Ghostwriter - Jesko Wilke - E-Book

Ghostwriter E-Book

Jesko Wilke

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Beschreibung

Kein Bier vor vier und keine Leiche ohne Eis... Alle wollen nur das eine: Geld! Die Ex-Frau, die Kinder, der Vermieter, sogar der Kneipenwirt streicht ihm den Kredit: Volkmar Vogt, genannt Volvo, ist als Autor gescheitert. Sein Konto ist leer. Im Gegensatz zu Volvo ist Kurt Kalinski Starautor. Und tot. Ein großes Problem für seinen Literaturagenten Möller, denn der neue Roman ist noch nicht fertig. Viel Geld steht auf dem Spiel. Da kommt Möller die rettende Idee: Keiner erfährt vom Ableben Kalinskis, Volvo beendet den Roman. Bald hat der sympathische Chaot Ärger am Hals: ein sperriges Manuskript, einen störrischen Hund und eine Leiche in der Kühltruhe... «Diesen Stoff darf eigentlich nur Tarantino verfilmen.» (Rüdiger Barth, stern)

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Jesko Wilke

Ghostwriter

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Kein Bier vor vier und keine Leiche ohne Eis …

Alle wollen nur das eine: Geld! Die Ex-Frau, die Kinder, der Vermieter, sogar der Kneipenwirt streicht ihm den Kredit: Volkmar Vogt, genannt Volvo, ist als Autor gescheitert. Sein Konto ist leer. Im Gegensatz zu Volvo ist Kurt Kalinski Starautor. Und tot. Ein großes Problem für seinen Literaturagenten Möller, denn der neue Roman ist noch nicht fertig. Viel Geld steht auf dem Spiel. Da kommt Möller die rettende Idee: Keiner erfährt vom Ableben Kalinskis, Volvo beendet den Roman. Bald hat der sympathische Chaot Ärger am Hals: ein sperriges Manuskript, einen störrischen Hund und eine Leiche in der Kühltruhe …

 

«Diesen Stoff darf eigentlich nur Tarantino verfilmen.» (Rüdiger Barth, stern)

Vita

Jesko Wilke, 1959 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Kunsttherapie und Kunstpädagogik. Danach war er einige Jahre in sozialen Einrichtungen tätig. Anschließend arbeitete er für die Verlagsgruppe Milchstraße. Seit 2002 ist er Sachbuchautor und freier Journalist und schreibt für verschiedene Magazine. Jesko Wilke hat zwei erwachsene Kinder, er lebt mit Frau und Hund südlich von Hamburg. «Ghostwriter» ist sein erster Roman.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2012

Covergestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Coverabbildung Dennis Galante/Corbis; Ada Summer/Corbis

ISBN 978-3-644-47601-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Dörte

Kapitel 1

Die einzige Konstante in meinem Leben war ein in die Jahre gekommener Exrocker namens Carlo, den ich dafür bezahlte, dass ich ihn jederzeit unangemeldet vollquatschen durfte. Aus praktischen Gründen trafen wir uns stets bei ihm. Sein Mobiliar ermöglichte einen Aufenthalt in angenehm erhöhter Sitzposition. Außerdem hielt mein Gastgeber größere Mengen jenes Erfrischungsgetränkes bereit, das ich zur Deckung meines Flüssigkeitsbedarfs bevozzugte. Aus Kostengründen musste ich mir diesen Service allerdings mit ein paar Bewohnern meines Viertels teilen. Und wenn es mit meinen Finanzen weiter bergab ging, würde ich mir auch diesen kleinen Luxus bald nicht mehr leisten können. Es war mir nämlich gelungen, den Abwärtstrend umzukehren – in einen Steil-Abwärtstrend!

Carlo stellte ein frischgezapftes Pils vor mir auf den Tresen und sagte: «Wohl bekomm’s.»

Ich hatte ihm gerade anvertraut, dass meine Exfrau mich mit bizarren Forderungen konfrontierte. Beate trug den schwarzen Gürtel im Über-den-Tisch-Ziehen, und mich hatte sie zu ihrem bevorzugten Sparringspartner gemacht.

«Du sollst für ihren Seelenklempner blechen?»

Ich würde für jede Schraube zahlen, die einer bei ihr festzog. Doch Beates Therapeutin tat genau das Gegenteil.

«Außerdem unterstellt sie mir ständig, dass ich horrende Einnahmen vor ihr und ihrem Rechtsbeistand verberge.»

«Du und horrende Einnahmen, nicht zu fassen!», entrüstete sich Carlo.

«Nicht zu fassen», wiederholte ich, etwas unsicher, ob ich diese Form des Zuspruchs gutheißen sollte. Carlo polierte an einem Weinglas herum und stellte es in ein Regal. Anschließend beugte er sich ein Stück über den Tresen und fragte:

«Schon mal was vom Sandwich-Test gehört?»

«Sandwich-Test?», wiederholte ich einigermaßen irritiert.

«Den hättest du mit Beate machen sollen. Also bevor du sie geheiratet hast, meine ich.»

Ich wollte gerade nachhaken, was mein Servicemann mit diesem ominösen Test meinte, als sich in meiner Stammkneipe eine merkwürdige Szene abspielte. Die Tür flog auf, und Tieschen kam in das Lokal gestolpert. Er war auf den drei Stufen, die in den Gastraum führten, schwer ins Straucheln geraten und fast hingeknallt. Dann hatte er sich aber doch noch gefangen und schien den unverhofften Schwung nutzen zu wollen, um eine absurde Vorstellung zu geben. Die Vogelscheuche mit dem löchrigen Mantel und der wirren Kopfbehaarung war genau vor dem Tresen zum Stehen gekommen und krächzte auf einmal: «Überfall!» Sie schwankte merklich, bis ihre Hand an einem imaginären Griff Halt zu finden schien. Ihr flackernder Blick streifte weiter durch die Kneipe.

Tieschen war der Obdachlose unseres Viertels. Jeder im Raum kannte ihn. Normalerweise diente ihm ein zerknitterter Pappbecher als Erwerbsquelle, doch heute fuchtelte er völlig irre mit einer Schusswaffe in der Luft herum. Jetzt richtete er die Kanone auf Carlo.

Oha, dachte ich, das gibt Ärger. Das Teil sah nämlich verdammt echt aus, zu echt jedenfalls, um als Scherz durchzugehen. Dann knallte es auch schon. Es war das Geräusch, das Carlos Handrücken in Tieschens Gesicht machte, als er blitzschnell hinter dem Tresen vorgeschossen kam. Eine seiner Pranken hatte sich die Waffe gegriffen, die andere den Schlag ausgeteilt. Tieschen fand sich auf dem Fußboden wieder. Sein Nasenblut lief zweispurig über Mund und Kinn.

Carlo sagte: «Mach das nie wieder», und reichte mir einen Stapel Papierservietten, die ich an die Vogelscheuche weiterleitete.

«Tut mir leid», näselte Tieschen, und das Papier färbte sich rot, «hab mich in der Tür geirrt.»

Die Eckkneipe wurde von einer esoterischen Buchhandlung und einem uralten Schusterladen gesäumt, dessen Betreiber ausschließlich Reparaturen annahm. Als ich aufschaute, bediente Carlo bereits wieder seine Zapfstelle. Mein Blick fiel auf die Pistole. Sie lag vor mir auf dem Tresen, direkt neben meinem Glas. Ich trank aus und betrachtete die Waffe genauer.

«So ’ne blöde Knarre ist das Letzte, was ich in meinem Laden haben will», knurrte Carlo und tauschte mein leeres Glas gegen ein volles. Dann nahm er das Teil noch einmal in die Hand. Er zog das Magazin heraus, warf einen Blick darauf und schob es wieder an seinen Platz. «Und dieses Scheiß-Spielzeug schon gar nicht. Ist doch nur ’ne Schreckschusswumme. Tu mir einen Gefallen», bat er, in meine Richtung nickend, «und steck das blöde Ding ein.»

Das blöde Ding war ziemlich schwer und lag entsprechend gut in der Hand, fand ich und zielte auf Tieschen: «Peng!», sagte ich, doch er reagierte nicht auf seine Exekution. Immerhin stand er inzwischen wieder und näherte sich zögernd dem Bier, das Carlo ihm auf den Tresen gestellt hatte. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Er griff nach dem Glas, umfasste es mit beiden Händen und trank es in einem Zug leer.

«Und jetzt verpiss dich, du Blödmann», zischte Carlo mit einem Blick, der jeden Widerspruch ausschloss. Dann registrierte er, dass ich immer noch mit der Kanone herumhantierte. Ein Schriftzug wies sie als Walther P99 aus. Carlo war ein geduldiger Mensch, doch es wäre ein fataler Fehler, das als Phlegma misszuverstehen. Jeder hier wusste das. Also steckte ich die Pistole in meine Manteltasche und schaute zu Tieschen rüber, der im Weggehen vor sich hin brabbelte. Es klang wie eine Protesttirade, die jedoch unverständlich blieb. Also widmete ich mich wieder meinem Bier und meinen eigenen Problemen.

 

Seit Monaten versuchte ich vergeblich, einen Verlag zu finden, der meinen Roman drucken würde, außerdem war ich total pleite. Wenn ich nicht bald ein paar tausend Euro auftreiben würde, sähe es finster aus – kurz vor Hartz IV sozusagen. Ich war bereits mit drei Monatsmieten im Rückstand und hatte am Morgen ein Schreiben zugestellt bekommen, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ankündigung einer Räumungsklage enthielt. Ich hatte das Kuvert in der Schublade mit den übrigen ungeöffneten Briefen verschwinden lassen, denen vom Anwalt meiner Exfrau, von meinem Kreditinstitut, sowie den Telefon-, Gas- und Stromrechnungen.

In den letzten zwei Jahren war nicht viel reingekommen. Wie auch? Ich hatte ja an meinem Roman geschrieben. Anschließend hatte ich das Manuskript in einem Copyshop vervielfältigen lassen und an etwa zehn große Verlagshäuser verschickt. Monatelang passierte gar nichts, dann trudelten nach und nach die Absagen ein. Daraufhin machte ich fünfzehn weitere Kopien und wandte mich damit an die kleineren Verlage – das gleiche Spiel. Immer nur Absagen, Standardschreiben, die verrieten, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, sich ernsthaft mit meinem Roman zu befassen.

Zum Schluss hatte ich mich an eine Literaturagentur gewandt. Doch auch das Engagement meines rührigen Agenten führte zu keinem erkennbaren Erfolg. Vor ein paar Tagen hatte ich Robert Möller so lange gelöchert, bis er mir den Namen eines befreundeten Lektors verriet, der das Buch ebenfalls abgelehnt hatte, ein gewisser Herr Kauder. Ich plante, dem Mann alsbald einen kleinen Besuch abzustatten, nur um mir zu beweisen, dass auch er es nicht gelesen hatte. Möller selbst, da war ich mir ganz sicher, hatte sich auch nicht weiter damit beschäftigt. Niemand hatte es gelesen, NIEMAND AUF DER GANZEN WELT!

 

«Wie war das mit diesem Sandwich-Test?», versuchte ich den Faden wieder aufzunehmen. Doch Carlo winkte ab.

«Vergiss es, ist ja eh zu spät. Überleg dir lieber mal, wie du deine finanziellen Probleme in den Griff kriegen willst. Du weißt ja, ich geb meinen Stammkunden gern Kredit, aber einmal im Monat muss was zurückfließen, sonst haut das auf Dauer nicht hin.»

Mit diesen Worten hatte Carlo ein frisches Pils vor mir abgestellt und verzierte meinen Deckel mit einem weiteren Strich.

«Scheiße, mir wird schon noch was einfallen», maulte ich und nahm mir vor, nach diesem Bier zu gehen.

Vielleicht sollte ich eine Bank ausrauben, überlegte ich, als ich die Pistole in meiner Manteltasche spürte. Freiwillig würde die ohnehin kein Geld mehr herausrücken, das war heute mehr als deutlich geworden. Am Vormittag hatte ich dem Vorsteher meiner kleinen Haspa-Filiale einen radikalen Schuldenschnitt vorgeschlagen und freundlich darum gebeten, dass er mein überzogenes Konto in seine Bad Bank überführen sollte. Obwohl mein fleckgesichtiges Gegenüber der Argumentation ganz offensichtlich nicht folgen konnte, bat es mich ständig, leiser zu sprechen. Ein Widerspruch, dem ich durch sorgfältige Betonung meiner Worte zu begegnen versuchte. Jeder Angestellte und jeder Kunde dieser Bank konnte verstehen, was ich sagte, nur der Typ in diesem Glaskasten war ein Totalausfall. Er rückte seine dickwandige Sehhilfe zurecht und verkroch sich hinter einem Flachbildmonitor, der vermutlich intime Einblicke in meine desaströse Finanzlage gewährte. Aufbereitet in einer einzig für Erbsenzähler entwickelten Darstellungsweise, der Tabellenform. Als seine hektischen Flecken zu einem Flächenbrand in Ampelrot zusammengewachsen waren, setzte bei dem Mann eine Art Schnappatmung ein. Dann kam der Sicherheitsdienst.

Das Problem mit den modernen Banken ist, dass sie selbst kleinere Mengen Bargeld immer gleich in so einem automatischen Einzahlungssafe verschwinden lassen. Ein Raubüberfall würde daher vermutlich nicht viel einbringen. Andererseits: Mit fünf- bis zehntausend Euro ließe sich ein Großteil meiner Probleme in Luft auflösen. Ich versprach mir, darüber nachzudenken, sobald ich wieder nüchtern war, ließ meinen Deckel anschreiben und ging nach Hause.

Kapitel 2

Ich drehte nervös an dem kleinen Anhänger herum, der an meinem Schlüsselbund hing und den ich bisher für meinen Talisman gehalten hatte. Doch das kleine Äffchen schaute jetzt zu mir hoch und schien zu rufen: «Was soll das denn werden? Da mach ich nicht mit!»

Blöder Affe, dachte ich und fühlte mich im Stich gelassen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Der Typ, der mir gegenübersaß, war Lektor in einem großen Hamburger Verlagshaus. Es war Detlef Kauder, von dem ich durch meinen Agenten wusste, dass er erst kürzlich meinen Roman abgelehnt hatte. Begründung: Passt nicht in unser aktuelles Programm. Ich fragte:

«Haben Sie ihn denn gelesen?»

Es dauerte einen Moment, bis er von seinen Unterlagen aufblickte. Dann sah er mir kurz in die Augen und meinte:

«Selbstverständlich. Was denken Sie denn, Herr, äh … Vogt? Glauben Sie, wir würden hier Manuskripte ablehnen, die wir nicht sorgfältig geprüft hätten?»

Bingo! Genau das glaubte ich, denn sonst hätte er ja erkennen müssen, dass er einen Bestseller vor sich hatte. Ich sagte:

«Entschuldigen Sie meine Skepsis, aber ich bezweifle tatsächlich, dass Sie sich näher mit meinem Roman befasst haben.»

Kauder hob erneut den Kopf und starrte mich an. Er schob sein Doppelkinn unter dem halbgeöffneten Mund ein paar Mal vor und zurück, so als müsse er prüfen, ob sein Kieferscharnier noch funktionierte.

«Am besten, Sie zerstreuen meinen Argwohn, indem Sie mir kurz beschreiben, worum es in der Geschichte geht», schlug ich vor.

Er schaute mich an, als habe er nicht recht verstanden. Anschließend schüttelte er den Kopf und zischte etwas, das ich als Nicht zu fassen! interpretierte, und wandte sich wieder seinen Unterlagen zu.

«Gut», lenkte ich ein, «das ist vielleicht etwas zu viel verlangt.»

Mittlerweile war ich unsicher – was machte ich hier, verdammt?! Doch ich hakte noch einmal nach:

«Beantworten Sie mir bitte nur diese eine Frage: Durch welche Art von Haustier wird mein Held in der ersten Szene gerettet?»

Jeder, der die ersten fünf Seiten meines Romans gelesen hatte, konnte diese Frage ohne Zögern beantworten. Doch der Mann glotzte nur ins Leere und begann an seinem Kugelschreiber zu spielen. Klick-klack, Mine raus, klick-klack, Mine rein – und so weiter. Dann sagte er:

«Hören Sie, ich bekomme hier täglich eine Flut von Manuskripten auf den Tisch. Ich kann mich beim besten Willen nicht an jedes Detail erinnern. Und nun gehen Sie bitte, ich habe zu arbeiten!»

Ich blickte Herrn Kauder direkt in die Augen und verlor ein kleines bisschen die Fassung.

«Warum geben Sie nicht einfach zu, dass Sie ihn gar nicht gelesen haben, keine einzige Seite?»

«Das ist ja unerhört», entrüstete sich Kauder und stand auf. Die Geduld meines Gesprächspartners war anscheinend aufgebraucht.

«Verschwinden Sie, oder ich lasse den Sicherheitsdienst rufen», drohte er und wies in Richtung Tür. Das sollte nicht zur Gewohnheit werden, dachte ich und schäumte nun meinerseits vor Wut. Ich war frustriert, weil mir einfach keine schlagfertige Verabschiedung einfiel. Ich erhob mich ebenfalls und warf ihm einen bösen Blick zu – immerhin wich er dem aus, und ich beschloss zu verschwinden. Ich riss meinen Mantel vom Stuhl und hörte ein seltsames Geräusch. Es klang, als wäre etwas Schweres auf den Teppichboden gefallen. Ein sattes, dumpfes Geräusch, das Kauders und meine Aufmerksamkeit magisch anzog. Da, wo sie sich kreuzte, lag diese blöde Kanone. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab ich mir einen Ruck und hob die Waffe auf.

«Hören Sie …», stöhnte Kauder und zeigte mir die käsigen Innenseiten seiner feuchten Hände. «Sie werden doch nicht …»

Ich schaute ihn an. Seine Pupillen waren bis zum Anschlag vergrößert. Sie starrten abwechselnd auf die Pistole und auf mich. Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn und fiel auf den Boden. Ich hörte eine zittrige Stimme, die flehte:

«Bitte seien Sie doch vernünftig!»

Was nun folgte, war eine ziemliche Gemeinheit, das gebe ich ohne Umschweife zu. Ich kann zu meiner Entschuldigung nur vorbringen, dass ich in diesem Moment nicht wusste, was ich tat. Es war eine Art Blackout, die Tat eines Wahnsinnigen, der Lauf eines Amok oder etwas ähnlich Verrücktes. Ich nahm wieder Platz und stützte die Waffe lässig auf meinem linken Unterarm ab. Genau so muss sich ein Psychopath fühlen, einer, bei dem alle Sicherungen auf einmal durchbrennen und der von einer Sekunde zur nächsten vom Opfer zum Täter wird. Ein Gefühl von Macht erfasste mich. Meine Stimme klang ganz fremd, als ich mich weitersprechen hörte.

«Hinsetzen!», befahl ich. Dann griff ich mit der freien Hand in meine Umhängetasche und legte einen großen Stapel Papier auf den Schreibtisch – gut, dass ich eine Kopie meines Manuskriptes eingesteckt hatte.

«Das hier haben Sie mit Sicherheit nicht gelesen. Nicht einmal die ersten dreißig Seiten. Aber kein Problem, das werden wir in aller Ruhe nachholen.»

Endlich! Jetzt wird es endlich passieren, dachte ich und spürte, dass ich ebenfalls zitterte, vor Aufregung, vor Erwartung, vor Anspannung. Ich schaute auf meine Uhr. Es war kurz vor sechs. Dann beugte ich mich nach vorn, zog das Telefon aus der Buchse und steckte es in einen Rucksack, der neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand.

«Nur damit wir nicht gestört werden», erklärte ich und bat Kauder, mit dem Vorlesen zu beginnen. «Wenn Sie keine allzu langen Pausen machen, sind wir noch vor Sonnenaufgang damit durch», versprach ich. «Es sind nur dreihundertfünfundachtzig Seiten.»

«Hören Sie», versuchte Kauder zu intervenieren, doch ich fuhr ihm barsch ins Wort: «Sie tun jetzt genau, was ich sage, sonst werde ich Ihnen den verdammten Schädel wegpusten!»

Es war das einzige Mal, dass ich die Waffe direkt auf mein Gegenüber richtete. Ich hatte meinen Arm durchgestreckt und um neunzig Grad nach links gekippt, sodass der Handrücken nach oben zeigte. So konnte man garantiert schlechter zielen, aber das sah irgendwie cool aus und gefährlich. In diesem Moment erfasste mich vollkommene Ruhe.

«Sie werden mir meinen Roman vorlesen, von Anfang bis Ende. Ich will sicher sein, dass Sie ihn Wort für Wort in sich aufgenommen haben. Und anschließend sagen Sie mir, was Sie davon halten. Ganz spontan, ganz ehrlich und schonungslos. Das ist alles, was ich von Ihnen will, nichts als ein qualifiziertes Feedback. Wenn Sie das für mich tun, werde ich Sie verschonen. Wenn nicht, töte ich erst Sie und danach mich. Haben Sie das verstanden?»

Kauder nickte stumm. Ich war begeistert. Ich hatte sogar auf die korrekte Reihenfolge beim Töten geachtet.

«Dann nehmen Sie endlich den verdammten Stapel Papier und fangen Sie an zu lesen.»

Kapitel 3

Ich drehte mich in meinem Bett um, weg vom Tageslicht, weg von der drohenden Realität. Ich fühlte mich erschöpft und leer, war nicht einmal imstande, aufzustehen und pinkeln zu gehen, obwohl ich einen heftigen Druck verspürte. Doch ich war wie gelähmt. Immerhin hatte ich einen Teil meiner Zurechnungsfähigkeit wiedererlangt, und der wunderte sich darüber, dass ich noch nicht festgenommen worden war. Wo waren die Bullen? Ich sah die mattglänzende Walther P99 neben mir auf der Matratze und bedauerte zutiefst, dass es sich dabei nur um eine Schreckschusspistole handelte. Sie lag zwar sehr gut in der Hand, sah täuschend echt aus, aber mich selber konnte ich damit schwer umbringen – höchstens indem ich auf Polizisten schoss. Nur, dass bisher keine erschienen waren, auf die ich das mit Platzpatronen gefüllte Magazin hätte abfeuern können. Hatte ich damit wirklich einen armen Lektor fast zu Tode erschreckt?

 

Die einfachste Art, meinem Leben eine neue Wendung zu geben, bestand darin, dass ich etwas kaputt machte. Eine Erkenntnis, die ich im Laufe der Jahre gesammelt und die sich stets als ebenso zuverlässig wie praxistauglich erwiesen hatte. Das galt für Beziehungen, Freundschaften und Chancen jeder Art, erforderte jedoch die Verdrängungsleistung eines mittelgroßen Containerschiffes – für mich kein Problem. Was Verdrängung betraf, war ich sozusagen ein Naturtalent. Alles, was mit Verantwortung zu tun hatte, wurde an mein soziales Umfeld delegiert, sprich an meine jeweilige Partnerin outgesourct. Hatte ich gerade keine, entfiel das Thema komplett. Bei Finanz- und Behördenproblemen sowie bei allen anderen Unannehmlichkeiten kam die IAA-Regel zum Einsatz. Nein, das hatte nichts mit der Internationalen Automobil-Ausstellung zu tun. IAA steht für Ignorieren, Aussitzen und Ablenken. Anders ausgedrückt: Ich versuchte stets, mir möglichst wenig Sorgen um die Zukunft zu machen – ein Guru würde sagen: voll und ganz im Hier und Jetzt! Doch der Mist, den ich gestern gebaut hatte, überstieg alles bisher Dagewesene. Ich war in ganz neue Dimensionen vorgedrungen, in die Oberliga des In-die-Scheiße-Reitens. Fatale Folge: Meine Verdrängungsfähigkeit erreichte ihre natürliche Grenze. Es musste etwas passieren.

 

Im Hier und Jetzt klingelte das Telefon. Es lag direkt neben meinem Bett, aber ich war nicht imstande ranzugehen. Ich erkannte die Stimme von Robert Möller, meinem Agenten, er sprach auf den Anrufbeantworter.

«Herr Vogt, ich habe einen dringenden Auftrag für Sie. Es ist eine etwas ungewöhnliche Sache, aber es springt eine ganze Menge Geld dabei heraus. Zumindest wird es reichen, um Ihre momentanen Finanzprobleme zu lösen. Wir müssen uns unbedingt treffen, noch heute. Das ist sehr wichtig.»

Ich streckte meinen Arm aus und nahm das Telefon aus der Ladestation.

«Haben Sie etwas zu schreiben?»

Das hatte ich.

«Dann notieren Sie mal die folgende Adresse.»

Das machte ich.

«Können Sie heute Abend gegen 19:30 Uhr dort sein?»

Das konnte ich – sofern ich bis dahin nicht im Knast gelandet war. Was sollte ich auch sonst tun? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Möller von meinen Geldsorgen zu erzählen. Ich war vollkommen abgebrannt. Also sagte ich zu – eine folgenschwere Entscheidung, wie sich schon sehr bald herausstellen sollte.

Ich musste an die vergangene Nacht denken. Ich erinnerte mich vage, dass Kauder das tatsächlich durchgehalten hatte. Er schwitzte zwar wie ein Pferd, doch er las meinen Roman, Seite für Seite, Kapitel um Kapitel, bis zum bitteren Ende. Ich war zutiefst gerührt. Dann schob er mir das Manuskript herüber, nahm seine Brille ab, stützte seine Unterarme auf den Tisch und verbarg sein Gesicht hinter den fleischigen Händen. Er seufzte tief und flüsterte: «Und jetzt wollen Sie auch noch meine ehrliche Meinung dazu hören? Nachdem Sie mich mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen haben», er unterbrach sich und schaute kurz auf seine Armbanduhr, «über sieben Stunden hinweg Ihr Manuskript vorzulesen? Nicht zu fassen.»

Dann atmete er tief durch und meinte: «Eines kann ich Ihnen garantieren, das hier werden Sie noch bitter bereuen.»

Die letzten Sätze waren kaum hörbar gewesen, also konnte ich sie auch gleich ignorieren. Kauder ließ die Hände sinken und schaute mich aus müden, blutunterlaufenen Augen an. Ich nahm den Papierstapel und steckte ihn zusammen mit der Pistole in meine Umhängetasche. Ich hatte es sehr genossen, dabei zuzuhören, wie aus meinem Roman vorgelesen wurde. An einigen Stellen klang das richtig gut, fand ich, und Kauder hatte gar keine schlechte Stimme. Leider war ihm nicht anzumerken gewesen, was er von der Story hielt. An der einen oder anderen Stelle war zwar ein Lächeln über sein verschwitztes Gesicht gehuscht, und zwei- oder dreimal hatte er leise gekichert, aber was hieß das schon?

Mir war die ganze Situation inzwischen total unangenehm. Außerdem würde ich in Kürze wahrscheinlich verhaftet werden. Also bedankte ich mich für die erzwungene Lesung, entschuldigte mich für die Umstände und ging. Eines wurde mir auf dem Nachhauseweg klar: Nach dieser Aktion würde ich niemals wieder irgendeinem Verlag auf diesem Planeten ein Manuskript vorlegen können. Die Geschichte würde sich herumsprechen wie ein Lauffeuer. Als Autor war ich ein für alle Mal verbrannt.

 

Die Adresse, die mir mein Agent am Morgen durchgegeben hatte, führte mich über die Stadtgrenze von Hamburg hinweg in Richtung Süden, etwa dreißig Kilometer nach Niedersachsen hinein. Ich verlasse Hamburg nur sehr ungern, und wenn, dann im Sommer und in Richtung Norden. Das heißt nach Schleswig-Holstein und bedeutet ans Meer, wahlweise an die Nord- oder Ostsee, je nachdem, wo sich das Wasser gerade befindet. Besonders im Winter sind mir solche Touren ein Graus, ich bekomme kurz nach den Elbbrücken bereits Depressionen, wenn ich die grauen Flächen und kahlen Bäume sehe. Kaum zu glauben, dass hier Menschen leben. Und dann der Nieselregen, dazu leichter Nebel.

Es dämmerte, als ich das kleine Dorf in der Nordheide erreichte, das Marxen hieß und außer einem Löschteich und einer Landschlachterei anscheinend nur eine Handvoll von Eichen beschatteter Fachwerkhäuser zu bieten hatte. Ich freute mich bereits auf die Rückfahrt, auf ein paar Bier in meiner Stammkneipe im kuscheligen Eimsbüttel. Ja genau, deshalb war ich hier. Es ging darum, meine Wohnung zu retten, meine Existenz. Irgendwann musste ich die Schublade öffnen und ein paar von den Rechnungen bezahlen. Dafür war ich bereit, jedes Opfer zu bringen. Vielleicht würde Möller von mir verlangen, dass ich ein paar sündhaft teure Bilder eines berühmten Heidemalers klaute. Oder dass ich ihm half, seinen Onkel zu beseitigen, um anschließend dessen Testament zu seinen Gunsten umzuschreiben. Ich erfreute mich an meiner blühenden Phantasie, den Hirngespinsten eines auf tragische Weise, jedoch selbst verschuldet, für immer verhinderten Romanciers und ahnte nicht, wie recht ich damit haben sollte.

Das kleine Gehöft lag ein paar hundert Meter außerhalb vom Ort inmitten ausgedehnter Wiesen und Felder. Die schmalen Wirtschaftswege dorthin waren zwar asphaltiert, man musste aber trotzdem höllisch aufpassen, weil scharfe Kurven manchmal so unvermittelt auftauchten, dass ich kurz vor dem Ziel fast in einen Graben gerutscht wäre. Typisch Herbst: Die Tage werden kürzer und die Bremswege länger. Dann sah ich im Wohnteil eines Hofes ein schwaches Licht und passierte die schmale Einfahrt, von den Reifen perlte ein kieseliges Knirschen. Vor dem Haupteingang stand ein großes Paket. Daneben erkannte ich den schwarzen Mini von Robert Möller und an der Tür ihn selbst. Er winkte und signalisierte mir, meinen alten Kombi direkt neben seinem schicken Kleinwagen abzustellen. Sollte ich ihm helfen, diese Kiste ins Haus zu tragen? Ich parkte und stieg aus.

«Komm erst mal rein, Volkmar», begrüßte mich der Agent. Seit wann duzten wir uns? Ich folgte ihm durch eine kühle, mit Terrakotta geflieste Vorhalle in einen gemütlichen Wohnraum mit niedriger Decke. Möller blieb neben einem braunen Ohrensessel stehen.

«Darf ich vorstellen? Kurt Kalinski, der berühmte Krimiautor. Liefert zuverlässig jedes Jahr einen Erfolgsroman ab. Er ist mein bestes Pferd im Stall und seit ein paar Stunden mausetot. Guck ihn dir genau an: So sieht ein Bestsellerautor aus.»

Ich schaute Kalinski an, dann Möller, dann wieder Kalinski.

«Ja und …?», brachte ich mit Mühe hervor. Das wurde alles zu viel für mich. Ich hatte nicht gut geschlafen, meine Karriere als Schriftsteller war für immer versaut, und wenn ich heute Abend in meine Wohnung zurückkäme, würden die Bullen wahrscheinlich schon auf mich warten. Der Tote sah zum Glück ziemlich friedlich aus, nur sein Kopf war zur Seite gekippt und lehnte an einem der beiden Sesselohren. Vielleicht schläft er nur, dachte ich.

«Er ist leider nicht fertig geworden.»

«Wie bitte?»

«Er hat seinen Abgabetermin nicht eingehalten. Sein neuer Roman ist bereits angekündigt. Es gibt bereits einen Titel, ein Cover.»

Möller sprach eine Spur zu laut für meinen Geschmack. Er klang verärgert, irgendwie gereizt.

«Volkmar, versteh doch, der Roman wurde schon im Verlagsprospekt beworben. Es gibt einige tausend Vorbestellungen des Buchhandels, wir haben ein echtes Problem.»

Wir? Der hatte wohl einen an der Waffel! Was hatte ich damit zu tun? Möller hörte sich an, als wäre ich zu blöd, das Naheliegendste zu kapieren. Ich wollte gerade gehen, als ich ein komisches Geräusch hörte. Es klang wie ein Kratzen und Jaulen gleichzeitig …

«Ach ja, Karpow. Um den wirst du dich auch kümmern müssen.»

Möller warf mir einen mitleidigen Blick zu. Anschließend schaute er sich in dem Raum um, öffnete eine gläserne Vitrinentür und nahm zwei Cognacschwenker heraus. Er deutete auf eine Sitzgarnitur in der hinteren Zimmerecke, griff sich auf dem Weg dorthin eine Flasche Rémy Martin, die auf einem kleinen runden Tischchen gestanden hatte, und ließ sich in die Polster sinken. Dann schaute er schweigend zur Decke. Seine Füße schwebten ein paar Zentimeter über dem Teppich.

Alles an Möller war ein wenig zu kurz geraten: die Beine, die Arme, die Finger. Selbst die Nase wirkte gedrungen, irgendwie nicht richtig ausgewachsen. Der Hals fehlte komplett, und darunter hatte sich eindeutig zu viel Masse gebildet. Ich musste an Danny DeVito denken. Nur, dass Möller viel mehr Haare auf dem Kopf hatte. Blonde, dünne, lockige Haare, so wie Thomas Gottschalk. Möller beugte sich vor und verteilte eine riesige Menge Weinbrand auf die beiden Gläser. Er bat mich, Platz zu nehmen.

«Zum Wohl, mein Lieber, auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Du wirst sehen, alles wird gut gehen.»

Er trank einen großen Schluck und legte einen seiner Kinderarme auf der Sofalehne ab. Er fühlte sich scheinbar wie zu Hause.

«So, jetzt hör mir mal gut zu. Ich bin schon seit heute Mittag hier und hatte genug Zeit, mir die Sache in Ruhe zu überlegen. Ich habe ein paar Vorkehrungen getroffen, das Ergebnis steht draußen im Hof.»

Ich nahm einen Schluck vom Branntwein, der seinem Namen alle Ehre machte. Ich spürte, wie das teure Zeug meine Kehle herunterlief, dann machte sich eine angenehme Wärme in der Magengegend breit, und ein wohliges Gefühl stellte sich ein. Ich sollte mich vom Acker machen, am besten sofort. Doch mir fehlte einfach die Kraft dazu. Inzwischen war ja sowieso alles egal. Möller geriet derweil ins Lamentieren. Offenbar war er nicht besonders gut auf den Alten zu sprechen.

«Das hat man davon, wenn man sich für seine Autoren einsetzt und Sonderkonditionen aushandelt, sich bei den Verlagen in die Nesseln setzt, nur um es dem großen Starautor recht zu machen. Wenn der sture Bock nicht dermaßen getrödelt hätte, wäre der neue Krimi längst fertig, hätte längst fertig sein müssen. Aber nein, die Edelfeder muss ja alles immer auf den letzten Drücker abliefern. An jedem Satz feilen. Und nun? Ich muss es ausbaden, wie immer. Aber wenigstens brauche ich mir sein Genörgel nicht mehr anzuhören. Wenigstens damit ist es nun endgültig vorbei.»

«Wie gut kanntest du ihn denn?» Meine Stimme klang irgendwie heiser. Es war der erste zusammenhängende Satz, den ich herausbrachte, seit ich hier eingetroffen war.

«Eigentlich kannte ich ihn gar nicht. Hat sich ja total abgekapselt, der alte Kauz. Wollte keine Interviews, keine Fototermine, keine Lesungen und erst recht in keiner Talkshow auftreten. Der hätte leicht doppelt so viele Bücher verkaufen können, reich werden und ich mit ihm. Aber was macht der Exzentriker? Igelt sich hier ein und lässt niemanden an sich ran. Ich war schon seit Jahren nicht mehr hier draußen, hab nur ab und zu mit ihm telefoniert. Dafür gesorgt, dass er seine Sonderbehandlung beim Verlag bekommt. Und das, obwohl die Auflage seiner Krimis in den letzten Jahren stetig runtergegangen ist. Klarer Fall: Seine Stammleser werden auch älter. Nun hat es ihn eben selber erwischt. Aber der letzte Roman muss noch zu Ende geschrieben werden. Sonst können wir die zweite Rate vergessen, verstehst du? Und da geht es um eine Menge Geld: satte hunderttausend! Und fünfundzwanzig Prozent davon gehören mir.»

Möller hatte vor Aufregung mit dem Cognacschwenker herumgefuchtelt und starrte mich an. Ich fröstelte und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief.

«So. Und damit kommen wir zu deinem Part: Du musst den Roman fertigstellen, und das möglichst schnell. Außerdem musst du mir helfen, Kalinski für ein paar Wochen frisch zu halten. Dazu kommen wir gleich. Ich zahle dir fünftausend Euro. Die Hälfte sofort, die andere, sobald der Roman fertig ist. Bist du dabei?»

Ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie ich meinem Vermieter zweitausendfünfhundert Euro in die Hand drückte. Ein schönes Bild. Obwohl – tausend würden sicher ausreichen, damit er seine Räumungsklage zurückzog. Er war schließlich kein Unmensch. Mit den restlichen tausendfünfhundert könnte ich …

«Hallo, ist da jemand?», fragte Möller. Er hatte sich mit einem Ruck aus dem Sessel befreit und fing an, im Raum auf und ab zu gehen: «Hör mal, das ist eine ernste Angelegenheit. Ich brauche eine Antwort, und zwar sofort. Du bist Romanautor, oder? Bisher nicht erfolgreich, aber das kann ja noch kommen.»

Wenn du wüsstest, mit wem ich die letzte Nacht verbracht habe, dachte ich und schwieg. Irgendwo bellte und jaulte ein Hund, jetzt hörte ich es ganz deutlich.

«Hier kannst du zeigen, was in dir steckt. Du schnappst dir das halbfertige Manuskript und schreibst es zu Ende, was ist dabei? Mehr als fünftausend wären für deinen Erstling auch nicht drin gewesen. Nicht für den ersten Roman eines unbekannten Autors, das kannst du mir glauben. Insofern leichtverdientes Geld, oder nicht? Und du bleibst im Geschäft. Betrachte es einfach als Fingerübung. Danach sehen wir weiter.»

Ungefähr so muss es sich anfühlen, wenn man dem Teufel seine Seele verkauft. Nur, dass meine für einen Spottpreis über den Tresen ging. Ich dachte an weitere Löcher, die ich mit dem Geld stopfen könnte, und an meine Vorsätze während der Herfahrt. Ich war müde, mir war kalt, und ich wollte, dass das hier möglichst bald zu Ende ging.

Seit ich mich selbst aus der Position eines Chefredakteurs gefeuert hatte, war es finanziell stetig bergab gegangen. Mein Exschwiegervater hatte sich vor etlichen Jahren in einen Wochenblattverlag eingekauft, dessen Geschäftsfeld im Wesentlichen darin bestand, Tausende von Hamburger Briefkästen mit kostenlosen Anzeigenblättern zu verstopfen, die außer einer Handvoll Rentner und der Altpapierwirtschaft niemanden interessierten. Meine Aufgabe war es, wöchentlich zwei redaktionelle Doppelseiten mit Texten und Fotos zu füllen. Nach der Scheidung von seiner Tochter hatte sich das Verhältnis zwischen Chefredakteur und Verleger sichtlich abgekühlt: von frostig auf eiskalt. Meine gesundheitsbedingte Kündigung (wegen drohender Erfrierungen) wurde von der Agentur für Arbeit jedoch nicht anerkannt, sie brummten mir eine dreimonatige Sperre auf. Der anschließende Austausch von Sachargumenten wurde erheblich durch ein Hausverbot erschwert, das mir erteilt wurde, weil ich das Wort «Scheiße» in verschiedenen, zeitlich eng aufeinanderfolgenden Strängen meiner Argumentation hatte einfließen lassen. Also bin ich einfach nicht mehr hingegangen.

Ich griff nach meinem Schlüsselbund und warf einen flüchtigen Blick auf den Talisman, der daran hing. Das Äffchen zwinkerte mir zu.

«Okay, ich werde es versuchen», hörte ich mich sagen. Zunächst versuchte ich aber vergeblich, aus dem Sessel aufzustehen. Zum Glück hatte Möller nicht mitbekommen, wie ich wieder zurückgekippt war, unbeholfen, leicht angetrunken und schlaff. Er war bereits auf dem Weg nach draußen.

«Ich erklär dir, wie es weiterläuft.»

Jetzt ging alles ziemlich schnell. Möller bat mich, ihm in den Hof zu folgen. Mir war plötzlich sonnenklar, was wir da auspackten. Unter jeder Menge Kartonage und Styropor kam eine riesige Kühltruhe zum Vorschein. Wir schleppten den schneeweißen Tiefkühlsarg ins Haus. Dann ging es durch die geräumige Dielentür in den ehemaligen Stallteil des alten Bauernhauses. Dort stellten wir das Gerät direkt neben einer Steckdose ab. Möller zog ein kariertes Taschentuch aus seiner Hose und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Erstaunlich, dass er das überhaupt geschafft hat, dachte ich. Der Schein trügt, der ist fitter, als ich vermutet habe. Anschließend holten wir den Autor, der sich glücklicherweise im Vergleich als ziemliches Leichtgewicht entpuppte, und verfrachteten ihn in die Kühltruhe. Ich bestand darauf, ihn wenigstens in eine alte, dunkelgrüne Decke zu hüllen, die ich auf einer staubigen Truhe gefunden hatte. Möller klappte den Deckel zu und sagte:

«Vielen Dank für den Tipp, alter Mann», und an mich gewandt:

«Das hat er in einem seiner Krimis auch mal gemacht, einen Toten vorübergehend auf Eis gelegt. Warum sollte es ihm besser gehen?»

«Pietät ist für dich wohl ein Fremdwort!», stammelte ich. Mir war übel geworden. Ich war entsetzt über die Art, wie er mit dem Toten umging. Mich fröstelte es erneut bei der Vorstellung, in einer Kühltruhe zu liegen und zu Tiefgefrorenem zu erstarren.

«In der Tat, Pietät IST ein Fremdwort!», sagte Möller und verließ den Stallteil in Richtung Wohnraum, wo er sich vermutlich von dem Cognac nachschenkte. Ich schaute auf die rote Warnlampe, die unablässig blinkte, um anzuzeigen, dass das Gefriergut die erforderlichen achtzehn Grad minus noch nicht erreicht hatte. Ich drückte ein paar Knöpfe, doch das Lämpchen blinkte weiter. Möller und diese Warnlampe hatten etwas gemeinsam, dachte ich. Sie waren Zyniker erster Klasse. Ich versuchte, bei Verstand zu bleiben. War ich von allen guten Geistern verlassen? Irgendwo in der Nähe knurrte und bellte ein Hund.

Kapitel 4

Ich drehte eine Runde in einem Kreisverkehr. Das war schon der dritte auf dem Weg zurück zur Autobahn, und mir wurde langsam schwindelig. Diese Dinger breiteten sich aus wie Schimmel auf alten Brotkanten. Ständig entstanden neue. Wozu der ganze Aufwand, die ganze Verschwendung von Fahrbahnbelag und Landschaft? Hier draußen auf dem Land war doch ohnehin nichts los. Früher gab es Kreuzungen in der Pampa. Man hatte Vorfahrt oder eben nicht – wo war das Problem? Mich überkam das dringende Bedürfnis, verkehrt herum da durchzufahren. Aber ich war einfach zu müde. Ich bog auf die Autobahnzufahrt ab und gab Gas.

Wie hatte Möller eigentlich erfahren, dass Kalinski verstorben war? Er hatte doch gesagt, dass er seit Jahren nicht mehr da draußen war?, fragte ich mich, während ich das Horster Dreieck in Richtung Elbbrücken passierte. In wenigen Minuten würde ich die Stadtgrenze erreichen, dem Himmel sei Dank!

Ich wollte meinen Agenten mit dieser Frage konfrontieren, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Wer weiß, vielleicht hatten die beiden sich ja gestritten, vielleicht hatte Möller ihm sogar eins übergebraten, und ich machte mich zum Mittäter, indem ich ihm half, die Leiche verschwinden zu lassen. Meine Karriere als Krimineller entwickelte sich prächtig. Allerdings hatte Kalinski einen ziemlich unbeschädigten Eindruck gemacht, als ich ihn in die Decke gewickelt hatte. Möller war profitgierig, aber ein Mörder war er sicher nicht.

An der ersten Kreuzung, die ich in Hamburg kurz hinter den Elbbrücken erreichte, wies ein gelbes Dauerblinken auf eine Funktionsstörung hin. Scheiße, dachte ich, als ich die Einsatzfahrzeuge der Polizei sah. Sie haben eine Großfahndung nach mir eingeleitet und überall Straßensperren errichtet. Doch dann wurde mir klar, dass bloß die Ampelanlage ausgefallen war.

 

Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte ich mich bedeutend wohler. Ich hatte Lust, ein paar Bier zu trinken, in netter, unaufdringlicher Gesellschaft. Doch vorher wollte ich noch etwas erledigen. Bevor ich mir Feierabend gab, musste ich wenigstens einmal an diesem merkwürdigen Tag etwas Vernünftiges tun, etwas, wofür mich vermutlich selbst Beate, meine Exfrau, gelobt hätte. Beim Rausgehen sah ich, dass mein Anrufbeantworter blinkte.

Ich klingelte bei Hassenstein, meinem Vermieter. Er wohnte in der Penthousewohnung im Haus nebenan. Ihm gehörten beide Immobilien, er hatte sie geerbt. Neben dem Klingelknopf war ein graues magisches Auge in die Wand eingelassen, ein winzig kleines Lämpchen flackerte rot, vermutlich um anzuzeigen, dass die Alarmanlage in Betrieb war. Verdammte Blinkerei, dachte ich, wo man hinguckt, blinkt irgendetwas!

Hassenstein öffnete nach einer Weile die Tür und musterte mich mit einem auffällig dämlichen Gesichtsausdruck. Ich zählte ihm tausend Euro in die Hand und bat ihn freundlich, die Räumungsklage zurückzunehmen. Ich käme gerade wieder auf die Beine, finanziell meinte ich. Er sagte, der Tausender würde nicht einmal ausreichen, um die überfälligen Nebenkostennachzahlungen der letzten vier Jahre zu decken – wohnte ich tatsächlich schon so lange in der Bude? Ich sah, wie sich Anzeichen von Schmerz oder Kurzsichtigkeit in seinem Gesicht breitmachten – er würde die Klage also auf gar keinen Fall zurückziehen, da müsste ich schon etwas drauflegen. Ich dachte an die Möglichkeit, ihm noch mehr Geld in den Rachen zu stecken, doch dazu war er mir einfach zu unsympathisch. Also wendete ich mich wortlos ab und machte mich auf den Weg in meine Stammkneipe.

In der BarKasse war es ziemlich belebt für einen Dienstag. Carlo trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Der tut nix, der will nur spielen». Er hatte mal zwei Rottweiler besessen, aber das war, bevor ich ihn kennenlernte. Es hieß, die Viecher wären ziemlich unangenehm gewesen und selbst die Stammgäste hätten einen Heidenrespekt vor ihnen gehabt. Ich nickte ihm zu, legte einen Abschlag von zweihundert Euro auf den Tresen und bestellte ein großes Pils. Früher hatte er mal ein bisschen bei den Hells Angels mitgemischt. Jetzt meldete er seine Harley nur noch für drei Monate im Jahr an, im Sommer, wenn ihn die Arthritis nicht so quälte. Ob Kalinski wohl schon durchgefrostet war, überlegte ich, während ich an meinem ersten Pils nippte. Dann würde die blöde Kontrollleuchte endlich aufhören zu blinken.

Carlo nahm das Geld, knurrte: «Das ist mal ein Anfang …», und machte sich eine Notiz für seine Buchführung. Anschließend zapfte er mein Pils an. Scheißegal, wie ein Bier gezapft wird, könnte man meinen, ist aber nicht so. Das ist überhaupt nicht egal. In diesen modernen Läden mit den gekühlten Leitungen und dem ebenso coolen Ambiente schmeckte das Bier wie kalte Pisse. Die ließen das Zeug in einem Rutsch einlaufen, keine anständige Krone, kein feinporiger Schaum. Die kümmerlichen Reste waren längst zusammengefallen, bis sie einem das Glas hingestellt hatten.

In einer anständigen Kneipe stehen die Bierfässer direkt unter dem Tresen, und ein Pils braucht seine Zeit. Keine sieben Minuten, das ist auch wieder Quatsch, sagt Carlo, aber es muss einmal vor- und zwei- bis dreimal nachgezapft werden. Das dauert so um die drei Minuten. Aber Achtung: Beim Nachzapfen darf der Hahn nie ins Bier eintauchen, das herbe Nass muss immer am Glasrand entlanglaufen – fertig, aus die Maus oder was dann immer so folgte, wenn ein Wirt seine Weisheiten absonderte. Jedenfalls war das wirklich ein Riesenunterschied. Nur hier schmeckte das Bier herrlich süffig, prickelte schön im Abgang und war optimal temperiert. Ich kippte den restlichen Inhalt meines Glases herunter und gab Carlo mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen, dass er bitte das nächste ansetzen soll.