Globalismen - David Kuchenbuch - E-Book

Globalismen E-Book

David Kuchenbuch

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Beschreibung

Gestörte Lieferketten, Flucht und Migration, Kritik an »kosmopolitischen Eliten«: Auseinandersetzungen über Globalisierung und neuerdings auch Deglobalisierung haben Konjunktur. Tatsächlich wird über Wohl und Wehe der weltweiten Verflechtungen seit mehr als 150 Jahren diskutiert. Mal gewannen euphorische, mal pessimistische Sichtweisen die Oberhand. Dabei ist in jüngster Zeit das Wort »Globalismus« zu einem Kampfbegriff geworden. David Kuchenbuch entschärft diese Debatten. Er erfasst »Globalismen« als Ausdruck eines globalen Bewusstseins, das auch die Kritik an der Globalisierung beinhaltet. In seinem Buch erzählt Kuchenbuch zum ersten Mal die wechselhafte Geschichte des globalen Denkens in der transatlantischen Moderne. Er rekonstruiert die sozialen Milieus, die kulturellen Konstellationen und die politischen Mobilisierungsprozesse, aus denen heraus Globalismen entstanden. Es geht um Phänomene wie die utopischen Hoffnungen, die sich Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine friedliche »One World« richteten, oder um die in den 1970er Jahren verbreitete Sorge angesichts »globaler Interdependenzen«. So zeigt dieses konzise und anschaulich geschriebene Buch, wie stark historische Erfahrungen in gegenwärtigen Debatten fortwirken.

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Chart Of The World On Mercators Projection, Hermann Berghaus, 1882(Justus Perthes Verlag, Gotha)

Die Länder der Erde in flächentreuer Darstellung [Peters-Weltkarte], Arno Peters, 1974(Universum-Verlag, München-Solln).Mit freundlicher Genehmigung der Huber Kartographie GmbH.

www.kartographie.de

David Kuchenbuch

Globalismen

Geschichte und Gegenwart des globalen Bewusstseins

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-485-5

© der deutschen Print-Ausgabe 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-370-4

Gestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Inhalt

1 Einleitung

2 Die Welt der ersten Globalisierung

3 Gegenläufe zwischen zwei Weltkriegen

4 One World: (Nach-)Kriegsglobalismen

5 Globale Dörfer, Raumschiff Erde, dreierlei Welten

6 Only One Earth: Die langen 1970er Jahre

7 Globalisierung: 1989 bis 2008

8 Epilog

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Globalismus als Kampfbegriff

Was ist Globalismus? Beginnen wir mit einem Tweet. Mitte Mai 2021 empfiehlt Hans-Georg Maaßen auf Twitter das drei Jahre zuvor erschienene Buch Globalisten von Quinn Slobodian. Es kommt nicht oft vor, dass sich ein prominenter Politiker auf ein geschichtswissenschaftliches Werk bezieht. Aber nicht nur das macht den Literaturtipp bemerkenswert. Ein Angehöriger des rechten Flügels der CDU, der eine Darstellung der »Widersprüche der neoliberalen Weltanschauung« als Lektüre für ein »verregnetes Wochenende« empfahl? War das ernst gemeint?1 Die Antwort lautet: nein. In einer Talkshow hatte wenige Tage zuvor die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer dem ehemaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz vorgeworfen, auf Twitter antisemitische Inhalte zu verbreiten. In Politik, Presse und den sozialen Medien führte das zu einiger Aufregung. Dabei war es insbesondere der Begriff »Globalisten«, der in einigen der von Maaßen geteilten Posts gefallen war, an dem sich die Diskussion über Neubauers Vorwurf abarbeitete. Schien er den einen harmlos, wiesen andere, darunter die Konrad-Adenauer-Stiftung, daraufhin, dass dieser Ausdruck in der extremen Rechten als sogenanntes Hundepfeifen-Signal kursiert: als Code für Verschwörungstheorien wie die »Neue Weltordnung«, die »die Juden« seit jeher zu schaffen versuchten.2 Vor diesem Hintergrund war Maaßens Empfehlung zweifellos als Selbstentlastung gemeint: Seht her, »Globalismus« ist ein Mainstreambegriff. Zugleich war sein Lob vergiftet. Denn Maaßen zitierte aus einer Besprechung von Deutschlandfunk Kultur, einem jener Sender, die er anderswo scharf für ihre unterstellte linksliberale Voreingenommenheit kritisierte.

Der kanadische Historiker wollte das offenbar nicht auf sich beruhen lassen. Slobodian, der sich im Nachwort zu seinem Buch in der Tradition der linken Globalisierungsproteste in Seattle und Genua verortet, reagierte seinerseits mit einem Tweet. Darin wies er auf die Nähe Maaßens zur Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft hin, die sich der Pflege des Gedankenguts dieses Ökonomen verschrieben hat, der als Vordenker des Neoliberalismus betrachtet wird.3 Unabhängig vom Antisemitismusvorwurf zielte das darauf, Maaßen, der sich mittlerweile einem Parteiausschlussverfahren ausgesetzt sieht, als einen Befürworter uneingeschränkter globaler Märkte zu entlarven, der aus Opportunismus zuletzt auf einen nationalistischen und protektionistischen Kurs umgeschwenkt sei, um sich als Verteidiger der »kleinen Leute« zu gerieren.

So weit, so polemisch. Zwei Monate später allerdings legte der ehemalige Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, ein Buch vor, das die Auseinandersetzung verkompliziert. Streeck nämlich sieht die deutsche Gesellschaft am Scheideweg »zwischen Demokratie und Globalismus«. Der meinungsstarke, dem Selbstverständnis nach linke Kritiker »technokratischer« Institutionen wie der Europäischen Zentralbank (EZB), geizt darin nicht mit Vorwürfen an die sich »als kosmopolitisch verstehende, neolibertäre und neoelitäre Mittelschicht«.4 Diese ist für Streeck Profiteurin einer Globalisierung unter wirtschaftsliberalen Vorzeichen, die seit den 1990er Jahren die soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften Europas und Nordamerikas vergrößert habe. Die Rückkehr von Nationalismus, Protektionismus und Nativismus in jüngster Zeit deutet Streeck als basisdemokratischen Protest von Globalisierungsverlierern. Dieser richte sich auch gegen eine Doppelmoral, die sich im letztlich bloß symbolischen Eintreten für Benachteiligte aus fernen Ländern bemerkbar mache, anstelle eines Engagements für die Rettung demokratischer Institutionen zuhause vor einer immer schwerer kontrollierbaren Global Governance.

Meinten Maaßen, Streeck und Slobodian dasselbe, wenn sie von Globalisten schrieben? Es wird noch verzwickter. Denn der Begriff »Globalismus« spielt auch in ganz anderen Denkzusammenhängen eine wichtige Rolle. So in der jüngsten Debatte über das Anthropozän – also das menschengemachte Erdzeitalter, das Naturwissenschaftlerinnen am theoretisch auch noch in Millionen Jahren messbaren Einfluss der Menschheit auf Geologie, Klima und Biome der Erde festmachen. Ökologisch sensibilisierte Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie Bruno Latour identifizieren nicht selten »den« Globalismus der Industriemoderne als Hürde, die den Weg aus der Klimakatastrophe versperre.5 Globalismus wird hier nicht als politische Haltung, sondern als eine instrumentelle Außensicht auf unseren Planeten verstanden, und diese wiederum als Ausdruck einer typisch westlichen Machbarkeitshybris. Entsprechend wird der Globalismus einem nachhaltigeren In-der-Welt-Sein gegenübergestellt. Auch die Globalismuskritik der Theoretiker des Anthropozäns geht also mit Skepsis gegenüber internationalen politischen Übereinkünften einher, etwa dem Handel mit Emissionsrechten. An eine Rückbesinnung auf die Integrations- und Gestaltungskraft der Nationalstaaten, wie sie Wolfang Streeck vorschwebt, ist aber sicher nicht gedacht, wenn Latour dazu aufruft, Allianzen zwischen Menschen und Tieren zu bilden.

Können Historikerinnen die Debatte entwirren? Es geht ja um ihre Themen: die Geschichte des Antisemitismus und der neoliberalen Hegemonie im späten 20. Jahrhundert; die Geschichte des Nationalstaats, ja sogar die des westlichen Fortschrittsdenkens schlechthin. Allerdings: Zuletzt haben auch Historikerinnen, allen voran Vertreter der Globalgeschichte, den eigenen »methodischen Globalismus« zu hinterfragen,6 ja als Bestandteil eines »epidemischen Globalismus« zu historisieren begonnen. Der habe nämlich in den 1990er und frühen 2000er Jahren, der Hochphase der Globalisierungseuphorie, keineswegs nur Wirtschaft und Politik angesteckt, sondern eben auch die deutenden Wissenschaften.7 Jürgen Osterhammel und Stefanie Gänger haben sich und ihren Kolleginnen sogar eine Denkpause empfohlen. Die während der Corona-Pandemie unübersehbare Exekutivmacht der Territorialstaaten bringe manch lang gehegte Annahme ins Wanken, etwa hinsichtlich des Primats des Welthandels vor der Politik. Umso wichtiger sei es, dass Historiker über die Geschichte von Globalitätsvorstellungen nachdenken, zu denen »weltbürgerliche Visionen« ebenso zählten wie »klaustrophobische Ängste […] vor einem durch gemeinsame Bedrohungen zusammengehaltenen Erdball«. 8

Reflexive Globalisierung:Globalismus als analytischer Begriff

Dieser Essay soll zeigen, wie eine solche selbstreflexive Analyse von Globalitätsvorstellungen in der Geschichte (West-) Europas und des nordatlantischen Raums aussehen könnte. Zwei Hypothesen sind dabei zentral. Die Auseinandersetzung über Globalismus ist beim genaueren Hinsehen davon bestimmt, dass Annahmen über historische Globalisierungsprozesse zu Argumenten werden. Es scheint daher erstens angeraten, Globalitätsvorstellungen vor dem Hintergrund von Globalisierungserfahrungen zu analysieren, in Anlehnung an die Überlegungen des Bielefelder Historikers Reinhart Koselleck zum Verhältnis von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«.9 Um der Gefahr vorzubeugen, dabei von einer Art Naturgesetzlichkeit alles überwölbender Globalisierungsprozesse auszugehen, die Erfahrungen präfigurierten, ist es zugleich wichtig, Globalität immer auch als Ergebnis von aktiver Vernetzungsarbeit zu betrachten: einer Arbeit, die sich ihrerseits erst durch die Erwartung positiver globaler Zukünfte seitens einflussreicher Akteure erklärt. Spätestens um 1880, so wird zu zeigen sein, war »Globalisierung« reflexiv geworden.

Deshalb scheint es zweitens sinnvoll, trotz seiner Umstrittenheit am Globalismusbegriff festzuhalten. Aber in dem neutralen Sinne, dass er als »Denken in globalen Bezügen«10 definiert wird, wie es die Historikerinnen Sabine Höhler und Iris Schröder nennen: als ein Denken, das ein wandelbares, phasenweise durchaus gespanntes Verhältnis zu geografisch weit reichenden Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft impliziert; ein Denken, das aber auch als solches reflektiert wird, weshalb im Folgenden immer wieder vom »globalen Bewusstsein« die Rede sein wird. Zu den Globalismen zählt dann auch die Globalisierungskritik. Und zwar nicht nur die »linke«, sondern zum Beispiel auch jene, die Donald Trump, damals noch US-Präsidentschaftskandidat, auf einem Parteitag der Republikaner im Sommer 2016 artikulierte, wenn er verkündete, er stehe für »Americanism, not Globalism«.11

Anfänge des globalen Denkens

Aber wird wirklich erst seit dem späten 19. Jahrhundert »global gedacht«? Ist Globalismus ein Phänomen der »Hochmoderne«, der Historiker gern eine besonders ausgeprägte Weltbeobachtungsneigung mit den dazu passenden Wissenschaften – Geografie, Anthropologie, später dann die Area Studies – bescheinigen? Es gibt keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Es kommt darauf an. Wissenshungrige Naturforscher und Kartografen, die auf den Spuren von Eroberern und Unternehmern die Erde erkundeten, gab es bereits im ausgehenden Mittelalter und nicht nur in Europa. Man könnte auf die Erkenntnis der Sphärenform der Erde schon in der Antike hinweisen, deren lebensweltliche Relevanz jedoch bescheiden war. Ähnliches ließe sich für die in der Globalisierungsgeschichte gerne bemühten Ursprungsszenen sagen: etwa die Etablierung der einigermaßen regelmäßig zwischen den Philippinen, dem mexikanischen Acapulco und Westeuropa zirkulierenden Manila-Galeonen des 16. Jahrhunderts. Oder alternativ und weniger eurozentrisch: über die riesige chinesische »Schatzschiff«-Flotte des frühen 15. Jahrhunderts, die bis nach Ostafrika vordrang. Solche Ereignisse haben »Interaktionsbarrieren« geschliffen.12 Aber sie werfen eher einen Schatten voraus als ein Licht auf das Denken ihrer Zeit. Denn das Werk von Menschen wie dem Kartografen (und Erfinder des Ausdrucks »Atlas«) Gerardus Mercator oder das »Worldmaking« von Denkern wie Montaigne oder Milton waren marginal.13 Martin Mulsow schlägt vor, die globale Ideengeschichte der frühen Neuzeit als Geschichte von »Überreichweiten« zu untersuchen. Diese Metapher zielt auf Unschärfen aufgrund des Umstands, dass sich die gewissermaßen noch schlecht befestigten »Transportwege« von Ideen unterschieden von der Interpretation geistiger Beeinflussungsverhältnisse etwa zwischen Ostasien und Italien, wo sie im Rahmen der christlichen Heilslehre erfolgten.14 Es geht Mulsow um die geringe Dichte der Informationen über die Informationswege selbst, um die fehlenden Metadaten des Ideenimports. Eine Vernetzungsdiagnostik im engeren Sinn verhinderten diese eher. Das sah beim kosmopolitischen Interesse europäischer Forschungsreisender an den »Anderen«, das an der Wende zum 19. Jahrhundert ausgeprägt war, schon anders aus. Dass dieses Interesse indes zuletzt fast krampfhaft bemüht wurde, um das Humboldt-Forum im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss in eine positive Tradition zu stellen, die auch die Unterbringung mutmaßlichen Raubguts aus den Kolonien rechtfertigt, deutet nicht auf seine historische Verbreitung hin.15

All die genannten Phänomene sind bemerkenswert. Sie werden hier aber vor allem insofern eine Rolle spielen, als sie zu verschiedenen Zeitpunkten in der jüngeren Geschichte als Argumente für weniger oder mehr globale Vernetzung auftauchten. Und zwar nach jener Zäsur, die für die Erfahrungs- und Deutungsgeschichte der Globalität die wichtigste ist: dem Ende einer Welt, in der er es für einen signifikanten Teil der Menschheit noch keinen ökonomischen Nachteil bedeutete, nicht in geografisch weit reichende Prozesse eingespannt zu sein, für die viel später der Begriff »Globalisierung« geprägt wurde.16 Insofern beginnt die Reflexionsgeschichte von Globalität mit dem enormen Transformationsdruck, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem dominierenden, sich industrialisierenden Europa ausstrahlte.

Vergleich und Konnektivitätsdiagnostik als Modi der Welterzeugung

Es ist viel geschrieben worden über Globalitätsindikatoren wie die ersten Ozeane »überquerenden« Finanzkrisen, etwa den »Gründerkrach« 1873, und über das Zusammenwirken verschiedener Globalierungsfaktoren dieser Zeit. Man denke an die sich rasant verkürzende Übermittlungsdauer von Informationen durch die transatlantische Telegrafie, an die fallenden Transportkosten dank neuer Technologien, die fossile Brennstoffe für Antriebe nutzbar machten, an internationale Übereinkünfte, die Transaktionskosten im Welthandel senkten, die Vereinheitlichung von Ortszeiten infolge der Washingtoner Meridiankonferenz 1884. Letztere, so betonen Globalisierungshistoriker, koinzidierte mit der Kartierung der letzten (für Europäer) »weißen Flecken« der Erdoberfläche. Das war eine Entwicklung, die viele Menschen ihre Gegenwart als »globale Gleichzeitigkeit« erleben ließ.17

Ich skizziere diese Prozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch deshalb schon an dieser Stelle, weil es verführerisch ist, aus ihnen eine Erfahrungsgeschichte der Konnektivität herauszulesen, also eine Geschichte nunmehr regelmäßiger Kulturkontakte, die bis zu zeitgenössischen Diagnosen der Abhängigkeiten oder Interdependenz der »Völker« der Erde voneinander führen konnten. Nicht zuletzt die Prägung eines Begriffs wie »Weltwirtschaft« durch deutsche Nationalökonomen der 1860er Jahre ist dafür wiederholt als Indiz angeführt worden. Allerdings muss schon mit Blick auf den Kolonialismus sofort der Hinweis folgen, dass die genannten Prozesse asymmetrisch waren, und das auch schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung.18 Jürgen Osterhammel betont, dass die wirtschaftliche Globalisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit dem Wandel des Kulturtransfers zu einer »Einbahnstraße« zusammenfiel.19 Je häufiger Europäer beobachteten, dass andere, etwa die Eliten Japans während der Meiji-Restauration, ihr Modell kopierten, umso weniger glaubten sie selbst von diesen Anderen lernen zu können. Wer vorschnell in der Kategorie der Vernetzung denkt, übersieht, dass die Vermehrung und Verdichtung der kulturellen Kontaktzonen Ende des 19. Jahrhunderts immer seltener zu jenem respektvollen Interesse an den Anderen führte, das man derzeit so gerne Alexander von Humboldt attestiert.

Abstrakter ausgedrückt: Historische Globalitätserfahrungen entstehen in Wechselwirkung mit Modi der gedanklichen »Welterzeugung«. Die Geschichte des atlantisch-europäischen Globalismus zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den 1960er Jahren war die eines globalen Vergleichens, das sich zu Gewissheit der eigenen Überlegenheit verdichtete.20 Eben dieses Superioritätsbewusstsein legitimierte Praxen kolonialer Treuhänderschaft weit hinein ins 20. Jahrhundert. Dabei gilt es jedoch zu bedenken: Wer vergleicht, tut zweierlei. Es geht um eine Differenzdiagnose, der eine Gleichheitsunterstellung zugrunde liegen muss.21 Es ist bekanntlich durchaus erlaubt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, solange es um den Vergleich zwischen Früchten geht. Ein Vergleich kann aber auch darauf hinauslaufen, Identität oder gar Gleichwertigkeit festzustellen. Die Annahme einer Weltgemeinschaft oder geteilten Humanität, die daraus abgeleitete Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals, wohnt dem globalen Denken also inne.

Umso wichtiger ist es, zu verdeutlichen, wann und warum das Trennende betont wurde. Das globale Vergleichen des späten 19. Jahrhunderts war mit der Überzeugung des Imperialismus verwandt, dass »Weltpolitik« (auch dieser Begriff war neu) ein Nullsummenspiel sei, einer Überzeugung, die vom Sozialdarwinismus überformt war, bis hinein in Arenen des internationalen Leistungswettbewerbs, die bis heute bestehen: die Olympiaden und Weltausstellungen etwa. Und selbst die Ende des Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schießenden internationalen Organisationen förderten, indem sie zu zwischenstaatlichen Regelwerken drängten, den Trend zum Territorialstaat mit seinen klaren Grenzen.22 Das widersprach nur auf den ersten Blick der in der entstehenden Soziologie aufkommenden Theorie, die Menschheit werde langfristig in einer Art sozialer Evolution zusammenwachsen, sich also von den Dorfgemeinschaften über die Nationen zur Weltgesellschaft entwickeln.23 Denn dass der Stimulus dieses Prozesses von den am weitesten »fortgeschrittenen« Gesellschaften ausgehe, stand außer Frage.

Europäer und das Vergessen der »Anderen«

Noch einmal: Sind das nicht doch Themen, die auch in der im vergangenen Jahrzehnt wieder aufgeflammten Diskussion über die Genese des modernen, »globalen« Kapitalismus im 15. und 16. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen? Es wird in dieser Diskussion ja gerne eine kapitalistische »Rechenhaftigkeit« als Faktor neuer ökonomischer Dynamiken ausgemacht (ganz unabhängig davon, ob dabei die Städte Oberitaliens oder das Jangtse-Delta als Beispiel dienen). Damit einher geht ein erneuertes Interesse an der Koevolution von Kapitalismus und Kolonialisierung. Es wird sich wieder auf die Urszenen der »ursprünglichen Akkumulation« bzw. eines »Raubkapitalismus« besonnen,24 der mit Blick auf den Sklavenhandel im Black Atlantic zweifellos auch schon in der frühen Neuzeit ein »racial capitalism« war. Nun sollen die umwälzenden Folgen der interkontinentalen Zwangsarbeit hier nicht kleingeredet werden. Die Kommodifizierung afrikanischer Menschen lässt sich kaum trennen von neuen kapitalistischen Praktiken und Profiterwartungen. Diese verknüpften sich mit staatlichen Bemühungen um die Produktivmachung von Populationen, aber auch mit einem othering dahingehend, Afrikanern und mehr noch Afrikanerinnen ihre ökonomische Rationalität abzusprechen, um sie so zu dehumanisieren.25 Zweifellos: Das globale Vergleichen war auch in der frühen Neuzeit eine gedankliche Operation, die die räumliche Expansion begleitete und teils wohl auch hervorrief. Denn in der Perspektive einer frühkapitalistischen Staatlichkeit versündigten sich Populationen, die die von ihnen bewohnten Territorien (vermeintlich) nicht effizient bewirtschafteten, am göttlichen Auftrag der Urbarmachung der Welt. Aber diese »Vergleichspraxis« war insofern ambivalent, als sie die Europäer anderen »Anderen« näher rückte. Beispiele sind die Antikerezeption des europäischen Humanismus, der nur langsam die Rolle des arabischen Raums als Überträger vergaß, oder die Begeisterung der höfischen Gesellschaften Europas für die Kulturen Chinas und Japans.

Verglichen nur Europäerinnen infolge der frühneuzeitlichen globalen Kontakte? »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit« aus der Feder des jüngst verstorbenen Anthropologen David Graeber und des Archäologen David Wengrow argumentiert anders. Die Autoren wollen zum Nachdenken über Alternativen zur Gegenwartsgesellschaft anregen, indem sie zeigen, dass die politische Organisation außereuropäischer historischer Kollektive vielfältiger und freiheitlicher war als meist angenommen, und dass dies den Menschen im 16. und 17. Jahrhundert klar gewesen ist. Heute werde unterschätzt, wie groß die Resonanz der nordamerikanischen indigenen Kritik an Europa in der Aufklärungsphilosophie war.26 Fraglos waren fremde (fiktionale) Blicke auf Europa – Montesquieus Persische Briefe (1721) zum Beispiel – ein beliebtes Genre der Essayistik dieser Zeit. Und es wäre absurd anzunehmen, dass basisdemokratische Ideen nur in Europa entstanden; man denke an die Haitianische Revolution, die in Frankreich breit wahrgenommen wurde – zunächst. Genau das ist der Punkt: Wengrow und Graeber bleiben eine Antwort auf die Frage schuldig, warum der indigene Einfluss in Vergessenheit geriet.

Die Antwort auf diese Frage bildet zugleich eine Rechtfertigung der zentralen Limitation dieses Essays. Ist es nicht eurozentristisch, nur die Geschichte des nordatlantisch-europäischen Globalismus zu schreiben? Nun ließe sich einwenden, dass diese Kritik sich bei anderen europäischen Ismen nicht so schnell aufdrängt. Warum aber sollte der europäische Globalismus »globaler« sein als sein Anarchismus oder Liberalismus? Die geografische Einschränkung erklärt sich in diesem Fall aber auf andere Weise. Der so problematische, eurozentrische Blick des »Nordens« auf die Welt und die paradoxerweise abnehmende Bereitschaft der Europäer, von den »Anderen« zu lernen: Beide Phänomene werden sich als Spezifika des beleuchteten Zeitraums erweisen. Ich werde zeigen, dass die Forderung an die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, ihre Erkenntnisinteressen und ihr Material zu »globalifizieren«, eine vergleichsweise junge Geschichte hat. Und dass diese Geschichte nicht unmittelbar aus einer Herausforderung durch »nichteuropäisches« Denken herrührt. Entsprechend bin ich der Überzeugung, dass die Begrenzung auf die nordatlantisch-europäische Ideenwelt – bei aller Vorsicht im Umgang mit solchen Kategorien – für den hier in Rede stehenden Zeitraum sogar notwendig ist. Zumal, wenn wir die Feindseligkeiten gegenüber einer »kosmopolitischen Ethik« besser verstehen wollen.

Das führt zu einer zweiten Einschränkung. Die Kapitel zum ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert werden die potenzierten Möglichkeiten dieser historischen Phase herausarbeiten, neuartige Globalitätserfahrungen zu machen, die die Menschen aber nicht zwangsläufig als solche artikulierte. Demgegenüber kann und wird der Essay in den Abschnitten zu den letzten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts und zum frühen 21. Jahrhundert stärker auf den Einsatz solcher Erfahrungen als Argumente im Zusammenhang von Bemühungen abheben, »Globalität« zu verstärken oder auch zu reduzieren. Dabei ist es mein Ziel, Konjunkturen und Trends im globalen Bewusstsein zu identifizieren und sie ein Stück weit zu erklären. Das Nachdenken über das globale Denken beginnt erst.

1https://twitter.com/hgmaassen/status/1392450611820498944?lang=de [25.6.2023].

2 Hüllen, »Was verstehen Rechtsextremisten unter ›Globalismus‹?«, https://www.kas.de/de/web/extremismus/rechtsextremismus/was-verstehen-rechtsextremisten-unter-globalismus [25.6.2023].

3https://twitter.com/zeithistoriker/status/1392579563562143747 [12.10.2021, der Tweet wurde zwischenzeitlich gelöscht].

4 Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie, S. 12.

5 Latour, Kampf um Gaia, bes. S. 211–224.

6 Mittelman, »Globalization«, S. 21–33.

7 Osterhammel, »Globalifizierung«, S. 6.

8 Gänger/Osterhammel, »Denkpause für Globalgeschichte«, S. 84.

9 Koselleck, »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹«.

10 Schröder/Höhler, »Welt-Räume«.

11 Zitiert nach Deuerlein, Zeitalter der Interdependenz, S. 16.

12 Fäßler, Globalisierung, S. 36–45.

13 Ramachandran, Worldmakers.

14 Mulsow, Überreichweiten.

15 Siehe nur die virtuelle »360°-Experience«, die zum »Weltdenken« einlädt: https://berlin-global-ausstellung.de/ [25.6.2023] und die Kritik an der Ausstellung von Daniel Morat, »Katalysator wider Willen«.

16 In diesem Sinne Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 41.

17 Ebd., S. 64.

18 Stanley, »›Maidservants‹ Tales«.

19 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 1286.

20 Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, bes. S. 45f.

21 Heintz, »Welterzeugung durch Zahlen«.

22 Paulmann, Globale Vorherrschaft.

23 Deuerlein, Zeitalter der Interdependenz, bes. S. 35–37.

24 Siehe etwa Beckert, King Cotton.

25 Morgan, Reckoning with Slavery.

26 Graeber/Wengrow, Anfänge. Überzeugender: Dodds Pennock, On Savage Shores.

2 Die Welt der ersten Globalisierung

Die Welt, 1882

Historiker lieben es, sich mit einzelnen Jahren zu beschäftigen. Mal werden diese als Zeiträume interpretiert, in denen sich bestimmte Ereignisse akkumulieren, bis sie fundamentale Umwälzungen herbeiführen. Dann wieder sollen Einzeljahre eher Schlaglichter auf den historischen Prozess werfen, also kulturelle, soziale, ökonomische Strukturen aufblitzen lassen. Mit 1882 geht beides. Blickt man in die Wikipedia, stößt man auf eine Vielzahl von Ereignissen, die sich als Wendemarken in der Geschichte der Globalisierung interpretieren lassen, aber auch auf solche, die die erreichte »Globalität« des späten 19. Jahrhunderts verdeutlichen. Zum Beispiel gründet John Rockefeller in diesem Jahr das Standard Oil Trust. Er konsolidiert damit sein Monopol bei der Raffinierung jenes Materials, das die Kohle als Triebkraft der Weltwirtschaft abzulösen beginnt. Darauf werden wenig später die ersten Antitrust-Gesetze der USA reagieren, die zur Gründung einiger der noch heute dominierenden Ölunternehmen führen. Im Frühjahr 1882 geben sich die USA mit dem Chinese Exklusion Act ihr erstes rassistisches Einwanderungsgesetz, während in Russland die Maigesetze die Freizügigkeit der Juden einschränken. Im Juli beschießt die britische Flotte Alexandria und erringt die Kontrolle über den Suezkanal, wenige Monate später wird ganz Ägypten zum britischen Protektorat. Bis heute wird über den Suezkanal ein erheblicher Teil des Welthandels abgewickelt, seit seiner Eröffnung 1859 vollzieht sich über ihn aber auch die lessepssche Migration: die Zuwanderung invasiver Arten aus dem Roten Meer ins Mittelmeer. Dazu passt, dass 1882 das erste Internationale Polarjahr (IPY) war, in dem sich die Regierungen von zwölf Staaten verpflichten, die Erforschung der letzten unerforschten Gebiete der Erde koordiniert anzugehen. Das bildet eine Voraussetzung für den internationalen wissenschaftlichen Austausch, der auch im so konfliktreichen 20. Jahrhundert nie zum Erliegen kommt. Zugleich legt die im Rahmen des IPY verabredete Standardisierung und Integration von meteorologischen Daten den Grund für die neue Konzeption des »Weltklimas«. Auch die Idee eines »Weltumweltschutzes« wird in den 1880er Jahren begrifflich fassbar. Schließlich ist 1882 das Jahr, in dem der Historiker Ernest Renan an der Pariser Sorbonne die Vision einer supranationalen europäischen Gemeinschaft entwirft. Sein Vortrag »Was ist eine Nation?« wird für seine »konstruktivistisch« informierten Nachfolger der 1990er Jahre zur zentralen Referenz, wenn sie nach Forschungsperspektiven jenseits des Nationalstaats fragen.

Die Beispiele sind so ausgewählt, dass sie eine Vielzahl Themen berühren, die wir heute durch die Globalisierungsbrille betrachten: ökonomische und infrastrukturelle Verflechtungen und die Macht multinationaler Unternehmen; transkontinentale Migration und der Versuch, sie zu unterbinden; die Zerstörung der Erde durch den Menschen; die Suche nach postnationalen Konstellationen. Meine Auswahl macht zugleich das Kernproblem der Jahreszahlbücher deutlich, die »Jahre am Rande der Zeit« identifizieren,1 in denen also etwas zu Ende ging und etwas anderes begann: Die Zeitgenossen selbst thematisierten meist nicht dieselben Vorgänge, die Historikerinnen als entscheidende ausmachen; globaler Umweltschutz und europäische Identität zum Beispiel waren keine zentralen Themen der »langen Jahrhundertwende« (ca. 1880–1918), um die es im Folgenden geht. Schließlich ist das Gefühl, in einer Umbruchsituation zu leben, der eine offene Zukunft folgt, mit guten Gründen als Standarderfahrung moderner Menschen herausgearbeitet worden.2 Und dennoch: Es spricht einiges dafür, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für eine präzedenzlos große Zahl von Menschen zur Selbstverständlichkeit wurde, die Welt als politischen, ökonomischen, sozialen und naturräumlichen Gesamtzusammenhang zu betrachten.

Die ganze Welt in Thüringen

1882 lancierte Hermann Berghaus eine Weltkarte, die diesen Gesamtzusammenhang visualisierte (siehe die Abbildung in der vorderen Buchklappe). Das Werk ist eine virtuose Mischung aus topografischer und thematischer Karte. Die Erdoberfläche wird durch Schummerungen der Höhenunterschiede dargestellt, Gewässer, Wüsten, sogar das Packeis ist farblich markiert. Visualisiert werden darüber hinaus Meerestiefen sowie Strömungen und ihre Geschwindigkeiten. Was jedoch als Erstes ins Auge fällt, ist die große Aufmerksamkeit, die der Kartengestalter den Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen hat zuteilwerden lassen, den »regelmäßigen Dampfschifffahrts-Linien und Ueberland-Routen« und den »grossen Land- und Untersee-Telegraphen«. Wollte man Berghaus’ Karte aus sich selbst heraus interpretieren, wären ihre Themen die Beherrschbarkeit der Welt und die Bedeutung von Kommunikation. Sie wäre ein Medium, das zugleich andere Medien(kanäle) zeigt, deren Zuverlässigkeit durch die Detailtreue der Karte selbst verbürgt wird. Denn irgendwie müssen die geografischen Informationen, die an Messpunkten auf der ganzen Welt erhoben wurden, schließlich am Standort des Kartografen zusammengeführt worden sein.

Dieser Standort, und das macht die Karte nicht nur zum Symbol, sondern auch zum Produkt von Globalisierung, war das thüringische Gotha, genauer die kartografische Anstalt des Verlagsbuchhändlers Wilhelm Perthes, an der Hermann Berghaus 1863 eine erste Version der Karte entwarf. Der 1828 geborene Kartograf hatte bei Perthes die Aufgabe, Kartenwerke zu aktualisieren. Berghaus, der in seinem Leben kaum weiter gereist ist als von seinem westfälischen Geburtsort Herford nach Thüringen, saß an einem peripheren Ort, an dem dennoch erkennbar wurde, was sich in der Welt veränderte, wie sie zusammenwuchs. Umso wichtiger ist, dass die Karte englisch beschriftet und betitelt ist, was auf die Existenz eines länderübergreifenden Marktes für die thüringischen Verlagsprodukte hinweist. Tatsächlich war einer der Verwendungszwecke die Nutzung als Kontorkarte durch Reedereien, die mit ihrer Hilfe einzelne Schiffe auf ihrer Route tracken konnten, wie wir heute sagen. Womöglich lag der unique selling point der Karte allerdings in dem Effekt, der sich bei ihrer Betrachtung aus gewissem Abstand ergibt. Dann nämlich verschwimmt das »Geflecht sich überkreuzender und überlappender Linienbündel«3 – die kartografische Entscheidung, jede damals regelmäßig befahrene Schifffahrtslinie in durchbrochenen Linien auf der Karte zu verzeichnen, lässt einen Gesamteindruck menschengemachter Globalität entstehen. Die natürliche Geografie der Erde bleibt erkennbar, wird aber überschrieben durch ein Netz aus menschlicher Aktivität.

Und so kann man sich vorstellen, wie die Zeitgenossen die Verbindungen dieses Netzes mit dem Finger abreisten in einer Phase massenhafter Migration insbesondere aus Europa nach Amerika. Gut möglich, dass Menschen auch der Route der nach Südamerika ausgewanderten Verwandtschaft folgten, wenn sich nicht gar eigene Auswanderungsträume an der Karte entzündeten. Karten schaffen Möglichkeitsräume; sie sind Imaginationshilfen, die zur Veränderung der Realität einladen.4 Daher überrascht nicht, dass die Berghaus-Karte immer wieder mit den literarischen wie realen Weltreisen ihrer Zeit in Verbindung gebracht wird, mit der Weltumrundung des George Francis Train im Jahr 1870 oder mit der Postkarte, die eine Tageszeitung 1888 als publicity stunt auf eine siebzigtägige Reise um die Welt sendete.5 Sie war damit sogar zehn Tage schneller als der britische Gentleman Phileas Fogg, den der Schriftsteller Jules Verne bereits 1873 auf seine fiktionale Reise geschickt hatte – eine Reise, die sich nicht nur als Abenteuer, sondern auch als Wette auf die Genauigkeit der Kursbücher der Reedereien, auf die Konnektivität ihrer Zeit verstehen lässt.6 Tatsächlich neigten Historiker zuletzt zu der Überzeugung, »dass das, was seit Ende des letzten [20., D.K.] Jahrhunderts als Globalisierung bezeichnet wird, eine in ihrer Grundform recht dauerhafte Bewusstseinsfigur darstellt«.7 Realentwicklungen des 19. Jahrhunderts bilden das latente Erfahrungsreservoir für das Globalitätsdenken, mit dem wir seitdem operieren.

Die erste Globalisierung

Als Ende der 1990er Jahre die Globalisierungsdebatte einen ersten Höchststand erreichte, sahen sich auch Historiker herausgefordert, mitzudiskutieren. Gerade Wirtschaftshistoriker sind zu wichtigen Einsichten gelangt, indem sie etwa die These von der präzedenzlosen Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts hinterfragten. Wenn wir heute von Phasen oder Wellen der Globalisierung sprechen, dann liegt das an quantifizierend arbeitenden Forschern wie Kevin O’Rourke und Jeffrey G. Williamson oder Cornelius Torp, die die Jahre ab ca. 1860 als Zeit einer »ersten Globalisierung« beschreiben. Diese Globalisierung machen sie, darin den Sozialwissenschaftlerinnen der Jahrtausendwende ähnlich, bevorzugt an zahlenmäßigen Indikatoren der Weltmarktintegration fest.8 So weisen sie auf die Preiskonvergenzen des späten 19. Jahrhunderts bei Fleisch- und Milchprodukten auf verschiedenen Kontinenten hin oder auf die sich rasant verkleinernden Weizenpreisdifferenzen zwischen Odessa und Liverpool in der Zeit von 1850 bis 1910. Zwischen 1800 und 1913, so eine oft zu lesende Statistik, stieg das Welthandelsvolumen um das 43-Fache.9 Statt der Luxuserzeugnisse der frühen Neuzeit wie Gold und Gewürze wanderten nun Schütt- und Massengüter wie Eisenerz, Kohle, Dünger und Fasern, aber auch Maschinen um den Globus. Dabei übertrafen die Steigerungen im Welthandel die der ebenfalls rasant wachsenden Güterproduktion. Gut messbar ist auch der Zuwachs grenzüberschreitend agierender Wirtschaftsakteure, also der ersten multinationalen Unternehmen (MNU), zu denen Firmen wie die AEG oder Siemens gehörten.10 Nachweisen lassen sich aber auch erste interkontinentale Wirtschaftskrisen, etwa im Zuge des Krimkriegs und des Gründerkrachs ab 1873. Als wichtiger Verflechtungsindikator muss mithin die immense Kapitalmobilität des 19. Jahrhunderts gelten. Wobei die Wirtschaftsgeschichte hier Investitionsmuster ausmacht, die sich von jenen der Globalisierung des 20. Jahrhunderts unterscheiden. 11 Direktinvestitionen von Aktionären in Firmen im Ausland waren seltener als die Portfolioinvestitionen aus den globalen »Zentren« in die »Peripherien«; europäische Anleger erwarben bevorzugt ausländische öffentliche Anleihen für Hüttenwerke, Plantagen oder solche mit Infrastrukturbezug: Ein Großteil entsprechender Investitionen erfolgte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Verkehrsnetze und Transportanlagen.12

Insofern, als damit der Bau ebenjener auf der Berghauskarte verzeichneten Hafenanlagen finanziert wurde, die die Frequenz der globalen Kontakte vergrößerten, wird schon deutlich, dass sich quantitative Indikatoren der Globalisierung analytisch oft nicht sauber von ihren Faktoren trennen lassen. Neben Produktivitätssteigerungen im Agrarsektor war es die industrielle Revolution (und die durch sie getriebene Rohstofferschließung), die immer größere Absatzmärkte in den Blick geraten ließ und auch die enormen Produktionskostendifferenzen erklärt, die den Fernhandel erst rentabel machte. Dass dabei preissenkende technische Innovationen auch und gerade im Bereich des Transports von zentraler Bedeutung waren, liegt auf der Hand. Es war die Nutzbarkeit des fossilen Brennstoffs Kohle für den Güterverkehr, die lokale Standortfaktoren für Unternehmer nachrangig machte, so Historiker wie Peter Fäßler und Johannes Paulmann.13 Die Zuverlässigkeit und Ladekapazitäten der Dampfer begannen ab 1870 die von Segelschiffen hinter sich zu lassen;14 der Eisenbahnbau in den zwei Jahrzehnten zuvor war aber noch wichtiger, denn der größere Teil der Transportkosten fiel über Land an und nicht auf dem Seeweg. Zirkeldynamiken entstanden daraus, dass der Eisenbahnbau selbst einen Stimulus für die industrielle Kohleförderung sowie für Innovationen in Hüttenwesen und Maschinenbau darstellte und, kaum weniger bedeutsam, für die Entstehung von Kapitalgesellschaften neuen Typs. Darüber hinaus trugen die Koordinationszwänge des Eisenbahnbetriebs zu Transaktionskosten senkenden internationalen Übereinkünften bei, bis hin zur erwähnten Vereinheitlichung von Ortszeiten. Ende des Jahrhunderts erweiterten zudem neue Kühltechniken die Palette der handelbaren Produkte und ermöglichten damit die Integration neuer Regionen. So kamen um 1900 via Kühlschiff erstmals in größerem Umfang Butter aus Neuseeland und argentinisches Rindfleisch in Europa an.15

Das Tempo dieses Güterverkehrs konnte aber nicht mit der exponentiell wachsenden Geschwindigkeit der Informationsübermittlung mithalten. Die »Reisedauer« von Informationen entkoppelte sich mit der Telegrafie (die 1866 erstmals einigermaßen stabil den Atlantik überquerte) überhaupt zum ersten Mal in der Geschichte von ihren biologischen Trägern.16 Und ein erheblicher Teil des Kommunikationsgeschehens erfolgte zwischen den sich vernetzenden Börsen. Der Preisverfall und die Massenhaftigkeit des transnationalen Nachrichtenverkehrs, aber auch die Tatsache, dass die Telegrafie half, Verkehrssysteme zu koordinieren, machte aber nicht nur globale Geschäftspraxen in »Echtzeit« möglich.17 Sie öffnete auch neue Spielfelder für die Spekulation: Der Preisabgleich via Telegrafie trug zur Risikominimierung bei.

Neben technischen spielten auch kostensenkende rechtliche Standards eine Rolle. Gerade sie bildeten einen wichtigen Deutungshintergrund für die Globalismen des 20. Jahrhunderts: Der Abbau von Zöllen wurde lange Zeit als Signum des vermeintlich besonders liberalen 19. Jahrhunderts angesehen und auch der Aufstieg Großbritanniens zum Hegemonen aus der dortigen Dominanz der Freihandelsidee erklärt. Tatsächlich war es 1846 unilateral zur Aufhebung der Corn Laws gekommen, der die Streichung aller Importzölle durch die Briten folgte. Das fand mit dem Cobden-Chevalier-Vertrag mit Frankreich 1860, der das Meistbegünstigtenprinzip festschrieb, erstmals auch Eingang in ein zwischen zwei Staaten verhandeltes Abkommen. Dies muss indes in den Kontext einer Vielzahl von Sicherheit und Effizienz für den Handel gewährleistenden Übereinkünften schon des frühen 19. Jahrhunderts gestellt werden. Allen voran gilt das für den Goldstandard, den die Bank of England 1821 initiierte, indem es seine Währung zu einem festen Umtauschkurs ans Gold band, das Pfund also zugleich mit Gold deckte und eine Einlösungspflicht der Banknoten in Gold garantierte. Je mehr Staaten sich diesem Vorgehen anschlossen, umso mehr entsprach dies einem System fester Wechselkurse. Eine Art globales Währungssystem entstand, das noch Mitte des 20. Jahrhunderts als positive Referenz dienen konnte.

Die Skizze sollte zeigen, dass die Wechselwirkungen verschiedener Globalisierungsfaktoren einen enormen Transformationsdruck auf bauten, dem sich auch außereuropäische Gesellschaften nicht mehr entziehen konnten. Zweifellos ging dieser Druck von Europa aus, das das Zentrum der Weltproduktion war.18 Insofern kann von einer einheitlich globalisierten Welt nicht die Rede sein. Selbst innerhalb Europas trifft der Integrationsbefund nur für Enklaven zu. Es gab, so Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, keine etwa durch Kreditflüsse integrierte globale Fläche.19 Und noch immer war der Zugang zur Weltwirtschaft nicht überall grundsätzlich ein Wohlstandsfaktor. Im Gegenteil profitierten vor allem industrialisierte Regionen von offenen Märkten, was einem Trend zur Spezialisierung bzw. globalen »Arbeitsteilung« entsprach, nicht nur mit den kolonisierten Regionen des (später so genannten) »globalen Südens«, sondern auch mit einem Land wie Kanada, das sich als erfolgreicher Rohstoffexporteur spät industrialisierte.20 Der »Welthandel im Zeichen Europas« (Johannes Paulmann) war extrem ungleich verteilt; innerhalb des »Rests der Welt« wurde weit weniger gehandelt, was die Konsequenzen des Außenhandels mit Europa für manche nichteuropäische Ökonomie keineswegs entschärfte. In den südostasiatischen Nassreisökonomien oder im subsaharischen Afrika gab es kaum Produktivitätszuwächse, während die englischen Textilien die einheimische Produktion in Indien nachgerade zerstörten.21 Dennoch kann die erste Globalisierung nicht per se als Ausdruck eines Ungleichgewichts allein zwischen Europa und Nordamerika und der »außereuropäischen Welt« begriffen werden. Allerdings sollten die Langzeitwirkungen der Investitionsregime, die sich um 1900 etabliert hatten, eine zentrale Rolle in den kritischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Ursachen von Entwicklungsrückständen spielen,22 etwa wenn der Blick auf die Eisenbahnstrecken in Afrika fiel, die mit dem Ziel der Extraktion von Rohstoffen, nicht aber der Erschließung des Kontinents für seine Bewohner angelegt worden waren.

Unkoordiniertes Zusammenwirken

Die Globalisierung im späten 19. Jahrhundert war tendenziell ein »blinder« Prozess. Gerade ihre ökonomisch-technologischen Dynamiken waren das Ergebnis eines unkoordinierten Zusammenwirkens einer Vielzahl von Akteuren. Und wie wir sehen werden, besteht in dieser geringeren Bedeutung bewusster politischer Richtungsentscheidungen ein Unterschied zur zweiten Globalisierung im 20. Jahrhundert, in dem die Erinnerung an die ungeheure Wachstumsdynamik der Jahrhundertwende selbst zum Faktor der Vermehrung globaler Verbindungen wurde. Damit ist aber nicht gesagt, das Zusammenwachsen der Welt sei kein bestimmendes Thema der Debatten des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts gewesen. Im Gegenteil dokumentiert die Begriffsgeschichte ein ausgeprägtes Globalitätsbewusstsein in diesem Zeitraum. Im Deutschen explodierte die Zahl der »Welt«-Komposita, von denen wir viele noch heute benutzen: In den 1860er Jahren kam etwa der Begriff »Weltwirtschaft« auf, im Jahrzehnt danach kamen »Weltreich«, »Weltmacht« und »Weltrevolution« hinzu, dicht gefolgt von »Weltpolitik«, »Weltverkehr«, »Weltstaat« und »Welthandel«.23 Das Wort »Welt« wurde säkularisiert und materialisiert, aber auch »temporalisiert«. Es hatte zuvor – ähnlich wie »Kosmos« – die gesamte Schöpfung gemeint. Die Idee, die ganze Welt erfassen zu können oder eine Wortverwendung, die gleichbedeutend mit »Erdoberfläche« war (»Weltkarte«), hätten als geradezu blasphemisch gegolten. Der marxsche Imperativ, die Welt zu verändern und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Formeln wie »neue Welt« und »moderne Welt« deuten also auf eine gewissermaßen philosophische Diskontinuität hin.