Gigantische Visionen II - Michael Arming - E-Book

Gigantische Visionen II E-Book

Michael Arming

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Beschreibung

In die Zeit des Nationalsozialismus fallen hochtechnologische Innovationen, die bis heute als zukunftsweisend gelten, etwa bahnbrechende Waffensysteme, aber auch Verschlüsselungs- und Ortungssysteme. Tatsache bleibt aber, dass Deutschland auf entscheidenden Gebieten von den Alliierten überholt wurde, ebenso wie eine verfehlte Entwicklungs- und Industrieführungspolitik. Das Buch stellt die "gigantischen Visionen" und Strukturen vor, die oft eine nüchterne Lageanalyse des eigenen Potenzials überlagerten: das Vorhaben der Entwicklung einer deutschen Atombombe, den geplanten Masseneinsatz neu entwickelter Fernseher als Propagandawaffe, die "intelligenten Bomben" Hs 293 und Fritz X, die Erforschung und Produktion von Ersatzstoffen ("Buna", PVC, Kunstfasern, Kohlebenzin) zur Überwindung der Ressourcenknappheit, verschiedene deutsche Anlagen zur "Funkmessortung" (Radar), die legendäre Schlüsselmaschine "Enigma" samt ihren geplanten Weiterentwicklungen, den weltweit ersten Computer des Entwicklers Konrad Zuse sowie die weit überschätzten Strahlflugzeuge.

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Michael Arming / Michael Wiesberg

Gigantische Visionen II

Die vergebliche Hoffnung auf die„Wunderwaffen“

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Umschlagabb. Vorderseite: Hintergrund: Modell einer Arado AR E.555, WikiMedia Commons / M. Muller (CC0 1.0); Bildreihe vorn v. l. n. r.: Nachbau des Z3-Computers im Konrad-Zuse-Museum Hünfeld, WikiMedia Commons / Dksen (CC0 1.0); V2-Rakete auf der Abschussrampe in Peenemünde, WikiMedia Commons / Bundesarchiv (CC BY-SA 3.0 de); Kommandogerät und schwere Flak auf dem Flakturm am Berliner Zoo, im Hintergrund Leitturm mit Radargerät „Würzburg-Riese“, WikiMedia Commons / Bundesarchiv (CC BY-SA 3.0 de); Eingang zum „Atomkeller“-Museum in Stadtilm, WikiMedia Commons / Giorno2 (CC BY-SA 4.0)

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

Hinweis

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

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www.ares-verlag.com

ISBN 978-3-99081-094-1

eISBN 978-3-99081-124-5

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2022

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhalt

Kapitel I

Die gigantische Vision kriegsentscheidender „Wunderwaffen“

Kapitel II

Die gescheiterte Vision einer deutschen Atombombe

Hahn und Straßmann gelingt die Kernspaltung

Phase 1: Das Heereswaffenamt übernimmt die Federführung

Phase 2: Während die USA alle Ressourcen mobilisieren, treten die Deutschen auf die Bremse

Die mögliche Entwicklung einer nuklearen Hohlladung

Operation „Epsilon“, Farm Hall und die Mär von den moralischen Skrupeln

Das „Manhattan Project“: „Potenzialgewinn“ als Folge der Vertreibung jüdischstämmiger Wissenschaftler von deutschen Universitäten

Die Sonderrolle der Forschungsstelle der Deutschen Reichspost

Zeitachse

Kapitel III

Die Magie der bewegten Bilder:Wie das Fernsehen zur „Geheimwaffe“ wurde

Das Fernsehen bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin

Der deutsche Fernsehsender Paris während des Zweiten Weltkrieges

Die Fernsehstuben im Dritten Reich

Zweiter Weltkrieg: Die militärische Nutzung des Fernsehens

Exkurs: Die Entwicklung „intelligenter Waffen“

Kapitel IV

Ersatzstoffherstellung

Die Buna-Werke

Die Herstellung von künstlichem Kautschuk

Die Herstellung von Polyvinylchlorid

Die Verwendung von Kunststoffen in der deutschen Kriegsindustrie

Die Textilfaserherstellung

Die Erzeugung von synthetischem Benzin

Das Verfahren der Kohleverflüssigung

Der Zusammenbruch der deutschen Treibstoffversorgung ab Mitte 1944

Die Untertageverlagerung kommt zu spät

Kapitel V

Der Hochfrequenzkrieg: Der Vorsprung, der verloren ging

Die deutschen Radargeräte vom Typ „Freya“

Das mobile Funkmessgerät „Würzburg“

Radargeräte in Flugzeugen: Das „Lichtenstein“-Gerät

Die deutschen Radargeräte der Reihe „Wassermann“

Das Rundumsicht-Radargerät „Jagdschloß“

Das Funkmessgerät „Marbach“

„Seetakt“: Das Radar der Kriegsmarine

Bilanz des Hochfrequenzkrieges: Aufholjagd von deutscher Seite kam zu spät

Kapitel VI

Die „Wunderwaffe“ unter den Schlüsselmaschinen kam zu spät

Das fahrlässige Vertrauen in die „Enigma“

Schlüsselgerät 41: Eine echte „Wunderwaffe“, die zu spät kam

Spekulationen um das Schlüsselgerät 39 und den Hell-Geheimschreiber

Kapitel VII

Konrad Zuses erster Computer:Eine bahnbrechende Erfindung bleibt ungenutzt

Kapitel VIII

Eine gigantische Vision, die keine Kriegswende gebracht hätte: Strahlflugzeuge

Göring und Udet verhindern ein effizientes Arbeiten der Luftwaffenführung

Exkurs: Die Me 210 und die He 177 als Musterbeispiele einer verfehlten Entwicklungs- und Industrieführungspolitik

Dem Rüstungspotenzial der USA begegnet Göring mit Realitätsverweigerung

Verteidigung mit allen Mitteln: Die vergebliche Hoffnung auf eine Änderung der Luftkriegslage durch den Strahljäger Me 262

Erfolg versprechende Waffen, die dem Luftkrieg eine Wende hätten geben können

Danksagungen

Literatur- und Quellenverzeichnis (in Auswahl)

Literatur

Aufsätze, Internetadressen, Videos

Kapitel I

Die gigantische Vision kriegsentscheidender „Wunderwaffen“

„Vision“ ist ein Lehnwort, das auf das lateinische Wort visio zurückgeht. Die wörtliche Bedeutung von visio kann mit „Gesichtswahrnehmung“ umschrieben werden, meint also das Sehen. Es geht demnach auf einer ersten Bedeutungsebene um die visuelle Wahrnehmung. Im weiteren Sinn kann visio aber auch als „Vorstellung“ oder „Idee“ übersetzt werden. Hier steht nicht mehr das Sehen der äußeren Umwelt im Mittelpunkt, sondern eine Art des nach innen gerichteten Sehens. Eine andere Bedeutungsebene hat das mittelhochdeutsche Wort „Vision“, das als „Traumgesicht“ übertragen werden kann.1 Hier ist die visuelle Wahrnehmung innerer Geschehnisse gemeint. Die Differentia specifica dieser Bedeutungen lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Vorstellungen und Ideen können vom Menschen intentional gesteuert werden, Traumgesichte hingegen sind nicht kontrollierbar.2

„Vision“ kann demnach etwas bezeichnen, das der Realität nicht zuzuordnen ist, sondern ihr vielmehr gegenübersteht. Oftmals verweist „Vision“ aber auch auf etwas, das noch nicht Wirklichkeit ist. Die „Vision“ in diesem Sinne ist beschreibbar als geplante und angestrebte, aber noch nicht reale Tatsache.3 Ein weiterer bedeutender Aspekt, der mit einer Vision einhergeht, ist deren Wirkungskraft. Eine Vision übt Einfluss auf das menschliche Handeln aus. Sie entfaltet eine Wirkungskraft, indem sie Einfluss auf die Gedanken- und Vorstellungswelten anderer Personen nimmt. Ihr kommt damit so etwas wie die Funktion einer Sinnstiftung zu, auch und vor allem „hinsichtlich einer ungewissen Zukunft“4.

Dieses Buch beschäftigt sich mit den Visionen, die in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt wurden. Es steht im engen Zusammenhang mit dem 2006 veröffentlichten Buch „Gigantische Visionen. Architektur und Hochtechnologie im Nationalsozialismus“. Hier liegt der Schwerpunkt auf zivilen und militärischen Großbauten, Verkehrsprojekten und Großwaffen für Heer, Luftwaffe und Marine in der NS-Zeit. Das Buch zeigt, wie sich nicht wenige dieser Projekte in Traumgesichten verloren, die sich von der Realität abkoppelten. Das gilt für Waffenprojekte wie zum Beispiel die „Midgard-Schlange“, ein gepanzertes Ungetüm von 524 Metern Länge und 60.000 Tonnen Gewicht, das sich tief durch das Erdreich graben sollte, um so Bunkeranlagen auszuheben, oder Panzer-Visionen wie den Panzer VIII („Maus“), der mit einem Gewicht von 188 Tonnen alle bis dahin bekannten Dimensionen sprengte, sowie den P-1000 („Ratte“), der, wäre er realisiert worden, 1000 Tonnen gewogen hätte.

Die Errichtung der militärischen Großbauten, die in der letzten Phase des Krieges nicht selten unter Tage verlagert wurden, hat eine Unzahl von Menschenleben gekostet, nicht zuletzt die der eingesetzten Zwangsarbeiter, die diese Visionen unter unmenschlichen Bedingungen Realität werden lassen sollten.

Verstiegene militärische Projekte waren indes keine deutsche Spezialität. Es sei hier auf britischer Seite nur auf das Projekt „Habbakuk“ verwiesen, einen Flugzeugträger aus Pykrete, einem Gemisch aus Eis und Sägespänen. Nicht anders als gigantisch wären die Ausmaße dieses Schiffs gewesen: Es sollte etwa 1200 m lang und 180 m breit sein und 12 m dicke Bordwände besitzen. Als Masse wurden 2,2 Millionen Tonnen berechnet; damit wäre das Schiff genau 48-mal schwerer als die RMS „Titanic“ gewesen.5 Geplant war, das Schiff in Kanada aus 280.000 Eisblöcken zusammenzusetzen. Erst als die Alliierten 1943 auf den Azoren Flugplätze für britische und amerikanische Seeaufklärer einrichten konnten, wurde das Projekt „Habbakuk“ eingestellt.6

Auch die US-Amerikaner zeigten sich, was waffentechnische Verstiegenheiten angeht, kreativ. 1942 wurde dort von einem Zahnarzt die Idee entwickelt, Brandbomben mittels Fledermäusen ins Ziel zu bringen. Der Plan war, Projektile mit Fledermäusen zu füllen und über japanischen Städten abzuwerfen. Die Bomben sollten sich im Flug öffnen, sodass die Tiere losfliegen und sich in den Häusergiebeln der Stadt niederlassen könnten. Dann sollten an ihren Körpern befestigte Brandsätze gezündet werden. Immerhin wurden zwei Millionen Dollar in dieses Projekt investiert, ehe man es 1944 zu den Akten legte.7

In diesem Buch wird es erneut um waffentechnische Innovationen und Visionen gehen, die mit Blick auf die zweite Hälfte des Zweiten Weltkrieges insbesondere auf deutscher Seite hektische Aktivitäten auslösten. Die Wende des Krieges 1942/43 und die steigende Überlegenheit der Kriegsgegner im Hinblick auf Menschen und Material führten auf deutscher Seite zu der Überlegung, nur durch qualitativ überlegene Waffeninnovationen das Kriegsgeschehen wenden zu können. Die Zahl der dann tatsächlich entwickelten, oft bahnbrechenden Waffensysteme, wie es zum Beispiel das Strahlflugzeug Messerschmitt Me 262, der Marschflugkörper Fieseler Fi 103 („V1“), die Fernwaffe Aggregat 4 („V2“), die Panzerkampfwagen V und VI („Panther“ und „Tiger“) oder auch die U-Boot-Klasse XXI waren, hat zu dem Narrativ geführt, die Deutschen seien ihren Gegnern technisch weit voraus gewesen. Diese Auslegung setzt quasi mit dem Feldzug gegen Polen ein – hier sei nur auf den Mythos verwiesen, die Polen hätten geglaubt, die deutschen Panzer seien aus Pappe – und endet mit der Behauptung, dass bei einer längeren Dauer des Krieges aufgrund dann einsatzbereiter deutscher „Wunderwaffen“ noch eine Wende möglich gewesen wäre.

Die Gewissheit, den alliierten Wissenschaftlern überlegen zu sein, machte auf deutscher Seite auch vor international renommierten Namen wie den Physikern Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker nicht halt, die der Meinung waren, dass sie mit ihrer Arbeit an der „Uranmaschine“ – bzw. an einer deutschen Kernwaffe – an der Spitze der Entwicklung stünden. Dass die Alliierten den Krieg dennoch gewonnen haben, verdankten sie laut dieser Interpretation vor allem dem zu späten Einsatz der deutschen „Wunderwaffen“ oder dem Unverständnis Hitlers, das deren Einsatz verhindert oder verzögert habe8, sowie ihren überlegenen Industrie- und Rohstoffkapazitäten.

Diese Sicht blendet in der Regel aus, dass Briten und vor allem Amerikaner mit den Deutschen im Hinblick auf Spitzentechnologie in etlichen Bereichen gleichgezogen hatten und in einigen kriegsentscheidenden Fragen, wie der militärischen Nutzung der Kernspaltung, der Funkmesstechnik oder bei der Entschlüsselungstechnik – Stichwort „Ultra“9 –, sogar an Deutschland vorbeigezogen waren.

Mit Blick auf die Funkmesstechnik – heute als Radar bezeichnet – ist zu konstatieren, dass Deutschland zu Beginn des Krieges den Engländern deutlich überlegen war. Ja, es gab mit der Heinkel He 176 sogar den Prototyp eines Flugzeuges, das von einem regelbaren Flüssigkeitsraketentriebwerk angetrieben wurde. Und auch bei der Raketenentwicklung standen die Deutschen an der Spitze der Entwicklung. Dazu kam mit Konrad Zuse ein Erfinder, der 1939 mit der Zuse Z2 eine programmierbare Rechenmaschine entwickelt hatte – eine Erfindung, von der die Deutschen bis 1945 fahrlässigerweise kaum Gebrauch machten.

Herrenabend der Lilienthal-Gesellschaft im Neuen Palais zu Potsdam am 11. Oktober 1938, v. l. n. r.: Generalmajor Ernst Udet, General der Flieger Erhard Milch und Prof. Ernst Heinkel.

Bundesarchiv, Bild 183-H13535 (CC BY-SA 3.0)

Der Vorsprung, den die deutsche Seite in vielen hochtechnologischen Bereichen bei Kriegsbeginn hatte, ging im Laufe des Krieges indes Stück für Stück verloren. Hinzu kamen falsche Weichenstellungen, zum Beispiel die Entscheidung, die A4/V2 in Serie zu fertigen, was sich als verhängnisvolle Fehlinvestition erweisen sollte. Der immense Aufwand, der hier betrieben wurde, stand in keiner Relation zum militärischen Nutzen, wie unter anderem der Militärhistoriker Ralf Schabel aufzeigte:

War schon der Nutzen dieser Waffen [V1 und V2] relativ gering, so hatten ihre Kosten eine äußerst fatale Wirkung auf die deutsche Luftrüstungsindustrie. Die V1 war vom Preis her eine billige Waffe, die eine Tonne Sprengstoff ins Ziel bringen konnte und kaum knappe Rohstoffe verbrauchte. Sie war von der Kostenseite durchaus vertretbar. Erheblich ungünstiger sieht die Rechnung bei der V2 aus. Sie benötigte große Mengen Treibstoff und knappe Materialien, wie Qualitätsbleche und elektrische Geräte, die auch dringend für die Flugzeugfertigung gebraucht wurden. Die V2 trug dadurch wesentlich zur Behinderung der deutschen Luftfahrtindustrie bei. Milward urteilte: „Mit diesen Mitteln und der gleichen Produktionsanstrengung hätten mindestens sechs Hochleistungs-Kampfflugzeuge hergestellt werden können.“ Geht man von einem geschätzten Gesamtausstoß von 6500 Raketen aus, so verlor die Luftwaffe durch die Konkurrenz der Heeresfernkampfwaffe ca. 39.000 Flugzeuge. Ganz abgesehen von allen Zahlenspielen um die Wirtschaftlichkeit der „Vergeltung“ offenbart die Haltung Hitlers und der Wehrmachtführung erneut das typische Angriffsdenken, das auch in der kritischen Situation, in der Deutschland 1943 steckte, noch absoluten Vorrang hatte.10

Eine A4/V2-Rakete, ausgestellt im National Air & Space Museum in Washington (ca. 2004). Vom militärischen Effekt her war das überaus aufwendige A4/V2-Programm enttäuschend und wirkte sich überdies fatal auf die deutsche Luftrüstung aus.

WikiMedia Commons / Falkue (CC BY-SA 3.0)

Emailleschild des Raketen-Testgeländes der Heeresversuchsanstalt mit schematischer Zeichnung der V2; historische Authentizität nicht sicher.

Buchhandlung Stoehr, Wien

Der Glaube an die Spitzenstellung der deutschen Hochtechnologie – insbesondere im Hinblick auf die Luftwaffe – hat bei Hitler möglicherweise Entscheidungen beeinflusst, die tragischste Konsequenzen hatten. In diesem Zusammenhang wird häufig der 3. Juli 1939 angeführt; das war jener Tag, an dem Hitler die Luftwaffenerprobungsstelle Rechlin besichtigte und unter anderem auch das Raketenflugzeug He 176 vorgeführt bekam. Der Physiker Hans Papst von Ohain und Ernst Heinkel hielten einen Vortrag über den Strahlantrieb und vermittelten den Eindruck, die junge deutsche Luftwaffe werde auch in Zukunft über einen erheblichen Vorsprung gegenüber potenziellen Gegnern verfügen. Der Strahlantrieb lasse Flugzeugentwürfe zu, die der bisherigen Technik meilenweit voraus sein würden. Erhielt Hitler aufgrund der an diesem Tag entwickelten Visionen einen falschen Eindruck vom Ausrüstungsstand der Luftwaffe und fällte davon ausgehend „schwerste Entschlüsse“11, wie der Historiker David Irving meinte?

Bereits drei Jahre später, 1942, war von diesen Visionen keine Rede mehr; die Luftwaffe steckte in einer tiefen Ausrüstungskrise. Etliche Flugzeugmuster erwiesen sich als technische Versager. „Wunderflugzeuge“ mit Strahlantrieb, mit denen man dem wachsenden Produktionsvorsprung der Alliierten hätte begegnen können, gab es an der Front nicht. Hermann Göring, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, sah in der Industrie den Schuldigen an der Misere. Er sei nicht darüber informiert worden, so klagte er, dass die Flugzeugmuster in Rechlin nur Prototypen gewesen seien. Wörtlich sagte Göring mit Blick auf diese Vorführung: „Ich habe wirklich einmal vor dem Kriege Vorführungen in Rechlin erlebt, gegenüber denen ich nur sagen kann: welche Stümper sind alle unsere Zauberer. Was mir da und vor allem auch dem Führer vorgezaubert wurde, ist überhaupt noch nicht erreicht worden.“12

Nach dem Krieg angefertigte Rekonstruktionszeichnung der Heinkel He 176. Die Arbeiten an dieser Entwicklung wurden kurz nach Kriegsausbruch auf Verfügung des Generalluftzeugmeisters Ernst Udet eingestellt. Erst Anfang der 1990er-Jahre gelangten zwei Fotos der He 176 an die Öffentlichkeit.

flickr.com / SDASM Archives (gemeinfrei)

Das Blame game, das sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges an der Frage entzündete, warum die visionären, zukunftsweisenden militärtechnischen Innovationen nicht zum Tragen kamen, warum es nicht gelungen war, Raketen, Strahlflugzeuge oder Flugabwehrraketen vor dem Zusammenbruch der Heimatluftverteidigung rechtzeitig an die Front zu bringen, obwohl die Entwicklungen bereits vor dem Krieg eingesetzt hatten, mündete in einer Art waffentechnologischer „Dolchstoßlegende“13: Geniale Techniker und Wissenschaftler mit revolutionären Ideen und Visionen seien an Bleistiftspitzern oder Ignoranten gescheitert, die die Bedeutung der revolutionären Entwicklungen nicht erkannt und deren rechtzeitigen Einsatz deshalb hintertrieben oder blockiert hätten.

Ob und inwieweit diese Sichtweise belegbar ist, soll anhand ausgewählter zukunftsweisender Entwicklungen nachgeprüft werden. Was verhinderte, dass die „gigantischen Visionen“ in entscheidende militärische Vorteile umgemünzt oder realisiert werden konnten? Was war entscheidend, wenn sie, wie die V-Waffen, doch Realität wurden? Und was verhinderte, um bei den V-Waffen zu bleiben, dass ihr Einsatz irgendeinen fühlbaren Einfluss auf den Verlauf des Krieges nahm?

Diesen Fragen und möglichen Antworten soll auf verschiedenen waffen- und rüstungstechnologischen Feldern nachgegangen werden, die sich von der Entwicklung einer deutschen Kernwaffe über den Bau von Strahlflugzeugen bis hin zur Entwicklung von Ersatzstoffen erstrecken.

1Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin 1989, S. 961.

2Regine Herbrik: Soziologische Untersuchungen zum Begriff der Vision. Magisterarbeit im Fach Soziologie, Universität Konstanz 2001, S. 16; online unter: kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/11509/01_Herbrik_MA_Arbeit_Text.pdf?sequence=1&isAllowed=y (letzter Zugriff: 21. Dezember 2020).

3Ebd., S. 75.

4Ebd., S. 97.

5ZDF-History: Krieg der Spinner. Die größten Rüstungsflops der Geschichte; online unter youtu.be/p9tfgd5A2iY (letzter Zugriff: 10. Dezember 2020).

6Michael Kerrigan: Geheimpläne des Zweiten Weltkriegs. Strategien und Vorhaben, die nie umgesetzt wurden, Augsburg 2012, S. 112 ff.

7Benjamin Maack: „Waffen des Wahnsinns“, spiegel.de vom 17. August 2009; online unter: spiegel.de/geschichte/groteskes-kriegsgeraet-waffen-des-wahnsinns-a-948445.html (letzter Zugriff: 10. Dezember 2020).

8Hier wird gern das Beispiel angeführt, dass Hitler Ende November 1943 der Serienproduktion des Strahlflugzeuges Me 262 in seiner „Verblendung“ nur unter der Voraussetzung zustimmte, das Flugzeug hauptsächlich als „Blitzbomber“ einzusetzen. Diese Entscheidung sei ein gravierender strategischer Fehler gewesen, war doch die Me 262 als Abfangjäger konzipiert. Hierauf wird noch zurückzukommen sein (siehe S. 231–236).

9„Ultra“ war die Tarnbezeichnung für die nachrichtendienstlichen Informationen, die auf britischer Seite aus der Entzifferung und Auswertung des verschlüsselten geheimen deutschen Nachrichtenverkehrs gewonnen werden konnten.

10Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen, München 1994, S. 176 f. Im Juli 1943 fiel die Entscheidung für die Massenproduktion der V2.

11David Irving: Die Tragödie der deutschen Luftwaffe, Berlin 1971, S. 128.

12Schabel: Illusion, S. 18.

13Ebd.

Kapitel II

Die gescheiterte Vision einer deutschen Atombombe

2005 hat der Historiker Rainer Karlsch mit seinem Buch „Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche“ der Diskussion um die deutsche Kernwaffenforschung im Zweiten Weltkrieg einen neuen Schub gegeben. Dabei lenkte er den Fokus weg von Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, den Nestoren der deutschen Kernphysik, und hin zu anderen Wissenschaftlergruppen, die im Zweiten Weltkrieg nicht nur einen funktionsfähigen Reaktor zu errichten versucht, sondern auch zielstrebig an der Entwicklung von Kernwaffen gearbeitet hätten.

Karlsch konnte in seinem Buch auf neue Quellen verweisen, so auf den Entwurf eines Patents für eine Kernwaffe mit Plutonium und auf Berichte des sowjetischen Geheimdienstes. Seine Arbeit gipfelte in der These, es sei deutschen Forschern gelungen, eine „taktische“ Kernwaffe herzustellen und im März 1945 in Thüringen auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf erfolgreich zu testen.14

Auch wenn die Bodenproben, die in Ohrdruf 2005 von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig im Auftrag des ZDF entnommen wurden15, Karlschs Behauptung von einer Kernexplosion bisher nicht erhärten konnten, ist die Diskussion um die Möglichkeit der Existenz eines deutschen „Manhattan Project“ nicht abgeebbt, wovon eine Reihe von Büchern Zeugnis ablegt, die zum Teil aufgrund fehlender Akten im Spekulativen blieben.16 Der Ökonom und Historiker Wolfgang G. Schwanitz hat im Weiteren in einer Rezension des Buchs von Karlsch darauf hingewiesen, dass die „heutige Nachweisbarkeit damaliger Kerntests“ „klar an Bedeutung verloren“ habe. Die „fragliche Bundesanstalt“ habe „kostspielige Analysen“ vermieden. „Was getan wurde, kann jetzt weder als ein Beweis dafür noch dagegen gelten.“17 Damit bleiben Spekulationen Tor und Tür geöffnet. Und deshalb gilt weiterhin, was Karlsch und Mark Walker feststellten: „The German atomic bomb is like a zombie: just when we think we know what happened, how and why, it rises again from the dead.“18

Befeuert werden diese Spekulationen wohl auch durch die unter anderem von Werner Heisenberg Anfang Juni 1942 gegenüber Rüstungsminister Albert Speer aufgestellte Versicherung, dass dem „Bau einer Nuklearwaffe theoretisch nichts im Wege stünde“, die „produktionstechnischen Voraussetzungen“ allerdings „frühestens in zwei Jahren“ zu erwarten seien.19 Nach Kriegsende verfestigte sich diese Auskunft zur lange Zeit kolportierten Version, die deutschen Kernphysiker seien letztlich nicht am nicht hinreichenden theoretischen Wissen gescheitert, sondern vor allem an den Engpässen und Hürden, die der ungünstige Kriegsverlauf mit sich brachte.

Die US-amerikanische Atombombe „Little Boy“ mit geöffnetem Gehäuse. Die Spekulationen um ein deutsches „Manhattan Project“ sind bis heute nicht abgeebbt.

WikiMedia Commons / US Government, Manhattan Project (gemeinfrei)

Eine Zeit lang war im Weiteren die nach dem Krieg unter anderem von Robert Jungk befeuerte Legende in Umlauf, die deutschen Wissenschaftler hätten Hitler aus moralischen Gründen die Bombe verweigert. In Jungks Buch „Heller als tausend Sonnen“ (1956) findet sich auch eine aufschlussreiche Apologie Heisenbergs im Hinblick auf den Vorwurf, er habe NS-Deutschland nicht, wie viele andere, verlassen. Er und sein „engerer Kreis“, so kolportierte Jungk, „wollten durch die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik die Atomentwicklung Deutschlands in der Hand behalten, weil sie damals noch befürchten mußten, daß sonst andere, mit weniger Skrupeln belastete Physiker versuchen könnten, für Hitler Atombomben zu bauen“.20

Die „Calutron Girls“ waren junge Frauen, die die „Calutron“-Kontrolltafeln überwachten. Der Name „Calutron“ leitete sich von der Bezeichnung „California University Cyclotron“ ab. Mithilfe des von dem US-Physiker Ernest O. Lawrence entwickelten Massenspektrografen „Calutron“ konnte in Oak Ridge – einem der Standorte des „Manhattan Project“ – das Uranisotop U-235 gewonnen werden, das in der Hiroshima-Atombombe zum Einsatz kam.

WikiMedia Commons / American Museum of Science and Energy (gemeinfrei)

Weizsäcker erklärte ein Jahr nach Erscheinen des Buchs von Jungk gegenüber dem „Spiegel“, „die äußeren Umstände haben uns die schwere Entscheidung, ob wir Atombomben herstellen sollten, aus der Hand genommen“. Zu den wissenschaftlich-technischen Ambitionen des „Uranvereins“21 sagte er: „Wir wollten wissen, ob Kettenreaktionen möglich wären. Einerlei, was wir mit Kenntnissen anfangen würden – wissen wollten wir es.“22

Funktionsweise einer Nuklearwaffe

Die Explosion einer Nuklearwaffe wird durch eine unkontrollierte atomare Kettenreaktion ausgelöst. Die Kettenreaktion setzt große Energien frei, und zwar in Form von Hitze, Druckwelle und Strahlung. Um eine Nuklearexplosion auszulösen, ist eine kritische Masse von Uran (knapp 50 kg) oder Plutonium (ca. 11 kg) notwendig. Diese Masse wird in zwei Teile aufgeteilt, nämlich in einen Kegel und eine Kugel. Mittels einer nicht atomaren Sprengladung wird der Kegel in die Kugel geschossen, was die Kettenreaktion in Gang setzt.

Diese Version ist in den letzten Jahrzehnten mit guten Gründen immer wieder infrage gestellt worden, was – jenseits aller moralischen Erwägungen, die hier mit Blick auf das NS-Regime anzustellen sind – zu der Frage führt, was tatsächlich die Gründe dafür gewesen sind, dass die „gigantische Vision“ einer deutschen Nuklearwaffe letztlich nicht realisiert werden konnte. Was eine Verwirklichung dieser Vision bedeutet hätte, brachte Walther Gerlach, ab 1944 Bevollmächtigter für Kernphysik, im Krieg wie folgt auf den Punkt: Derjenige, der „mit dem Einsatz der Bombe drohen konnte“, würde „alles“ erreichen können.23 Es handelt sich um jenen Gerlach, über den David Irving in einer Reihe von „Spiegel“-Artikeln vermerkte, dass es ihm in seiner Zeit als Bevollmächtigter vor allem darum gegangen sei, „die Physiker vor dem Tod auf dem Schlachtfeld zu bewahren“. „Er hätte die Wissenschaftler zwingen können“, schreibt Irving, „eine Atombombe zu produzieren – aber er hat es nicht getan.“24 Das ist, wie noch zu zeigen sein wird, eine Fehleinschätzung, die unter anderem Rainer Karlsch in seinem Buch „Hitlers Bombe“ richtiggestellt hat.

Zum Nennwert genommen hätte die oben zitierte Einschätzung Gerlachs mit Blick auf die aus deutscher Sicht immer verzweifelter werdende Kriegslage bedeuten müssen, alles in Gang zu setzen, um in den Besitz dieser Waffe zu kommen. Im Folgenden wird geprüft, ob die Gründe für das Scheitern im mangelnden technischen Wissen, im passiven Widerstand (sprich: moralischen Skrupeln) deutscher Kernphysiker, in den nicht ausreichenden Ressourcen auf deutscher Seite oder anderswo zu suchen sind.

Hahn und Straßmann gelingt die Kernspaltung

Der „Big Bang“ der deutschen Atomforschung fiel in die Tage vor dem Weihnachtsfest 1938. Der Ort war das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin. Hier gelang den Chemikern Otto Hahn und Fritz Straßmann, dem Assistenten Hahns, die Spaltung von Urankernen durch Neutronenbestrahlung, was als eines der bedeutendsten und folgenreichsten Ereignisse in der Geschichte der Naturwissenschaften klassifiziert werden kann. Wie dieser Vorgang zu bewerten war, darüber hatten Hahn und Straßmann noch keine Theorie. In Anschluss an ihr Experiment konnten sie – zu ihrer Überraschung – Barium-56 nachweisen, das aus Uran-235 entstanden sein musste.

Hahn trat deshalb mit der österreichisch-jüdischen Kernphysikerin Lise Meitner25, die aus „rassischen Gründen“ nach Schweden emigriert war, brieflich in Kontakt; Hahn und Straßmann hatten mit ihr lange Zeit zusammengearbeitet. Zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch kam sie zu dem Ergebnis, dass Hahn und Straßmann die Spaltung von Atomkernen gelungen war. Beide waren überzeugt, dass neben Barium-56 noch ein zweites Element entstanden sein musste, nämlich Krypton-36. Das hatten Hahn und Straßmann übersehen.

Meitner und Frisch erkannten weiter, dass hierbei eine bis dahin unvorstellbar große Menge an Energie freigesetzt wurde. Meitner sprach rückblickend davon, dass Otto Hahn und Fritz Straßmann „ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eröffnet“ hätten. „Die dieser Entdeckung zugrunde liegende wissenschaftliche Leistung scheint mir darum so bewundernswert, weil sie ohne jede theoretische Wegweisung auf rein chemischem Weg erreicht worden ist.“26 Weiter erklärte sie:

Es gelang mit einer ungewöhnlich guten Chemie von Hahn und Straßmann, mit einer phantastisch guten Chemie, die zu dieser Zeit wirklich niemand anderer gekonnt hat. Später haben’s die Amerikaner gelernt. Aber damals waren wirklich Hahn und Straßmann die einzigen, die das überhaupt machen konnten, weil sie so gute Chemiker waren. Sie haben wirklich mit der Chemie einen physikalischen Prozeß sozusagen nachgewiesen.27

Der Kontakt Hahns mit Meitner führte dazu, dass sie und Frisch den dänischen Physiker Niels Bohr über Hahns Entdeckung informierten, der diese Ende Januar 1939 auf einer Konferenz für Theoretische Physik in Washington vorstellte.28 Aber auch Hahn selbst drängte in die Öffentlichkeit und veröffentlichte seine Ergebnisse Anfang Januar 1939 in der Zeitschrift „Naturwissenschaften“.

Im Februar 1939 lieferten Meitner und Frisch in der Abhandlung „Disintegration of Uranium by Neutrons. A New Type of Nuclear Reaction“29 eine erste physikalisch-theoretische Deutung für das von Otto Hahn so bezeichnete „Zerplatzen“ des Uran-Atomkerns. Hier fiel unter anderem erstmals der Begriff „fission of the nucleus“ – auf Deutsch: Kernspaltung –, der sich in der Folgezeit international durchsetzen sollte. Ebenfalls im Februar 1939 veröffentlichten Otto Hahn und Fritz Straßmann in der Zeitschrift „Naturwissenschaften“ einen weiteren Beitrag30, in dem sie auf die Möglichkeit hinwiesen, dass mit dem Zerfall des Urankerns weitere Neutronen freiwerden könnten, die die Reaktion fortsetzten. Das war das erste Mal, dass von einer Kettenreaktion die Rede war. Hierfür erhielt Hahn 1944 den Nobelpreis für Chemie, den er allerdings erst 1946 entgegennehmen konnte.

Nachbau der Apparaturen, mit denen Otto Hahn und Fritz Straßmann 1938 die Kernspaltung entdeckten, im Deutschen Museum in München. Die Anlagen waren ursprünglich in drei Räumen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie untergebracht: Bestrahlung, Messung und Chemische Analyse. Auf der unteren Platine befindet sich eine Reihe von Pertix-Batterien mit Verbindungskabeln für die Stromversorgung. Im Versuchsaufbau sind sieben Elektronenröhren sichtbar.

flickr.com / brewbooks (CC BY-SA 2.0)

Ende April 1939 konnte der französische Physiker Jean-Frédéric Joliot-Curie mit Blick auf die Frage, ob sich die Kernspaltung in Form einer Kettenreaktion fortpflanzen könne, eine bejahende Antwort geben. Damit war in der Fachwelt klar, dass die Kernspaltung zur Energiegewinnung, aber auch für die Entwicklung von Waffen mit bisher nicht gekannter Explosionskraft verwendet werden konnte.

Kernspaltung

Das Prinzip von Atombomben beruht auf der enormen Energie, die freigesetzt wird, wenn ein schwerer Atomkern in mehrere leichtere zerfällt. Beschießt man ihn mit Neutronen, kann man diesen Prozess gezielt auslösen. Für die technische Nutzung der Kernspaltung kam zunächst nur Uran-235 in Betracht (der Name bedeutet, dass dieses Isotop des Elements Uran 235 Kernbausteine enthält, und zwar 92 Protonen und 143 Neutronen). Es kommt nur zu einem sehr geringen Anteil in Natururan vor, das vor allem aus Uran-238 (mit drei Neutronen mehr) besteht. Um eine Kernspaltung auslösen zu können, bedarf es eines freien Neutrons, das vom Uran-235-Kern aufgenommen werden muss. Beim Prozess der Aufnahme entsteht kurz Uran-236, das aber nicht stabil ist und wieder zerfällt, und zwar in Barium-56 und Krypton-36. Es bleiben zwei bis drei Neutronen übrig, die für den Prozess der Kettenreaktion entscheidend sind.

Kettenreaktion

Wird ein Atomkern von Uran-235 mit einem Neutron beschossen, entsteht das Isotop Uran-236. Uran-236 ist nicht stabil, sodass es zu einem Zerfall kommt. Durch diese Kernspaltung entstehen die Atome Barium-56 und Krypton-36 sowie zwei oder drei Neutronen. Diese Neutronen können wiederum andere Atomkerne von Uran-235 in Uran-236 umwandeln und zum Zerfall bringen. Damit es zur Kernspaltung kommt, ist entscheidend, dass die Neutronen nicht zu schnell sind, damit sie von den Atomkernen von Uran-235 aufgenommen werden können. Ist hinreichend Uran-235 vorhanden, nimmt die Zahl der zerfallenden Kerne exponentiell zu. Dieser Vorgang wird als Kettenreaktion bezeichnet. Zu unterscheiden ist zwischen einer kontrollierten und einer unkontrollierten Kettenreaktion. Bei einer kontrollierten Kettenreaktion besteht das Ziel darin, das Ausmaß zu begrenzen. In einem Kernreaktor übernehmen das Regelstäbe aus Cadmium oder Bor, die die freien Neutronen „auffangen“ und so die Kettenreaktion eindämmen. Die Kernspaltung ist dann beendet, wenn es keine freien Neutronen mehr gibt. Demgegenüber ist es das Prinzip der Atombombe, mit einer ausreichenden Menge von Uran-235 und Neutronen eine unkontrollierte Kettenreaktion auszulösen. Diese entsteht durch die exponentielle Vermehrung der Kernspaltungen durch das Freisetzen von Neutronen. Dieser Prozess setzt sich so lange fort, wie es spaltbares Uran gibt.

Der Reichsforschungsrat (RFR) organisierte daraufhin Ende April 1939 die Zusammenziehung aller führenden deutschen Atomforscher im „Uranverein“, der zu Beginn seiner Tätigkeit mit einer Million Reichsmark pro Jahr gefördert wurde. Programmleiter des „Uranvereins“ war zunächst Abraham Esau, der Leiter der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, dann folgte der Militärphysiker Kurt Diebner, nach ihm wieder Esau und gegen Ende des Programms der Physiker Walther Gerlach. Beteiligt waren 22 Institute von Universitäten und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in zwölf Städten. Die Arbeitsthemen und die wichtigsten Forscher waren:

•Reaktorentwicklung (Werner Heisenberg, Carl F. von Weizsäcker, Karl Wirtz, Robert Döpel, Kurt Diebner);

•Isotopentrennung (Erich Bagge, Paul Harteck, Wilhelm Groth);

•Kerndaten (Walter Bothe, Heinz Meier-Leibnitz, Wilhelm Walcher, Wolfgang Paul, Georg Stetter, Willibald Jentschke, Wolfgang Gentner, Wolfgang Riezler, Otto Haxel);

•Chemie (Otto Hahn, Fritz Straßmann).31

Der österreichische Physikochemiker Paul Harteck, Direktor des Instituts für Physikalische Chemie an der Universität Hamburg, und der Physikochemiker Wilhelm Groth erkannten rasch die militärischen Möglichkeiten der hahnschen Entdeckung, was sie dem Heereswaffenamt (HWA) mitteilten. Dabei verwiesen sie auf die Möglichkeit der Herstellung eines Sprengstoffes „von ungeahnter Wirkung“32. Ähnlich äußerten sich Göttinger Physiker in einem Brief an das Reichserziehungsministerium (REM).33 Hartecks und Groths Brief fand beim HWA, das die Initiative aufnahm, Widerhall.

Paul Harteck gehörte zu den ersten deutschen Wissenschaftlern, die die militärische Dimension der Entdeckung der Kernspaltung erkannten.

Bundesarchiv, Bild 183-2005-0331-501 (CC BY-SA 3.0 de)

Am 9. Juni 1939 publizierte Siegfried Flügge, ein Assistent Otto Hahns, die einzige deutsche Arbeit, in der die Frage der kritischen Masse eines „Kernsprengstoffes“ behandelt wird.34 Weder Flügge selbst noch Heisenberg oder andere haben sie später noch einmal explizit thematisiert, wobei offenbleiben muss, ob es in Archiven in Russland oder den USA hierzu noch erbeutete Unterlagen gibt, die weiter als Verschlusssache behandelt werden.

Mitte Juni berief der Leiter des HWA, General Karl Becker, eine Konferenz ein, bei der unter anderem Abraham Esau, Max Planck, der Ehrenpräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie Erich Schumann, Leiter der Forschungsabteilung des HWA, zugegen waren. Beschlossen wurde auf Initiative von Schumann die Einrichtung eines Referates für Kernphysik (WaF 135) im HWA, das unter der Leitung von Kurt Diebner stehen sollte. Standort war die Versuchsstelle Gottow der Heeresversuchsanstalt (HVA) Kummersdorf bei Berlin.

Dr. Kurt Diebner, Referatsleiter Kernphysik in der Versuchsstelle Gottow der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf des Heereswaffenamtes: Heisenberg und Diebner waren, so der britische Wissenschaftshistoriker Mark Walker, „erbitterte Rivalen“ in der Reaktorforschung.

WikiMedia Commons / US gov (gemeinfrei)

Die Bilder zeigen den Betonkern des Prüfstandes für Atomversuche der Versuchsstelle Gottow. Von der Anlage sind nur mehr Ruinen vorhanden. Die Arbeiten an der Einrichtung der „Chemisch-physikalischen und Atom-Versuchsstelle Gottow“ begannen Mitte der 1930er-Jahre westlich der Raketenversuchsstelle der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, die Ende Januar 1942 in Betrieb genommen wurde. Mit der von der Gruppe Diebner konstruierten „Uranmaschine“ wurden Versuchsreihen an Uranwürfeln durchgeführt. Diebner und seine Mitarbeiter versuchten, ausgehend von einer Neutronenquelle und Würfeln aus Natururan einen lauffähigen Nuklearreaktor zu entwickeln, was ihnen aber bis Kriegsende offenbar nicht gelang. Die Anlage der Versuchsstelle bestand aus zwei mehr als 500 m langen Gebäudeblöcken, einem Munitionsbunker und einer Versuchsschießbahn. Beide Gebäudeblöcke, untergliedert in insgesamt fünf Gebäudegruppen, bestanden aus acht Versuchshallen, die durch einen splittergeschützten Gang miteinander verbunden waren. Die beiden Hauptgebäudeblöcke waren überdies durch insgesamt drei unterirdische Stollen miteinander verbunden. Diebners Gruppe arbeitete in den beiden letzten Gebäuden am westlichen Ende des südlichen Blockes. Der Versuchsreaktor wurde ganz in der Nähe, südwestlich der Gebäude, errichtet. Die Versuchsstelle wurde im April 1945 evakuiert; viele Akten wurden verbrannt oder verschwanden. Nach der Übernahme der HVA durch die Sowjets wurde die Versuchsstelle umgebaut.

alle Bilder Förderverein Museum Kummersdorf e. V.

Kritische Masse

Die kritische Masse steht in Relation zur Konstruktion der Bombe und zum verwendeten Spaltmaterial. Bei Verwendung von Uran-235 beträgt die kritische Masse ca. 50 kg. Das entspricht einer Kugel mit einem Durchmesser von etwa 17 cm. Bei Plutonium-239 beträgt die kritische Masse etwa 10 kg, entsprechend einer Kugel von etwa 10 cm Durchmesser. Diese kritische Masse lässt sich deutlich verkleinern, wenn der spaltbare Stoff von einem Reflektor (schweres Wasser, Graphit, Beryllium) umgeben ist, der die austretenden Neutronen in das Uran oder das Plutonium zurücklenkt.36

Bei Kriegsbeginn bestimmte das HWA, das die Zuständigkeit für das „Uranprojekt“ an sich zog, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem zum Zentrum der Uranforschung. Der Direktor dieses Instituts, Peter Debye, durfte als Niederländer an den geheimen Forschungsarbeiten nicht teilnehmen; er nahm Urlaub und ging im Januar 1940 als Gastprofessor für Chemie an die Cornell-Universität in New York. Kurt Diebner vom HWA bezog Debyes Büro als Leiter des Berliner „Uranprojekts“.

Phase 1: Das Heereswaffenamt übernimmt die Federführung

Diebner, der im HWA als Sprengstoffexperte37 galt, setzte sich unter anderem dafür ein, dass der Kernphysiker Erich Bagge zum HWA eingezogen wurde. Diebners Ziel war laut Bagge offenbar von Anfang an klar: Ihm ging es um die „Atombombe“38