Glanzmomente der Philosophie - Wolfgang Welsch - E-Book

Glanzmomente der Philosophie E-Book

Wolfgang Welsch

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Beschreibung

Oft ist die Philosophie ein schwieriges und langwieriges Geschäft. Aber es gibt Momente, wo durch eine philosophische Analyse plötzlich ein großes Licht aufgeht – über ein bestimmtes Problem, über unser Leben, über die Gesellschaft, über die Welt. Solche Glanzmomente von der Antike bis zur Gegenwart versammelt der Philosoph Wolfgang Welsch in diesem Buch.

Von Heraklit bis zu Julia Kristeva und Arthur Danto zeichnet Welsch zündende Einfälle und Gedanken nach, die ein neues Licht auf die Welt werfen und deren Strahlkraft bis heute ungebrochen ist. Beides, die Brisanz wie die Aktualität, wird an 22 Beispielen in klarer Sprache dargestellt. Das Spektrum reicht von den Vorsokratikern bis in die Gegenwart. Manche der hier erörterten Autoren, der Zenmeister Dogen etwa oder das Multitalent Samuel Butler, werden gemeinhin nicht zur Philosophie gerechnet. Aber es geht nicht um akademische Rubrizierungen, sondern um zündende Gedanken. Wo sie auftauchen und uns ergreifen, da geschieht Philosophie.

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Wolfgang Welsch

Glanzmomente der Philosophie

Von Heraklit bis Julia Kristeva

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Es gibt Momente, wo durch eine philosophische Analyse plötzlich ein großes Licht aufgeht – über ein bestimmtes Problem, über unser Leben, über die Gesellschaft, über die Welt. Solche Analysen werden im Folgenden vorgestellt. Das Spektrum reicht von den Vorsokratikern bis in die Gegenwart. Manche der hier erörterten Autoren, der Zenmeister Dōgen etwa, das Multitalent Samuel Butler oder die Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva werden gemeinhin nicht zur Philosophie gerechnet. Aber es geht nicht um akademische Rubrizierungen, sondern um zündende Gedanken. Wo sie auftauchen und uns ergreifen, da geschieht Philosophie.

Über den Autor

Wolfgang Welsch ist emeritierter Professor für Philosophie. Bis 2012 lehrte er Theoretische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Mensch und Welt (2012).

Inhalt

Vorwort

Heraklit

Logos – die Welt der Gegensätze

«Vorsokratiker»

Heraklit: Der Logos als der «Verwalter des Alls»

Auf den Logos hören

Anaxagoras

Urknall durch Geistanstoß

Geist-Materie-Dualismus

Die Probleme des Dualismus kommen hier schon auf den Tisch

Epizyklen des Dualismus

Platon

Die himmlische Natur des Menschen

Eine unsterbliche Seele – die abstürzt

Rückkehr

Hoffnungslos unpraktisch – aber zum Vorteil aller

Aristoteles

Das Prinzip des Nicht-Widerspruchs

Ein uns höchst vertrautes Prinzip

Inwiefern ein ontologisches, nicht ein logisches Prinzip?

Erweis der Gültigkeit des Nicht-Widerspruchs-Prinzips

Sinnesempfindung als Ausnahme?

Nachbetrachtung

Aristoteles

Bewegendes und Bewegtes – eine erotische Ontologie

Das erste unbewegte Bewegende

Sichselbstdenken als die göttliche Seinsweise

Eine idealistische Ontologie

Nachbemerkung

Dōgen

Relativität und ihre Übersteigung

Relativität

Übersteigung der Relativität

Die ursprüngliche Natur

Die wahrhafte Sicht

Wilhelm von Ockham

Voluntarismus statt Logozentrismus

Entstehung des Voluntarismus

Wilhelm von Ockham: ontologische Kontingenz – epistemische Insekurität – ethische Arbitrarität

Sekundäre Selbstbindung des Willens?

Montaigne

Sterben lernen oder leben lernen?

«Bedenken wir nichts so oft wie den Tod!»

Todesobsession

Gegenführungen: Krankheit, Alter, Schlaf, Todesnähe

Natürlichkeit

«Recht zu leben – das sollte unser großes und leuchtendes Meisterwerk sein!»

Diderot

«Wenn alles nur ein allgemeiner Fluss ist …»

«Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss»

Empfindungsfähigkeit als Eigenschaft schon der Materie – sensualistischer Monismus

Der Mensch im Fluss der Evolution – Abrücken vom anthropischen Prinzip

Kant

Eine kopernikanische Wende?

«Die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten»

Parallelisierung mit Kopernikus

De facto: eine ptolemäische Konter-Revolution

Appendix

Kant

Eine unbekannte Wette

Spekulationen über Aliens – eine Mode des 17. und 18. Jahrhunderts

Philosophische Spekulationen

Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755)

Nachleben solcher Auffassungen in Kants kritischem Werk

Andere Erkenntnisverfassungen als Spiegel der unsrigen

Schiller

Die Natur ruft uns zur Freiheit auf

Der neuzeitliche Dualismus

Kants Ästhetik: auf dem Weg zu einer Überwindung des Dualismus

Schiller: Schönheit und Freiheit

Freiheit überall: «In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger»

«Jedes schöne Naturwesen ruft mir zu: Sei frei wie ich»

Jenseits des Dualismus

Hegel

Ist die Philosophie abstrakt?

Wer denkt abstrakt?

«Es gibt, es sei in der Wirklichkeit oder im Gedanken, kein so Einfaches und so Abstraktes, wie man es sich gewöhnlich vorstellt»

Aktualität

Feuerbach und Marx

Sinnlichkeit und Geschichte

Feuerbach: Die Sinnlichkeit ist die Sphäre des Seins

Philosophie der Praxis?

Marx: «Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte»

Butler

Maschinen übernehmen

Nietzsche

«Die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte»

Erkenntnisglaube und Hochmut

Metaphorik statt Erkenntnis

Umkehrung: erneut der Mensch als Maß

Ein Gegenmotiv: «kosmisch empfinden!»

Wittgenstein

«Denk nicht, sondern schau»

Haben alle Spiele etwas gemeinsam?

Familienähnlichkeiten

Heidegger

Verfall mit Platon

Horkheimer und Adorno

«Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit»

Egalisierung – ein Bumerang

Kulturindustrie

Und heute?

Kristeva

«Fremde sind wir uns selbst»

Wiederkehr des Verdrängten

Wir sind gespalten

Eine Utopie: Das Fremde ist in mir, also gibt es keine Fremden

Nietzsche, Scheler, Derrida u.a.

Kulturelle Identität heute

Nietzsche: «Verschmelzung der Nationen»

Scheler: «Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs»

«Keine Kultur ist rein»

Danto

Völlig anders – und doch ununterscheidbar

Bilder einer Ausstellung

Newtons Gesetze

Transfiguration

Duchamp und Warhol

Anmerkungen

Heraklit

Anaxagoras

Platon

Aristoteles

Aristoteles. Bewegendes und Bewegtes

Dōgen

Wilhelm von Ockham

Montaigne

Diderot

Kant

Kants unbekannte Wette

Schiller

Hegel

Feuerbach und Marx

Butler

Nietzsche

Wittgenstein

Heidegger

Horkheimer und Adorno

Kristeva

Nietzsche, Scheler, Derrida u.a.

Danto

Für Klaus,der mich nicht von der philosophischen Leine gelassen hat

Vorwort

Ich habe sie immer gesucht und geliebt, diese Glanzmomente der Philosophie. Oft ist die Philosophie ja ein eher mühsames und langwieriges Geschäft. Davon wissen die akademisch mit ihr Befassten ein Lied zu singen – und die anderen verspüren aus guten Gründen keine Lust, dessen Melodie kennenzulernen. Aber es gibt auch Momente, wo durch eine philosophische Analyse plötzlich ein großes Licht aufgeht – über ein bestimmtes Problem, über unser Leben, über die Gesellschaft, über die Welt. Solche Analysen werden im Folgenden vorgestellt.

Der Bogen reicht von der Antike bis zur Gegenwart, von Betrachtungen über das Sein bis zu kulturtheoretischen Erwägungen und von der Logik bis zur Kunst. Die hier präsentierten Analysen sind so tiefgehend wie aktuell. Gewiss: manchmal braucht es noch eine kleine Umsetzung, aber dann zeigt sich, dass in der Vergangenheit Probleme verhandelt wurden, die noch uns auf den Nägeln brennen, und dass die Lösungsvorschläge weiterhin mehr als bedenkenswert sind. Es ist wie in der Kunst, wo uns alte ebenso wie neue Werke faszinieren – von Altamira bis zu Picasso und darüber hinaus.

Der Modus der Darstellung ist möglichst einfach, klar und unakademisch. Ich schreibe nicht für Fachkollegen, ich schreibe für all diejenigen, die ein Interesse an großen und überzeugenden Gedanken haben. Was anderes könnte der Impuls sein, sich mit Philosophie zu beschäftigen? Und Philosophie ist mehr als Fachphilosophie. Manche der hier erörterten Autoren (Dōgen, Montaigne, Schiller, Butler oder Kristeva) werden gemeinhin nicht zur Philosophie gerechnet. Aber es geht nicht um akademische Rubrizierungen, sondern um zündende Gedanken. Wo sie auftauchen und einen ergreifen, da geschieht Philosophie. Das ist mein zugegebenermaßen etwas eigenwilliger und weiter Philosophiebegriff.

Aristoteles, Kant und Nietzsche kommen doppelt vor. Man möge das bitte nicht missverstehen. Ich will damit nicht sagen, dass sie die größten Philosophen aller Zeiten waren – vielleicht war das ja Hegel. Aber bei Aristoteles bin ich in die Lehre gegangen, durch ihn habe ich erfahren, worauf es in der Philosophie ankommt, was verlässliche Klärung ist, und dass tiefsinnig scheinende Schwammigkeiten in begriffliche Klarheit zu überführen sind – oder verschwinden müssen. Und Kant ist (selbst wenn man seine Auffassungen nicht teilt) schlicht der spiritus rector der modernen Philosophie. Nietzsche schließlich ist deren tief schürfender Maulwurf (wie er sich selbst einmal bezeichnet hat). Aber andere, die es gewiss auch verdient hätten, kommen nicht zur Sprache. Man möge es mir nachsehen. Die Auswahl ist subjektiv und vorläufig – vielleicht wird ein Band mit mehr außereuropäischen und weiblichen Stimmen folgen.

Im Übrigen: kein Kult von Individuen! So ist die Auswahl der Namen nicht gemeint. Denn niemand denkt allein. Ein jeder steht in einem Strom von Gedanken, Anregungen und Möglichkeiten. Man hat schon unendlich viel in sich aufgenommen und verarbeitet, bevor man sich daran macht, einen Gedanken auszuarbeiten. An jeder Einsicht haben andere mitgewirkt. Vorbildlich ist dafür Goethes spätes Selbstverständnis. Einen Monat vor seinem Tod sagte er zu seinem Freund Frédéric Soret: «Was bin ich denn selbst? Was habe ich gemacht? … Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das Ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.» Da hat sich der vermeintliche «Olympier» als dankbar gegenüber denjenigen erwiesen, die ihm dazu verholfen hatten, der zu werden, als der er uns bekannt ist. Er hat sich als Kreuzungspunkt, als Durchgangsstätte, als Kondensationsknoten vieler anderer Individuen, Temperamente und Lebensweisen verstanden. So verhält es sich auch bei der Philosophie. Selbst wenn ein Werk im stillen Kämmerlein entstanden ist, haben das Umfeld und andere Menschen daran mitgeschrieben. Um diesen nicht individuellen, sondern dividuellen Charakter von Einsichten deutlich zu machen, habe ich wenigstens einmal (im vorletzten Essay) eine ganze Reihe von Autoren in einen Analysegang zusammengespannt. Im Titel sind nur drei genannt (Nietzsche, Scheler, Derrida), aber den Text haben etliche weitere (Said, Mohanty, Burke, Brague etc.) mitgeschrieben.

Mögen diese «Glanzmomente der Philosophie» den LeserInnen Einsichten schenken und Anregungen bieten. Für mich war, diese Gedanken kennenzulernen, stets ein Fest und Vergnügen. Wenn aber jemand von der einen oder anderen Analyse nicht ganz überzeugt ist, wenn sie oder er gelegentlich ein Glanzstück zweifelhaft oder gleisnerisch findet, so ist auch das in Ordnung – wenn nur überhaupt gedacht wird in einer Zeit, die vom Denken nicht mehr viel zu halten scheint.

Berlin, 17. Oktober 2020

Wolfgang Welsch

Heraklit

Logos – die Welt der Gegensätze

«Vorsokratiker»

Beginnen wir mit Heraklit. Zwar ist er nicht der erste Philosoph gewesen. Andere sind ihm vorangegangen. Heraklit zählt zu den sogenannten Vorsokratikern. Der Terminus, der sich seit dem 19. Jahrhundert eingebürgert hat, ist allerdings problematisch. Er suggeriert, dass die Philosophie im eigentlichen Sinn erst mit Sokrates angefangen habe. Die anderen Philosophen seien allenfalls Vorläufer oder Wegbereiter gewesen. Warum diese Auffassung? Weshalb ist sie kanonisch geworden?

Weil Sokrates, so sagt man, der Erste war, der die Philosophie dort angesiedelt hat, wo sie wirklich hingehört: in der menschlichen Welt. Die anderen, die Philosophen vor ihm, die bloßen Vorsokratiker, hatten vom Kosmos gefaselt, von diversen Elementen, von Werden und Vergehen im Allgemeinen. Sokrates hat dem ein Ende gemacht, indem er die Philosophie konsequent auf das Verstehen der menschlichen Welt verpflichtete und in der Stadt (statt im Kosmos) und unter den Menschen (statt zwischen Naturkräften und Mysterien) ansiedelte. Sokrates hat die Philosophie von den früheren Kosmosfantasien in die Lebensform der Menschen heruntergeholt – das ist sein unvergleichliches Verdienst. So kann man es von Cicero über Montaigne bis zu Herder und Mendelssohn lesen. Cicero: «Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt, und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.»[1] Montaigne schrieb über 1600 Jahre später erneut: Sokrates «war es, der die menschliche Weisheit vom Himmel herunterholte, wo sie ihre Zeit nur vergeudete, um sie dem Menschen zurückzugeben, denn in ihm liegt ihre ureigentliche, all ihre Kräfte beanspruchende Aufgabe, und ihre nützlichste».[2] Herder meinte noch einmal 200 Jahre später, mit nur geringfügiger Einschränkung: «Es ist ein zwar oft wiederholter, aber wie mich dünkt, überspannter Lobspruch des menschenfreundlichen Sokrates, dass Ers zuerst und vorzüglich gewesen sei, der die Philosophie vom Himmel auf die Erde gerufen und mit dem sittlichen Leben der Menschen befreundet habe.»[3] Mendelssohn schließlich wiederholte Ciceros Diktum: «Sokrates war der erste […], der die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, in die Städte eingesetzt, in die Wohnungen der Menschen geführt, und sie über ihr Thun und Lassen Betrachtungen anzustellen genöthigt hat.»[4]

Natürlich trifft diese Sicht zu. Sokrates war ein völliger Stadtmensch, und es ging ihm nur um den Menschen. Als der junge Phaidros Sokrates vor die Tore Athens in die Gefilde des Ilissos führte, zeigte dieser sich höchst überrascht von der Schönheit der Gegend, vom Wohlgeruch der Pflanzen, dem Liebreiz des Baches und der Wiesen. Er sah dergleichen eben zum ersten Mal, bekannte aber sogleich, dass ihn das nicht wirklich interessiere, denn Felder und Bäume würden ihn nichts lehren, «wohl aber die Menschen in der Stadt».[5] Erst wenn man erkannt habe, was der Mensch ist, werde man auch alles andere recht zu erkennen und zu bewerten vermögen.[6]

Ganz anders dagegen die Vorsokratiker. Anaxagoras beteuerte, dass ihm nichts mehr am Herzen liege als sein Vaterland – und zeigte dabei auf den Himmel.[7] Demokrit erklärte: «Einem weisen Mann steht jedes Land offen. Denn einer trefflichen Seele Vaterland ist das Weltall.»[8] Die Vorsokratiker hielten dafür, dass man die Seinsart des Menschen erst dann richtig erfasst, wenn man sie im Kontext des Kosmos begreift. Für die Vorsokratiker war der Kosmos das Erste, er bildete den Maßstab. Sokrates’ Interesse hingegen galt nur noch der Stadt und den Menschen. Muss man diese Umstellung loben? Stellt sie nicht eigentlich eine Schrumpfung dar, eine Beschränkung auf die menschliche Welt anstelle der ganzen Welt? Vermögen die Gewinne die Verluste aufzuwiegen? Darauf wird zurückzukommen sein.

Man darf nicht glauben, die Vorsokratiker hätten sich in bloßen Spekulationen ergangen und wirkliches Wissen nehme erst mit Sokrates seinen Anfang. Ganz im Gegenteil. Die vorsokratische Philosophie begann geradezu als Wissenschaft. Die ersten Philosophen zeichneten sich durch vielfältige wissenschaftliche Einsichten und Erfindungen aus. Thales beispielsweise, der erste der Vorsokratiker, ist (bis in den heutigen Schulunterricht hinein) für etliche mathematisch-geometrische Entdeckungen bekannt und war astronomisch erstaunlich beschlagen: er lehrte die Seefahrer die Orientierung am Kleinen Bären, verfasste eine «Sternkunde für Seefahrer» und hat für den 28. Mai 585 v. Chr. eine Sonnenfinsternis zutreffend vorhergesagt. Oder Anaximander erfand Gnomon-Instrumente und Uhren, entdeckte die Tag- und Nachtgleiche und die Sonnenwenden, und er schuf die erste Karte der Erde und des Meeres sowie den ersten Himmelsglobus.

Aber so wichtig und eindrucksvoll diese wissenschaftlichen Einsichten auch waren, sie machten doch als solche noch nicht das philosophische Geschäft aus. Sie bildeten nur die Startrampe für das philosophische Unterfangen. Die Philosophie beginnt dort, wo man über die gelungene Erklärung von diesem und jenem hinaus ins noch nicht Bekannte hinaus fragt und nach einer Erklärung für das Ganze sucht. Wo man mithin vom Stand des verfügbaren Wissens aus Fragen stellt, die nicht mehr durch empirische Forschung, sondern nur noch durch Denken beantwortet werden können. Also Fragen des Typs: Woher kommt die Welt? Wie ist sie entstanden? Wo geht sie hin?

So meinte Thales, dass vielleicht (da offenbar alles in der Welt Veränderungen unterliegt) das Veränderliche par excellence, nämlich das Wasser, den tiefsten Grund der Welt bilde. Oder Anaximenes erwog, ob es sich beim Seienden nicht insgesamt um verschiedene Aggregatzustände von Luft handeln könne. Anaximander mutmaßte, dass alle Lebewesen aus dem Wasser und zuletzt die Menschen aus Fischen entstanden sein könnten. Und dann ging er auch noch über diese Teilerklärungen hinaus und entwarf die Idee des Apeiron: eines Unbegrenzten und Unbestimmten, aus dem alles hervorgeht und in das alles auch wieder zurückgeholt wird. So begann die Philosophie: kraft des Denkens werden Vermutungen entwickelt, wie es sich mit dem Seienden insgesamt, mit der Welt im Ganzen verhalten könnte.

Heraklit: Der Logos als der «Verwalter des Alls»

Die Antwort Heraklits (um 500 v. Chr.) auf die Frage nach der Struktur des Ganzen lautet: Lógos. Was meint er damit?

Zunächst muss man sich von der Vorstellung freimachen, Logos bedeute für Heraklit dergleichen wie Rede oder Vernunft oder Geist. «Logos» hat bei Heraklit vielmehr in erster Linie die Bedeutung von Grund. Heraklit ist überzeugt, dass eine bestimmte Struktur allem Seienden, allem Werden, allen Veränderungen, allen Verhältnissen zugrundeliegt, nämlich die Struktur von Gegensätzen. Diese Gegensatzstruktur ist ihm zufolge der innerste und realste Grund von allem. Sie ist das Gesetz der Welt. «Alles geschieht nach diesem lógos.»[9] – Wie ist das zu verstehen?

Wir kennen viele Fälle, wo Gegensätze das Geschehen bestimmen: von Ebbe und Flut in der Natur über Krieg und Frieden in den Beziehungen der Völker bis hin zu Liebe und Hass in persönlichen Abhängigkeiten. Naturwissenschaftler können uns erklären, warum Ebbe von Flut nicht zu trennen ist, Historiker belehren uns, dass Kriegs- oder Friedensphasen nicht stabil bleiben, sondern irgendwann kippen, und Psychologen und Psychoanalytiker halten, was Liebe und Hass angeht, dafür, dass im einen stets auch das andere schlummert – bis es irgendwann ausbricht. Alles steht in solchen Gegensatzbeziehungen. Nichts ist einfach das, was es ist, sondern es ist aus Gegensätzen gebildet und bleibend mit Gegensätzen behaftet. Das Große ist groß nur gegen das Kleine, das Einfache einfach nur gegenüber dem Komplexen, das Dichte dicht nur im Verhältnis zum Dünnen. Kalt und warm, freudig und traurig, vereint und getrennt, aufbauend und zerstörerisch, usw. usf. – alles ist, was es ist, im Gegensatz zu anderem, in einem Feld von Gegensätzen. «Alles ist» (wie Rilke formulieren wird) «nicht es selbst».[10]

Aus dieser Gegensatzstruktur erklärt sich auch die allgegenwärtige Veränderung. Im Spiel der Gegensätze gewinnt mal der eine, mal der andere die Oberhand. Im Tierreich herrscht noch der Stärkste nur für einige Zeit, dann muss er abtreten und ein anderer übernimmt die Führung; Auffaltung und Erosion der Gebirge stehen in einem langfristigen Gegenspiel; warme und kalte Luftmassen tauschen sich aus; Imperien steigen und fallen; die Emporkömmlinge von heute sind die Verlierer von morgen; beim sportlichen Wettkampf wogt der Vorteil hin und her; und im philosophischen Dauerduell zwischen Idealismus und Realismus ist es nicht anders. Weil alles durch Gegensätze gebildet ist und in Gegensätzen steht, ist es nicht stabil, sondern unterliegt der Dynamik der Gegensätze. Steht mal der eine Pol im Vordergrund, so kommt es doch über kurz oder lang zu einem Ausgleich, dann schlägt das Pendel nach der anderen Seite aus, der entgegengesetzte Pol übernimmt die Führung, bis auch diese Einseitigkeit wieder ausgeglichen wird, usw. usf. So verfügt die Gegensatzstruktur die allseitige Veränderung – das bekannte «panta rhei» («alles fließt») des Heraklit.[11]

Es ist diese Gesetzlichkeit der Gegensätze, die Heraklit als Logos bezeichnet. Der Logos liegt allem zugrunde und regiert alles. Er ist der «Verwalter des Alls».[12] Er ist das innerste Prinzip der Welt. Er selbst hängt von nichts anderem ab und herrscht ewig.[13]

Dieser Gedanke unterscheidet Heraklit von seinen Vorgängern. Er hat nicht ein einzelnes Element von letztlich materieller Art (Wasser, Luft, Erde, Feuer) als Grund von allem angegeben, sondern eine immaterielle Struktur aufgedeckt, in der all dies seinen Ort hat. Heraklit hat sich sowohl von der Materialität als auch von der Einseitigkeit der zuvor proklamierten Prinzipien gelöst. Er gräbt tiefer und prinzipieller. Die vorher angenommenen Prinzipien waren allesamt einseitig, standen jeweils im Gegensatz zu anderen Prinzipien: Wasser ist nicht Luft, Luft ist nicht Erde, Erde ist nicht Feuer, Feuer ist nicht Wasser. Der von Heraklit benannte Grund hingegen unterliegt solcher Gegensätzlichkeit nicht mehr, er besteht in der Gegensätzlichkeit.

Heraklit hatte es immer schwer, verstanden zu werden – nicht nur bei seinen Mitbürgern, die seine schroffe Zurückweisung ihres Ansinnens, als Gesetzgeber tätig zu werden (weil sie, so Heraklit, völlig verderbt seien), als Provokation empfanden, sondern auch im Bereich der Philosophie, wo man ihn bald den «Dunklen» (skoteinós) nannte. Und man hat es sich allzu leicht gemacht, ihn als reinen Flusstheoretiker abzustempeln. Da haben schon Platon und Aristoteles geirrt bzw. die Position des Heraklit bewusst verfälscht. Zwar sieht Heraklit, dass an der Oberfläche alles veränderlich ist, aber er lehrt doch, dass all dies auf einer stabilen Struktur beruht und von dieser herrührt: von der Gegensatzstruktur des Logos. Heraklit hat Fluss und Stabilität ineins gedacht.

Von daher ist Heraklit nicht nur der Denker der Vielfalt und der ständigen Veränderung der Erscheinungen, sondern auch der Philosoph grundlegender Einheit. «Haben sie nicht mich, sondern den Logos vernommen, so ist es weise, dem Logos gemäß zu sagen, alles sei eins (hen pánta eínai).»[14] Das augenscheinlich Diverse hängt im Sinn der Gegensatzlogik zusammen. Heraklits Monismus ist zugleich ein Pluralismus: der Logos treibt die Verschiedenheit des Seienden ebenso hervor wie er sie zusammenhält. Und der Monismus des Heraklit ist kein metaphysischer, sondern ein phänomenaler Monismus: die Einheit liegt nicht jenseits der Erscheinungen, sondern ist ihnen inhärent, die vielen Erscheinungen sind allesamt Gestalten der Einheit.

Auf den Logos hören

Welche Schlussfolgerungen zieht Heraklit aus seiner Konzeption des Logos? Eigentlich nur eine: dass es in allem auf den Logos zu hören und dem Logos zu folgen gilt. Wenn man die Welt im Sinn der Gegensatzlogik versteht, dann begreift man sie zutreffend, und dann wird man in ihr auch richtig zu handeln wissen. Man wird nicht mehr auf die vordergründige Selbstständigkeit dieses oder jenes Seienden hereinfallen, sondern den Verbund, den Zusammenhang, das Netz der Bezüge und Gegensätze beachten und sich darauf einstellen.

Aber das, so klagt Heraklit immer wieder, tun die Menschen leider nicht. «Für den Logos aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen.»[15] «Mit dem Logos, mit dem sie doch am meisten beständig verkehren, […] mit dem entzweien sie sich, und die Dinge, auf die sie täglich stoßen, die scheinen ihnen fremd.»[16] Die Menschen erkennen nicht, dass das, was ihnen vor Augen tritt, jeweils eine Fügung aus Gegensätzen darstellt. «Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.»[17] Die Menschen bleiben an einer vordergründigen Sicht der Gegensätze hängen: Stärke gegen Schwäche, Licht gegen Dunkel, Krieg gegen Frieden, Geist gegen Natur, Gott gegen Mensch, usw. Sie erkennen nicht, dass diese Pole nicht gegeneinanderstehen, sondern zusammenhängen, dass sie nicht eigenständige Mächte sind, sondern Phänomene einer gemeinsamen Spannung. Erst diese Einsicht würde ein Erwachen bedeuten. Solange sie ausbleibt, bewegt man sich in Schlaf und Träumereien.

So folgen die Menschen, statt auf den Logos zu hören, selbstgemachten Anschauungen: sozialen Phantasmen, autoritären Vorgaben, Kapriolen des Eigendenkens. «Obschon der Logos gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht.»[18] Sie folgen sozialen Standards oder den Proklamationen intellektueller Heroen, oder sie kochen ihr eigenes Anschauungssüppchen. Aber es kommt nicht darauf an, sozialkonform zu denken oder den Vorgaben großer Denker zu folgen oder Eigengespinste hervorzubringen, sondern es geht einzig darum, den Logos – das wahre und einzige Gesetz der Welt – zu erfassen und ihm entsprechend zu denken und zu handeln.

Heraklit fordert uns zu einer radikalen Umwendung auf – weg von den menschlichen Eitelkeiten hin zum einen Logos. Erst wenn wir diese Umwendung vollziehen, werden wir das, was wir sein sollen: Wesen der Welt. Es gilt, alle eigenbrötlerischen Orientierungen zu übersteigen und sich zur Weltrichtigkeit zu erheben.

Das führt noch einmal auf die eingangs geschilderte Alternative zwischen einer Beschränkung auf die menschliche Sphäre (Sokrates) und einer Beheimatung in der Welt (Vorsokratiker) zurück. Heraklit hat uns mit allen Kräften von dem abzuhalten versucht, was seit Sokrates den Siegeszug angetreten hat. Die Beschränkung auf das Bloßmenschliche ist in Heraklits Augen der ärgste Irrweg. – Nur hatte schon Heraklit wenig Hoffnung, dass seine Mahnung auf Dauer Gehör finden werde.

*

Heraklit lebte in Ephesus (heute Selçuk). Ist er heute dort noch bekannt? Nein. Niemand kennt ihn mehr – nicht der Student der französischen Literatur und nicht der Ausgrabungsarbeiter am Artemis-Tempel, wo Heraklit sein Werk über den Logos hinterlegt hatte. Nur aus Versehen taucht er dann doch einmal auf: Eine amerikanische Touristin fragt, als sie eine Herakles-Statue sieht, ihre Begleiter, wer denn da dargestellt sei – war das nicht ein Philosoph?

Freilich: Solches Verschwinden entspricht dem Gang der Dinge – und der Weltsicht des Heraklit. Nichts ist von Dauer. Es geht weiter. Altes vergeht, Neues kommt. Nur der Logos bleibt.

Anaxagoras

Urknall durch Geistanstoß

Kommen wir nun zu Anaxagoras (500/499–​428/427 v. Chr.) Er ist unter den Vorsokratikern der Philosoph des nous, des Geistes. Andererseits ist auch Anaxagoras durch naturwissenschaftliche Thesen hervorgetreten. Er lehrte als Erster, dass der Mond sein Licht von der Sonne empfängt. Und er erklärte, dass die Sonne nichts anderes sei als ein glühender Steinklumpen – was manche Athener als so skandalös empfanden, dass sie ihn der Gottlosigkeit anklagten, wobei er aber mit Geldstrafe und Verbannung davonkam.

Geist-Materie-Dualismus

Die beiden großen Themen des Anaxagoras sind Geist und Materie. Anaxagoras war der Erste, der einen strikten Dualismus, eben den von Geist und Materie, vertrat – eine Position, die das Abendland noch lange durchherrschen oder behexen wird.

Bei Anaxagoras tritt der Geist erstmals als Subjekt, also im Stil eines Akteurs auf. Der Logos des Heraklit war nicht von dieser Art gewesen. Er war kein Täter, der auf etwas anderes wirkt. Er war schlicht die der Welt immanente Struktur bzw. deren Gesetz. Er besaß keine selbständige Existenz gegenüber seiner Wirksphäre. Für den Geist des Anaxagoras ist hingegen genau dies charakteristisch.

Die Grunderzählung des Anaxagoras über die Welt beginnt mit der Materie. Am Anfang war alles auf engstem Raum versammelt, gleichsam in einem Punkt zusammengedrängt. Alles Materielle (Gräser, Vögel, Sterne, was immer) existierte zwar schon, es ist nicht erst später entstanden, aber es lag extrem komprimiert vor.[1] Dann trat der Geist hinzu und wirkte auf diese maximal verdichtete Materie ein. Von außen kommend, hat er sie wie mit einem Peitschenschlag in Bewegung versetzt und damit den Anstoß zur Entwicklung der Welt, d.h. zur Auswicklung all dessen gegeben, was in jenem ursprünglichen Materieknoten schon angelegt war. Der Geist hat die Materie in Rotation versetzt und dadurch das zunehmende Auseinandertreten, die Auffächerung ihrer Komponenten bewirkt.[2] Infolge dieser Initialzündung kam es anschließend zu immer größerer Rotationsgeschwindigkeit und Entfaltung – zum Auseinandertreten, zur Auswicklung, zur Abscheidung aller Teile.[3] Dadurch ist die Welt entstanden, wie wir sie kennen. Man könnte Anaxagoras’ Weltentstehungsidee (cum grano salis) als «Urknall durch Geistanstoß» bezeichnen.[4]

Die Probleme des Dualismus kommen hier schon auf den Tisch

Hochinteressant ist nun, dass schon an dieser ersten Formulierung des Geist-Materie-Dualismus dessen tiefe Probleme paradigmatisch erkennbar werden, wie sie die Geistesgeschichte dann mehr als 2000 Jahre lang beschäftigen werden.