Gipfelgespräch - Andrea Paluch - E-Book

Gipfelgespräch E-Book

Andrea Paluch

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Beschreibung

Das Leben ist ein Berg, mit seinen Höhen und Tiefen. Auf dem Zenit ihres Lebens unternimmt eine Frau eine Wanderung. Und begegnet sich selbst. Die Stimmen der Vergangenheit verbinden sich zu einem Gespräch über das Leben, darüber Frau zu sein, Frau in diesem Leben zu sein. Was anderen Midlife-Krise ist, führt sie als Gipfelgespräch. Unbewusstes wird bewusst. Vergessenes erinnert. Aus einem Chor von Erinnerungen und Reflexionen, alltäglichen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen entsteht das Abbild eines weiblichen Bewusstseins im 21.Jahrhundert.

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Andrea Paluch

Gipfelgespräch

Wenn das subjektiveWahrnehmen wie einEisberg ist, dann istdie Sprache der kleineTeil, der oben ausdem Wasser guckt.Wie kann man ernsthaftversuchen, denimmensen anderen Teilsichtbar zu machen?

In dem Moment, als die Kinder nicht mehr bei ihr wohnten, war ihr austariertes Leben zu Ende. Fast zwei Dekaden lang waren die Waagschalen voll gewesen. Jetzt war eine davon leer und schnellte nach oben. Die andere wurde zu Ballast. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Leben hatte Schlagseite bekommen. Sie musste etwas in die leere Waagschale werfen, damit es wieder ins Gleichgewicht kam. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Statistisch gesehen würde sie noch vierzig Jahre leben. Zu lange, um nur Lücken zu füllen. Sie hatte Querflöte zu spielen gelernt, Sprachen und Literatur studiert, bestimmt tausend Bücher gelesen, zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern bekommen. Und jetzt gab es da diese Leerstelle. Wohin mit ihrer Zeit und Kompetenz? Was konnte sie eigentlich? Was konnte sie eigentlich tun? Genau genommen, war es geboten, sich zivilgesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Das hatte sie jedoch erst nach den letzten zwanzig Lebensjahren verstanden. Als ihr Doktorvater ihr bei der Urkundenüberreichung gesagt hatte, sie gehöre nun zur intellektuellen Elite, war ihr das peinlich gewesen. Sie hatte die in diesem Satz implizierte Verantwortung nicht verstanden, ja, noch nicht einmal wahrgenommen. Alles was sie gehört hatte, war ein Kompliment. Verantwortung war ihr weit weg vorgekommen und erst konkret geworden, als sie Kinder bekam. Und da diese nun in ihr eigenes Leben aufgebrochen waren, konnte die Gesellschaft zu ihrem Recht kommen. Hatte die Gesellschaft überhaupt ein Recht? Wollte sie ihre Zeit wirklich mit Leuten verbringen, die sie sich nicht aussuchen konnte?

Damit hatte sie nicht gerechnet. Allein zu sein, hatte etwas bei ihr ausgelöst, unerwartet heftig und unkontrollierbar. Sie fühlte sich verlassen, blutete von innen. Dieser Zustand musste aufhören.

Aus der leeren Wohnung zu fliehen und die neue Situation zu verarbeiten, waren wahrscheinlich die ersten richtigen Schritte. Ihre Kollegin hatte ihr schon oft vom Bergwandern vorgeschwärmt. Sie war Mitglied im Alpenverein und nahm regelmäßig an angebotenen Touren teil. Die Fotos, die sie hinterher zeigte, waren jedes Mal phänomenal. Gipfelketten und Panoramablicke über riesige Felsmassive. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, es einmal zu probieren. Eine Gruppenreise kam für sie allerdings nicht infrage. Grundsätzlich nicht, in dieser aktuellen Gemütslage jedoch schon gar nicht. Sie würde sich alleine freikämpfen. Zum Glück war gerade vorlesungsfreie Zeit und sie konnte los.

Sie setzt sich an den Computer und sucht nach Reiseverbindungen. Seit der Coronakrise sind die Flugpläne ziemlich ausgedünnt. Trotzdem findet sie einen Flug für den übernächsten Tag. Zwar wäre sie am liebsten sofort am nächsten Morgen abgereist, aber vielleicht war etwas Zeit für die Vorbereitung gar nicht schlecht.

Sie wollte nicht viel tragen, so viel war klar. Wahrscheinlich war es am besten, sie nahm den Daypack, den sie sich für die Städtetour mit den Kindern nach London gekauft hatte. Sie hatte immer den Lastesel gespielt und Jacken, Wasser, Bonbons und Taschentücher für alle dabeigehabt. Die Hüftgurte an dem Rucksack hatten sie von Anfang an gestört, im Alltag waren die völlig unpraktisch. Deshalb war sie ein paar Mal kurz davor gewesen, sie abzuschneiden. Aber etwas Intaktes zu zerstören, brachte sie nicht übers Herz. Nun ist sie froh darüber, es nicht getan zu haben. Ihre alten Wanderschuhe hat sie auch noch. Zuletzt hat sie die im Studium benutzt, es klebt noch gelber Lehm aus einem anderen Leben in den Ritzen. Das Profil ist deutlich abgelaufen und eine Naht droht sich aufzulösen. Doch für ein paar Tage müssen die reichen. Nun fehlt ihr nur noch eine Jacke, leicht, warm, wind- und wasserabweisend. Und ein Jugendherbergsschlafsack. Das wird sie noch kaufen müssen. Wanderstöcke kann sie sich von ihrer Kollegin leihen.

Es fühlt sich wunderbar befreiend an, nur die allernötigsten Sachen einzupacken. Unterhosen nehmen nicht viel Platz weg, davon gönnt sie sich eine für jeden Tag. Socken ebenso. Ein T-Shirt zum Schlafen. Eine Jogginghose, falls es kalt wird. Den Rest hat sie auf der Reise an. Dann ein kleines Handtuch. Die Zahnbürste, eine Zahnpasta-Probe aus der Apotheke, etwas Creme abgefüllt in ein kleines Pöttchen, ein Mini-Shampoo aus einem Hotel, alles in eine Klarsichttüte. Was noch? Tampons und Schmerztabletten. Eine Rolle Klopapier. Und sonst? Ein dünnes Buch würde bestimmt auch gehen. In ihrem Stapel noch zu lesender Bücher steckt Ophelias poetischer Lebensbericht von Paul Griffiths. Es ist ein Monolog, für den Griffiths ausschließlich die 481 Wörter benutzte, die Shakespeare Ophelia im „Hamlet“ zugestand. Und trotzdem, oder gerade deswegen, wirkte die entworfene Seelenlandschaft sehr intensiv. Die sprachliche Begrenzung drängte sich nicht auf, lief unbewusst mit. Sie sieht hinab auf ihren Rucksack. Fehlte noch etwas? Na klar, Wasserflaschen. Sie muss über sich selbst den Kopf schütteln. Fast hätte sie das Wichtigste vergessen.

Sie fährt mit dem Bus zum Bahnhof. Eine hübsche junge Frau mit Zwillingskarre steigt ein. Die Kinder sind extrem süß und schauen sich mit großen dunklen Kulleraugen um. Die Mutter ist etwas hektisch, sie will unbedingt ganz schnell nach vorne zum Fahrer, um eine Fahrkarte zu kaufen. Sie ist beinah übermotiviert. Auf ihr scheint eine unglaubliche Bringschuld zu lasten. Kaum hat sie die Bremse der Karre arretiert, ist sie auch schon auf dem Weg. Der Bus fährt an und sie torkelt dem Fahrer entgegen. Alle Fahrgäste sehen ihr dabei zu. Auf dem Rückweg fällt sie fast einem Rentner auf den Schoß, den sie zuvor schon angerempelt hat. Sie entschuldigt sich mehrfach, der Rentner lacht und winkt beschwichtigend ab. Er findet das anscheinend nicht schlimm, die Frau aber offenbar sehr wohl. Die ganze Situation ist extrem unangenehm. War die Frau so beflissen, weil sie dunkelhäutig war und ein Kopftuch trug? Fühlte sie sich dazu verpflichtet, besonders korrekt zu sein, weil sie anders aussah als alle anderen im Bus? Zeichnete ihr offensichtlich angeborenes Alltagsdeutsch sie nicht als Deutsche aus? Wahrscheinlich war ihr klar, dass alle sie als Ausländerin wahrnahmen. Und vermutlich hatte sie das schon öfter erlebt. Was müsste anders sein, damit die Situation nicht so angespannt wäre? Vielleicht gab es ein grundsätzliches Missverständnis, dass in einer Demokratie die Mehrheit im Recht war. Das Recht der Mehrheit bedingte jedoch die Pflicht, Gerechtigkeit für jeden Einzelnen zu garantieren.

Sie ist etwas zu früh am Bahnhof und kann in aller Seelenruhe zu ihrem Zug schlendern, der schon am Bahnsteig wartet. Die Pendler sind seit einer Stunde weg und nur wenige Reisende sind unterwegs. Geschenkte Zeit. Eine Pause wie Atem anhalten, ein Moment der Stille, bevor die Reise Fahrt aufnimmt.

Es ist ein Doppeldeckerzug, leer wie der Bahnsteig. Sie hat freie Platzwahl und entscheidet sich für oben. Von dort sieht die Welt ein wenig anders aus als sonst, die Perspektive ist erhaben. Sie mochte es, gegen das Bahnsteigdach zu schauen. Rechteckiges Milchglas, durchzogen mit einem Drahtgitter wie die Haustür ihrer Kindheit. Die senkrechten Scheiben sind mit einer fetten Kittschicht an den Holzsprossen befestigt, die in dem Blau der Rahmen übermalt sind. Obwohl der Farbton verblichen ist, kann sie sich vorstellen, wie er ursprünglich ausgesehen hat. Die Farbe endet erst etwa zwei Zentimeter auf dem Glas, ein Abschluss, der den unebenen Kittstreifen kaschiert. Alle paar Meter ragen vier Hutmuttern aus dem Holz, symmetrisch unter einer Sprosse, zwei rechts, zwei links davon. An diesen Stellen mündet die Farbe auf dem Glas in kleine Dreiecke, die zu den äußeren Muttern auslaufen. Alles hat Prinzip. Kleinigkeiten werden berücksichtigt, an einer Stelle, die eigentlich keiner sieht. Aber auch: dicke Vogelkacke, mitten auf einer Glasscheibe, die hinunterläuft und auf der verblichenen Farbe dunkle Streifen hinterlässt. In den Ecken der Sprossen sammelt sich brauner Staub. So viel Sorgfalt und Ordnung, dem Verwittern preisgegeben.

Als der Zug losfährt, bewegt er sich in die falsche Richtung. Erst ist sie ungläubig, dann mischt sich Orientierungslosigkeit mit Schreck. Was sollte sie tun? Sie rafft ihre Sachen zusammen und eilt durch den menschenleeren Zug Richtung Lok. Sie klopft an die Tür der Fahrerkabine. „Warum fahren wir rückwärts?“, ruft sie mit leicht alarmierter Stimme. „Der Zug fällt aus. Ich komme gleich“, gibt es zur Antwort. Während der Fahrt auf das Abstellgleis denkt sie tausendmal „Verdammter Mist“. Ihr Herzschlag beruhigt sich wieder. Sie ist rechtzeitig zum Flughafen aufgebrochen, sodass ihr genug Zeit bis zum Abflug bleibt. Das macht sie immer so. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, zum Beispiel im Abstellgleis landen. Ihre Kinder lachen sie dafür immer aus. Der Zug hält und ein blasser Lokführer öffnet die Tür der Fahrerkabine. „Ich nehme Sie über das Gleisbett zurück zum Bahnhof“, sagt er. „Bleiben Sie bei mir.“ – „Ist der Zug kaputt?“, fragt sie. „Mir ist schwindelig, ich schaffe es nicht einen Bahnhof weiter“, sagt der Lokführer. Sie springen aus dem Zug und laufen eine gefühlte Ewigkeit an den Gleisen entlang. Dem Lokführer schien es echt schlecht zu gehen, denn er ging sehr langsam. Als sie endlich sein Auto am Bahnhofsgelände erreichen, fragt sie: „Schaffen Sie es nach Hause?“ Der Lokführer nickt matt. „Na dann vielen Dank und gute Besserung“, sagt sie und marschiert rasch weiter Richtung Bahnsteig. Zweiter Anlauf.

Sie erreicht den nächsten Anschluss und sitzt zunächst wieder alleine oben im Zug. Aus dem Fenster an dem benachbarten Vierersitz sieht sie auf die blaue Bedachung. Ein pickliger Teenager kommt hoch, bemerkt sie und wählt den Sitz, über den sie gerade hinausschaut. Von allen möglichen Plätzen wählte er genau den in ihrem Blickfeld. Merkwürdig. Ihr Sohn hätte genau diesen Platz vermieden und sich so weit weggesetzt wie möglich. Der Teenager holt einen vergilbten Kinderbuchklassiker hervor und vertieft sich demonstrativ in das Buch. Er starrt auf die Seiten, ohne zu lesen, als posiere er vor ihr. Er wollte gesehen werden. Sie dreht den Kopf weg, schaut aus dem Fenster auf ihrer Seite und betrachtet die Reisenden am Bahnsteig gegenüber. Als dort der Zug einfährt, überkommt sie ein plötzliches Glücksgefühl. Woran lag das? Vielleicht, weil alle auf dem Bahnsteig gleichzeitig in Bewegung geraten. Aufbruchsstimmung. Zwei Leute setzen sich hinter sie und unterhalten sich, eine ältere Frau mit verrauchter Stimme und eine Schülerin. „Hast du schon mal ein Praktikum gemacht, oder ist das dein erstes?“, fragt die ältere Frau. Das Mädchen antwortet: „Wir müssen in der Schule zwei Praktiku… Praktik…“ Es sucht nach der richtigen Form und kommt nicht drauf. Da springt ihr die ältere Frau zur Seite und sagt mit gütiger Stimme: „Praktikas.“ Ihr Glücksgefühl schlägt um in Heiterkeit. Sie muss lachen. Das hat sie schon lange nicht mehr getan, es kommt ihr ganz ungewohnt vor. Und so alleine irgendwie auch deplatziert.

Sie war schon immer viel Zug gefahren. Als Studentin hatte sie stets versucht, Plätze zu bekommen, an denen sie möglichst ungestört war. Einmal hatte sie auf der Fahrt nach Hause Glück gehabt und ein leeres Abteil für sich alleine gefunden. Sie kam von einem Probenwochenende mit dem Uniorchester und hatte wenig geschlafen. Ihre Tasche lag auf dem Sitz gegenüber, auf den sie auch ihre Füße ausgestreckt hatte. Mit dem Kopf ans Fenster gelehnt, war sie eingeschlafen und bekam nur vage mit, dass sich jemand dazusetzte. Als sie merkte, wie ihre Waden berührt wurden, war sie übergangslos wach. Erschrocken hatte sie die Beine zurückgezogen und in das lächelnde Gesicht eines deutlich älteren Mannes geblickt, der anfing, in einer fremden Sprache zu reden. Sie war aus dem Abteil gestürzt und in die Toilettenkabine geflüchtet. Dort hatte sie ein paar Augenblicke verharrt, bis sie ihren Mut zusammennahm, um ihre Tasche zu holen. Als sie die Tür aufschloss und zu ihrem Abteil zurückging, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Doch der Mann war verschwunden. Er hatte ihre Tasche durchwühlt, ihr Portemonnaie gefunden und aus Mangel an Scheinen das gesamte Kleingeld ausgeleert. Zum Glück hatte er die Flöte nicht entdeckt.

Mittlerweile hat sie nicht mehr das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Stattdessen beobachtet sie die anderen Reisenden. Im Handyzeitalter war das auch viel problemloser möglich als früher, denn man musste nicht befürchten, durch Blickkontakt entdeckt zu werden.

Als sie den Flughafen erreicht, stellt sie sich geradewegs an der Schlange vor den Sicherheitskontrollen an. Nach einiger Zeit merkt sie, dass es recht zügig vorangeht. Doch ihr Körper ist angespannt. Nach der üblichen Prozedur aus warten, die Jacke ausziehen, Zahnpasta auspacken und Ticket zeigen, beeilt sie sich und erreicht zehn Minuten vor dem Boarding das Gate. Alles ist gut gegangen. Sie geht langsam auf und ab und atmet tief ein und aus. Doch die innere Anspannung bleibt.

In ihrem Flugzeug sitzen ein paar deutsche Touristen und einige italienische Geschäftsreisende. Den größten Anteil der Passagiere macht eine Fußballmannschaft Vierzehnjähriger aus, die einen riesigen Pokal dabeihat. Als die hochgewachsenen Jugendlichen mit Kindergesichtern an ihr vorbeigehen, steigen ihr Tränen in die Augen. Sie sieht ihre eigenen Kinder mit strahlenden Gesichtern Medaillen hochhalten. All die Turniere, auf denen sie als Zuschauerin Stunden ihres Lebens zugebracht hat, um ihre Kinder zu unterstützen. Damals fühlte sie sich wie ein Teil von etwas Großem. Nun sitzt sie fremd zwischen Fremden. Während des gesamten Fluges schläft sie und nimmt nur unterbewusst wahr, wie die Stewardessen Snacks verkaufen und Geld für die Impfung afrikanischer Kinder sammeln. Sie dämmert in einem unwirklichen Zustand dahin und hofft, beim Aufwachen in ihrem eigenen Bett zu liegen.

Als sie die Augen öffnet, rollt die Maschine gerade in die Parkposition. Ihr Nacken tut weh, der Rücken ist steif. Kaum erlischt das Anschnallzeichen, springen alle Passagiere wie auf Kommando auf und stehen an den Türen Schlange. Sie bleibt sitzen, schließt wieder die Augen und wartet, bis es weitergeht.

Nun waren sie also weg. Jonas hatte Abitur gemacht und würde nach einer Australienreise irgendwo anfangen zu studieren. Felicitas war für ein Austauschjahr in die USA gegangen und spekulierte auf ein Stipendium, um dort bleiben zu können. Falls sie überhaupt noch einmal nach Hause zurückkehren würde, dann höchstens für das Abiturjahr, als Gast. Sie wusste, dass ihren Kindern die Trennung nicht schwerfiel. Sie wusste, dass sie bis zum Anschlag voll waren mit ihrer Liebe. Die beiden konnten sich ihrer sicher sein, egal wo sie lebten. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass ihre Kinder nach dem Abitur die Welt entdecken, etwas erleben wollten. Sie wollte keine Hotel Mama-Typen bei sich wohnen haben, die keinen Plan davon hatten, was sie tun sollten, und paralysiert herumhingen. Nun war Feli ihr zuvorgekommen und hatte sich gleichzeitig mit Jonas verabschiedet. Mit leichter Hand zogen sie einen Schlussstrich unter einen Lebensabschnitt, den sie Kinderblase getauft hatte. Neunzehn Jahre, in denen sie das Leben ihrer Kinder geteilt hatte. Mitgelebt. Gelebt. Sie war im Grunde nie alleine gewesen, war höchstens kurz ausgeschert und gleich wieder da gewesen. Sie hatte die beiden bis zur Selbstständigkeit begleitet, die schneller erreicht war, als sie es für möglich gehalten hatte. Und nun hatte sie die gesamte Betreuungszeit für sich. Zeit im Überfluss. Zeit, in der sie Dinge alleine erlebte, weil niemand da war, der das Gleiche sah wie sie.

Früher wäre sie nie auf die Idee gekommen, ohne ihre Kinder zu verreisen. Die beiden waren Teile ihres Bewusstseins, sodass sie alles multiperspektivisch wahrnahm. Richtig verstanden hatte sie das erst bei einem Aufenthalt in London. Sie war mit ihren Kindern am Hydepark Richtung Oxford-Street unterwegs gewesen. Während der Teil ihres Ichs, der sie selbst war, gerade auf dem schmalen Bürgersteig zwischen Staketenzaun und Busspur entlangging, hüpfte ein anderer Teil mit ihrer Tochter durch das Parktor und ein dritter Teil war mit ihrem Sohn, der auf den Mülleimer für Hundekot zeigte, schon drin. In diesem Moment war das normal gewesen und nicht weiter erwähnenswert. Als sie später zu einem Kongress alleine nach London reisen musste und ohne ihre Kinder denselben Bürgersteig entlanglief, war das Erlebnis nur einen Bruchteil so intensiv gewesen. Und deshalb traurig. Diese Erfahrung war ein von ihr nicht beachteter Vorbote gewesen für die Leere, die sich nun nach dem Abschied ihrer Kinder eingestellt hatte. Sie vermisste das bedingungslose Glücklichsein. Früher strahlten ihre Gefühle von ihr aus, trafen auf ihre Kinder und wurden gespiegelt. Ihre ausgesandte Stimmung kam vielfach zurück. Das war Glück. Nun strahlte sie ins Nichts. Je weiter sich die Ausstrahlung von ihr wegbewegte, desto dünner wurde sie. Schließlich löste sie sich auf in einer seelenlosen Unendlichkeit. Wie bei einem schlecht gedämmten Haus entwich die Energie, ohne Wärme zu speichern. Die gewohnte Wärme. Sie hatte Angst, sie würde aufhören zu strahlen. Und es würde niemals mehr etwas zurückkommen.

Die Anreise rauscht an ihr vorbei. Nach einer Übernachtung in Turin und mit einem frühen Bummelzug ist sie endlich in den Bergen. Der Zug endet in ihrem Zielort, das Tal ist eine Sackgasse. Von hier aus geht es nur noch bergauf. Es ist angenehm warm, die Hitze aus der Ebene kann sich auf dieser Höhe nicht halten. Die Pfützen vor dem Bahnhof zeugen davon, dass es geregnet hat. Auf der sonnigen Zugfahrt war davon nichts zu merken gewesen. Das Wetter funktionierte hier offenbar kleinteiliger als zu Hause. In Deutschland hatte es seit Wochen nicht geregnet und es herrschte Dürre. Das Thema Corona wurde in den Medien allmählich wieder vom Thema Klimawandel verdrängt.

Sie schultert den Rucksack und stiefelt los. Erst mal weg vom Bahnhof, raus aus dem Ort, die Menschen hinter sich lassen und hoch hinaus. Proviant hat sie sich bereits in Turin gekauft, sodass sie die Zivilisation ohne Umwege verlassen kann. Die Straße windet sich einen Hang hinauf. Der Abstand zwischen den Häusern wird größer. Hinter jedem Zaun bellt ein Hund. Nach kurzer Zeit läuft ihr der Schweiß und der Atem geht schnell. Der Mund wird trocken. Am Ortsende zeigt ein Holzschild auf einen aufsteigenden Waldpfad, der ohne Umschweife steil bergauf führt und die Serpentinenstraße einige Male kreuzt. Schnaufend steigt sie ihn hoch und erreicht nach einer knappen Stunde ihre erste Etappe. Sie hat jetzt schon das Gefühl, dass sie nicht mehr kann. Dabei ging es nun erst richtig los. Laut Karte soll sie eine Brücke passieren. Die ist aber gesperrt und ein paar Schilder markieren sie als marode. Überqueren bei Lebensgefahr verboten. Das fängt ja gut an. Sie bleibt stehen und überlegt, was sie machen soll. Da sieht sie ein junges Pärchen mit Kleinkind im Buggy spazierend über die Brücke kommen. Bedenken scheinen also unbegründet. Mit mulmigem Gefühl betritt sie die Brücke und geht nicht langsamer hinüber als nötig. Sie erreicht die andere Seite, ohne spektakulär in die Tiefe zu stürzen. Die Schwelle war überschritten, der Weg konnte beginnen.

Die Strecke führt sie parallel zum Fluss, der tief unter ihr durch die Felsbrocken strömt. Das Rauschen in der jetzt doch brütenden Hitze war wie eine erfrischende Verlockung, ein Sirenengesang, gegen den man sich wappnen musste. Am liebsten hätte sie sich dem Rauschen überlassen, wäre kopfüber in die Frische gestürzt, denn es gibt keinen Weg hinunter, das Wasser ist nicht lebend zu erreichen. Als sie stehenbleibt, fallen Fliegen ihren verschwitzten Körper an, schwirren ihr um den Kopf und übertönen das mächtige Rauschen des Wassers unter ihr. Also weiter den steilen, staubigen Pfad entlang. Zu ihrer Erleichterung flacht der Weg bald ab und macht es ihr möglich, bequem zu gehen, beinah ohne Anstrengung. Sie kann sogar den Blick von den Füßen heben und beim Laufen die Landschaft bewundern. Sattgrüne Almen ziehen sich die weiten Hänge hinauf und überlassen den Felsen die Gebirgskämme. Die Wiesen sind bunt vor Blumen. Weit entfernte Kuhglocken und Murmeltierpfiffe tun ihr Übriges, um sie zu überzeugen: Sie war in einer anderen Welt. Doch die sinnlichen Reize drangen nicht zu ihr durch. Wie sollte man sich alleine freuen? Ein schwerer dunkler Deckel lag auf ihrer Seele. Sie roch zwar die staubige Würze der Wildpflanzenmatten, aber der Duft blieb ihr in der Nase stecken und gelangte nicht in ihr Herz, wo er hingehörte.

Sie lief als Teil eines fehlenden Ganzen herum. Das Schöne ging durch sie hindurch wie Wasser durch ein Sieb. Sie musste sich unbedingt ein eigenes Ganzes kreieren, eine lebendige Einheit für die Zukunft. Für die Zeit bis zum Tod. Tot zu sein, schreckte sie nicht, der Weg dorthin schon. Vor dem Sterben hatte sie Angst, vor allem, wenn es von einer Krankheit begleitet werden sollte. Der Moment, in dem die Diagnose verkündet wurde, wäre die Richtungsänderung. Der Moment, an dem sich alles umdrehte. An dem die Krankheit das Lebensthema übernahm. Am Ende würde sie das Leben so beschwerlich machen, dass der Tod herbeigesehnt werden würde. Ihr ging es gut. Sie hatte kein körperliches Leiden. Und ihrem emotionalen Leiden würde sie nicht ihr Lebensthema überlassen. Irgendwie würde sie sich wehren.

Vor wenigen Jahren noch hätte sie gesagt, der Maßstab des Wohlbefindens sei das eigene Sicherheitsgefühl.