Glashauseffekt - Alexander Sperling - E-Book

Glashauseffekt E-Book

Alexander Sperling

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Beschreibung

Was wäre wenn? Deutschland im Jahr 2049. Die Klimakrise hat globale, nationale und individuelle Folgen für die Menschheit. Dürren, Wassermangel und Verteilungskämpfe zwingen Menschen auf der ganzen Welt zur Flucht – auch in Deutschland. Ein neues Virus ist auf dem Vormarsch, Arbeitslosigkeit allgegenwärtig. Die neugegründete Partei für Gerechtigkeit bedient sich der Wut der Bevölkerung über den verpassten Klimaschutz der früheren Generationen und inszeniert einen Schauprozess in Nürnberg, in dem die als verantwortlich Gezeichneten zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Die junge Journalistin Erica Mazur ist Beobachterin dieser "Bundeskunstaktion", die die Republik in Aufruhr versetzt. Der Prozess spaltet die Gesellschaft und reißt alte Wunden auf. Ericas Weltbild beginnt zu bröckeln, aber nicht nur das: Wohin verschwindet Dingo, ihr fester Freund, jede Nacht? Was zieht sie an ihrem neuen Arbeitskollegen Tom so sehr an? Gefangen in den Ränken einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft muss Erica nicht nur die Schuldfragen ihrer Elterngeneration, sondern auch ihre eigenen Gewissenskonflikte aushandeln.

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EPUB

Seitenzahl: 268

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Über den Autor

Alexander Sperling, Jahrgang 1989, hat Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das gymnasiale Lehramt in München und Oslo studiert. Nach dem 2. Staatsexamen begann er eine Promotion über die Dystopie der Gegenwart. Nebenher engagiert er sich politisch und schreibt für unterschiedliche Medien. Er ist Stipendiat der Stu­dienstiftung des deutschen Volkes.

Über die Printausgabe

Die Printausgabe ist nachhaltig und klimapositiv gedruckt. Mehr Informationen dazu sind auf der letzten Seite des Buches zu finden.

Glashaus

effekt

Alexander Sperling

Ein Zukunftsroman

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage 2020

Copyright © 2020 &Töchter UG (haftungsbeschränkt),

München

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

Umschlaggestaltung: Sigl Affairs, München

Lektorat: Laura Nerbel & Sarah Zechel, &Töchter

Satz: Sarah Zechel, &Töchter

ISBN 978-3-948819-49-1

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.und-toechter.de

Für Janina

Inhalt

Giftstoff-Skandal weitet sich aus

Innenansicht

Ist das Kunst oder muss das weg?

Die Verwandlung

1999/2000

Moral ist …

I was a girl who sang the blues

BErliner Allgemeine zeitung

04.02.2048

Giftstoff-Skandal weitet sich aus

Inzwischen über 100 Fälle von Fehlbildungen bei Ungeborenen bekannt / Politische Auswirkungen bis auf die Bundesebene möglich

Mannheim

Im Skandal um die mutmaßlich illegal entsorgten Fabrikstoffe (wir berichteten) treten immer gravierendere Folgen zutage. Inzwischen sind bei speziellen medizinischen Check-ups in der Region Mannheim/Worms über einhundert Fälle vorgeburtlicher Fehlbildungen festgestellt worden. Bei den betroffenen Ungeborenen ist dabei die Ausbildung des Schädelknochens im Mutterleib gestört, meist fehlt das komplette Scheitelbein. Die Aufgabe dieses sogenannten Schädeldachs liegt im Schutz der oberen Hirnregionen, die bei diesen Babys nun lediglich durch eine dünne Hautschicht bedeckt sind.

Inzwischen ist auch eine achtköpfige Expert*innengruppe des Boston University Medical Campus in Mannheim eingetroffen, um den medizinischen Krisenstab zu unterstützen. Unter Hochdruck wird nach Wegen gesucht, die betroffenen Föten möglichst geschützt auszutragen, schonend zu entbinden und anschließend zu stabilisieren. Dennoch muss in vielen Fällen mit lebenslangen Beeinträchtigungen gerechnet werden, auch mindestens sieben Totgeburten haben sich in diesem Zusammenhang bereits ereignet. Alle Schwangeren, die im letzten Jahr das beliebte Naherholungsgebiet um den Lampertheimer Altrhein besucht haben, fordert das Gesundheitsministerium dringend auf, sich fachärztlich untersuchen zu lassen, ansonsten aber Ruhe zu bewahren.

Unterdessen sind die polizeilichen Ermittlungen auf dem ehemaligen Fabrikgelände des bis 2035 existierenden Unternehmens CarFinishToGo abgeschlossen. Wie aus Polizeikreisen zu erfahren war, hat sich dabei der Verdacht auf eine Verunreinigung der umliegenden Gewässer durch ausgetretene Autolacke erhärtet. In einer Sandgrube unweit des Altrheins seien zahlreiche Behälter mit toxischen Inhalten sichergestellt worden, teilweise hätten sich darin jedoch nur noch die Reste der mutmaßlich ausgelaufenen Substanzen befunden. Ein sichtlich aufgebrachter Polizeibeamter, der namentlich nicht genannt werden will, sprach gegenüber dieser Zeitung von einer »unglaublichen Sauerei«.

Die Vernehmung ehemaliger Mitarbeiter*innen des Betriebs dauere in der Zwischenzeit weiter an, wie die Staatsanwaltschaft vermeldete. Juristische Konsequenzen sind dennoch unwahrscheinlich, da der Eigentümer und alleinige Geschäftsführer der Firma, Heinrich Dransfeld, vor knapp vier Jahren verstorben ist. Des Weiteren erschweren gesetzliche Verjährungsfristen eine gerichtliche Aufarbeitung.

Konsequenzen kündigen sich dagegen auf politischer Ebene an: In Mannheim gründete sich gestern die Geschädigtengemeinschaft Altrhein, die nach eigenem Bekunden bestrebt ist, zusammen mit zahlreichen anderen Umwelt-Opferverbänden eine Bundespartei ins Leben zu rufen. Für den 1. März ist in Berlin ein Kongress unter dem Motto Gerechtigkeit jetzt! geplant, auf dem sich die entsprechende Parteigründung vollziehen soll.

Zum Sprecher der neu gegründeten Geschädigtengemeinschaft Altrhein wurde Tristan Trautmann gewählt, dessen Tochter vor einigen Wochen ebenfalls mit einem stark verkümmerten Scheitelbein zur Welt gekommen ist. Er sagt: »Natürlich wird nichts, was wir nun auf politischer Ebene tun, dazu beitragen, dass meine Tochter gesund wird oder dass sie einmal ein normales Leben wird führen können. Aber wir leiden nicht nur, weil wir persönlich Betroffene sind. Nein, wir leiden auch unter der gesamtgesellschaftlichen Ungerechtigkeit, dass aktuell jene Leute ungeschoren davonkommen, denen vor ein paar Jahrzehnten alles egal war.«

Alexa Wilhelm, die Sprecherin des einflussreichen Verbandes ehemaliger norddeutscher Grundstücksbesitzer*innen ergänzt: »Der jüngste Vorfall in der Region Mannheim hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Mithilfe der neuen Partei wollen wir nun endlich diejenigen Personen zur Verantwortung ziehen, die Verantwortung tragen.«

Die konkreten Forderungen der in Gründung befindlichen Partei sind noch unklar, eine Blitzumfrage bescheinigt ihr für die im Spätherbst anstehende Bundestagswahl jedoch schon jetzt Chancen, die 5%-Hürde überspringen zu können. Ob sich die neue Partei in einem solchen Fall eher dem liberalen Lager um Bundeskanzler van Dyke oder dem nationalkonservativen um Lilienthal zuwenden würde, ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch völlig offen.

Tom Bohnenkamp

www.baz.de/giftskandal/tombohnenkamp

Wellenförmig schwillt das erwartungsvolle Gemurmel auf den Zuschauerbänken an und ab. In den ruhigeren Momenten meint Erica dann jedes Mal, den Lärm der zwei polizeilich voneinander getrennten Demonstrationsblöcke noch bis hier drinnen hören zu können, als eine Art dumpfe Geräuschbrandung in der Ferne. Die Aufregung im Vorfeld des Prozesses ist so groß gewesen, dass sogar Dingo, Ericas bislang stets unpolitischer Freund, zur Demo kommen wollte.

Ein Kollege setzt sich auf den Stuhl neben sie, legt sein OCD geschäftig auf den Tisch und gibt den Befehl zum Unfold. Er dürfte Ende 30 sein, hat braunes, leicht gewelltes Haar und eine sehr intelligente Brille, durch die er auf den blitzschnell aufgebauten Bildschirm seines teuren Office-Complete-Device blickt. Er grüßt nicht herüber, nimmt keine Notiz von ihr. Erica lässt den Blick trotzig durch den Al-Gore-Saal wandern. Sind das nun eher 500 oder 2000 Leute im Publikum? Oder noch mehr?

Sie befindet sich auf der Pressetribüne, die die ganze rechte Seite des U-förmigen Oberrangs einnimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzen Zuschauer neben jeder Menge nach unten gerichteter Kameras und Scheinwerfer. Die besten Plätze oben, auf der kurzen Seite des U und mit geradem Blick zur Bühne, sind für die Ehrengäste reserviert.

Erica kann sich nicht sattsehen an dem verrückten Anblick, der sich dort bietet: Bundeskanzler Nils van Dyke tatsächlich in der ersten Reihe direkt neben TT, Tristan Trautmann, dem Anführer der PfG. Kanzler van Dyke hat seine undurchdringlichste Miene aufgesetzt, aber Erica findet trotzdem, dass er aussieht, als hätte er einen sehr bitteren Geschmack im Mund. TT dagegen blickt stoisch, weder mit einem Siegeslächeln noch sorgenvoll, eher konzentriert.

Sollte sie solche Eindrücke aufschreiben? Sie schielt ein wenig nach rechts. Ihr Nachbar sieht sich überhaupt nicht um, sondern ist ganz in seinen digitalen Sekretär vertieft. Arbeitet wahrscheinlich schon an einem Artikel über den Prozessauftakt.

Hinter TT sitzt die gesamte PfG-Parteiführung, hinter van Dyke das ganze Kabinett. Ganz so, wie in den dramatischen Koalitionsverhandlungen vereinbart. »Erscheinen oder sterben … politisch«, lautete angeblich die Losung, die der Kanzler gegenüber seinen Ministerinnen und Ministern für diesen Tag ausgegeben hat, und es gibt Gerüchte, das letzte Wort habe man erst nachträglich hinzugedichtet. Dann bemerkt Erica, dass sich eine blonde Frau zielstrebig zu dem Platz durchkämpft, der links von ihr noch unbesetzt ist. Die Kollegin setzt sich und nickt ihr freundlich zu. Na also.

Erica ist aufgeregt und angespannt, aber auf eine gute Weise. Das ganze Land, der ganze Kontinent diskutiert über diesen Prozess, und sie darf als akkreditierte Journalistin live dabei sein, hat sozusagen Zutritt zum Auge des Orkans. Sie blickt auf die noch leere Richterbank, die äußerst hoch und wuchtig geraten ist. Klassische Überkompensation, denkt sie. Bei den Bänken der Staatsanwaltschaft ist auch noch niemand. Sie befinden sich direkt vor ihrer Pressetribüne, nur eine Etage tiefer. Leider wird Erica dadurch nie in das Gesicht der gefeierten »Staatsanwältin« sehen können, immer nur auf ihren Rücken.

Auf der anderen Seite der Bühne sind die Reihen der Verteidigung dagegen bereits gut gefüllt. Die bestimmt ausnahmslos PfG-nahen Jura-Studenten, die man als Pflichtverteidiger ausgewählt hat, sind bereits fast vollständig erschienen. Erica zählt hinter der Absperrung 27 Milchgesichter in Anzügen bzw. in Businesskostümen. Fehlen nur noch drei. Zwei Protokollanten in der Nähe der Richterbank sind auch schon da.

Ein hüfthohes, dünnes Geländer trennt den Gerichtsbereich von den zahlreichen Zuschauerplätzen im Parkett ab. Von ihrer Position aus kann Erica nur einen kleinen Teil davon sehen, da die Ehrentribüne des Oberrangs die Sicht auf die schlechteren Plätze unten verdeckt.

Sie klappt ihren alten Laptop auf, gleich geht es los.

Gespannte Stimmung im Al-Gore-Saal kurz vor Prozesseröffnung.

Sofort löscht sie den Satz wieder. Während sie noch nach einer weniger abgedroschenen Formulierung sucht, kommt unten Bewegung auf, die Zuschauer tuscheln aufgeregt. Ah ja, die Assistenten der »Staatsanwältin« gehen zu ihren Plätzen. Dann kann es ja auch nicht mehr lange dauern, bis …

Tatsächlich brandet großer Applaus im Saal auf, als plötzlich Gloria Perec, die berühmte Staranwältin, in einer Seitentür erscheint und die Bühne betritt. Eine Person ruft laut »Buh!«, wird aber schnell zum Schweigen gebracht. Perec reagiert weder hierauf noch auf den Applaus, sondern marschiert zielstrebig zu ihrem Platz.

Eine Stimmung wie im Stadion, als die Hauptprotagonist*innen einlaufen.

Erica liest den Satz einmal durch und löscht dann auch diesen gleich wieder.

Staranwältin Gloria Perec betritt den Saal und das Publikum begrüßt die erste Geige mit wohlwollendem Applaus.

Ach verdammt, irgendwas wird ihr zu Hause schon noch einfallen.

Dann öffnet sich die Tür ganz am Ende des abgesperrten Bereichs und der ganze Saal erhebt sich. Der Kollege rechts schnaubt vor Verachtung laut hinter seinem OCD auf, als die acht Richter in gewaltigen Roben den Saal betreten und gemessenen Schrittes auf ihr Podium steigen. Sie bleiben eine Weile hinter ihren Stühlen stehen, dann setzt sich einer der Richter und die anderen folgen seinem Beispiel. Auch die Zuschauer nehmen wieder Platz.

Danach wird es sehr still, eine gewisse Feierlichkeit liegt über der gesamten Szenerie. Erica blickt nach links in die Gesichter von TT und van Dyke, sieht dort jedoch nur makellose Masken, konzentriert und absolut undurchdringlich. Das ganze Kabinett um den Kanzler hat diesen Gesichtsausdruck angenommen. Einige PfG-ler neben und hinter TT schauen dagegen ehrlich ergriffen drein, manche betupfen ihr Gesicht mit Taschentüchern. Erica sieht aus den Augenwinkeln, dass auch die blonde Journalistin links von ihr sichtlich mit den Tränen kämpft.

Der Richter in der Mitte, der die Gesamtleitung innehat, wartet, bis die Stille vollkommen ist, und klopft dann zweimal testend gegen sein Mikrofon. Bumm, bumm. Geht. Wie hieß er doch gleich?

»Hiermit eröffne ich das Strafverfahren gegen dreißig exemplarisch Angeklagte, die in den Jahren 2000 bis 2030 in einflussreichen Positionen waren, sowie gegen die gesamte Gesellschaft dieser Jahre, für die die Angeklagten stellvertretend stehen. Laut Anklageschrift haben sämtliche Angeklagten ihre politische oder gesellschaftliche Macht genutzt, um in der Bundesrepublik Deutschland einen aktiven und wirklich substanziellen Umweltschutz in diesen noch relativ frühen Jahren zu verhindern. Sie stehen daher, laut Anklage, stellvertretend für eine ganze Generation, die ihren eigenen dekadenten Lebensstil über die berechtigten Interessen zukünftiger Generationen gestellt hat. Die Anklage lautet erstens: vorsätzlich unterlassener Umweltschutz, zweitens: grob sittenwidrige intergenerationale Lastenumwälzung und somit drittens: Verbrechen gegen die Flora, gegen die Fauna, gegen die Menschheit. Die ganze Gesellschaft dieser Jahre ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausdrücklich in die Anklage eingeschlossen.«

Der Vorsitzende Richter liest das erkennbar Satz für Satz von einem Notizblatt ab. Erica hat inzwischen seinen Namen auf der Webpage zum Prozess gefunden. Er heißt Bernhard Kriebl, ist 53 Jahre alt und eigentlich Richter am Amtsgericht Idar-Oberstein.

»Ich stelle nun zunächst die Anwesenheit der Angeklagten fest. Albrecht, Dietmar, Wirtschaftsminister in den Jahren 2024 bis 2028 und anschließend Cheflobbyist der deutschen Energiekonzerne?«

»Abwesend, wird vertreten durch die Pflichtverteidigung.«

Einer der Jura-Studenten auf der Anklagebank hat seine Stimme erhoben.

»Claudius, Johanna, im Jahr 2023 Mitbegründerin des Vereins zum Erhalt systemrelevanter Intensivindustrie, kurz V.E.s.I., und von 2023 bis 2027 Vorsitzende des V.E.s.I.?«

»Abwesend, wird vertreten durch die Pflichtverteidigung.«

Jetzt eine Jura-Studentin.

»Deindl, Anton, in den Jahren 2022 bis 2029 Präsident des Schutzbundes der konventionellen Landwirtschaft?«

»Abwesend, wird von der Pflichtverteidigung vertreten.«

Erica seufzt innerlich auf. Das kann noch eine Weile dauern. Auch als Theater muss ein Gerichtsprozess wohl fürchterlich bürokratisch sein. Oder vielleicht sogar gerade dann?

»Eilers, Jochen, früherer Rennfahrer und von 2024 bis zum Verbot der Organisation im Jahr 2032 Geschäftsführer der damals international bekannten Rennserie Formel 1?«

»Abw…«

»Anwesend!«

Was war denn das? Nach einer Schrecksekunde geht ein aufgeregtes Raunen durch den Saal. Einige Journalisten auf der Pressetribüne sind aufgesprungen, um besser sehen zu können, die Kameras suchen den Publikumsbereich im Parkett ab. Im vorderen linken Drittel nimmt ein älterer Mann mit dunkler Brille seine Baseballcap ab und bringt üppige graue Locken zum Vorschein. Er spaziert lässig durch die Schwingtürchen in der Mitte der Absperrung, scheucht mit einer kleinen Handbewegung einen der außen sitzenden Studenten von der Anklagebank, setzt sich auf den frei gewordenen Platz und verstaut die Brille in der Innentasche seines sportlich-legeren Sakkos. Kein Zweifel, es ist tatsächlich dieser Jochen Eilers, Erica kennt sein Gesicht aus dem Newsfeed.

»Pardon«, sagt er in das Mikro vor seinem Platz, »ich muss mich anfangs im Platz geirrt haben.«

Niemand im Saal lacht.

Kriebl blickt einen Moment unsicher zu seinen Kollegen und Erica kann förmlich hören, wie die Rädchen in seinem Gehirn rattern.

»Und Sie, äh …«, sagt Kriebl ins Mikrofon, »Sie wollen aussagen? Also, ähem, ich meine, hier vor Gericht?«

»Selbstverständlich!« Eilers sitzt aufrecht, betont aufmerksam, und signalisiert: Ganz zu Diensten. »Ich gehe immerhin auf die 70 zu, da ist es doch an der Zeit, mal ein kleines Fazit zu ziehen. Sich ein wenig zu hinterfragen. Und wann bekomme ich denn noch mal die Gelegenheit, dass mir eine international so renommierte Anwältin die Leviten liest?« Eilers deutet eine kleine Verbeugung in Richtung Perec an, die jedoch, soweit Erica das erkennen kann, überhaupt keine Regung zeigt. »Das soll natürlich nicht bedeuten, dass ich diese, mit Verlaub, diese populistische Scheißaktion in irgendeiner Weise gutheißen, geschweige denn anerkennen will.«

Er lächelt, als könne er kein Wässerchen trüben. Ein Zuschauer johlt vor Vergnügen und beginnt heftig zu klatschen. Das reißt Kriebl aus seiner Erstarrung und er klopft dreimal hart mit dem Hammer auf sein Richterpult: »Einen solchen Ton werde ich hier nicht dulden! Ich verhänge daher ein Ordnungsgeld gegen den Angeklagten Eilers in Höhe von …«, er überlegt kurz, der ganze Saal hält den Atem an und Kriebl geht doch noch ein Licht auf, »… ich verhänge symbolisch Ordnungsgeld!«

Eilers lacht auf und lehnt sich in seinen Stuhl zurück, während sich ein unruhiges Murren der Zuschauer breit macht. Erica blickt in Eilers’ faltiges Gesicht, auf dem sich jetzt ein zufriedenes, verschmitztes Grinsen zeigt. Sein Auftritt scheint sich schon gelohnt zu haben.

Wenn man Dingo und seine Jungs auf der weitläufigen Parkanlage des Forum Francorum sucht, dann geht man am besten einfach der Nase nach. Erica ist nicht wie sonst mit der U-Bahn direkt zum Forum gefahren, sondern mit der Straßenbahn zur Haltestelle Gibitzenhof. So kann sie gleich den mehrstöckigen und verwinkelten Gebäudekomplex im Zentrum der Anlage links liegen lassen und in den hinteren Teil des Parks gehen. Der unverkennbare Geruch feinster Cannabinoide weist Erica wie immer den Weg und beruhigt sie auf geradezu magische Weise noch vor dem ersten eigenen Zug.

Fast schon idyllisch sieht es aus, wie die Jungs an diesem herrlichen Frühlingssommertag auf der Wiese im Kreis sitzen und süßlichen Rauch aufsteigen lassen. Im Hintergrund blühen die Obstbäume. Man hört Vögel zwitschern, obwohl keine da sind. Der ganze faule Zauber macht Erica heute nichts aus: die Urlaubsstimmung, die die Gruppe umgibt, der Sommertag im März, das wilde Gemisch aus Palmen und Nadelbäumen. In dieser durch und durch verwirrten Natur spielt man heile Welt, doch man spielt es gut und Erica spielt mit. Die letzten Tage im Gericht haben sie aufgewühlt, den ganzen Vormittag hat sie Unterlagen gesichtet, aber heute ist auch für sie Prozesspause. Oder Vorstellungspause?

Sie begrüßt die Jungs und legt sich neben Dingo. Er gibt ihr einen langen Kuss und drückt sie fest an sich, obwohl sie sich erst vor ein paar Stunden noch zu Hause gesehen haben. Erica fährt mit den Händen durch seine schönen, schwarzen, krausen, warmen Haare. Wie war diese Wendung: Die Seele baumelt?

Sie wacht mit dem merkwürdigen Gefühl auf, beobachtet zu werden. Ihr ohnehin recht kurzes Sommerkleid ist ein bisschen zu hoch gerutscht. Offenbar im Glauben, unauffällig zu sein, linst Spex heimlich an ihren Beinen aufwärts. Unter dem Vorwand, die Liegeposition zu verändern, schiebt Erica schnell das Kleid zurecht und der Augenblick ist verflogen. Niemand sonst hat etwas bemerkt. Dingo ist mit Faris und Ben in ein Gespräch verwickelt, Mika durchsucht seine Jacke nach Gras. Spex guckt jetzt betont sinnend in die Ferne. Dingos Stimme wird etwas lauter: »Mir fällt echt nichts mehr dazu ein, wirklich, ich weiß nicht, was man dazu noch sagen kann.«

Erica macht die Augen zu und versucht noch einmal zu dösen. Ihrer Erfahrung nach sagen Leute immer ganz besonders viel, nachdem sie gesagt haben, dass ihnen nichts mehr zu sagen einfällt. Dingo ist schon wieder beim Prozess. Seit er es bei der Auftaktdemo mit der Polizei zu tun bekommen hat, fühlt er sich offenbar persönlich betroffen. Sie streicht ihm über den Rücken.

»Dass es keinen Generalstreik gegen die Van-Dyke-Regierung gibt. Ich fasse es nicht. Die Leute sehen zu, wie er bei diesem Wahnsinn zusieht. Wieso macht denn niemand was?!«

Erica kann an Dingos Stimme hören, dass er sich ernsthaft aufregt. Ben stimmt ihm zu, Faris sondert akademischen Mist ab, Herrschaftsverhältnis- und Diskursmachtsblabla. Erica denkt, die Jungs könnten ja mit dem Generalstreik anfangen und nächsten Monat ihr Grundeinkommen ablehnen. Nieder mit der Unterdrückung! Was ist eigentlich aus Mikas Suche nach dem Grasnachschub geworden?

Und dann träumt Erica von TT und van Dyke, wie sie verhandeln bis spät in die Nacht, wie TT immer wieder droht, notfalls Marina Lilienthal zur Kanzlerschaft zu verhelfen, wie van Dyke schließlich einknickt und sogar Nürnberg als Prozessort genehmigt. Wie TT mit Siegerlachen immer wieder an Ericas Beinen hochschaut. Und wie van Dyke reglos dasitzt, während TT immer widerlicher unter ihr Kleid schielt, und dann hat Erica plötzlich keinen Schädelknochen mehr, und alle jubeln deswegen, und beides zusammen lässt sie hochschrecken.

Die Jungs freuen sich, weil der kleine städtische Gastro-Roboter über die Wiese auf sie zurollt. Aus seinem gekühlten Inneren beziehen sie Red Bull, Nic Nac’s und Süßigkeiten. Nostalgie-Menü für echte Anarchisten, denkt Erica. Für den nächsten Teil der Bestellung muss sie dann ihren Ausweis einlesen, da die Jungs ihr monatliches Limit bereits erreicht haben. Geordert werden gleich die vollen 15 Gramm und mehrere Flaschen Bier. Wie immer in diesem Moment behauptet Dingo, nur durch seinen Cannabis-Konsum weite Teile des Forum Francorum mitfinanziert zu haben.

Alle setzen sich wieder und hängen den eigenen Gedanken nach, während der fahrende Bauchladen geflissentlich seine obligatorischen Belehrungen zum verantwortungsvollen Umgang mit den erworbenen Konsumgütern dreisprachig vorpredigt. Als beim Wechsel von Englisch zu Arabisch schließlich auch Spex den Blick abwendet, um einen Flaschenöffner zu suchen, hält der Roboter in seinem Vortrag indigniert inne und fährt mit seinen Rollen sanft in Dingos Rücken, immer vor und zurück. Dingo gibt Spex mit dem Fuß einen kleinen Stoß, dieser blickt wieder auf. Der Gastrorob beendet seine Rede und schiebt dann endlich zufrieden blinkend und piepsend ab.

Mischkonsum ist nie eine besonders gute Idee, aber in der prallen Märzsonne ist es sogar eine besonders schlechte. Niemand hat genug Energie, um Erica darauf hinzuweisen, dass ihre schneeweiße Haut den Tag nicht schutzlos wird überstehen können.

»Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum das Faschistenpack von der PfG nicht gleich mit den Abschotter-Faschisten gemeinsame Sache gemacht hat. Wozu überhaupt noch auf den alten van Dyke zurückgreifen?«

Auch Dingo ist jetzt merklich angeschlagen, er spricht schleppend. Faris und Mika dösen bereits, nur Ben und Erica hören noch zu. Spex hat zwar die Augen noch leicht geöffnet, ist aber erkennbar nicht mehr im Aufnahmemodus.

Schließlich mischt sich Erica doch ein: »Ich kann gerade TT eigentlich ganz gut verstehen. Und letztlich ist doch wirklich was dran am Anliegen der PfG, nicht?«

Sie sagt dies zwar mit ausgesuchter Unschuldsmiene, will aber vor allem Dingo ein wenig in seiner Selbstgefälligkeit provozieren. Er sieht sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an und nimmt einen weiteren tiefen Zug, ehe er an Ben weitergibt. Erica lässt nicht locker: »Die Reporterin im Prozess neben mir hat vor Rührung geweint. Und denk nur mal an TTs Tochter!«

Dingo raunzt sie empört an. »Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, hoffe ich! Diese Horror-Mutation bei seiner Tochter hin oder her …« Er holt aus zu einem längeren Monolog, doch noch ehe er richtig anfangen kann, unterbricht ihn Erica.

»TTs Büro hat mir übrigens ein Exklusivinterview mit ihm versprochen.«

Jetzt ist Dingo in seinem großen Vortrag nicht mehr zu bremsen. Eine ganze Generation verurteilen zu wollen, und noch dazu in Nürnberg. In Nürnberg! Ob das nicht auch ein Verbrechen sei? Dazu die ziemlich willkürliche Auswahl von dreißig Obersündenböcken. Und das alles in ihrem Namen, für die junge Generation. Pfui Teufel! Er spuckt aus. Erica hat einfach keine Energie mehr für eine Entgegnung, Ben schließt die Augen und schläft friedlich ein.

Irgendwann hört Erica hinter ihrem Nebelschleier, wie Dingo wiederholt sagt: »Man müsste was unternehmen!«

»Hm?«, gibt Erica mühsam von sich.

»Irgendwas Großes.«

»Wie? Was? Ich meine: Hä?«

»Na was ganz Großes eben!«

Dingo deutet mit ausgestreckten Armen einen sehr weiten Halbkreis an. Erica sieht zu ihm. Eine Sekunde vergeht, eine zweite, eine dritte. Eine vierte?

»Sorry … worum geht’s gleich wieder?«

Dingo lässt erschöpft und enttäuscht die Arme sinken: »Ich weiß es nicht mehr.«

Er schließt als Letzter die Augen.

Ein undeutliches, dumpfes Rumpeln. Ericas Augen öffnen sich zu kleinen Schlitzen. Ungefähr fünfzig Meter von ihrem Lager entfernt beginnt ein Arbeiter der Stadt Nürnberg mit der diesjährigen Bestäubung der Obstbäume. Nachdem der dafür nötige, schwere Pollinator eigenständig an den ersten Baum herangerollt ist, fahren acht lange, metallische Tentakeln heraus, suchen in Windeseile je eine Blüte, stechen mit dem Fühler punktgenau hinein, und sofort geht es weiter zur nächsten Blüte. Nach intensiver Betakelung der Vorderseite ziehen sich die Arme in den Kasten zurück, er rollt zur Rückseite des Baumes, und der Vorgang beginnt von vorne. Taktaktaktaktak mal acht. Der Stadtangestellte sitzt in einem Klappstuhl im Schatten, überwacht den Vorgang und zieht gemächlich an seiner E-Zigarette.

Ein schönes Bild.

Es ist 06:15 Uhr, der Wecker klingelt. Erica gibt Dingo einen Kuss und schleppt sich nach unten ins Badezimmer. Kämmen, duschen, föhnen, kämmen. Sie blickt in den Spiegel und bändigt ihre langen, dunklen Haare, die in starkem Kontrast zu ihrer eigentlich blassen Haut stehen. Als sie sich mit zwölf zum ersten Mal die Lippen rot geschminkt hatte, war ihr unabhängig voneinander in der Familie und in der Schule der Spitzname »Schneewittchen« verliehen worden. Statt ihrer Lippen ist heute ihr ganzes Gesicht rot und spannt höllisch. Ihre verfluchte Sorglosigkeit gestern!

Als sie in die Küche kommt, sitzt ihr Papa auf seinem Platz an der Eckbank, lächelt sie kurz aus einem unrasierten Gesicht an und wischt dann weiter in seiner Zeitung herum. Senile Bettflucht, denkt Erica, während sie sich ein paar Brote für den Prozesstag schmiert. No country for old men.

Er macht eine Bemerkung über das schöne Wetter. Erica hasst Small Talk in der Früh. Sie ist 23, ihr Vater fünfzig Jahre älter als sie. Sie addiert bewusst nicht. Ihre Mutter ist noch ein wenig jünger. Nachdem die Stadt ihre Deutschkurse weggekürzt hat, bezieht auch sie nur noch Grundeinkommen. Ericas Vater bekommt Rente, der Unterschied ist aber eher symbolischer Natur. Sie packt schnell die Brote ein, verabschiedet sich und zieht die Wohnungstür hinter sich zu.

Immerhin ist es draußen schon hell. Im Dunkeln wirkt der Stadtteil Kothbrunngraben bedrohlich, bei Licht nur schäbig. Hier wohnen Deutsche und andere EU-Bürger, die auf dem Abstellgleis gelandet oder geboren sind, außerdem Klimaflüchtlinge, die es weit gebracht haben. In der fränkischen Hinterwaldmetropole ist der Kothbrunngraben die Bronx. Wie alle größeren Nicht-Küstenstädte in Mitteleuropa leidet auch Nürnberg unter üblen Wachstumsschmerzen, die sich in den neuen Stadtteilen am deutlichsten zeigen. Als eines der allerletzten Stadtviertel haben sie hier erst vor wenigen Jahren einen Cool-Down-Point für hitzegeschwächte Senioren bekommen, und schon jetzt sind die Wände dort total verschmiert, die Bänke immer klebrig und verdreckt. Dafür ist Nürnberg inzwischen auf dem besten Weg, zur Millionenstadt zu werden.

An einem Kiosk kauft Erica einen Krapfen, dessen Füllung sich als absolut eklig herausstellt, und steigt an der Station Heroldsberger Weg in die U-Bahn, die den Flughafen paradoxerweise oberirdisch umrundet. Erst an der Station Ziegelstein geht es nach unten. Aus dem Fenster sieht sie die rechtwinkligen Reihen der Klimaflüchtlingsunterkünfte, die erst vor wenigen Jahren errichtet worden sind, damit Bayern den deutschlandweiten Schlüssel einhält, damit Deutschland den europaweiten Schlüssel einhält. Damit der Westen zumindest ein bisschen mit sich ins Reine kommen kann. »Verursacherprinzip«. Bei der ersten Wahl nach Errichtung der Smart-City – wie die offizielle Bezeichnung lautet – hat der angrenzende Stadtteil Buchenbühl trotzdem erstmals mehrheitlich Parteien des Abschotter-Lagers gewählt. Kleinbürger mit Dackeln und Gartenzwergen, denkt Erica, während die Bahn in die Erde abtaucht.

Wie witzig das Wort »Klimaflüchtling« doch ist. Oder eher seine Verwendung. Wenn man es in Daressalam nicht mehr aushält, ist man natürlich einer. Wenn man es aber in Amsterdam, Kopenhagen oder Hamburg nicht mehr aushält, weil es einem die Mietwohnung unter dem Hintern weggeschwemmt hat, dann ist man einfach ein Mensch, der sich verändern möchte und der in Nürnberg allen Wohnraum aufkauft.

In diese Gedanken vertieft, steigt Erica an der U-Bahn-Station des Forum Francorum aus, die unter dem futuristischen Gebäudekomplex liegt. Mit dem Lift kann man direkt vom U-Bahn-Gleis zum Foyer hochfahren, und dann steht man schon vor der provisorischen Sicherheitsschleuse am Eingang des Al-Gore-Saals, dem mit Abstand größten Raum des Forums. Erica zeigt ihren Presseausweis vor, passiert die Detektoren und erklimmt dann die erst halb gefüllte Pressetribüne. Heute Abend muss sie endlich anfangen, eine erste Version ihres Auftaktartikels als Prozessbeobachterin zu schreiben. Ihr schnaubender Kollege mit dem OCD ist bereits an seinem Platz, die gerührte PfG-Anhängerin noch nicht.

»Guten Morgen!«, sagt Erica, während sie sich setzt. Inzwischen sind sie immerhin zum Austausch elementarer Höflichkeitsformeln übergegangen.

»Moin, moin.«

Ihr Nachbar blickt nicht einmal auf, sondern schiebt seine Intellektuellenbrille zurecht und liest augenscheinlich seinen eigenen Artikel noch einmal Korrektur. So ein blasierter Kerl – wenn sie nur selbst schon so weit wäre! Sie versucht sich durch unauffälliges Schielen in ein wenig Betriebsspionage. Unter dem Vorwand, die Sitzposition zu verändern, verschiebt der Kollege den Bildschirm des digitalen Sekretärs. Erica kann nichts mehr erkennen und kocht innerlich. Für wen hält sich der Typ denn?

Um kurz vor halb neun nimmt TT seinen Platz auf der nur noch locker besetzten Ehrentribüne ein, Eilers geht zur Anklagebank und zieht seinen Notizblock hervor (noch analog! aus Papier!), und Gloria Perec schreitet ihrem Assistentenstab voran. Heute ist ihr erster großer Auftritt. Wie immer ist sie tadellos gekleidet und auch ihre strenge Hochsteckfrisur sitzt perfekt. Erica fällt auf, dass sich dort schon ein paar dünne graue Strähnen unter das ansonsten satte Braun gemischt haben.

Sehr abgehetzt erscheint Ericas zweite Prozessnachbarin auf der Pressetribüne und lässt sich auf ihren Sitz fallen. Sie grüßt wieder freundlich in ihre Richtung und sogar Ericas Nachbar zur Rechten blickt kurz hoch. Als Journalistenkollegen kannten sich die beiden bereits vor dem Prozess, das hat Erica inzwischen herausgefunden.

Um kurz nach halb neun erscheint das Richterteam, das nach dem ersten Tag von der Presse mit Hohn und Spott überschüttet wurde. Kriebl eröffnet die Sitzung und übergibt das Wort bald an die »Staatsanwältin«, zur Vorstellung der großen Schadensbilanz. Perec erhebt sich, fährt ihr Mikro nach oben und strahlt auch nach hinten eine solche Souveränität aus, dass Erica nicht anders kann, als beeindruckt zu sein. Perecs klare, kühle Stimme dringt aus den Lautsprechern:

»Hohes Gericht, sehr geehrte Verteidigung, sehr geehrte Damen und Herren. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen nicht hier in Nürnbergs Al-Gore-Saal – oder zu Hause vor den Screens –, sondern auf einem hohen Berg in den schönen bayerischen Alpen. Sie blicken um sich und sehen – Geröll. Skipisten ohne Schnee. Abgerutschte Hänge. Vereinzelt noch nicht abgebaute Skilifte. Mühsame und teure Aufforstungsversuche.

Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind mit einem magischen Adlerblick gesegnet, der es Ihnen ermöglicht, von diesem Gipfel aus bis an Deutschlands Küsten zu sehen. Die Situation in Bremen, Bremerhaven, Kiel, Rostock … Was der Anstieg des Meeresspiegels um einen knappen Meter doch ausmachen kann! Der erhöhte Grundwasserspiegel. Dazu die Sturmfluten. Der Starkregen. Wasser von unten, von vorne, von oben. Sie blicken nach Hamburg. Die schöne Hafencity, mein Gott.

Und jetzt denken Sie an das ganze Deutschland dazwischen, das Ihr Blick überspannt: Trockenheit hier, sintflutartiger Regen dort. Schadstoffe im Grundwasser. Übersäuerung der Böden. Verlorene Artenvielfalt. Massives Insektensterben. Mindestens ebenso massives Waldsterben durch den Borkenkäfer, der die höheren Temperaturen liebt. Sogenannte Ewigkeitsschäden fossiler Energie-gewinnung. Hangrutschen, tagebauinduzierte Seismizität, sümpfungsbedingte Bodenabsenkung. Und das sind nur die vergleichsweise geringen Schäden in Deutschland. Der unglaubliche Bevölkerungsdruck aus europäischen Küstenregionen und der restlichen Welt. Die unvorstellbare, nie da gewesene Not in Afrika und das Elend in weiten Teilen Asiens. Der Mangel an Wasser und Ackerfläche, dazu die Verteilungskämpfe oder besser gesagt die Verteilungskriege. Zu allen Problemen in Deutschland und Europa kommt die desolate moralische Lage des Westens vor der Weltgemeinschaft! Die kostspieligen und dennoch unzureichenden Wiedergutmachungsprojekte in den noch stärker betroffenen Ländern. Die Kosten und Probleme für Deutschland durch den massiven Migrationsdruck aus aller Welt. Und dann erst die individuellen Schicksale! Stark erhöhte Tumorgefahr bei den Erwachsenen, Fehlbildungen bei Neugeborenen …«

Perec trinkt einen Schluck Wasser und Erica denkt an TT und seine Tochter. Im Saal hat sich eine bedrückte Stimmung breitgemacht.

»Diese Probleme waren natürlich auch zu Beginn des neuen Jahrtausends bereits bekannt. Zahllose sogenannte Green Deals wurden auf allen Regierungsebenen vereinbart, insbesondere in den 10er- und 20er-Jahren. Diese Deals wurden dann jedoch entweder nach wenigen Jahren schnell wieder aufgeweicht oder ihre Ziele nach vielen Jahren überraschend deutlich verfehlt. Der Abschluss solcher Deals ging immer mit einer gewaltigen medialen Inszenierung einher, ihr faktisches Scheitern dagegen wurde möglichst diskret eingeleitet, durchgeführt und schließlich zu den Akten gelegt. Eine perfekt geölte PR-Maschine, die einem ganzen Land, ja sogar einem ganzen Kontinent plötzlich einen grünen Anstrich verpassen sollte.

Der Umwelt war das alles freilich ganz egal. Im Jahr 2031 begann die Lebenserwartung in Deutschland erstmals wieder langfristig abzusinken. Eine sekundäre Folge der Umweltkrise und ein seit dem Dreißigjährigen Krieg einmaliger Vorgang. Der Zweite Weltkrieg führte dagegen nur zu einer kleinen Delle in den Kurven. Die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards ist sogar schon seit den späten 2020er-Jahren erstmals wieder rückläufig gewesen.

Sie haben es erlebt oder wissen es aus dem Geschichtsunterricht: Erst zu diesem Zeitpunkt, vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, ereignete sich die sogenannte Zweite Deutsche Wende. Statt Umweltschutz lautete das offizielle Ziel nun auch Umweltheilung; statt Klimaneutralität strebte man erstmals eine deutlich negative CO2-Bilanz an. Statt neue Schäden bloß zu vermeiden, wollte man jetzt auch alte Schäden wiedergutmachen. Vor allem aber, und das ist der entscheidende Punkt, meinte man diese Ziele plötzlich ernst. Man war bereit, tatsächlich etwas zu investieren. Mittelfristige wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen. Sich einzuschränken.

Doch trotz all unserer immensen Anstrengungen nach der Zweiten Wende, trotz aller Bemühungen und Entbehrungen, trotz aller Innovationen und Investitionen – ist es uns noch immer nicht gelungen, die eben genannten Trends wieder umzukehren. Die allgemeine Lebenserwartung und der durchschnittliche Lebensstandard sinken weiterhin jedes Jahr. Auch alle anderen relevanten Kennzahlen zivilisatorischer Entwicklung sind rückläufig. Die Folgen der Umweltkrise belasten unser Land mit jedem Jahr stärker, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und wie lange noch?! Wir wissen es nicht.«

Es folgt eine weitere Kunstpause. Erica hat eine Gänsehaut wider Willen, ihr Atem geht schnell. Sie späht nach rechts. Im Bildschirm ihres Kollegen stehen nur Stichpunkte, der oberste lautet: Perec: Ganz billige Rhetorik. Der Kol-lege spürt Ericas Blick und schnaubt demonstrativ.

»Ab einem gewissen Ausmaß an menschlichem Leid stellt sich die Verantwortungs- und Schuldfrage ganz automatisch. Niemand kann bezweifeln, dass dieses Maß an Leid in unserer Gesellschaft schon längst erreicht ist. Welche Schuld aber trifft uns, die wir ganz überwiegend damit beschäftigt sind, alte Versäumnisse auszubügeln? Keine! Welche Schuld trifft eine Zeit, die nichts vom Anthropozän wusste, nichts davon wissen konnte, der die Ressourcen dieser Erde unendlich erscheinen mussten? Keine! Aber welche Schuld trifft eine Zeit, in der alle relevanten Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen und in der Umweltschutz trotzdem nur gespielt wurde, anstatt ihn substanziell zu betreiben? Ja: diese Zeit, diese Epoche, diese Generation trägt Schuld!«

Der ganze Saal ist in großer innerer Bewegung, weniger ein Geräuschpegel als eine elektrische Ladung verbreitet sich und erfasst jeden. Erica schielt nach links. Beim Anblick der weißen Fäuste ihrer Nachbarin fallen ihr ein paar Zeilen ihres Lieblingsoldies ein: Oh and as I watched her on the stage / My hands were clenched in fists of rage. Eilers dagegen sitzt reglos vorne, direkt gegenüber von Perec.