Ghost - Robert Harris - E-Book

Ghost E-Book

Robert Harris

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Beschreibung

Hochbrisant, Topaktuell

Der britische Ex-Premierminister Adam Lang will seine Memoiren veröffentlichen. Nach dem dubiosen Tod seines Ghostwriters recherchiert dessen Nachfolger genauer als verlangt und macht eine Entdeckung, die zu einem weltpolitischen Chaos führen kann. War der Premier im »Krieg gegen den Terror« eine Marionette der CIA?

Niemand zuvor hat Großbritannien so lange regiert wie Premierminister Adam Lang. Nun ist er aus dem Amt geschieden, und alle Welt erwartet sehnsüchtig die Memoiren des charismatischen Machtmenschen. Sensationelle zehn Millionen Dollar Vorschuss hat ihm sein amerikanischer Verleger geboten. Unter zwei Bedingungen: Das Buch muss binnen zwei Jahren auf dem Markt sein, und der Ex-Premier soll in Sachen Krieg gegen den Terror kein Blatt vor den Mund nehmen. Ein halbes Jahr vor dem Termin passiert das Undenkbare: Am Ufer der US-amerikanischen Insel Martha’s Vineyard, wohin sich Adam Lang zum Arbeiten an seinen Erinnerungen zurückgezogen hat, wird die Leiche seines Ghostwriters angeschwemmt. War es Mord? Schnell wird ein Ersatzmann gefunden, der auf eigene Faust noch genauer als sein Vorgänger in der Vergangenheit des Machtpolitikers recherchiert. Und dabei stößt er auf Dinge, die so brisant sind, dass deren Veröffentlichung zu einem weltpolitischen Chaos führen würde.

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Seitenzahl: 469

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Das Buch

Niemand zuvor hat Großbritannien so lange regiert wie Premierminister Adam Lang. Nun ist er aus dem Amt geschieden, und alle Welt erwartet sehnsüchtig die Memoiren des charismatischen Machtmenschen. Sensationelle zehn Millionen Dollar Vorschuss hat ihm sein amerikanischer Verleger geboten. Unter zwei Bedingungen: Das Buch muss binnen zwei Jahren auf dem Markt sein, und der Expremier soll in Sachen Krieg gegen den Terror kein Blatt vor den Mund nehmen. Ein halbes Jahr vor dem Termin passiert das Undenkbare: Am Ufer der US-amerikanischen Insel Martha’s Vineyard, wohin sich Adam Lang zum Arbeiten an seinen Erinnerungen zurückgezogen hat, wird die Leiche seines Ghostwriters angeschwemmt. War es Mord? Schnell wird ein Ersatzmann gefunden, der aber auf eigene Faust noch genauer als sein Vorgänger in der Vergangenheit des Machtpolitikers recherchiert. Und dabei stößt er auf Dinge, die so brisant sind, dass deren Veröffentlichung zu einem weltpolitschen Chaos führen würde.

Der Autor

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Er war Reporter bei der BBC und Redakteur bei großen Tageszeitungen. 2003 wurde er als bester Kolumnist mit dem »British Press Award« ausgezeichnet. Seine Romane Vaterland, Enigma, Aurora, Pompeji, Imperium, Ghost, Titan, Intrige, Dictator, Konklave, München und zuletzt Der zweite Schlaf wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polanski bei der Verfilmung von Ghost (als Der Ghostwriter) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNANMERKUNG DES AUTORSCopyright

Für Gill

Ich bin nicht ich; du bist nicht er, nicht sie; sie sind nicht sie.

Evelyn Waugh, Wiedersehen mit Brideshead

EINS

»Sicher einer der größten Vorteile des Ghostwriter-Berufs ist die Möglichkeit, interessante Menschen kennenzulernen.«

ANDREW CROFTS, »GHOSTWRITER«

Als ich hörte, wie McAra gestorben war, hätte ich aufstehen und gehen sollen. Heute weiß ich das. Ich hätte sagen sollen: »Tut mir leid, Rick, das ist nichts für mich, irgendwie stinkt die Sache«, hätte austrinken und gehen sollen. Aber Rick war ein außerordentlicher Geschichtenerzähler. Wenn er erst einmal angefangen hatte, kam ich nie auch nur eine Sekunde lang auf den Gedanken, ihm nicht zuzuhören. Oft dachte ich, er hätte Schriftsteller und ich Literaturagent werden sollen. Denn als er fertig war, hatte er mich am Haken.

Die Geschichte, wie Rick sie mir an jenem Tag beim Lunch erzählte, ging so:

McAra hatte am vorletzten Sonntag – das musste am 12. Januar gewesen sein, wie ich später feststellte – die letzte Fähre von Woods Hole, Massachusetts, nach Martha’s Vineyard erwischt. Es stand auf des Messers Schneide, ob die Fähre überhaupt ablegen würde. Seit dem frühen Nachmittag hatte es heftig gestürmt und einige Überfahrten waren schon gestrichen worden. Gegen neun Uhr abends flaute der Wind jedoch etwas ab, und um Viertel vor zehn entschied der Kapitän, dass keine Gefahr mehr bestehe. Das Boot war überfüllt: McAra hatte Glück, dass er überhaupt noch einen Platz für seinen Wagen bekam. Er parkte unter Deck und ging dann nach oben, um etwas frische Luft zu schnappen.

Danach hat ihn niemand mehr lebend gesehen.

Die Überfahrt zur Insel dauert normalerweise fünfundvierzig Minuten, verlängerte sich jedoch an jenem Abend wegen des Wetters beträchtlich: Ein Anlegemanöver mit einem Sechzig-Meter-Schiff bei fünfzig Knoten Wind, sagte Rick, sei nicht gerade das, wobei man sich vor Vergnügen auf die Schenkel klopfe. Es war fast elf Uhr, als die Fähre in Vineyard Haven festmachte und die Autos wieder angelassen wurden – bis auf eines: einen brandneuen ockerfarbenen Geländewagen der Marke Ford Escape. Der Zahlmeister forderte den Besitzer per Lautsprecher auf, zu seinem Fahrzeug zu kommen, da es den Wagen hinter ihm den Weg versperre. Als jedoch niemand auftauchte, stellten ein paar Männer von der Crew fest, dass die Türen nicht verschlossen waren, und schoben den Ford an Land. Danach durchsuchten die Männer sorgfältig das ganze Schiff: die Treppenschächte, die Bar, die Toiletten, sogar die Rettungsboote  – nichts. Sie riefen den Fährhafen in Woods Hole an und fragten nach, ob vielleicht jemand vor dem Ablegen das Schiff verlassen hätte oder versehentlich vergessen worden sei – wieder nichts. Erst dann setzte sich ein Beamter der Massachusetts Steamship Authority mit der Küstenwache in Falmouth in Verbindung, um zu melden, dass möglicherweise ein Mann über Bord gegangen sei.

Die Überprüfung des Nummernschilds durch die Polizei ergab, dass der Wagen auf einen Martin S. Rhinehart aus New York City zugelassen war; ausfindig machte man ihn allerdings auf seiner Ranch in Kalifornien. Da war es an der Ostküste Mitternacht, im Westen neun Uhr abends.

»Der Marty Rhinehart?«, unterbrach ich Rick.

»Genau der.«

Rhinehart bestätigte der Polizei am Telefon ohne Umschweife, dass er der Besitzer des Fords sei. Er gehöre zu seinem Anwesen auf Martha’s Vineyard und werde von ihm selbst und seinen Sommergästen benutzt. Er bestätigte auch, dass sich im Augenblick trotz der Jahreszeit Gäste in seinem Haus aufhielten. Er sagte, er werde seine Sekretärin beauftragen, auf Martha’s Vineyard nachzufragen, ob jemand den Wagen ausgeliehen habe. Eine halbe Stunde später rief sie zurück und sagte, dass tatsächlich jemand vermisst werde, ein Mann namens McAra.

Vor Tagesanbruch konnte man nichts mehr tun. Nicht dass das eine Rolle spielte. Jedem war klar, dass man bei der Suche nach einem über Bord gegangenen Passagier nach einer Leiche suchte. Rick ist einer von jenen irritierend gesunden Amerikanern Anfang vierzig, die wie neunzehn aussehen und ihrem Körper mittels Fahrrädern und Kanus schreckliche Dinge antun. Er kennt das Meer in der Gegend: Er ist einmal in zwei Tagen mit dem Kajak die ganzen sechzig Meilen rund um die Insel gepaddelt. Die Fähre von Woods Hole durchpflügt die Meerenge genau dort, wo die Gewässer des Vineyard Sound auf die des Nantucket Sound treffen. Gefährliche Gewässer. Bei Hochwasser kann man sehen, wie die gewaltige Strömung die riesigen Kanalbojen auf die Seite legt. Rick schüttelte den Kopf. Im Januar, bei Sturm, bei Schneefall, überlebe kein Mensch das länger als fünf Minuten.

Am frühen nächsten Morgen fand eine einheimische Frau die Leiche. Sie war etwa vier Meilen entfernt bei Lambert’s Cove an den Inselstrand gespült worden. Der Führerschein in der Brieftasche wies den Mann als Michael James McAras, Alter fünfzig, wohnhaft in Balham im Süden Londons aus. Ich weiß noch, wie ich bei der Erwähnung dieses trübsinnigen, unexotischen Vorstadtbezirks plötzlich einen Hauch Mitgefühl verspürte: ganz schön weit weg von zu Hause, der arme Teufel. Sein Pass führte als nächsten Angehörigen seine Mutter auf. Die Polizei brachte den Leichnam in das kleine Leichenschauhaus von Vineyard Haven, dann fuhr ein Streifenwagen zum Rhinehart-Anwesen, um die Nachricht zu überbringen und einen der Hausgäste für die Identifizierung abzuholen.

Muss ein ziemlicher Auftrieb gewesen sein, meinte Rick, als der Gast schließlich auftauchte, um sich die Leiche anzuschauen: »Jede Wette, dass der Angestellte im Leichenschauhaus die Geschichte heute noch erzählt.« Ein Streifenwagen mit Blaulicht aus Edgartown, ein zweiter Wagen mit vier bewaffneten Wachleuten, um das Gebäude zu sichern – und ein dritter gepanzerter Wagen mit dem Mann auf dem Rücksitz, den jeder sofort erkannte, dem Mann, der achtzehn Monate zuvor noch Premierminister von Großbritannien und Nordirland gewesen war.

Der Lunch war Ricks Idee gewesen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er in der Stadt war, bis er mich am Abend zuvor anrief. Er bestand darauf, dass wir uns in seinem Club träfen. Genau genommen war es nicht sein Club – eigentlich war er Mitglied eines ähnlichen Mausoleums in Manhattan, dessen Mitglieder Gastrecht in dem Londoner Club genossen und den Rick gern aufsuchte. Zur Lunchzeit waren nur Männer zugelassen. Alle trugen dunkelblaue Anzüge und waren über sechzig. Seit ich von der Uni abgegangen bin, habe ich mich nicht mehr so jung gefühlt. Draußen lastete der Winterhimmel auf London wie eine große graue Grabsteinplatte. Drinnen funkelte das gelbe elektrische Licht von drei gewaltigen Kronleuchtern auf dunkel glänzenden Tischen, versilbertem Besteck und mit rubinrotem Bordeaux gefüllten Karaffen. Ein Kärtchen, das zwischen uns auf dem Tisch stand, verkündete, dass heute Abend das jährliche Backgammon-Turnier stattfinden würde. Es war wie die Wachablösung am Buckingham Palace oder der Palace of Westminster – England, wie ein Ausländer es sich vorstellt.

»Wundert mich, dass nichts von McAras Tod in den Zeitungen gestanden hat«, sagte ich.

»Hat es ja. Keiner hat ein Geheimnis daraus gemacht. Es waren Nachrufe drin.«

Als ich jetzt genauer darüber nachdachte, erinnerte ich mich vage daran, etwas gelesen zu haben. Allerdings hatte ich einen Monat lang jeden Tag fünfzehn Stunden gearbeitet, um mein neues Buch abzuschließen, die Autobiografie eines Fußballers. Die Welt außerhalb meines Arbeitszimmers hatte ich nur verschwommen wahrgenommen.

»Warum in aller Welt identifiziert ein Expremierminister die Leiche eines Mannes aus Balham, der vor Martha’s Vineyard von der Fähre fällt?«

»Michael McAra«, sagte Rick im eindringlichen Tonfall eines Mannes, der dreitausend Meilen geflogen war, um genau diesen Satz loszuwerden, »Michael McAra hat ihm bei der Abfassung seiner Memoiren geholfen.«

Das ist der Augenblick, in dem ich – in meinem Parallelleben – höflich mein Mitgefühl für die hinterbliebene Mrs McAra zum Ausdruck bringe (»was für ein Schock, einen Sohn in diesem Alter zu verlieren«), meine schwere Leinenserviette zusammenfalte, mein Glas austrinke, mich verabschiede und hinaus in die Kälte Londons trete, um mich wieder ganz meiner ungefährlichen und durchschnittlichen beruflichen Laufbahn zuzuwenden. Stattdessen entschuldigte ich mich, ging auf die Toilette des Clubs, urinierte gedankenverloren und studierte dabei einen langweiligen Cartoon aus dem Punch.

»Du weißt doch, dass ich keine Ahnung von Politik habe« , sagte ich, als ich wieder am Tisch saß.

»Aber du hast ihn gewählt, oder?«

»Adam Lang? Klar hab ich ihn gewählt. Hat doch jeder. Er war ja auch kein Politiker, er war ein Popstar.«

»Das ist der Punkt. Wer interessiert sich schon für Politik? Jedenfalls braucht er jetzt einen Ghostwriter, mein Junge, einen Ghost, und nicht noch so einen bescheuerten Politikfreak.« Er schaute sich um. Eine der eisernen Regeln besagte: keine Geschäfte innerhalb der Clubmauern – ein Problem für Rick, weil er überhaupt kein anderes Thema kannte. »Marty Rhinehart hat zehn Millionen Dollar für die Memoiren bezahlt, unter zwei Bedingungen. Erstens: Sie müssen binnen zwei Jahren in den Läden stehen. Zweitens: Er soll in Sachen Krieg gegen den Terror kein Blatt vor den Mund nehmen. Was ich so höre, ist er weit davon entfernt, auch nur eine der beiden Bedingungen zu erfüllen. Um Weihnachten rum stand die Sache so schlecht, dass Rhinehart ihm sein Ferienhaus auf Martha’s Vineyard zur Verfügung gestellt hat, damit Lang und McAra ungestört arbeiten konnten. Schätze, der Druck war zu viel für McAra. Mit dem Alkohol, den der amtliche Leichenbeschauer in seinem Blut festgestellt hat, hätten sie ihm den Führerschein vier Mal klemmen können.«

»Also Unfall?«

»Unfall? Selbstmord?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wer kann das wissen? Was spielt das für eine Rolle? Jedenfalls war es das Buch, das ihn umgebracht hat.«

»Sehr ermutigend«, sagte ich.

Während Rick damit fortfuhr, mich für sein Vorhaben zu gewinnen, starrte ich auf meinen Teller. Ich stellte mir vor, wie der frühere Premierminister in der Leichenhalle auf das kalte weiße Gesicht seines toten Assistenten hinunterschaute – auf seinen Ghost, könnte man sagen. Was haben Sie dabei gefühlt? Diese Frage stelle ich meinen Kunden ständig. Während der Interviewphase muss ich sie ihnen hundertmal pro Tag stellen. Was haben Sie dabei gefühlt? Was haben Sie dabei gefühlt? Meistens wissen sie es nicht. Deshalb müssen sie mich anheuern, einen Ghost, der ihre Erinnerungen auffrischt: Am Ende einer erfolgreichen Zusammenarbeit bin ich mehr sie als sie selbst. Ehrlich gesagt, macht mir dieser Teil meiner Arbeit ziemlich viel Spaß: die kurze Zeit der Freiheit, jemand anders zu sein. Falls sich das gruselig anhört, dann möchte ich hinzufügen, dass dieser Prozess echtes handwerkliches Können erfordert. Ich entlocke den Menschen nicht nur ihre Lebensgeschichte, ich verleihe ihrem Leben auch eine Form, die oft unsichtbar war. Manchmal gebe ich ihnen ein Leben, von dem sie nicht einmal wussten, dass sie es so überhaupt geführt hatten. Wenn das nicht Kunst ist, was dann?

»Müsste ich McAra kennen?«, fragte ich.

»Ja, müsstest du, also binde nicht jedem auf die Nase, dass du noch nie von ihm gehört hast. Er war so eine Art Berater während Langs Zeit als Premier. Reden schreiben, Politikanalyse, politische Strategie. Nach Langs Rücktritt ist McAra bei ihm geblieben, als sein Büroleiter.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, Rick«, sagte ich.

Während des Lunchs hatte ich mit halbem Auge einen älteren Fernsehschauspieler am Nachbartisch beobachtet. Als ich noch ein Kind war, hatte er es in einer Komödienserie als alleinerziehender Vater von ein paar Teenagern zu Berühmtheit gebracht. Jetzt stand er unsicher auf und schleppte sich zur Tür, als hätte er die Rolle seines eigenen Leichnams zu spielen. Das war die Sorte Menschen, deren Memoiren ich schrieb: Menschen, die auf der Berühmtheitsleiter ein paar Sprossen hinuntergefallen waren oder die noch ein paar Sprossen nach oben vor sich hatten oder die sich gerade noch an der obersten Sprosse festhalten konnten und nun verzweifelt versuchte, Kasse zu machen, solange ihnen noch die Zeit dazu blieb. Plötzlich erschien mir allein der Gedanke, einem Premierminister bei der Abfassung seiner Memoiren zu helfen, durch und durch lächerlich.

»Ich weiß nicht …«, sagte ich, wurde aber sofort von Rick unterbrochen.

»Die kriegen langsam die Panik, die Leute von Rhinehart Incorporated. Die lassen morgen früh in ihrem Londoner Büro alle möglichen Kandidaten zur Kür aufmarschieren. Maddox kommt höchstpersönlich aus New York rüber, um die Interessen der Firma zu vertreten. Lang schickt den Anwalt, der den Originalvertrag für ihn ausgehandelt hat – den heißesten Strippenzieher in Washington, einen äußerst ausgebufften Burschen namens Sidney Kroll. Ich habe noch andere Autoren, die ich dafür anbieten kann; wenn du’s nicht machen willst, sag’s gleich. Aber so, wie die geredet haben, glaube ich, dass du genau der Richtige dafür bist.«

»Ich? Machst du Witze?«

»Nein, meine Hand drauf. Die müssen jetzt einen radikalen Schnitt machen … Trau dich. Das ist eine Riesenchance für dich. Und die Kohle stimmt. Die Kids müssen keinen Hunger leiden.«

»Ich habe keine Kinder.«

»Du nicht«, sagte Rick augenzwinkernd, »aber ich.«

Auf den Eingangsstufen des Clubs verabschiedeten wir uns voneinander. Ein Wagen mit laufendem Motor wartete schon auf Rick. Er bot mir nicht an, mich irgendwo abzusetzen, was mich argwöhnen ließ, dass er auf direktem Weg zum nächsten Ghostwriter fuhr, um diesen mit der exakt gleichen Rede für sein Projekt zu begeistern wie mich gerade. Was ist der Sammelbegriff für eine Gruppe von Ghosts? Ein Geisterzug, eine Geisterstadt, ein Geisterschloss? Egal, Rick hatte jedenfalls schon jede Menge von uns Ghosts auf seine Bücher angesetzt. Schaut man sich einmal die Bestsellerlisten – Romane wie Sachbücher – an, würde man staunen, wie viel davon die Arbeit von Ghosts ist. Wir sind die Phantomwerktätigen, die das Verlagsgewerbe in Schwung halten, ähnlich den unsichtbaren Arbeitern in den Katakomben von Disney World. Wir wuseln durch die unterirdischen Gänge der Welt der Berühmtheiten, hüpfen hier und da ins Bild, verkleidet als dieser oder jener, und erhalten die makellose Illusion des Magic Kingdom aufrecht.

»Bis morgen dann«, sagte Rick und war nach einem dramatischen Abgang in einer Abgaswolke verschwunden: ein Mephisto auf fünfzehn Prozent Provisionsbasis. Unentschlossen stand ich eine Minute lang da, und wenn ich mich in einem anderen Teil Londons befunden hätte, hätten die Dinge immer noch anders laufen können. Aber ich befand mich in dem schmalen Streifen, wo Soho an Covent Garden angrenzt: einer vermüllten Gegend mit leer stehenden Theatern, dunklen Gassen, Rotlicht-Etablissements, Snackbars und Buchläden – so vielen Buchläden, dass einem schon beim Anblick ganz schwindelig werden kann, von winzig kleinen, halsabschneiderisch teuren Fachbuchhändlern in Cecil Court bis zu Discount-Monsterläden in der Charing Cross Road. In einem der letzteren schaue ich gelegentlich vorbei, einfach um mich zu informieren, wie meine Bücher platziert sind. Und genau das tat ich an jenem Nachmittag. Es waren nur ein paar Schritte über den abgenutzten roten Teppichboden in der Abteilung »Biografie & Memoiren«, um von der Kategorie »Prominente« zur Kategorie »Politik« zu gelangen.

Ich war überrascht, wie viele Titel sie über den ehemaligen Premierminister vorrätig hatten – ein ganzes Regal voll, von der frühen Hagiografie Adam Lang: Staatsmann für unsere Zeit bis zum noch ganz frischen Totalverriss mit dem Titel Hand aufs Herz! Die gesammelten Lügen des Adam Lang, beide vom selben Autor. Ich zog die dickste Biografie heraus und blätterte zum Fototeil: Lang als kleines Kind, das vor einer Trockenmauer einem Lämmchen die Flasche gibt; Lang als Lady Macbeth in einer Schulaufführung; Lang als Huhn in der Footlights Revue an der Cambridge University; Lang als Merchant-Banker in den Siebzigern – definitiv stoned; Lang mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern auf den Eingangsstufen eines neuen Hauses; Lang mit einem Parteiabzeichen am Revers, winkend auf dem offenen Oberdeck eines Busses am Tag seiner Wahl ins Parlament; Lang mit Abgeordnetenkollegen; Lang mit führenden Politikern aus aller Welt, mit Popstars, mit Soldaten im Nahen Osten. Ein kahlköpfiger Kunde in abgewetzter Lederjacke, der im Regal nebenan stöberte, schaute auf den Buchumschlag. Dann hielt er sich die Nase zu und zog mit der anderen Hand an einer imaginären Klospülung.

Ich ging um das Bücherregal herum und suchte im Register der Biografie nach »McAra, Michael«. Es gab nur fünf oder sechs nichtssagende Verweise – mit anderen Worten: kein Grund, warum irgendwer außerhalb von Partei oder Regierung den Burschen kennen müsste. Also, Rick, dachte ich, red keinen Scheiß. Ich blätterte zurück zu einer Fotografie, die den lächelnden Premierminister am Kabinettstisch zeigte. Dahinter hatte sein Stab aus der Downing Street Aufstellung genommen. Die Bildunterschrift wies McAra als die stämmige Person in der hintersten Reihe aus. Er war nur unscharf zu erkennen – ein blasses, ernstes Gesicht unter dunklen Haaren. Ich kniff die Augen zusammen und schaute ihn mir genauer an. Er war exakt der Typ des faden Zukurzgekommenen, der sich von Natur aus zur Politik hingezogen fühlt und Leute wie mich dazu bringt, den Sportteil der Zeitung zu bevorzugen. Einen McAra findet man in jedem Land, in jedem System, im Dunstkreis von jeder Führungsperson, die einen politischen Apparat in Schwung zu halten hat: Sie sind die ölverschmierten Maschinisten im Kesselraum der Macht. Und das war der Mann, dem man die Abfassung einer Zehn-Millionen-Dollar-Biografie anvertraut hatte? Ich fühlte mich in meiner beruflichen Ehre gekränkt. Ich kaufte mir einen kleinen Stapel Bücher über Lang für meine Recherchen und verließ den Laden in der wachsenden Überzeugung, dass Rick vielleicht recht hatte: Vielleicht war ich sein Mann für den Job.

In der Sekunde, als ich vor die Tür trat, wusste ich, dass wieder eine Bombe hochgegangen war. In der Tottenham Court Road sprudelten die Menschen aus allen vier U-Bahn-Zugängen wie Regenwasser aus einem verstopften Gullyrohr. Eine Lautsprecherstimme sagte etwas über einen »Zwischenfall im U-Bahnhof Oxford Circus«. Es klang nach einer romantisch knisternden Filmkomödie: eine Mischung aus Begegnung von David Lean und Krieg gegen den Terror. Ich ging weiter die Straße entlang und fragte mich, wie ich jetzt nach Hause käme. Wie falsche Freunde haben Taxis die Angewohnheit, sich beim ersten Anzeichen von Ärger aus dem Staub zu machen. Vor dem Fenster eines großen Elektrogeschäfts drängten sich die Menschen vor den aktuellen Nachrichten, die gleichzeitig auf einem Dutzend Bildschirmen liefen: Luftbilder vom Oxford Circus, schwarzer Rauch, der aus der U-Bahn-Station quoll, orange Flammen. Der Ticker an der Unterkante des Bildschirms sprach von einem mutmaßlichen Selbstmordattentäter, von vielen Toten und Verletzten, und gab eine Notrufnummer an. Ein Hubschrauber legte sich auf die Seite und kreiste über den Dächern. Ich konnte den Rauch riechen – eine beißende Mischung aus Diesel und geschmolzenem Plastik, die einem das Wasser in die Augen trieb.

Für den Fußmarsch, obendrein mit der verfluchten Büchertasche, brauchte ich volle zwei Stunden bis nach Hause – erst zur Marylebone Road, dann westwärts in Richtung Paddington. Wie üblich waren das gesamte U-Bahn-System und die wichtigsten überirdischen Bahnhöfe geschlossen worden, um nach weiteren Bomben zu suchen. Der Verkehr auf der breiten Straße war in beiden Richtungen zum Erliegen gekommen, woran sich erfahrungsgemäß bis zum Abend auch nichts ändern würde. (Wenn das Hitler gewusst hätte, dachte ich, dass er gar nicht seine gesamte Luftwaffe hätte aufbieten müssen, um London lahmzulegen: ein aufgeputschter Teenager mit einer Flasche Bleichmittel und einem Beutel Unkrautvertilger hätte es auch getan.) Gelegentlich fuhr ein Krankenwagen über den Randstein auf den Gehweg und versuchte dann, durch eine der Nebenstraßen schneller voranzukommen.

Ich stapfte der untergehenden Sonne entgegen.

Es muss gegen sechs Uhr abends gewesen sein, als ich in meiner Wohnung ankam. Ich bewohnte die beiden oberen Stockwerke eines Stuckhauses in einem Stadtteil, der von seinen Bewohnern Notting Hill genannt wird, den die halsstarrige Postverwaltung jedoch weiterhin unter North Kensington führt. Gebrauchte Spritzen glitzerten im Rinnstein. Der Halal-Metzger gegenüber schlachtete selbst. Keine nette Gegend, aber von meinem zum Arbeitszimmer umgebauten Dachgeschoss hatte ich einen Blick über den westlichen Teil Londons, der einem Wolkenkratzer keine Schande gemacht hätte: Hausdächer, Güterbahnhöfe, Stadtautobahn und Himmel – ein weiter urbaner Präriehimmel, besprenkelt mit den Lichtern der Flugzeuge im Landeanflug auf Heathrow. Wegen dieser Aussicht hatte ich die Wohnung gekauft, nicht wegen des Gentrifizierungsgewäschs des Immobilienmaklers – was auch gut war, das reiche Bürgertum war in diese Gegend nämlich ebenso wenig zurückgekehrt wie ins Stadtzentrum von Bagdad.

Kate war schon da und schaute sich die Nachrichten an. Kate: Ich hatte ganz vergessen, dass sie heute Abend vorbeikommen wollte. Sie war meine … ? Nie wusste ich, wie ich sie nennen sollte. Sie als meine Freundin zu bezeichnen wäre absurd: Niemand auf der falschen Seite der Dreißig hat eine Freundin. Partnerin traf es auch nicht, da wir nicht unter dem gleichen Dach lebten. Geliebte? Wie sollte man sich bei so einem Wort das Lachen verkneifen? Mätresse? Bin ich von Adel? Verlobte? Sicher nicht. Schätze, ich hätte schon früher bemerken müssen, wie bedenklich es war, dass die menschliche Sprache in vierzigtausend Jahren kein Wort für unsere Beziehung hervorgebracht hatte. (Kate ist übrigens nicht ihr richtiger Name, aber ich sehe keinen Grund, warum sie jetzt noch in all das hineingezogen werden sollte. Jedenfalls passt der Name besser zu ihr als der richtige: Sie sieht aus wie eine Kate, will ich damit sagen – vernünftig, aber frech, mädchenhaft, aber immer bereit, einer von den Jungs zu sein. Sie arbeitet fürs Fernsehen, was aber kein Vorwurf sein soll.)

»Danke für den besorgten Anruf«, sagte ich. »Eigentlich bin ich tot, aber mach dir keinen Kopf deswegen.« Ich küsste sie von oben auf die Haare, ließ die Bücher aufs Sofa fallen und ging in die Küche, um mir einen Whisky zu holen. »Die U-Bahn steht still, komplett. Ich musste den ganzen Weg von Covent Garden laufen.«

»Mein Armer«, hörte ich sie sagen. »Und dann hast du auch noch eingekauft.«

Ich ließ mein Glas bis zum Rand mit Leitungswasser volllaufen, trank es halb aus und füllte es mit Whisky wieder auf. Mir fiel ein, dass ich einen Tisch im Restaurant hätte bestellen sollen. Als ich zurück ins Wohnzimmer ging, zog sie gerade ein Buch nach dem anderen aus der Einkaufstasche. »Was soll das?«, sagte sie und schaute mich an. »Seit wann interessierst du dich für Politik?« Und dann hatte sie erkannt, was gespielt wurde. Sie war schlau – schlauer als ich. Sie wusste, womit ich mein Geld verdiente, sie wusste, dass ich meinen Agenten getroffen hatte, und sie wusste alles über McAra. »Sag jetzt bloß nicht, dass sie dich wollen, um das Buch zu schreiben?« Sie lachte. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Sie versuchte es ins Lächerliche zu ziehen. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Sie sprach es mit einem amerikanischen Akzent aus, ähnlich dem dieses Tennisspielers vor ein paar Jahren. Aber ich sah, dass sie entsetzt war. Sie verabscheute Lang, fühlte sich persönlich von ihm betrogen. Sie war einmal Mitglied der Partei gewesen. Auch das hatte ich vergessen.

»Wahrscheinlich wird sowieso nichts draus«, sagte ich und trank einen Schluck Whisky.

Sie schaute wieder in den Fernseher, nur dass sie jetzt die Arme fest vor dem Bauch verschränkt hatte, was immer ein Warnsignal war. Der Ticker am unteren Bildschirmrand meldete, dass die Opferzahl jetzt bei sieben liege, Tendenz steigend.

»Aber wenn sie dir den Job anbieten, dann machst du es?«, fragte sie, ohne mich anzuschauen.

Eine Antwort darauf wurde mir erspart, da der Nachrichtensprecher ankündigte, sie würden jetzt für eine Stellungnahme des ehemaligen Premierministers live nach New York schalten. Und im nächsten Augenblick sah man Adam Lang an einem Rednerpult mit dem Schriftzug »Waldorf-Astoria« stehen, als hätte er gerade bei einem offiziellen Lunch das Wort ergriffen. »Sie werden alle die tragischen Nachrichten aus London vernommen haben«, sagte er, »wo die Mächte des Fanatismus und der Intoleranz wieder einmal …«

Nichts von dem, was er an jenem Abend von sich gab, verdient es, gedruckt zu werden. Was er sagte, glich fast einer Parodie auf eine Politikerrede nach einer Terrorattacke. Trotzdem: Wenn man ihn beobachtete, hätte man glauben können, die Explosion hätte gerade die eigene Frau und die eigenen Kinder ausgelöscht. Darin lag seine Genialität: die Klischees der Politik durch die schiere Kraft seines Auftritts mit frischem Leben zu erfüllen und auf eine neue Ebene zu heben. Sogar Kate verstummte kurz. Erst als er fertig war und sich das hauptsächlich ältere, weibliche Publikum applaudierend erhob, murmelte sie: »Was macht er eigentlich in New York?«

»Vielleicht Vorträge halten.«

»Warum hält er die nicht hier?«

»Schätze, weil ihm hier niemand für eine Rede hunderttausend Dollar zahlt.«

Sie drehte den Ton ab.

»Es gab mal eine Zeit«, sagte Kate langsam nach einer Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, »da hat man von Herrschern, die ihre Länder in den Krieg geführt haben, erwartet, dass sie in der Schlacht ihr eigenes Leben riskieren – Führen durch Beispiel eben. Heutzutage wird in gepanzerten Limousinen mit bewaffneten Bodyguards gereist und dreitausend Meilen weit weg ein Vermögen kassiert, während wir uns zu Hause mit den Folgen ihrer Taten herumschlagen müssen. Ich verstehe dich einfach nicht.« Dann drehte sie sich um und schaute mich zum ersten Mal an diesem Abend richtig an. »Was ich dir in den letzten paar Jahren nicht alles über ihn erzählt habe, ›Kriegsverbrecher etc., etc.‹, und du hast dagesessen, hast genickt und ja, ja gesagt. Und jetzt schreibst du ihm seine Propagandamemoiren und machst ihm die Taschen noch voller. Hat nichts von alldem dir jemals irgendetwas bedeutet ?«

»Moment mal«, sagte ich. »Das sagt die Richtige. Du bist monatelang hinter ihm her gewesen, um ein Interview zu kriegen. Wo ist da der Unterschied?«

»Wo da der Unterschied ist? Herrgott!« Sie ballte die schlanken weißen Hände, die mir so vertraut waren, und hob sie – halb Klauen, halb Fäuste – verzweifelt in die Höhe. Ihre Armmuskeln traten hervor. »Wo da der Unterschied ist? Wir wollen ihn zur Verantwortung ziehen – das ist der Unterschied! Wir wollen echte Fragen stellen! Über Folter, Bombardierungen, Lügen! Kein ›Was haben Sie dabei gefühlt?‹. Herrgott! Das ist doch alles Zeitverschwendung.«

Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer, um die Tasche zu holen, die sie immer dabeihatte, wenn sie über Nacht bleiben wollte. Ich hörte, wie sie geräuschvoll Lippenstift, Zahnbürste und Parfumspray darin verstaute. Wenn ich jetzt zu ihr ginge, dann könnte ich die Situation noch retten, das wusste ich. Wahrscheinlich rechnete sie damit: Wir hatten schon schlimmere Kräche gehabt. Ich wäre genötigt gewesen einzuräumen, dass sie recht habe, hätte eingestehen müssen, dass ich für den Job ungeeignet sei, und hätte sie in ihrer moralischen und intellektuellen Überlegenheit in dieser Sache wie in allen Dingen bestätigen müssen. Dazu hätte es nicht einmal eines verbalen Geständnisses bedurft: eine bedeutungsvolle Umarmung hätte wahrscheinlich gereicht, um Bewährung zu erwirken. Aber die Wahrheit war, dass ich in diesem Augenblick, vor die Wahl gestellt zwischen einem Abend mit ihren blasierten linken Moralpredigten und der Aussicht auf die Arbeit mit einem sogenannten Kriegsverbrecher, den Kriegsverbrecher vorzog. Also schaute ich einfach weiter in den Fernseher.

Manchmal habe ich einen Albtraum, in dem sich alle Frauen versammeln, mit denen ich jemals geschlafen habe. Die Zahl ist eher respektabel denn riesig – angenommen, es handelte sich um eine Stehparty, dann hätten sie bequem in meinem Wohnzimmer Platz. Und falls, was Gott verhüten möge, diese Zusammenkunft jemals stattfände, dann wäre Kate der unumstrittene Ehrengast. Sie wäre diejenige, der man einen Stuhl holen, deren Glas von mitfühlenden Händen nachgeschenkt und die inmitten von ungläubigen Gesichtern sitzen würde, während man meine moralischen und physischen Makel sezierte. Sie war diejenige, die es am längsten mit mir ausgehalten hatte.

Als sie ging, knallte sie die Tür nicht etwa zu, sondern schloss sie sehr behutsam. Hat Stil, dachte ich. Der Ticker auf dem Bildschirm meldete, dass sich die Opferzahl gerade auf acht erhöht hatte.

ZWEI

»Ein Ghostwriter mit nur laienhaften Kenntnissen über seinen Kunden ist in der Lage, die gleichen Fragen zu stellen wie der laienhafte Leser, und erweitert deshalb den potenziellen Leserkreis eines Buches erheblich.«

»GHOSTWRITER«

Rhinehart Publishing UK bestand aus fünf altehrwürdigen Firmen, die in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts während eines heftigen Anfalls von Konzernkleptomanie zusammengekauft wurden. Aus ihren Dickens’schen Dachstuben in Bloomsbury vertrieben, wurden sie schließlich  – aufgestockt, abgebaut, umstrukturiert, umbenannt, modernisiert und fusioniert – in Hounslow in einem Bürogebäude aus Stahl und Rauchglas abgekippt, dessen Versorgungsleitungen sich an den Außenwänden befanden. Der Bau duckte sich zwischen die Kieselputz-Wohnsiedlungen wie ein verlassenes Raumschiff, das seine Suchmission nach intelligentem Leben ergebnislos abgebrochen hatte.

Mit professioneller Pünktlichkeit traf ich fünf vor zwölf vor dem Gebäude ein und musste feststellen, dass der Haupteingang verschlossen war. Ich musste per Summer um Einlass bitten. Das Schwarze Brett im Foyer informierte über die Terroralarmstufe: ORANGE/HOCH. Durch das dunkle Glas konnte ich sehen, wie mich die Wachmänner in ihrem trüben Aquarium auf dem Monitor begutachteten. Als ich schließlich hineindurfte, musste ich meine Taschen ausleeren und durch einen Metalldetektor gehen.

Quigley erwartete mich an den Aufzügen.

»Wer will denn den Laden hier in die Luft jagen ?«, fragte ich. »Random House?«

»Wir veröffentlichen Langs Memoiren«, erwiderte er mit steifer Stimme. »Das allein reicht wohl, um als Ziel infrage zu kommen. Rick ist schon oben.«

»Wie viele haben Sie schon durch?«

»Fünf. Sie sind der Letzte.«

Ich kannte Roy Quigley ziemlich gut – gut genug, um zu wissen, dass er nichts von mir hielt. Er war etwa fünfzig, groß gewachsen, Tweedträger. In einem glücklicheren Zeitalter hätte er Pfeife geraucht und bei ausgiebigen Lunchs in Soho unbedeutenden Gelehrten winzige Vorschüsse angeboten. Heute bestand sein Mittagsmahl aus einem Plastikteller mit Salat, den er an seinem Schreibtisch mit Blick auf die M 4 einnahm, und seine Anordnungen erhielt er direkt von der Vertriebsleiterin, einem Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Er hatte drei Kinder auf Privatschulen, die er sich nicht leisten konnte. Als Preis des Überlebens hatte er sich tatsächlich genötigt gesehen, ein Interesse an populärer Kultur zu entwickeln, das heißt an Fußballern, Supermodels und Comedians, deren Namen er sorgsam aussprach und deren Gewohnheiten er in der Boulevardpresse mit professoraler Distanz studierte, als gehörten sie einem abseitigen mikronesischen Volksstamm an. Letztes Jahr hatte ich ihm ein Projekt vorgeschlagen: die Memoiren eines Zauberers, der – natürlich! – als Kind missbraucht worden war, sich aber mithilfe seiner Fähigkeiten als Illusionist ein neues Leben hatte heraufbeschwören können, etc., etc. Er hatte die Idee rundweg abgelehnt. Das Buch war direkt auf Platz eins geschossen: Ich kam, sägte und siegte. Der Groll nagte noch heute an ihm.

»Eins vorab«, sagte er, während wir zur Penthouse-Etage hinaufglitten. »Ich glaube nicht, dass Sie der richtige Mann für diesen Auftrag sind.«

»Tja, Roy, der Job ist gut. Was heißt: Ist nicht Ihre Entscheidung.«

Quigleys Status konnte ich ganz genau einschätzen. Sein Titel lautete Cheflektor UK Group, was hieß, dass er die Befugnisse einer toten Katze hatte. Der Mann, der in der globalen Show das Sagen hatte, wartete im Sitzungsraum auf uns: John Maddox, Vorstand der Rhinehart Inc., ein großer New Yorker mit den Schultern eines Kleiderschranks und mit krankheitsbedingter Kahlköpfigkeit. Sein haarloser Schädel glänzte im Neonlicht wie ein poliertes massives Ei. Als junger Mann hatte er sich die Statur eines Ringers antrainiert, um – laut Publishers Weekly – jeden aus dem Fenster zu werfen, der zu lange seine Kopfhaut anstarrte. Ich achtete darauf, dass sich mein Blick nie über seine Superman-Brust hinauswagte. Neben ihm saß Langs Washingtoner Anwalt Sidney Kroll, ein Brillenträger in den Vierzigern mit einem zarten blassen Gesicht und schlaff herabhängendem rabenschwarzem Haar, dessen Händedruck der lascheste war, seit Dippy der Delfin plötzlich aus seinem Becken aufgetaucht war und mich als Zwölfjährigen mit dem Kopf angestupst hatte.

»Und Rick Riccardelli kennen Sie ja«, sagte Quigley und beendete mit einem kaum wahrnehmbaren Schaudern das Vorstellungsprozedere. Mein Agent, der ein glänzendes graues Hemd mit schmaler roter Lederkrawatte trug, zwinkerte mir zu.

»Hallo, Rick«, sagte ich.

Ich war nervös, als ich neben ihm Platz nahm. Die Wände des Raums waren à la Gatsby mit makellos sauberen, ungelesenen Hardcover-Büchern getäfelt. Maddox saß mit dem Rücken zum Fenster. Er legte seine mächtigen, unbehaarten Hände auf die gläserne Tischplatte, als wollte er demonstrieren, dass er noch nicht die Absicht habe, eine Waffe zu ziehen. »Rick hat uns mitgeteilt, dass Sie im Bilde sind und wissen, wonach wir suchen. Vielleicht könnten Sie uns erläutern, was Ihrer Meinung nach gerade Sie zu diesem Projekt beisteuern können.«

»Ahnungslosigkeit«, sagte ich aufgekratzt, was zumindest den Schockeffekt für sich hatte. Bevor jemand reagieren konnte, hob ich zu der kleinen Rede an, die ich mir im Taxi zurechtgelegt hatte. »Sie kennen meine früheren Arbeiten. Es hat keinen Sinn, Ihnen etwas vorspielen zu wollen, was ich nicht bin. Ich werde völlig ehrlich zu Ihnen sein. Ich lese keine politischen Memoiren. Na und?« Ich zuckte die Achseln. »Keiner liest die. Aber das ist ja auch nicht mein Problem.« Ich zeigte auf Maddox. »Das ist Ihr Problem.«

»Bitte«, sagte Quigley leise.

»Und wenn schon ehrlich, dann kann ich auch gleich brutal ehrlich sein«, fuhr ich fort. »Es geht das Gerücht, dass Sie zehn Millionen Dollar für das Buch bezahlt haben. So wie die Sache im Moment steht, was glauben Sie, sehen Sie davon wieder? Zwei Millionen? Drei? Das sind schlechte Nachrichten für Sie, aber besonders schlechte Nachrichten sind das für Ihren Auftraggeber«, sagte ich und schaute Kroll an. »Weil es bei ihm nicht ums Geld geht. Es geht um seinen Ruf. Das Buch ist Adam Langs Chance, sich direkt an die Geschichte zu wenden, die Chance, sein politisches Credo und seine Handlungsweise darzustellen. Das Letzte, was er brauchen kann, ist, ein Buch vorzulegen, das niemand liest. Wie würde das aussehen, wenn seine Lebensgeschichte auf den Ramschtischen landet? Aber dazu muss es ja nicht kommen.«

Im Rückblick ist mir klar, dass ich mich wie ein Marktschreier aufführte. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich dabei um PR-Phrasen in eigener Sache handelte. Und die sollten einem am nächsten Morgen ebenso wenig vorgehalten werden wie mitternächtliche Beteuerungen unsterblicher Liebe im Bett einer Fremden. Kroll lächelte vor sich hin und kritzelte auf einem gelben Notizblock herum. Maddox beobachtete mich scharf. Ich holte Luft.

»Fakt ist: Ein großer Name allein verkauft noch kein Buch«, sagte ich. »Da haben wir alle schon unser Lehrgeld bezahlt. Was ein Buch verkauft – oder einen Film oder Song –, ist Herz.« Ich glaube, ich habe mir in diesem Augenblick sogar auf die linke Brusthälfte geschlagen. »Und das ist der Grund, warum die politische Biografie das schwarze Loch der Buchbranche ist. Der draußen neben dem Eingang angeschlagene Name ist vielleicht eine große Nummer, aber jeder weiß, dass er, wenn er erst einmal Eintritt bezahlt hat und drin ist, immer die gleiche alte ausgelutschte Show vorgesetzt bekommt. Und wer will dafür schon fünfundzwanzig Dollar bezahlen? Da muss Herz rein, und genau damit verdiene ich mein Geld. Und in welcher Geschichte steckt mehr Herz als in der von dem Burschen, der aus dem Nichts kommt und am Ende ein ganzes Land führt?«

Ich beugte mich vor.

»Und das ist der Witz: Die Autobiografie eines politischen Führers müsste doch eigentlich interessanter sein als die meisten anderen Memoiren – und nicht uninteressanter. Deshalb sehe ich meine Ahnungslosigkeit, was Politik angeht, als Vorteil. Um ehrlich zu sein, ich hege und pflege meine Ahnungslosigkeit sogar. Für die politische Seite des Buchs braucht Adam Lang keine Hilfe von mir – er ist ein politisches Genie. Was er meiner bescheidenen Meinung nach braucht, ist das Gleiche, was ein Filmstar braucht oder ein Baseballspieler oder ein Rockstar: einen erfahrenen Mitarbeiter, der weiß, wie man ihm die Fragen stellt, die sein Herz öffnen.«

Stille. Ich zitterte. Rick tätschelte mir unter dem Tisch aufmunternd das Knie. Gut gemacht.

»So ein Bockmist«, sagte Quigley.

»Finden Sie?«, fragte Maddox, ohne mich aus den Augen zu lassen. Seine Stimme klang neutral, aber wenn ich Quigley gewesen wäre, hätte auf meinem Schirm GEFAHR! aufgeleuchtet.

»Ja, was denn sonst«, sagte Quigley mit der herablassenden Verachtung von vier Generationen Privatschule im Rücken. »Adam Lang ist eine historische Persönlichkeit von Weltrang, und seine Autobiografie wird ein verlegerisches Ereignis von Weltrang. Ein Stück Geschichte, genau genommen. Das sollte man nicht angehen wie ein …« Er suchte nach einer passenden Analogie, fand aber nichts sonderlich Spritziges. »… wie ein Feature für ein Klatschmagazin.«

Wieder Stille. Auf der Stadtautobahn jenseits der getönten Scheiben staute sich der Verkehr. Der Regen verzerrte die Scheinwerferlichter der stehenden Wagen. London hatte nach der Bombe immer noch nicht zur Normalität zurückgefunden.

»Wenn ich das richtig sehe«, sagte Maddox mit unverändert schleppender, ruhiger Stimme, die großen rosigen Mannequinhände lagen immer noch auf dem Tisch, »dann häufen sich bei uns in den Lagern die ›verlegerischen Ereignisse von Weltrang‹ stapelweise an, aber irgendwie kann ich sie nicht losschlagen. Und diese Promi-Magazine, die verschlingen die Leute. Was meinen Sie, Sid?«

Ein paar Sekunden lang lächelte und kritzelte Kroll einfach weiter. Ich fragte mich, was er so lustig fand. »Adams Standpunkt ist da ganz einfach«, sagte er schließlich. (Adam: Er warf den Namen so lässig in die Runde wie einen Penny in eine Bettlermütze.) »Er nimmt dieses Buch sehr ernst – es ist sein Testament, wenn Sie so wollen. Er will seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen. Und er will, dass es ein kommerzieller Erfolg wird. Deshalb schätzt er sich mehr als glücklich – innerhalb gewisser Grenzen –, Ihrem Rat, John, und auch dem von Marty, zu folgen. Natürlich ist er immer noch völlig durcheinander wegen dem, was Mike zugestoßen ist. Er ist unersetzlich.«

»Natürlich.« Wir gaben alle angemessene Geräusche von uns.

»Er ist nicht zu ersetzen«, fuhr er fort. »Und dennoch – er muss ersetzt werden.« Er schaute auf, offensichtlich befriedigt von seinem Wortspiel. In diesem Augenblick wusste ich, dass diese Welt keinen Schrecken bereithielt, weder Krieg, Völkermord, Kinderkrebs noch Hungersnot, dem Sidney Kroll nicht die komische Seite abgewinnen würde. »Adam wird sicherlich die Vorteile zu schätzen wissen, die ein vollkommen anderer Ansatz bewirken könnte. Am Ende hängt alles von der persönlichen Chemie ab.« Das Licht der Neonröhren funkelte in seinen Brillengläsern, während er mich eingehend musterte. »Betreiben Sie Fitnesstraining?« Ich schüttelte den Kopf. »Schade. Adam trainiert gern.«

Quigley, der immer noch unter Maddox’ Abfuhr wankte, versuchte ein Comeback. »Ich kenne da einen guten Schreiber beim Guardian, der regelmäßig Sport macht.«

»Vielleicht«, sagte Rick nach einer peinlichen Pause, »sollten wir mal kurz durchgehen, wie Sie sich die ganze Angelegenheit praktisch vorstellen.«

»Zunächst mal muss die Sache in einem Monat erledigt sein«, sagte Maddox. »Das ist Martys und auch meine Meinung.«

»Ein Monat?«, wiederholte ich. »Sie wollen ein Buch in einem Monat?«

»Wir haben ein vollständiges Manuskript«, sagte Kroll. »Es braucht nur noch den Feinschliff.«

»Grobschliff«, sagte Maddox grimmig. »Also gut, gehen wir die Sache mal von hinten an: Wir kommen im Juni raus, das heißt, wir liefern im Mai aus, das heißt, wir lektorieren und drucken im März und April, das heißt, wir müssen das Manuskript Ende Februar auf dem Tisch haben. Die Deutschen, Franzosen, Italiener und Spanier müssen sofort mit der Übersetzung anfangen. Die Zeitungen müssen wegen der Vorabdrucke einen Blick drauf werfen können. Der TV-Deal wegen der Verfilmung muss durchgezogen werden. Die Termine für die PR-Tour müssen festgezurrt werden, und wir müssen die Präsentationsflächen in den Läden buchen. Also: Ende Februar, basta. Was mir an Ihrem Lebenslauf gefällt«, sagte er und schaute auf ein Blatt Papier, das, wie ich erkennen konnte, alle meine bisherigen Titel auflistete, »ist, dass Sie offensichtlich Erfahrung haben, und vor allem, dass Sie schnell sind. Sie liefern pünktlich.«

»Hat noch keinen Termin geschmissen«, sagte Rick, legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich. »Ganz mein Junge.«

»Und Sie sind Engländer. Der Ghost muss definitiv Engländer sein. Damit der Ton stimmt.«

»Das ist auch unsere Meinung«, sagte Kroll. »Aber die gesamte Arbeit muss in den Staaten erledigt werden. Adams Kalender ist im Moment randvoll mit Terminen für die Vortragsreise und die Fundraising-Tour für seine Stiftung. Kann mir nicht vorstellen, dass er vor Mitte März, frühestens, wieder in England sein kann.«

»Ein Monat Amerika, ist doch nicht schlecht, oder?« Rick schaute mich gierig an. Ich spürte den hypnotischen Blick, der mir das Ja entlocken wollte. Aber ich konnte nur an eines denken: Ein Monat, sie wollen, dass ich in einem Monat ein ganzes Buch schreibe …

Ich nickte langsam. »Ich kann ja das Manuskript mit nach England nehmen, um hier dran zu arbeiten.«

»Das Manuskript bleibt in Amerika«, sagte Kroll kategorisch. »Das ist einer der Gründe, warum Marty sein Haus auf Martha’s Vineyard zur Verfügung gestellt hat. Sicheres Terrain. Nur wenige Leute haben Zutritt.«

»Klingt mehr nach einer Bombe als nach einem Buch«, witzelte Quigley. Niemand lachte. Er knetete sich unglücklich die Hände. »Ich muss ja irgendwann auch noch einen Blick drauf werfen. Schließlich soll ich es lektorieren.«

»Theoretisch ja«, sagte Maddox. »Darüber müssen wir später noch reden.« Er wandte sich an Kroll. »In unserem Fahrplan ist keine Zeit für Korrekturen, die müssen während des Schreibens erledigt werden.«

Während sie weiter über den Zeitplan diskutierten, beobachtete ich Quigley. Er saß aufrecht, aber regungslos auf seinem Stuhl – wie eines von diesen Opfern in einem Film, die inmitten einer Menschenmenge mit einem Stilett im Rücken dastehen und sterben, ohne dass es jemandem auffällt. Kaum sichtbar öffnete und schloss sich sein Mund, als versuchte er, noch eine letzte Botschaft loszuwerden. Allerdings erkannte ich schon damals, dass er eine völlig berechtigte Frage gestellt hatte. Wenn er der Lektor war, warum durfte er dann das Manuskript nicht sehen? Und warum musste es auf »sicherem Terrain« bleiben, auf einer Insel vor der Ostküste der USA? Erst als Rick mich mit dem Ellbogen in die Rippen stieß, merkte ich, dass Maddox wieder mit mir redete.

»Wie schnell können Sie drüben sein? Gesetzt den Fall, wir entscheiden uns für Sie und gegen einen von den anderen – wie schnell können Sie von hier weg?«

»Heute ist Freitag«, sagte ich. »Geben Sie mir einen Tag, dann bin ich startklar. Am Sonntag könnte ich fliegen.«

»Und am Montag anfangen? Das wäre hervorragend.«

»Sie werden niemanden finden, der sich schneller loseisen kann«, sagte Rick.

Maddox und Kroll schauten sich an, und da wusste ich, dass ich den Job hatte. Wie Rick mir hinterher erklärte, bestehe der Trick immer darin, sich in ihre Lage zu versetzen. »Ist das Gleiche, als wenn sich eine neue Putzfrau bei dir vorstellt. Willst du jemanden, der dich über die Geschichte und die Theorie des Saubermachens aufklärt, oder willst du jemanden, der einfach loslegt und deine Scheißbude sauber macht? Die haben dich genommen, weil sie glauben, dass du ihre Scheißbude sauber machst.«

»Okay, Sie haben den Job«, sagte Maddox. Er stand auf, griff über den Tisch und schüttelte mir die Hand. »Vorbehaltlich einer zufriedenstellenden Übereinkunft mit Rick, klar.«

Kroll fügte hinzu: »Und Sie müssen eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben.«

»Kein Problem«, sagte ich und stand ebenfalls auf. Vertraulichkeitsklauseln gehören zum üblichen Prozedere im Ghostwriter-Geschäft. »Mit dem größten Vergnügen.«

Mit dem allergrößten Vergnügen sogar. Außer Quigley lächelten alle, es herrschte plötzlich eine Art kumpelhafter Stimmung – wie im Umkleideraum nach einem Sieg. Und während wir noch etwas plauderten, nahm mich Kroll beiseite und sagte beiläufig: »Ich habe hier noch etwas, das Sie sich vielleicht anschauen möchten.«

Er griff unter den Tisch und zog eine leuchtend gelbe Plastiktüte hervor, auf der in geschwungenen schwarzen Lettern im Kupferstichlook der Name eines noblen Bekleidungsgeschäfts aus Washington prangte. Mein erster Gedanke war, dass es sich um das Manuskript von Langs Memoiren handelte und das ganze Gerede über das »sichere Terrain« ein Witz gewesen war. Als Kroll meinen Gesichtsausdruck sah, fing er an zu lachen und sagte: »Nein, nein, nicht das. Es ist das Manuskript eines anderen Autors. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mal einen Blick reinwerfen könnten. Hier ist meine Nummer.« Ich nahm die Karte und schob sie in die Tasche. Quigley hatte noch immer kein Wort gesagt.

»Ich ruf dich dann an, wenn wir den Vertrag unter Dach und Fach haben«, sagte Rick.

»Ich will sie winseln sehen«, sagte ich zu Rick und drückte ihm die Schulter.

Maddox lachte. »Und he, nicht vergessen!«, rief er, als Quigley mich zur Tür begleitete. Er schlug sich mit seiner großen Faust auf die blaue Anzugbrust. »Herz!«

Während wir nach unten fuhren, schaute Quigley an die Decke der Aufzugkabine. »Hab ich mir das nur eingebildet, oder haben die mich gerade gefeuert?«

»Die würden sich nie von Ihnen trennen, Roy«, sagte ich mit aller Aufrichtigkeit, zu der ich fähig war. Was nicht viel war. »Sie sind der Einzige, der den ganzen Laden zusammenhält.«

»Trennen«, sagte er bitter. »Das ist der Euphemismus, den man heutzutage benutzt, richtig? Als täte es ihnen in der Seele weh. Du klammerst dich am Klippenrand fest, und jemand sagt: ›So leid es uns tut, wir hätten Sie gern gehalten, aber wir müssen uns leider von Ihnen trennen.‹«

Im vierten Stock stieg ein Paar zu, und Quigley schwieg, bis die beiden im zweiten Stock ausstiegen und zum Lunch ins Restaurant verschwanden. Als die Tür sich wieder schloss, sagte er: »Irgendwas stimmt an dem Projekt nicht.«

»Sie meinen mich?«

»Nein, nein, schon vorher.« Er runzelte die Stirn. »Ich kann nicht genau sagen, was. Fängt damit an, dass niemand irgendwas zu sehen bekommt. Und dann dieser Kroll, bei dem kriege ich eine Gänsehaut. Dann natürlich die Geschichte mit dem bedauernswerten Mike McAra. Ich habe ihn kennengelernt, als wir vor zwei Jahren den Vertrag abgeschlossen haben. Kam mir ganz und gar nicht wie der selbstmordgefährdete Typ vor. Ganz im Gegenteil. Der war eher von der Sorte, die darauf spezialisiert ist, andere in den Selbstmord zu treiben. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Der harte Typ?«

»Hart, genau. Lang lächelt die ganze Zeit, und neben ihm steht dieser Schlägertyp mit den Augen einer Schlange. Ich nehme an, Leute in Langs Position brauchen solche Kerle.«

Der Lift hielt im Erdgeschoss, und wir betraten die Lobby. »Es kommt sicher gleich ein Taxi«, sagte Quigley.

Für diese kleine, schäbige Geste – mich durch den Regen laufen zu lassen, anstatt mir auf Verlagskosten ein Taxi zu rufen – wünschte ich ihm die Pest an den Hals.

»Eins würde ich noch gern wissen«, sagte er plötzlich. »Wann ist Dummheit eigentlich in Mode gekommen? Das ist etwas, was ich wirklich nicht verstehe. Der Kult des Idioten. Der Aufstieg des Schwachkopfs. Unsere beiden auflagenstärksten Autoren – die Schauspielerin mit den Titten und der psychopathische Exsoldat – haben nie ein Wort Prosa geschrieben. Haben Sie das gewusst?«

»Roy, Sie hören sich an wie ein alter Mann«, sagte ich. »Dass das Niveau immer niedriger wird und es mit den Prinzipien den Bach runtergeht, darüber jammern die Menschen schon, seit Shakespeare seine ersten Komödien geschrieben hat.«

»Ja, sicher, aber jetzt ist es tatsächlich passiert, oder etwa nicht? So schlimm war es noch nie.«

Ich wusste, dass er mich provozieren wollte – der Ghostwriter der Stars schreibt jetzt die Memoiren eines Expremierministers – , aber ich war so von mir eingenommen, dass es mir egal war. Ich wünschte ihm einen angenehmen Ruhestand und durchquerte die Lobby, wobei ich die verdammte gelbe Plastiktüte hin und her schwang.

Auf der Suche nach einem Taxi, das mich zurück in die Stadt bringen würde, lief ich bestimmt eine halbe Stunde durch die Gegend. Ich hatte nur eine sehr ungefähre Vorstellung davon, wo ich war. Die Straßen waren breit, die Häuser klein. Es fiel ein steter, kalter Nieselregen. Von Krolls Manuskript tat mir der Arm weh. Nach dem Gewicht zu urteilen, musste es mindestens tausend Seiten umfassen. Wer war Krolls Autor? Tolstoi? Im Wartehäuschen einer Bushaltestelle, die sich vor einem Gemüseladen und einem Leichenbestatter befand, stellte ich mich unter. Im Metallgestänge klemmte die Karte einer Minicab-Firma.

Die Fahrt nach Hause dauerte fast eine Stunde, reichlich Zeit also, mir das Manuskript genauer anzuschauen. Das Buch hieß Einer aus vielen. Es waren die Memoiren eines steinalten US-Senators, der nur deshalb berühmt war, weil er ungefähr hundertfünfzig Jahre durchgehalten hatte. Das Werk sprengte jeden normalen Maßstab an Weitschweifigkeit – es schoss weit über jeden Begriff von Langeweile hinaus in eine sauerstoffarme Stratosphäre von äußerster Nichtigkeit. Der Wagen war überheizt, und es roch nach kalter Pizza. Mir wurde schlecht. Ich stopfte das Manuskript wieder in die Tüte und kurbelte das Fenster herunter. Der Fahrpreis betrug vierzig Pfund.

Ich hatte gerade den Fahrer bezahlt und ging – den Kopf wegen des Regens gesenkt, während ich in der Jackentasche nach den Schlüsseln kramte – auf die Haustür zu, da berührte mich jemand leicht an der Schulter. Ich drehte mich um und stieß gegen eine Wand oder wurde von einem Laster gestreift – so kam es mir jedenfalls vor. Irgendetwas großes Hartes aus Eisen rammte mich und warf mich nach hinten, in die Arme eines anderen Mannes. (Man erzählte mir hinterher, dass es zwei waren, beide in den Zwanzigern. Einer habe sich vor dem Eingang zur Erdgeschosswohnung herumgedrückt, der andere sei aus dem Nichts aufgetaucht und habe mich von hinten gepackt.) Ich klappte zusammen, spürte das sandig-nasse Pflaster des Rinnsteins an meiner Backe, keuchte, saugte und schrie wie ein Baby. Meine Finger mussten sich unwillkürlich fest in der Plastiktüte verkrallt haben. Als nämlich ein Fuß auf meine Hand trat und etwas weggerissen wurde, nahm ich durch den viel größeren Schmerz hindurch diesen kleineren, schärferen Schmerz wahr – wie den Klang einer Flöte in einer Sinfonie.

Sicher eines der unangemessensten Worte unserer Sprache ist das Wort »kurzatmig«, das etwas Leichtes, Flüchtiges suggeriert – einen Hauch, einen Anflug von Atemlosigkeit. Aber ich war nicht kurzatmig gewesen. Man hatte mich durchgeprügelt und durchgewalkt und halb erstickt, zu Boden geschlagen und erniedrigt. Mein Solarplexus fühlte sich an, als steckte ein Messer drin. Ich japste nach Luft und war davon überzeugt, dass man mich niedergestochen hatte. Ich spürte, wie man mich an den Armen packte und in eine sitzende Position hievte. Man lehnte mich gegen einen Baum, dessen Rinde mir ins Rückgrat stach, und als ich es schließlich schaffte, mir etwas Sauerstoff in die Lunge zu pumpen, fing ich sofort an, meinen Bauch blind nach einer klaffenden Wunde abzutasten. Ich wusste, dass sie da sein musste, und ich stellte mir vor, dass mir die Eingeweide in Knäueln heraushingen. Aber als ich meine feuchten Finger inspizierte, war da kein Blut, sondern nur dreckiges Londoner Regenwasser. Es dauerte vielleicht eine Minute, bis mir bewusst wurde, dass ich nicht sterben würde, dass ich im Wesentlichen unversehrt war. Und dann wollte ich nur noch, dass sie mich in Ruhe ließen, all diese gutherzigen Menschen, die um mich herumstanden und ihre Handys zückten und mich fragten, ob sie die Polizei oder einen Krankenwagen rufen sollten.

Die prickelnde Aussicht, auf einer Unfallstation zehn Stunden darauf zu warten, bis man mich untersuchte, gefolgt von einem halben Tag auf einem Polizeirevier, bis man meine Aussage aufnahm, reichte aus, um mich aus dem Rinnstein die Treppe hinauf in meine Wohnung zu treiben. Ich schloss die Tür hinter mir, zerrte mir den Mantel vom Leib und legte mich zitternd aufs Sofa. Dort blieb ich vielleicht eine Stunde lang still liegen, während die kalten Schatten des Januarnachmittags nach und nach ins Zimmer krochen. Dann ging ich in die Küche, um mich ins Spülbecken zu übergeben, und nachdem ich das erledigt hatte, goss ich mir einen sehr großen Whisky ein.

Ich spürte, wie ich mich aus meinem Schockzustand heraus in Richtung Euphorie bewegte. Man kann sogar sagen, der Tropfen Alkohol stimmte mich ausgesprochen heiter. Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und dann an mein Handgelenk: Brieftasche und Uhr waren noch da. Das Einzige, was fehlte, war die gelbe Plastiktasche mit Senator Alzheimers Memoiren. Ich musste laut lachen bei der Vorstellung, wie die Diebe durch die Ladbroke Grove liefen, sich dann in irgendeine Gasse drückten und ihre Beute begutachteten : »Mein Rat an jeden jungen Menschen, der heutzutage eine Laufbahn im öffentlichen Leben …« Aber erst als ich meinen zweiten Drink intus hatte, wurde mir klar, dass die Geschichte unangenehm werden könnte. »Old Alzheimer« mochte für mich völlig bedeutungslos sein, aber Sidney Kroll war da vielleicht ganz anderer Meinung.

Ich zog seine Karte aus der Tasche. Sidney L. Kroll von Brinkerhof Lombardi Kroll, Rechtsanwälte, M Street, Washington D.C. Ich dachte etwa zehn Minuten lang nach, ging dann zurück zum Sofa, setzte mich und wählte seine Handynummer. Er antwortete nach dem zweiten Klingeln: »Sid Kroll.«

An seinem Tonfall erkannte ich, dass er lächelte.

»Sidney.« Ich wollte ungezwungen klingen, deshalb sprach ich ihn mit seinem Vornamen an. »Sie werden nicht glauben, was passiert ist.«

»Irgendwelche Typen haben mein Manuskript gestohlen, richtig?«

Eine Augenblick lang war ich sprachlos. »Gott«, sagte ich. »Gibt’s irgendwas, was Sie nicht wissen?«

»Was?« Sein Ton änderte sich schlagartig. »O Mann«, sagte er. »Das war ein Witz. Stimmt das etwa wirklich? Sind Sie okay? Wo sind Sie jetzt?«

Ich erzählte ihm, was passiert war. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Das Manuskript sei völlig unwichtig. Er habe es mir nur deshalb gegeben, weil er glaubte, ich könne vielleicht ein berufliches Interesse daran haben. Er werde mir eine Kopie schicken. Was ich jetzt tun wolle? Die Polizei verständigen? Wenn er wolle, sagte ich, würde ich Anzeige erstatten, aber was mich angehe, die Einschaltung der Polizei mache normalerweise mehr Scherereien als nötig. Ich würde es lieber als eine weitere Episode auf dem bunten Karussell des urbanen Lebens abhaken: »Immer nach dem Motto, que será, será, heute in die Luft gesprengt, morgen ausgeraubt.«

Er war einverstanden. »Unser Treffen heute war mir wirklich ein Vergnügen. Schön, dass Sie an Bord sind. Cheerio«, sagte er, kurz bevor er auflegte, und wieder war da dieses Lächeln in seiner Stimme. Cheerio.

Ich ging ins Bad und knöpfte mir das Hemd auf. Zwischen Bauch und Brustkorb zeichnete sich ein waagerechter blassroter Striemen ab. Er war etwa sieben, acht Zentimeter lang, etwa einen Zentimeter breit und hatte merkwürdigerweise scharfe Ränder. Das stammt nicht von Fleisch und Knochen, dachte ich. Sieht mehr nach einem Schlagring aus. Mir wurde wieder mulmig, und ich ging zurück zum Sofa.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Es war Rick. Er sagte, dass der Vertrag unter Dach und Fach sei. »Was ist los?«, unterbrach er sich selbst. »Du hörst dich irgendwie komisch an.«

»Man hat mich gerade überfallen.«

»Nein!«

Ich erzählte ihm die Geschichte. Rick gab angemessen mitfühlende Geräusche von sich, bis er erfahren hatte, dass ich fit genug zum Arbeiten war. Daraufhin wich die Besorgnis aus seiner Stimme. So schnell er konnte, brachte er das Gespräch auf das Thema, das ihn wirklich interessierte.

»Dann bleibt’s also dabei? Du fliegst am Sonntag in die Staaten?«

»Klar flieg ich. Ich stehe ein bisschen unter Schock, das ist alles.«

»Okay. Und hier gleich der nächste Schock. Für einen Monat Arbeit, an einem vermutlich schon geschriebenen Manuskript, ist Rhinehart Incorporated bereit, zweihundertfünfzigtausend Dollar zu zahlen, plus Spesen.«

»Was?«

Wenn ich nicht schon auf dem Sofa gesessen hätte, wäre ich draufgefallen. Es heißt, jeder Mensch habe seinen Preis. Eine Viertelmillion Dollar für vier Wochen war etwa das Zehnfache von meinem.

»Die überweisen in den nächsten vier Wochen jede Woche fünfzigtausend Dollar«, sagte Rick. »Plus einen Bonus von fünfzigtausend, wenn du den Job pünktlich erledigst. Flugtickets und Unterkunft gehen ebenfalls aufs Haus. Und dein Name wird erwähnt.«

»Auf der Titelseite?«

»Jetzt mach mal ’nen Punkt! In den Danksagungen. In der Fachpresse wird das zur Kenntnis genommen. Dafür sorge ich schon. Allerdings ist deine Mitarbeit bis dahin streng vertraulich. Bei dem Punkt waren sie sehr bestimmt.« Ich hörte sein stillvergnügtes Glucksen und stellte mir vor, wie er sich in seinem Sessel zurücklehnte. »Ach ja, mein Junge, da eröffnet sich eine ganz neue Welt für dich!«

Wie recht er haben sollte.

DREI

»Sollten Sie extrem schüchtern sein, oder sollte es Ihnen schwerfallen, andere Menschen in eine entspannte und selbstbewusste Stimmung zu versetzen, dann sollten Sie vielleicht die Finger vom Beruf des Ghostwriters lassen.«

»GHOSTWRITER«