sprechen. Auch wenn ich selbst Wertschätzung für den zentralen Ausgangs- und Zielpunkt Gewaltfreier Kommunikation halte, bleibe ich gleichwohl bei dem ursprünglichen Namen „Gewaltfreie (!) Kommunikation“. Ihr gesellschaftlicher und politischer Entstehungskontext in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King, deren politische Optionen und Ziele sowie deren Praxis und Spiritualität sind für mich von zentraler Bedeutung: Menschen haben damals gelernt, sich selbst wertzuschätzen; so haben sie eine innere Stärke gewonnen und es wurde ihnen möglich, andere Menschen – auch ihre Gegner – ebenfalls wertzuschätzen. In diesem doppelten Bezug verstehe ich Gewaltfreie Kommunikation als einen Beitrag, Gewaltzusammenhänge im persönlichen Alltag wie in institutionellen Kontexten und politischen Konflikten zu unterbrechen und gewaltfreie Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen kreieren zu können. Diese politischen und gesellschaftlichen Kontexte sind auch für den Begriff der Wertschätzung hoch bedeutsam, hat er doch auch politische Konnotationen wie z. B. die Würde oder die Gleichwürdigkeit aller Menschen.

Voraussetzung von Selbstwertschätzung und Wertschätzung anderer sind freilich Selbstempathie und Empathie, worauf Andreas Knuf – außerhalb des Diskurses um Gewaltfreie Kommunikation – aufmerksam macht, wenn er festhält, dass Selbstwert ein „Schönwettergefühl“ sei. Knuf macht sich deshalb als Voraussetzung für den Aufbau von Selbstwert(schätzung) für „Selbstmitgefühlskonzepte“ stark, was mir unmittelbar einleuchtet. Was Marshall Rosenberg, Gerlinde Fritsch u. a. mit „Selbst-Empathie“ verbinden, beschreibt Knuf mit „Selbstgefühl“, das „die Fähigkeit und innere Bereitschaft meint, sich selbst auch in schwierigen Situationen mit einer freundlichen, wohlwollenden, annehmenden und liebevollen Haltung zu begegnen. Dazu ist es erforderlich, wahrzunehmen, wie es einem überhaupt geht (‚Ich bin gerade traurig‘) und sich dieser Empfindung nicht zu verschließen. Zu erkennen, dass es anderen auch so ergehen kann (‚Das ist normal, das darf so sein, anderen geht es auch so‘) und in solchen Situationen freundlich und annehmend mit sich umzugehen statt sich zu verurteilen (‚Das ist auch ganz schön schwierig, was ich da gerade erlebe. Was würde es mir etwas leichter machen?‘). Diese Fähigkeiten werden im Selbstmitgefühlskonzept als Achtsamkeit, gemeinsame menschliche Erfahrung und Selbstfreundlichkeit bezeichnet.“1

Will ich wertschätzend mir selbst gegenübertreten und wertschätzende Beziehungen zu anderen aufbauen, werde ich vor allem meine Verbindung mit mir selbst stärken. Auch wenn ich es nicht notwendig als eine zeitliche oder kausale Folge ansehe, ist mir in diesem Zusammenhang ein Zitat der niederländischen, jüdischen Intellektuellen Etty Hillesum wichtig geworden, die 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. Sie notierte dazu in ihrem Tagebuch Das denkende Herz das Motto dieses Buches: „dass wir an der äußeren Welt (nichts) verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Innern gebessert haben“.2 Zu solcher Verbesserung der Lebenspraxis gehört für mich zweifelsohne Wertschätzung. Sie kommt von Herzen und steht in enger Verbindung mit drei anderen zentralen Perspektiven und Praxisformen Gewaltfreier Kommunikation: mit Empathie, mit Verbundenheit und mit Dankbarkeit.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Gliederung des Buches: Auf grundlegende Überlegungen zum Stichwort „Wertschätzung“ und Hinweise zu seiner aktuell hohen Bedeutung (1. und 2.) folgt eine kleine Einführung in Kommunikationsmethode und Haltung Gewaltfreier Kommunikation (3. und 4.). Sodann geht es in diesem Buch in seinem ersten Teil um Selbstempathie und Empathie (5.), Selbstwertschätzung und Wertschätzung (6.). Es schließen sich je ein Kapitel zu Wertschätzung und Verbundenheit (7.) und zu Wertschätzung und Dankbarkeit (8.) an.

In einem zweiten Teil geht es dann um Handlungsfelder und Orte der Wertschätzung und um Anregungen zu Projekten wertschätzender Organisationsentwicklung (9.). Dabei werde ich in den einzelnen Handlungsfeldern jeweils das betonen und vorstellen, was mir dazu besonders wichtig erscheint. Das heißt freilich nicht, dass das, was ich zu anderen Orten thematisiere und wozu ich in anderen Handlungsfeldern Übungen anbiete, nicht ebenfalls hier von Bedeutung sein kann. Von daher empfehle ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, nicht lediglich das kritisch zu lesen, was für Ihren Lebens-, Berufs- oder Ehrenamtsbereich von Bedeutung ist, sondern die anderen Abschnitte dieses Kapitels ebenfalls, um sich so ggf. neue Möglichkeiten des Denkens, Sprechens oder des Handelns und Unterlassens zu erschließen.

Das Buch schließt mit Hinweisen zu einer Ethik der Wertschätzung im Kontext Gewaltfreier Kommunikation (10.), zu Empowerment als Element von Wertschätzung (11.) und dazu, wie das ‚Getragensein‘ von Wertschätzung es ermöglicht, Perfektionsdiktate aufzugeben und Scheitern und Niederlagen als selbstverständlichen Teil menschlichen Lebens anzuerkennen (12.).

Bei der Lektüre des Buches, deren Kapitel Sie natürlich auch in einer anderen Reihenfolge als der lesen können, die sich mir beim Schreiben ergeben hat, wünsche ich Ihnen Entdecker*innenfreude und wachsende Lust auf sich selbst und andere Menschen – und vielleicht auch darüber hinaus… Wertschätzung eröffnet den Reichtum und die Schönheit vielfältigen und immer wieder überraschenden Lebens.

Gottfried OrthRothenburg ob der Tauber am Erntedankfest 2020

1  A. Knuf, Selbstmitgefühl statt Selbstwertgefühl. Recoveryprozesse werden durch eine mitfühlend-freundliche Haltung des Klienten mit sich selbst erleichtert. Wie kann diese Haltung professionell gefördert werden? In: Psychosoziale Umschau 03/2016., S. 6–7.

2  E. Hillesum, Das denkende Herz. Reinbek bei Hamburg 2012. S. 92. Dieses Tagebuch, das Etty Hillesum bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz schrieb, lese ich als ein Dokument tiefer Menschlichkeit, in dem seine Autorin nie den Glauben an das Gute im Menschen verloren hat: „Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer noch mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äußerung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir dies möglich ist. … Beängstigend ist vielmehr, dass die Systeme über die Menschen hinauswachsen und sie in ihren satanischen Griff bekommen, und zwar die Erfinder und die Opfer der Systeme gleichermaßen, wie große Gebäude und Türme, von Menschenhand gebaut, uns überragen und beherrschen, aber auch über uns zusammenstürzen und uns begraben können.“ (AaO. S. 94)

1. Wertschätzung – einige grundlegende Überlegungen

Eine wertschätzende Haltung mir selbst, anderen Menschen und der Natur gegenüber zu leben, entspricht der Bedürftigkeit menschlichen Lebens. Ich bin keine Maschine, sondern ich weiß um meine Verletzlichkeit und Begrenztheit: Ich bin auf andere Menschen angewiesen und mit ihnen wie mit allem Lebenden verbunden. Solche Verbundenheit erlebe ich als Reichtum, der mich dankbar sein lässt. Hier liegt für mich der Ursprung der Wertschätzung mir selbst und allen Menschen gegenüber.

Ich möchte mir in jeder Situation meines Lebens liebevoll begegnen. Und: Ich möchte allen Menschen, gleich was sie tun oder lassen, was sie sagen oder denken, mit Wohlwollen begegnen. Menschen werden also nicht von dem her verstanden, was sie tun oder lassen, was sie leisten oder nicht geleistet haben, wie das in unserer kapitalistisch dominierten Gesellschaft üblich ist, sondern von dem her, was sie als erstes brauchen: Wertschätzung. Damit gewinnen Begegnungen auch eine andere Zeitdimension: Die wichtigste Zeitdimension ist nicht die Vergangenheit (Was hast du aus dir und deiner Welt gemacht?), sondern die wichtigsten Zeitdimensionen sind Gegenwart und Zukunft, der Augenblick: Du sollst jetzt bekommen, was du brauchst.

Marie Veit erzählt dazu eine berührende Erfahrung aus dem Jahr 1939, der Zeit, in der Nationalsozialisten schon einmal von ‚unwertem Leben‘ sprachen: „Im Sommer 1939 – ich war 17 Jahre alt – besuchte ich mit einer Gruppe Gleichaltriger die Anstalt Bethel. Wir lernten während mehrerer Tage das Leben der Schwestern und ihrer kranken Schutzbefohlenen kennen.

Eines Morgens besuchten wir Patmos, die Station der Schwerstbehinderten. Ich fand mich plötzlich, verwirrt, am Kinderbett eines kleinen Mädchens. Was mich verwirrte, war, dass die Kleine, die ihrer Körpergröße nach kein Jahr alt sein konnte (ich hatte kleine Geschwister und kannte mich schon etwas aus), dass diese Kleine so lange goldblonde Haare hatte, die sauber gescheitelt, in zwei Zöpfe geflochten und zu „Affenschaukeln“ hochgebunden waren, mit leuchtend blauen Schleifen. Ein Baby mit Zöpfen? Ebenso leuchtend blau wie die Schleifen waren die weitgeöffneten Augen des Kindes; es lag ganz still.

Meine Augen wanderten zu der Tafel, die über dem Bettchen angebracht war und Auskunft gab über Namen und Alter. Mein Herz blieb fast stehen: das ‚Baby‘ war 14 Jahre alt!

In dem Wunsch, einen Kontakt mit ihr aufzunehmen, trat ich einen Schritt näher und sprach sie an, wie man ein Kind anspricht. Sie bewegte sich nicht, reagierte in keiner Weise. Die schönen blauen Augen blieben weit geöffnet, aber sie sahen mich nicht.

Plötzlich bemerkte ich, dass das Kind weder Händchen noch Füßchen hatte; nur Stummel von Armen und Beinen zeichneten sich unter der dünnen Sommerdecke ab. Und nichts bewegte sich.

Ich kann kaum beschreiben, was für ein Entsetzen mich packte. Noch niemals hatte ich einen solchen Menschen gesehen. Ja, war es ein Mensch? Oder nicht?

Ich trat zurück, kaum fähig, mich zu fassen. In diesem Augenblick betrat eine Schwester den Raum, sah mich an, verstand augenblicklich, was vorging. Sie eilte zum Bettchen, beugte sich über das Kind und rief ihm munter zu: ‚Na, Thereslein? Wie geht es dir denn heute? Hast du gut geschlafen?‘

Und die Kleine, die unbewegliche Kleine? Sie jauchzte zur Antwort, wie kleine Kinder es tun; das ganze Gesichtchen war Lachen, es lebte, rötete sich vor Freude; das ganze unbehilfliche Körperchen arbeitete unter der Decke – kein Zweifel, es strampelte vor Lebenslust, so gut es strampeln konnte. Die Schwester pikste es ein wenig in den Bauch, es lachte laut, sie versprach, ihm sein Frühstück zu bringen, und ging dann mit mir hinaus.

Draußen erklärte sie mir, dass sie meinen Schrecken verstände. Vor ihr sei eine Schwester auf dieser Station gewesen, die die innere Abneigung gegen die missgebildeten Kinder nie ganz habe überwinden können. Sie habe sie sorgsam gepflegt, nie einem Kind etwas zuleide getan; aber sie habe es kaum ertragen, mit ihnen umzugehen. Die Kinder hätten damals viel geschrien. Gerade das sei der Schwester besonders unerträglich gewesen; sie habe es anfangs für einen Teil ihrer Krankheit gehalten und gemeint, die Kinder litten eben sehr unter ihrem Geschick. Aber dann sei ihr aufgefallen, dass sie immer dann zu jammern begannen, wenn sie, die Schwester, kam und sie ihre Stimme hörten. Da habe sie um ihre Ablösung gebeten und arbeite jetzt auf einer anderen Station.

Seither sei sie, meine Gesprächspartnerin, hier tätig, und das Schreien habe sich vollständig gelegt. ‚Im Gegenteil, sie freuen sich, wenn ich komme. Wissen Sie, ich sehe gar nicht mehr, dass sie nicht richtig entwickelt sind. Sie sind für mich wie meine Blumen auf der Fensterbank: Die können auch nicht sprechen oder laufen, aber wenn ich gut zu ihnen bin, dann danken sie es mir, indem sie blühen und gedeihen. Und meine Kinder danken mir mit ihrer Freude.‘ Nachdenklich fügte sie hinzu: ‚Wissen Sie, ich glaube, sie haben eine besonders feinfühlende menschliche Seele. Sie haben eben gespürt, dass meine Mitschwester sie ablehnte, auch wenn sie es nicht zeigen wollte, und deshalb haben sie geschrien. Nur ihr Körper ist nicht richtig entwickelt, und so kann die Seele sich nicht so äußern wie bei anderen Menschen. Aber sie ist da.‘

Ich bin davongegangen in dem Gefühl, etwas Kostbares geschenkt bekommen zu haben – und dass ich lange brauchen würde, um es ganz zu erfassen: Der Wert eines Menschen liegt nicht in dem, was er leisten kann. Das Geheimnis unseres Daseins ist unser Angewiesensein auf Liebe und unser Lieben-Können. Die kranken Kinder waren nicht zu täuschen. Mitten in der Zeit des ‚lebensunwerten Lebens‘ lehrten sie und ihre Schwester mich, was Menschsein heißt.“3

Im Hintergrund dieser Erfahrung steht ein bedeutender rechtsphilosophischer und religiöser Gedanke, der nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Nationalsozialismus als menschenrechtliches Postulat auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist, wenn es in Artikel 1 heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Egal, was jemand tut oder denkt, nicht tut oder nicht denkt, es gilt die höchst bedeutsame Unterscheidung zwischen dem Menschen, dem ich Wertschätzung entgegenbringen möchte, und dem, was er / sie tut, lässt, sagt, nicht sagt oder denkt, nicht denkt, was möglicherweise diametral meinen Werten entgegensteht und tragische Folgen haben kann. Für demokratische Gesellschaften und für Regierungsformen, die dieses Prädikat verdienen, ist diese Unterscheidung die zentrale Prämisse. Wenn Erich Fromm immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die wirtschaftliche Struktur unserer Gesellschaft auch in die Psyche der Menschen eingeht und dass diese wirtschaftliche Struktur es nahezu unmöglich macht, einen Menschen um seiner selbst willen zu lieben, wird deutlich, von welcher Relevanz Wertschätzung, dieses zentrale Konzept Gewaltfreier Kommunikation, ist.4

Wertschätzung, das habe ich kurz angedeutet, hat also nicht lediglich ihre Bedeutung in zwischenmenschlichen face to face-Beziehungen, sondern vor allem auch in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen innerhalb einer demokratisch verfassten Gesellschaft und ihrer politischen Gestaltung. Ja, vielleicht macht das Konzept der Wertschätzung die Verbindungen deutlich zwischen dem Verhältnis zu sich selbst, dem zu anderen Menschen und sogar weit darüber hinaus zu unseren gesellschaftlichen Beziehungen und jenen zur Natur und ‚unserer‘ Erde. Da wird Wertschätzung als Tugend – verstanden als Fähigkeit zu gutem Handeln – zur politischen Sorge um die gemeinsame Welt.

Wertschätzung könnte so zu einem zentralen Begriff des Versuches werden, zu einer „Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen“5, eben weil wertschätzendes Denken und Verhalten mich lehrt, dass die jeweilige Beschränkung von Wertschätzung auf mein Selbstverständnis oder auf mein Weltverständnis unvollständig bleibt. Rosenberg wollte mit Gewaltfreier Kommunikation letztlich einen Versuch wagen, der zu einem gewaltfreien Umgang mit mir selbst, mit anderen Menschen und zu gewaltfreiem Handeln im Kontext von „social change“ anleitet. Dabei wusste er, dass das, was er erprobte, lehrte und praktizierte, nichts Neues, sondern von alten Weisheitslehren und -lehrer*innen formuliert und getragen war. Neben Rosenberg selbst6 weist beispielsweise auch Kelly Bryson immer wieder auf unterschiedliche spirituelle Traditionen und Quellen traditioneller Weisheitslehren hin, wenn er Walter Wink zitiert: „Feindesliebe ist in unserer Zeit zum Lackmustest authentischen christlichen Glaubens geworden. Engagement für Gerechtigkeit, Befreiung oder die Überwindung von Unterdrückung reichen nicht aus, denn nur zu oft sind durch die Mittel, mit denen versucht wurde, diese Ziele zu erreichen, neue Ungerechtigkeiten und Arten der Unterdrückung entstanden. Feindesliebe beinhaltet die Erkenntnis, dass auch der Feind ein Kind Gottes ist.“7

Das Wunder, das immer wieder neu solche Wertschätzung hervorruft, ist, so hat es Hannah Arendt gesehen, das Geborensein, das sie zugleich als die Hauptkategorie des Politischen beschrieben und in ihrem Buch Vita activa oder vom tätigen Leben erläutert hat: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann … Das ‚Wunder‘ besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ‚Glaube und Hoffnung‘, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wussten.“8 Dieses Wunder wahrzunehmen und die damit gegebenen Möglichkeiten, die Hannah Arendt andeutet, entdecken und ausdrücken zu können, dazu bedarf es einer lebendigen Sprache, mit der wir hören und sagen können, was jetzt in uns und anderen lebendig ist. In dieser Wahrnehmung und ihrem Ausdruck liegen die Chancen Gewaltfreier Kommunikation.

3  M. Veit, Angewiesen auf Liebe. In: J. R. Didszuweit, R. Meier (Hrsg.), Niemand ist allein. Begegnungen. Gütersloh 1987. S. 195–197.

4  Vgl. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik. Zürich 1954. S. 82 ff. Jetzt auch in: E. Fromm, Gesamtausgabe. Hrsg. v. R. Funk. Bd. II: Analytische Charaktertheorie. München 1989. S. 1–157, bes. S. 47 ff.

5  Vgl. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1. Berlin 2019. S. 12. Kurz darauf weist Habermas auf etwas hin, was auch Rosenberg deutlich war, dass nämlich „semantische Gehalte biblischen Ursprungs in die Grundbegriffe des nachmetaphysischen Denkens überführt worden sind“ (aaO. S. 15).

6  Vgl. beispielsweise M. B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Freiburg 2009. S. 36, 40, 43, 142 u.ö. Vgl. weiter: G. Orth, Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden. Paderborn 2015.

7  Vgl. K. Bryson, Sei nicht nett, sei echt. Paderborn 2012. S. 113 f. Spannend empfand ich beim Lesen dieses Buches, dass es in immer wieder neuen ‚Dialogen‘ mit ganz unterschiedlichen spirituellen und theologischen Autorinnen und Autoren geschrieben ist und der Autor sehr selbstverständlich das aus den unterschiedlichen Traditionen auswählt, was er als Erfahrungshintergrund kennt oder als Idee für seine Arbeit braucht.

8  H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben. München 2010. S. 15 und 243.

2. Warum Wertschätzung heute so notwendig ist – ein Ausblick am Anfang

Neben dem Hinweis Erich Fromms auf die Veränderungen des Charakters von einem innengelenkten und werteorientierten Charakter hin zu einem markt- oder marketingorientierten Charakter ab den späten 1940er-Jahren möchte ich auf zwei gesellschaftliche Felder verweisen, die auf eindrückliche Weise Fromms Überlegungen bestätigen und verdeutlichen, wie notwendig Wertschätzung heute ist und welche Chance wertschätzende Beziehungen bieten. Dazu kommen ausführlich eine Grundschullehrerin und ein Unternehmer zu Wort. Sie haben in ihren Organisationen wertschätzende Umgangsformen eingeführt und sie zeigen, wie sich dadurch die Institution „Schule“ verändert und das Unternehmen grundlegend gewandelt hat.

2.1 Arbeitsfeld Schule: Zustand und Vision

In einer Befragung von Studierenden „gaben nur 23 % der ehemaligen Schülerinnen und Schüler an, von Lehrkräften keine Kränkung erfahren zu haben, alle erinnerten sich jedoch an Kränkungen von Mitschülern, die sie miterlebt hatten“9. Zu ähnlichen Ergebnissen „kommen die Beobachtungsstudien im Projektnetz INTAKT (Soziale INTerAKTionen in pädagogischen Arbeitsfeldern). Dabei handelt es sich um einen Verbund, in dem Lehr- und andere Forschungsprojekte kooperieren, um Wissen über Formen pädagogischer Interaktionen und deren Verbreitung zu gewinnen.“ … Die Ergebnisse der „kodierten Interaktionsformen der Verletzung“ lassen sich „in folgender holzschnittartiger Faustregel zusammenfassen: Durchschnittlich kategorisierten die Beobachtenden drei Viertel der Lehrer-Schüler- bzw. Erzieher-Kind-Interaktionen als anerkennend und neutral, während sie ca. 20 % als leicht verletzend bzw. ambivalent und mehr als 5 % als stark verletzend einordneten. Seelische Verletzungen bilden in pädagogischen Institutionen die am häufigsten vorkommende Form der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.“10

Eine Gruppe um die Pädagogin Annedore Prengel hat in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Menschenrechtsbildung an der Rochow-Akademie aufgrund dieser und anderer Forschungen in den „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ neben Handlungsebenen zur Stärkung pädagogischer Ethik sechs Feststellungen unter der Überschrift „Was ethisch begründet ist“ sowie vier unter „Was ethisch unzulässig ist“ formuliert. Die erste dieser Formulierungen lautet: „Kinder und Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behandelt.“11