Gitti - Erika Pluhar - E-Book

Gitti E-Book

Erika Pluhar

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Beschreibung

Erika Pluhar erinnert sich an die Kindheit und Jugend ihrer Schwester: berührend und einfühlsam. Offen und schonungslos beschreibt Erika Pluhar die traumatisierende Kriegskindheit und Nachkriegsjugend ihrer Schwester, die allzu früh Verantwortung übernehmen, sich anpassen und fügen musste. Einschneidende Veränderungen prägen Gittis Kindheit und Jugend: Nach den ersten Lebensjahren in Brasilien folgt der Umzug nach München, wo der Vater eine Karriere in der nationalsozialistischen Partei einschlägt, die die Familie schließlich ins besetzte Polen führt. Der Krieg bestimmt immer mehr den Alltag und Gitti muss sich dem Erwachsenwerden stellen … "Besser, die Traurigkeit in sich verbergen und zu einem Geheimnis werden lassen. Ja, zu einem geheimen Raum, der nur mir gehört und für alle anderen unsichtbar bleibt, dachte sie."

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Erika Pluhar

GITTI

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

© 2023 Residenz Verlag GmbHSalzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.comGrafische Gestaltung / Satz: Lanz, WienFotos: Cover und S. 55 privat, S. 223 Roland PleterskiLektorat: Isabella Suppanz

ISBN ePub:978 3 7017 4708 5

ISBN Printausgabe:978 3 7017 1779 8

Sie ist dabei, in das Vergessen ihres Lebens zu gleiten.

Ein langes Leben liegt hinter ihr.

Jetzt verwandelt es sich – wird vielleicht

zu einem Traum – gerät irgendwohin –

in eine andere, mir unbekannte Welt – entfernt sich.

Noch erkennt sie mich – wie lange noch, ist ungewiss.

Sie ist meine ältere Schwester.

Ihr Name ist Brigitte. Für uns ist sie Gitti.

Ich möchte ihre Kindheit und Jugend nacherzählen.

Zur Erzählung werden lassen.

Soweit ich davon weiß. Zeugin war.

Oder es schwesterlich erahnte.

Ich möchte die uns verbindende Vergangenheit

rückblickend aufspüren, bewahren,

meinen Erinnerungen gemäß.

Denn das wahre Geheimnis ihres Daseins

trägt sie mit sich davon.

Wie jeder von uns.

Es war der erste Zeppelin, den er sah, sagte der Vater stets. Lautlos flog dieses Gebilde über Rio de Janeiro hinweg, als er nach der Geburt seines ersten Kindes auf den Balkon der Klinik getreten war. Das Mädchen war problemlos zur Welt gekommen. Er hatte den Säugling und die erschöpfte Mutter mit Tränen in den Augen umarmt und war dann mit all seiner Rührung und Freude auf diesen Balkon getreten, um auszuatmen. Und da flog er gravitätisch vorbei, der Zeppelin. Das erschien dem jungen Vater wie ein Zeichen des Himmels, und er ließ jetzt seinen Tränen freien Lauf. Es geschah dies an einem tropisch heißen Augusttag des Jahres 1933.

Josef Pluhar, der in Wien Welthandel studiert hatte und jetzt bei einer hiesigen Ölfirma arbeitete, lebte schon seit etwa drei Jahren in Brasilien. Seine Verlobte, eine Wiener Kunststudentin namens Anna, hatte ihm zuliebe die Kunst Kunst sein lassen und war ihm später nachgefolgt. Sie hatten hier geheiratet und bald war die junge Frau schwanger geworden. Und er heute Vater.

Er hatte sich eine Tochter gewünscht, und wenn, sollte diese Brigitte heißen, das hatte das Ehepaar einträchtig beschlossen.

Nun war sein Wunsch also in Erfüllung gegangen.

Brigitte hatte das Licht der Welt erblickt.

Josef und Anna waren kurz vor Brigittes Geburt in ein Haus gezogen, das etwas außerhalb Rios an der Avenida Niemeyer lag, einer breiten Autostraße, die am Meer entlangführte. Jedoch zur anderen Seite hin wurde sie von einem Berghang mit dichtem Urwald und nur wenigen Wohnbauten begleitet. Eine schmale Treppe musste erklommen werden, um von der Autobushaltestelle zu dem Haus zu gelangen, das Josef seiner idyllischen Lage wegen gemietet hatte. Besaß es doch eine von Bougainvillea überwucherte Terrasse mit Meerblick. Zusätzlich aber war die Miete in dieser abgelegenen Gegend recht preiswert, der Vater war kein Großverdiener. Und unterhalb des Hauses gelangte man nach Überquerung der Avenida auf kurzem Weg ans Meeresufer, noch dazu an einen breiten, kaum von Menschen besuchten Sandstrand. Der würde wohl sehr bald Brigittes Kinderleben bereichern, dachten die Eltern.

Vorerst jedoch lag der Säugling entweder in seinem Bett im Haus oder in einem Körbchen auf der Terrasse, immer vor der südlichen Sonne geschützt. Anna musste ihre ersten Erfahrungen als junge Mutter bewältigen, und das meist allein. Josef fuhr ja täglich am frühen Morgen mit dem Autobus stadtwärts, ins Büro der Ölfirma, konnte also nur an den Abenden oder Wochenenden seiner Frau beistehen. Er tat das zwar mit Begeisterung, wenn es darum ging, die Kleine herumzutragen oder beruhigend zu wiegen, wenn sie schrie. Gerührt sah er zu, wenn sie von Anna gestillt wurde. Jedoch das Kind zu wickeln, die Berge an Stoffwindeln zu waschen, ständig sein Fläschchen zuzubereiten – das war auch für ihn, einen vergleichsweise verantwortungsvollen Gatten, reine Frauensache.

Später brach zudem der brasilianische Winter mit seinen endlosen Regenfällen auf die Familie herein. Das Haus besaß keine Heizung, die Windeln wollten nicht trocknen, Anna blieb mit der kleinen Brigitte fröstelnd, unglücklich, und fernab jeder Idylle, meist sich selbst überlassen. Sie war letztlich eine bemühte Mutter und ihre kleine Tochter ein meist ruhiges und braves Baby. Aber als Brigitte nach Kinderart anfing, Atmosphärisches wahrzunehmen, war es vorwiegend die mütterliche Traurigkeit und Vereinsamung, die auf sie ausstrahlte. Vor allem, wenn Winter war und Regen fiel.

Sonne und Meer hingegen begann sie sehr früh zu lieben. Dort, am Strand, war auch der Vater gänzlich in seinem Element. Nichts tat er lieber, als mit seiner Kleinen im Arm in die Wogen zu steigen oder für sie Sandburgen zu bauen.

Und Brigitte wurde ein hellblondes, sonnengebräuntes kleines Mädchen, das die anderen Strandbesucher entzückte und seine Eltern stolz sein ließ. Brigitte blieb völlig unerschrocken, wenn Josef mit ihr in der Brandung des Ozeans herumtollte, je wilder die heranbrausende Gischt, desto lauter ihr Jauchzen. Annas warnende Stimme wurde überhört. Sie, die etwas vom Ufer entfernt auf ihrem Badetuch ruhte, war keine gute Schwimmerin und begab sich ungern in brasilianische Meerestiefen. Das überließ sie ihrem Mann, der dieses Meer, dieses Land, der alles hier liebte. Die Stadt Rio, die sommerliche Hitze, den jährlichen Karnevalstrubel, das einsame Haus, sogar die zu ihnen herabdringenden Gesänge der Eingeborenen aus den noch höher gelegenen Favelas. Er liebte all das, womit seine junge Ehefrau sich zunehmend schwertat. Als sie ihrem Liebsten in dieses fremde Land gefolgt war, hatten wohl andere Vorstellungen sie gelockt. Aber ihre kleine Tochter wuchs hier auf. Als sie erfuhr, auf der Welt zu sein, war diese Welt für sie Brasilien.

Das änderte sich, als die Familie auf einem Hochseedampfer wieder nach Europa reiste. Man hatte eine billige Überfahrt gewählt. Das Schiff, mit nur wenigen Passagier-Kabinen ausgestattet, war schlecht beladen worden und hing in Schieflage auf dem Wasser, während es trotzdem tagelang unverdrossen das Meer durchquerte. Brigitte wurde ständig vom Aufschrei der Mutter daran gehindert, der Reling zu nahe zu kommen, während es der Vater humorvoller nahm und sie lachend hochhob. Aber die wenigen Reisenden auf diesem Dampfer mussten sich daran gewöhnen, auf schrägen Böden dahinzutappen und darauf zu achten, nicht auszugleiten oder gar über Bord zu stürzen. Brigitte wurde von der mütterlichen Angst und Besorgnis eingefangen, es gab kein Ausweichen. Die Kabine, welche sie zu dritt teilten, war eng, man aß die Mahlzeiten dichtgedrängt in einer Kombüse, auf kleinstem Raum, das Geschirr umklammernd, denn auch die Tischflächen waren schief. Brigitte wusste nicht, warum man das friedliche Haus mit seiner umrankten Terrasse über dem Meer so plötzlich verlassen hatte – und auch ihren geliebten Strand – warum man das alles verlassen hatte und sich jetzt auf dieser schwimmenden Insel voller ängstlicher Menschen befand.

Sie wusste nicht, dass politische Veränderungen Josef Pluhar, ihren Vater, »heim ins Reich« riefen, also vorerst nach Deutschland. Denn in Österreich galt er, der überzeugte Nationalsozialist, noch als »illegal« und durfte nicht einreisen. Sie wusste nicht, dass ein so liebevoller, ein so unermüdlich heiterer Vater sich auf andere Weise arg verirren konnte.

Brigitte war etwas über drei Jahre alt. Sie besaß, weil in Rio de Janeiro geboren, die brasilianische Staatsbürgerschaft. Ihr kindlicher Organismus war dem tropischen Klima zugetan, sie war trotz Hitze und lastender Feuchtigkeit kerngesund. Der Vater hatte oft portugiesisch mit seiner Kleinen gesprochen, da er selbst die Sprache gut beherrschte, erste Worte wusste sie schon. Es hätte also durchaus eine Lebensmöglichkeit für sie werden können, in Brasilien aufzuwachsen, Brasilianerin zu werden, Brasilianerin zu sein.

Sie wusste nicht, dass die politische Ausrichtung des Vaters dies verhinderte. Und ein wenig auch die Bereitwilligkeit ihrer Mutter, der zwar »das Reich« völlig egal war, die aber schlicht Heimweh hatte.

Erschöpft verließ die Familie eines Tages dieses ungeliebte Dampfschiff, als es in Hamburg endgültig vor Anker ging und seine geräderten Passagiere aus der Schieflage endlich auf ebenes Gelände entließ. Was aber noch nicht das Ende der strapaziösen Reise bedeutete. Nach der Nächtigung in einer billigen Pension bestiegen sie tags darauf am Hamburger Hauptbahnhof eine Eisenbahn. Wieder dichtgedrängt und ohne jeglichen Komfort saßen sie in einem ungeheizten Abteil und ratterten endlose Stunden Richtung Süden. Brigitte fühlte den Groll der Mutter, die verschlossen neben ihr saß, hatte aber anfangs der Reise begeistert aus dem Fenster gesehen. Flache Wiesen waren vorbeigeglitten, manchmal auch einige grasende Kühe. Die Einförmigkeit der Landschaft ermüdete Brigitte bald, am Schoß des Vaters schlief sie ein, und er hielt seine Tochter während des Großteils der Fahrt im Arm, um seine ermattete Frau zu entlasten.

Endlich in München angekommen, waren alle drei ermüdet. Brigitte erlebte – wie zuvor schon in Hamburg – die Hektik eines Bahnhofes, Schreie und Erregung, das Schleppen von Gepäcksstücken, und sie erlebte wieder ein Taxi, in das sie stiegen. Mit dem Auto zu fahren war für das dreijährige Mädchen ein seltenes Ereignis, es spähte begeistert aus dem Fenster, und wieder fuhren sie durch die Straßen einer bewegten Großstadt.

Diesmal jedoch, um in dieser Stadt auch zu bleiben.

Josef war es mit Hilfe eines in München ansässigen Parteifreundes gelungen, schon von seinem Büro in Rio aus hier eine Wohnung anzumieten. Diese lag in einem Randbezirk der Stadt, die stille Vorstadtstraße besaß Gärten, es gab viel Grün rundum. Das Haus selbst war ein dreistöckiger Neubau, die zu beziehende Wohnung lag im zweiten Stock, besaß einen ausladenden Balkon, die Zimmer waren hell, Küche und Bad auf dem neuesten Stand.

Als Anna dieses neue Zuhause betrat, konnte Josef endlich aufatmen. Denn alles an seiner bislang düster gestimmten Frau erhellte sich unversehens, es gefiel ihr hier, sie lobte und freute sich. Endlich. Und auch die kleine Brigitte empfand diesen Stimmungswandel ihrer Mutter.

Noch dauerte es eine Weile, bis das neue Heim wirklich wohnlich gemacht und allen Ansprüchen gemäß ausgestattet war. Aber schon am ersten Abend, in ihrem bereits vorhandenen, frisch bezogenen Bettchen, gebadet, geküsst, geborgen, schlief Brigitte, vom Geplauder der Eltern nebenan gewiegt, nach der langen anstrengenden Reise rasch ein.

Die Familie blieb über ein Jahr in München, Brigitte wuchs heran und genoss jetzt ein unbeschwertes Kinderleben. Denn im Gegensatz zu deren manchmal alles verdüsternden Unzufriedenheit in Brasilien war die Mutter hier bester Laune. Weshalb, blieb dem Kind verschlossen und es wollte auch nichts anderes, als ungetrübt Tochter einer heiteren und liebevollen Frau zu sein. Die Erinnerung an Uferwellen und Strand, an glühende Hitze und eine schattige Laube über dem Meer, an einen braungebrannten Vater, der Sandburgen baute, verblasste, entfernte sich, versank tief in Brigittes Seele.

Es hatte sich nämlich ergeben, dass Josef Pluhar durch seine Arbeit für die Nationalsozialistische Partei, die sich hier in München intensivierte, jetzt finanziell viel bessergestellt war. Die billige Miete, das Fehlen jeglichen Komforts, die ärmlichen Bedingungen der Heimreise, dass all das, was Josefs unbedeutendes Verdienst bei der Ölfirma in Rio erzwungen hatte, jetzt der Vergangenheit angehörte. Anna brauchte nicht mehr auf knausrige Weise zu sparen, besaß ein schönes Heim, modische Kleidung, konnte sich ab und zu Babysitter leisten und mit Josef ausgehen. Sie lebte auf. Die Bekannten, zu denen ihr Mann sie ausführte, waren mehr oder weniger überzeugt, jedoch widerspruchslos allesamt Nazis. Die Männer mit Kurzhaarschnitt und in militärischer Weise galant, die Frauen meist auf »deutsche Frau« getrimmt, wie damals gefordert. Aber Anna scherte sich nicht darum. Sie scherte sich nicht um das erwünschte Aussehen einer deutschen Frau und nicht um Politik, sie genoss erleichtert Wohlstand und Wohlergehen.

Mit der Tochter war sie oftmals unterwegs, auf umliegenden Wiesen, im nahen Wäldchen. Auch gab es in der Nähe einen Park mit großem Spielplatz und dort Brigittes Herumtollen mit anderen Kindern. Es gab den Nachmittagsschlaf, es gab das Sonntagsfrühstück mit dem Vater, es gab eine Weile lang nur harmonischstes Familienleben.

In Österreich wandelte sich die politische Lage. 1938 kam es zum sogenannten »Anschluss«. Der Nationalsozialismus wurde von breiten Volksschichten jubelnd willkommen geheißen.

Und eines schönen Tages war auch der ehemals als illegal ferngehaltene Josef Pluhar in Wien mehr als willkommen. Im Rahmen der neuen Regierung sollte er einen Posten bekleiden, der ihm neben »ehrenvoller« politischer Arbeit auch wieder ein stattliches Einkommen sichern würde, und auch eine Wohnung im noblen Bezirk Döbling wäre für ihn bereitgestellt.

Brigitte erlebte also neuerlich den Aufbruch aus einer ihr vertraut gewordenen Welt, der Umzug nach Wien war rasch beschlossene Sache. Mehr noch, Anna und Josef waren von Vorfreude erfüllt, jeweils ihre alten Eltern nach so vielen Jahren wiederzusehen. Sie erklärten Brigitte, dass sie ja nun ihre Großeltern kennenlernen würde, zwei Großmütter, zwei Großväter, noch waren alle am Leben, und alle lebten in Wien.

Nachdem Hab und Gut verfrachtet war, um, direkt in die Wiener Wohnung zugestellt, die Familie dort zu erwarten, verließ man also die Münchner Heimstätte. Brigitte warf noch einen langen Blick in die jetzt fast leeren Räume zurück, sie hatte es gerngehabt, hier zu sein. Aber die Mutter zerrte sie freudig erregt mit sich – »Komm, Gitti, es wird schön sein in Wien!«

Auch verlief dann die Reise – einige Stunden Bahnfahrt nur – ganz nach Annas Geschmack. Man saß erster Klasse auf gepolsterten Bänken, hatte ein Abteil für sich allein, und im Speisewaggon wurde ein feines Menü serviert.

Als aber am Wiener Westbahnhof zwei Kollegen aus des Vaters künftigem Parteibüro sie erwarteten, alle Herren die Arme zum Hitlergruß erhoben und dabei lauthals »Heil Hitler« riefen, da fächelte Anna indigniert und nur andeutungsweise mit ihrer Hand in der Luft herum und erntete einen strafenden Blick ihres Mannes.

Brigitte nahm ebenfalls wahr, dass diese seltsame Art des Begrüßens der Mutter nicht zusagte. Und selbst fand sie auch komisch, was der Vater da plötzlich tat, so stramm dazustehen und den Arm in die Luft zu strecken! Sie hatte ihn so noch nicht erlebt. Er benahm sich ganz anders als zu Hause – oder früher – als er doch mit ihr an einem Strand spielte – sie in die hohen Wellen trug – aber das war schon sehr lange her.

Dieser Mann hier war jedenfalls ganz anders.

Der befremdliche Eindruck verwehte jedoch wieder, rasch wie ein Wolkenschatten, als die Familie per Taxi nach Döbling fuhr und dort die Wiener Wohnung in Besitz nahm. Josef strahlte, als Anna und Brigitte durch die Zimmer liefen, aus den Fenstern ins Grüne hinausblickten, den Balkon entdeckten, und alles wunderschön fanden. Auch dieses vierstöckige Haus war vor wenigen Jahren erst erbaut worden und modern ausgestattet. Man wohnte hier, ähnlich wie in München, nahezu ländlich zwischen Gärten und Wiesen, und war doch auf angenehme Weise ins Stadtleben eingebunden. Eine baumbestandene Straße mit einigen Läden und einer Straßenbahnstation befand sich in nächster Nähe.

Dass es in der Wohnung kurz vor ihnen andere Mieter gegeben haben musste, erwies der Umstand, dass es in den Räumen noch nach Renovierung roch. Und am Türstock des Einganges schien den Vater ein kleines geschnitztes Holzstück zu irritieren. »Das muss weg«, murmelte er.

Des Weiteren verloren die Eltern kein Wort mehr über diesen Gegenstand, dessen Bedeutung Brigitte erst Jahre später bewusst wurde.

Der Vater ging ab nun an den Wochentagen irgendwohin in ein Büro, und was er dort zu tun hatte, schien ihm zuzusagen, er kam stets gutgelaunt wieder nach Hause. Ab und zu war er auch abends unterwegs, »zu einer Versammlung«, erklärte da die Mutter kurz angebunden, ausführlicher schien sie darüber nicht reden zu wollen.

Selbst jedoch genoss Anna die Tage mit ihrer kleinen Brigitte. Man schlenderte gemeinsam zum täglichen Einkauf oder befand sich bei Schönwetter unten im Garten. Anna im Liegestuhl ruhend oder in heiterem Geplauder mit einer ebenfalls noch recht jungen Nachbarin. Die beiden Frauen hatten sich rasch angefreundet, und deren Töchter taten das ebenfalls. Brigitte spielte gern mit der gleichaltrigen Magrit. Und auch über die Schule wurde schon gesprochen, in die beide Mädchen ja absehbar gehen müssten. Dass sie wohl gleichzeitig in die nicht allzu weit entfernte Volksschule eintreten würden, sie den Schulweg gemeinsam zurücklegen könnten – all das zeichnete sich für die nähere Zukunft ab.

Jedoch die Mutter erörterte es eher nebenbei, nickte, lächelte, war nicht ganz bei der Sache. Sie gab sich zurzeit neben der Hausarbeit seltsam gern der Muße und Tagträumerei hin, lag viel am Sofa, schlief nachmittags ein Stündchen, bewegte sich träger als sonst und schien auch an Gewicht zuzunehmen.

Was Brigitte länger nicht mitbekam – die Mutter war wieder schwanger. Ein weiteres Kind kündigte sich an.

Es wurde Herbst – es wurde Winter – als Brigitte erzählt wurde, dass ein Geschwisterchen auf dem Wege sei.

Sie ersah es ohnehin am sich immer mächtiger wölbenden Bauch der Mutter, legte manchmal, von dieser dazu ermuntert, ihre Hand auf die sanften Bewegungen, die darunter fühlbar waren. Ob sie sich auf das neu hinzukommende Familienmitglied freute oder gern einziges Kind geblieben wäre, wusste Brigitte sich selbst nicht so recht zu beantworten. Neugierig auf das neue Wesen war sie jedoch. Ob es ein Brüderchen sein würde? Oder eine Schwester?

Weihnachten verlief friedlich, wieder erstrahlten viele Kerzen auf einem bunt geschmückten Christbaum, wieder erhielt Brigitte hübsch verpackte Geschenke, wieder aß man fein, wieder war der Abend warm und gemütlich. Jede Erwähnung einer nahenden Kriegsgefahr wurde vermieden.

Der Jahreswechsel wurde ohne großen Aufwand daheim begangen, die Mutter litt ein wenig an der Schwangerschaft und ein Glas Sekt um Mitternacht genügte dem Ehepaar an Feierlichkeit. Ohnehin wusste niemand, was dieses Jahr 1939 wohl bringen würde, das einzig Sichere schien für Anna und Josef die Geburt ihres zweiten Kindes zu sein.

Am 28. Februar kam es zur Welt und war wieder ein Mädchen. Die Mutter hatte im Kreißsaal des Spitals länger auf Hebamme und Arzt warten müssen, als das Kind eiliger als gedacht zur Welt kam. »Allein und von selbst!«, beschwerte Anna sich hinterher, jedoch bereits darüber lachend. Diese Tochter erhielt den Namen Erika. Und als Brigitte das Baby zum ersten Mal vor Augen bekam, bezweifelte sie keinen Augenblick diese kleine Schwester lieben zu können.

Aus dem Spital wieder in die Döblinger Wohnung zurückgekehrt, hatte die Wöchnerin an ihrer fünfjährigen Tochter eine echte Hilfe. Brigitte war begeistert an der Seite der Mutter, wenn es galt, das kleine neue Wesen zu versorgen. Beim Stillen des Babys saß sie andachtsvoll dabei, beim Baden half sie mit, und sie wachte über dessen Schlaf.

Der Vater war viel auswärts und kam oft müde nach Hause. Wenn die Kinder im Bett lagen, hörte Brigitte durch die geschlossene Tür des Kinderzimmers länger als sonst die Stimmen der Eltern, und sie vernahm auch das Fragende und Besorgte, das dabei mitschwang.

Jedoch vorerst zog ein strahlender Sommer vorbei.

Brigitte traf häufiger als sonst mit ihren Großeltern zusammen, da diese auch das Baby Erika öfter zu Gesicht bekommen wollten. Die Oma väterlicherseits war eine musische, aber auch herbe Frau, die aus der Tschechoslowakei stammte, was ihrer Sprechweise immer noch anzumerken war. Den Opa an ihrer Seite nahm man wenig wahr, er rauchte Pfeife und schwieg meist. Die andere Großmutter, genannt »Omama«, wurde durch ihre Frömmigkeit ein wenig zur Plage, weil sie bei allen Familienmitgliedern den sonntäglichen Kirchgang einforderte und dadurch allseits Lügengeschichten und Ausreden anregte. Ihr Ehegespons, der »Opapa«, ein eher herrischer Mann, besaß eine erfolgreiche Glasmalerei und schuf auf künstlerische Weise farbige, bildhafte Kirchenfenster, einige sogar für den berühmten Wiener Stephansdom. Seine Tochter Anna hätte diesen Betrieb nach dem Besuch der Kunstakademie eigentlich übernehmen sollen, hatte sich aber für den Aufbruch nach Brasilien und in Josefs Arme entschieden.

Dann gab es noch einige Onkel und Tanten, der Vater besaß einen Bruder und eine Schwester, die Mutter drei Schwestern. Da die allesamt auch vermählt waren, geriet das Ausmaß an Menschen bei großen Familienfeiern oft ins Unübersichtliche.

Brigitte blieb meist ruhig und ein wenig für sich, wenn solches stattfand, und der kleinere familiäre Bereich war ihr auch um vieles lieber. Die hübsche Wohnung in Döbling, mit Freundin Magrit im Garten spielen, der Mutter beim Wickeln von Erika zusehen, irgendwann ein Spaziergang an der Hand des Vaters, all dies war mehr nach Brigittes Sinn.

Im September wurde ihr erklärt – möglichst nebenbei und bemüht, es nicht nach einer Schreckensnachricht klingen zu lassen –, dass jetzt ein großer Krieg herrsche, der aber weit entfernt stattfinde, weit entfernt vom friedlichen Leben hier in Wien.

Zwar nahm Brigitte wahr, wie angespannt die Eltern den regelmäßigen Nachrichten im Radio lauschten, dass der Vater nervöser und angestrengter wirkte als sonst und wie er, wenn sie meinten für sich zu sein, im Gespräch mit der Mutter oft ungewohnt laut wurde, so, als müsse er sich verteidigen. Letztlich jedoch verlief der Alltag in gewohnter Weise.

Die kleine Erika wuchs heran, sie bekam, im Gegensatz zu Brigittes glatten Zöpfchen, einen blonden Lockenkopf, der allseits Entzücken hervorrief. Es ergab sich ein angenehmer Sommer bei einer mit der Oma befreundeten Bauernfamilie, man genoss einfaches Landleben, Wiesen, Obstbäume, Ziegen, Erika plantschte in einem Wassertrog und Brigitte spielte mit der älteren Cousine, genannt Lisi, am Heuboden Verstecken. Vom Kriegsgeschehen war nichts zu spüren in diesen friedvoll sommerlichen Tagen, oft herrschten wolkenloses Blau und Hitze, manchmal gab es ein Gewitter, es war alles so wie immer.

Auch später in Wien ging jegliches weiterhin seinen Gang. Brigitte wurde nun wirklich ein Schulkind, sie besuchte gemeinsam mit Freundin Magrit die nahe Volksschule und schrieb daheim schon als Hausübung Buchstaben und Wörter in ein Heft. Aber wenn sie neben der Schule Zeit hatte, spielte Brigitte gern mit der kleinen Schwester oder buddelte sogar mit ihr in der Sandkiste im Garten herum. Und Erika gedieh so, wie man sich ein gesundes und glückliches Kleinkind nur vorstellen konnte. Als stolze Mutter war Anna bei Kaffeestunden und Geplauder mit den Nachbarinnen gern gesehen, über den Krieg sprach man möglichst wenig, lieber trank man ein Gläschen Likör zu viel und lachte über alles und jedes.

Mit der Zeit erst wurden ferne Bombenangriffe für die Frauen zu einem Thema, das sie aufschreckte. Auch erfuhr man mehr und mehr von Ehemännern oder Söhnen, die als Soldaten an die Front mussten. Auch der jüngere Bruder des Vaters rückte ein, sehr zum Leidwesen der besorgten Oma. Vater Josef hingegen besaß seine Position im Parteibüro, und die Frage, Soldat zu werden, stellte sich ihm nicht. Daheim hingegen versuchte er ausschließlich Familienvater zu sein und kein überzeugtes Parteimitglied, er wusste, dass Ehefrau Anna vom Nationalsozialismus weit weniger überzeugt war als er selbst.

Eines Abends, als die Kinder schon im Bett lagen, geschah es, dass Brigitte im Wohnzimmer nicht nur das gewohnte Plaudern der Eltern hörte, sondern wie ein Gespräch der beiden plötzlich an Lautstärke zunahm. Vor allem war es die Stimme der Mutter, die nach einem kurzen Aufschrei nicht mehr leiser wurde. Der Vater musste sie wohl mit einer unerwarteten und aufregenden Mitteilung überrascht haben, dachte Brigitte, ehe sie dann doch einschlief.

Tags darauf erlebte sie die Mutter aufgelöst und in Erregung. Es schien jedoch keine Schreckensmeldung des Vaters gewesen zu sein, die das bewirkt hatte, denn etwas Erwartungsvolles mischte sich in Annas Aufseufzen, in ihre Unruhe. Den Kindern gegenüber versuchte sie sich zu beherrschen, sich möglichst unverändert zu verhalten, und Brigitte beobachtete nur und schwieg.

Am folgenden Abend aber, nach einem gemeinsamen Nachtmahl und dem Zubettgehen der Kinder, zogen die Eltern sich wieder ungewohnt eilig zurück. Alle Türen wurden sorgfältiger als sonst geschlossen, und Brigitte konnte diesmal nur ein fernes Murmeln vernehmen. Dieses jedoch bis tief in die Nacht.

Und am nächsten Tag erfuhr sie es. Man würde wieder umziehen. Würde die Zelte hier in Wien abbrechen und nach Polen übersiedeln, in eine Stadt, die Lemberg hieß.

»Warum?«, fragte Brigitte.