Glückliche Scheidungskinder - Remo H. Largo - E-Book

Glückliche Scheidungskinder E-Book

Remo H. Largo

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Beschreibung

Remo H. Largo und Monika Czernin machen Eltern Mut, die in der schwierigen Situation einer Scheidung sind: Kinder müssen unter der Trennung der Eltern nicht leiden – es gibt Wege, sie glücklich aufwachsen zu lassen. Getrennt leben, aber gemeinsam erziehen, das ist möglich. Die Autoren gehen anhand konkreter Beispiele auf die wichtigsten Fragen ein. Sie konzentrieren sich dabei auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder und zeigen Wege, diese zu erfüllen, egal, in welchem Familienmodell.

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Von Remo H. Largo liegen im Piper Verlag vor:

Babyjahre

Kinderjahre

Glückliche Scheidungskinder (mit Monika Czernin)

Schülerjahre (mit Martin Beglinger)

Jugendjahre (mit Monika Czernin)

Lernen geht anders

Für Eva, Helena, Kathrin und Johanna

ISBN 978-3-492-95779-3

Dezember 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007

Erstausgabe: Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 1993

Redaktion der Neuausgabe: Margret Plath

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: Getty Images/ Ralf Juergens

Konvertierung: bureau23, Mainz

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In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Einleitung

Die Trennung:Das Kind ins Zentrum stellen

Wie sagen wir es unserem Kind?

Das Wichtigste in Kürze

Was verstehen Kinder unter Liebe, Ehe, Trennung und Scheidung?

Das Wichtigste in Kürze

Warum reagieren ältere Kinder anders auf eine Trennung als jüngere?

Das Wichtigste in Kürze

Wieso leiden Kinder in den ersten Lebensjahren seltener unter der Scheidung?

Das Wichtigste in Kürze

Warum die Trennung besonders für Kinder im Schulalter belastend ist

Das Wichtigste in Kürze

Wie Jugendliche die Trennung der Eltern aufnehmen

Das Wichtigste in Kürze

Wie sehr vermissen Eltern und Kinder einander?

Das Wichtigste in Kürze

Der Alltag danach: Getrennt leben, gemeinsam erziehen

Was ändert sich nach der Trennung?

Das Wichtigste in Kürze

Woher wissen wir, ob es dem Kind gut geht?

Das Wichtigste in Kürze

Wie viele verschiedene Zuhause verträgt ein Kind?

Das Wichtigste in Kürze

Welche Betreuung braucht ein Kind?

Das Wichtigste in Kürze

Wie gemeinsame Elternschaft trotz allem gelingen kann

Das Wichtigste in Kürze

Gefühle und Werte: Das Kind behutsam begleiten

Kann es den Kindern gut gehen, wenn es den Eltern schlecht geht?

Das Wichtigste in Kürze

Warum Kinder unter dem Streit der Eltern leiden

Das Wichtigste in Kürze

Was bewirken Familienideale bei Eltern und Kindern?

Das Wichtigste in Kürze

Patchwork und Co.: Leben in verschiedenen Familien­formen

Was geschieht mit den Kindern, wenn sich die Eltern neu verlieben?

Das Wichtigste in Kürze

Wie fühlen sich die Kinder und was erwarten die Eltern von ihrer neuen Familie?

Das Wichtigste in Kürze

Wie wachsen Kinder in einer Patchworkfamilie zusammen?

Das Wichtigste in Kürze

Erwachsene Scheidungskinder: Licht und Schatten

Welche Auswirkungen haben Konflikte und Trennung auf das spätere Leben der Kinder?

Das Wichtigste in Kürze

Familie und Gesellschaft: Zusammenleben heute

Wie sich die Lebensformen verändert haben

Das Wichtigste in Kürze

Wie können Gesetzgeber und Gerichte helfen?

Das Wichtigste in Kürze

Warum wir einen neuen Begriff von Elternschaft brauchen

Das Wichtigste in Kürze

Nachwort

Dank

Anhang

Glossar

Fragebögen

Literatur

Bildnachweis

Einleitung

Es war an einem verregneten Sonntag in Zürich vor zwölf Jahren. Remo Largo und ich wollten eine gemeinsame Lesung über die Entwicklung eines Kindes vom Säugling zum Kleinkind vor­bereiten, seinen Erläuterungen über die Besonderheiten der kind­lichen Entwicklung sollten meine mütterlichen Re­fle­xio­nen gegen­überstehen. Videosequenzen über wackelige Krabbelversuche und den Triumph der ersten Schritte wurden gesichtet sowie Dias über die ungebremste Forscherlust von Zweijährigen aus Remos reichem Bilderfundus hervorgekramt. Dann, noch bevor wir uns mit den Einzelheiten des Programms auseinander­setzen konnten, platzte es in einer Mischung aus Verzweiflung und eiserner Haltung aus mir heraus.

»Wir haben uns getrennt!«

Ich hatte mir vorgenommen, das Gespräch auf meine per­­sönliche Situation zu lenken – allerdings erst nach getaner Arbeit und zu angemessener Zeit. Würde Remo Largo, Ent­wick­lungs­spe­zia­list und feinfühliger Kenner der Kinderseele, mir vielleicht sagen können, was nun aus meiner damals dreijährigen Tochter werden wird? Diese Frage lastete schwer auf meinen Schul­tern.

»Wenn ihr als Eltern die Bedürfnisse eurer Tochter weiterhin ausreichend abdeckt und es euch selbst nach der Trennung gut geht, wird nichts passieren«, sagte er.

Meine Tochter war mit nach Zürich gereist. Sie war früh auf­gestanden, die ganze Autofahrt über hellwach geblieben und erst kurz vor Zürich eingeschlafen. Wenn sie allerdings einmal schlief, war sie kaum zu wecken, und so hielt ich mein schlummerndes Mädchen im Arm, während ich redete.

»Du meinst, sie würde keinen Schaden nehmen, wenn wir uns trennten und schließlich auch scheiden lassen würden?« Ich war einigermaßen erstaunt. »Wahrscheinlich meinst du, der Schaden ließe sich begrenzen, könnte – gemessen an dem Schaden, den unglückliche, sich ewig streitende Eheleute anrichten – vielleicht sogar das kleinere Übel sein? Aber kein Schaden?«

»Trennung und Scheidung sind für die Eltern sehr schmerzhafte Erfahrungen. Aber für das Kind muss eine Trennung nicht zu einer unvermeidlichen und vor allem langfristigen Tragödie werden. Im besten Fall wird das Kind in seinem Wohlbefinden gar nicht oder nur vorübergehend beeinträchtigt. Es erlebt die Trennung dann als negativ, wenn es nicht mehr ausreichend betreut wird, seine Grundbedürfnisse nicht mehr wie bisher befriedigt werden oder das Kind unter den negativen Gefühlen und dem Streit zwischen den Eltern leidet.«

Das saß. Ich hatte schon etliche Bücher zum Thema durch­gepflügt, mich auf mein Wissen als Pädagogin konzentriert, aber eine derart radikale Antwort hatte ich bisher nicht gefunden. Stattdessen wurden Schuldgefühle geschürt. »Scheidungskinder machen in der Schule Schwierigkeiten.« »Sie verlieren einen Elternteil und dann auch noch den anderen, wenn er sich wieder verliebt.« »Sie wollen um jeden Preis, dass ihre Eltern wieder zusammenfinden.« »Als Erwachsene sind sie weniger bindungs­fähig.« Und nun also das: kein bleibendes Trauma? Keine Kindheit zweiter Klasse? Sondern eine Kindheit wie jede andere? Möglicherweise sogar eine glückliche Kindheit? Darüber wollte ich mehr erfahren, herausfinden, worauf es dabei ankommt, und diese Erfahrungen schließlich mit anderen Menschen teilen. Zwei Jahre lang führten Remo Largo und ich damals Gespräche über die Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die Kinder und entwickelten dabei unsere Vorstellungen, die wir zu Papier gebracht und für das Buch aus Überzeugung den Titel »Glückliche Scheidungskinder« gewählt haben.

Oft half mir Remo während dieser Zeit, »das Problem Trennung« richtig zu analysieren, falsche Schuldgefühle zu zerstreuen und den Blick für die tatsächliche Verantwortung meinem Kind gegenüber zu stärken. Einmal, als ich beruflich verreisen wollte, obwohl meine Tochter mich gerade sehr brauchte, redete er mir derart ins Gewissen, dass ich auf der Stelle einen Bandscheibenvorfall bekam und zu Hause blieb. »Kann es sein, dass du zu wenig Zeit für deine Tochter hast und sie dich deshalb nicht loslassen will? Ich denke nicht, dass die Scheidung daran schuld ist!«

Das war einer jener Schlüsselsätze. Nicht die Scheidung, nicht die Familienform bestimmt, ob es einem Kind gut geht, sondern ob und wie wir seine Bedürfnisse wahr- und ernstnehmen. Das ist einerseits die befreiende Nachricht für alle Eltern, die Angst haben, ihre Kinder würden durch Trennung und Scheidung Schaden nehmen. Andererseits fordert dieser Satz die Eltern heraus, die Erziehungsaufgabe, die sie mit der Geburt ihrer Kinder übernommen haben, auch wirklich zu erfüllen – in welcher Familienform sie auch leben.

 

Der Wandel der Familie von der traditionellen Großfamilie . . . [1]

. . . zur heutigen Kleinfamilie [2]

 

Die Überarbeitung

Das ist jetzt zwölf Jahre her, und seitdem hat sich vieles verändert, weshalb wir unser Buch komplett überarbeitet und in eine neue Form gebracht haben. Während wir 2003 mit unserem durchaus provokativen Titel »Glückliche Scheidungskinder« oft aneckten, setzte sich die Sicht, dass Scheidungskinder genauso glücklich aufwachsen können wie Kinder aus sogenannten Kernfamilien, in den folgenden Jahren immer mehr durch. Trennungen sind heute kein Tabu mehr, und Scheidungskinder gibt es in jeder Schulklasse. Vieles von dem, was wir als kindgerechten Weg im Umgang mit Trennung und Scheidung für wichtig halten, wird heute von Er­ziehungsberatungsstellen und Familientherapeuten ähnlich ge­se­hen. So herrscht Einigkeit darüber, dass die Beziehung zwischen den Eltern und Kindern nach der Trennung entscheidend dafür ist, ob die Kinder mit der neuen Lebenssituation zurechtkommen oder nicht. Andererseits bleibt gerade die Trennung der Paar- von der Eltern­ebene für viele Mütter und Väter eine große und oftmals schwierige Herausforderung.

Mit der Überarbeitung des Buches wollen wir auch dem sozialen Umbruch, der in unserer Gesellschaft gegenwärtig stattfindet, Rechnung tragen. Dabei geht es in erster Linie um die neuen Formen des familiären Zusammenlebens. 2011 bestanden in Deutschland 20 Prozent der Familien aus einem alleinerziehenden Elternteil mit Kind oder Kindern, 15 Jahre zuvor waren es noch 14 Prozent (Familienreport 2012). 2012 kamen in der Schweiz 82 164 Kinder auf die Welt; 14 268 waren Kinder lediger Mütter (17,5 Prozent). Immer mehr Paare entscheiden sich bewusst dafür, nicht zu hei­raten und trotzdem eine Familie zu gründen. Diese und andere neue Formen des Zusammenlebens bekräftigen uns in der Grundhaltung, die wir bereits in der Erstausgabe dieses Buches ein­genommen haben: Entscheidend für das Kindeswohl ist nicht die Familienform, sondern die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen.

Auch die gesellschaftlichen Institutionen haben auf die neue familiäre Wirklichkeit reagiert, und ein ganzes Heer von Hilfs- und Beratungseinrichtungen ist entstanden. Das Bewusstsein, dass Trennung und Scheidung nicht nur das Paar, sondern vor allem deren Kinder betrifft, ist gewachsen, das Kindeswohl ist zu einem großen Wort geworden. Nur – und das ist der zweite Grund für diese Neubearbeitung – ist deshalb schon alles gut? Werden die Kinder mit ihren Bedürfnissen stärker berücksichtigt? Zwar richtet sich heute der Blick öfter auf die Kinder, doch was genau sie für ihr Wohl wirklich brauchen, scheint nach wie vor unklar zu sein. Wie erleben die Kinder den Alltag in Trennungs- und Scheidungsfamilien? Wie viele pendeln zwischen ihren Eltern hin und her, und unter welchen Umständen ist das Pendeln für die Kinder tragbar, wann hingegen eine zu große Belastung? Wie lebt es sich in so komplexen sozialen Gebilden wie der Patchworkfamilie? Was an der neuen Familienwelt ist wirklich kindgerecht und was nur elterngemäß? Wie sehr erschweren die ungünstigen Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft Eltern in ausreichendem Maße für ihr Kind zu sorgen?

Wie bereits bei der ersten Ausgabe des Buches stellte sich auch bei der Überarbeitung immer wieder heraus, dass viele der an­gesprochenen Probleme nicht spezifische Scheidungsprobleme sind, sondern auch die sogenannten Normalfamilien belasten und zu den »großen« Problemen und Ungereimtheiten unserer Zeit gehören. Allen voran das Thema Zeit, Zeit für Kinder, Zeit für Familie, Zeit für individuelle Bedürfnisse und Interessen. Zeit ist zu einem der kostbarsten Güter geworden, die Eltern ihren Kindern geben können.

Der Aufbau des Buches

Das Buch besteht aus sechs überarbeiteten Teilen. Jeder Teil kann für sich gelesen werden. In Teil 1 geht es um die Zeit vor und nach der Trennung. Alle Eltern fragen sich, wie sie ihren Kindern die Trennung erklären sollen. Worauf kommt es dabei an, und was ­davon verstehen Kinder überhaupt? In welchem Alter rea­gieren sie besonders empfindlich und warum? Ausführlich wird auf eine vorausschauende, möglichst bereits vor der Trennung vorgenommene, umsichtige Planung und Organisation des Kinder­lebens, insbesondere der zukünftigen Kinderbetreuung, hinge­wiesen.

In Teil 2 befassen wir uns mit dem Alltag nach der Trennung. Wer wohnt wo, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Kind? Woran erkennen wir, ob es ihm gut geht, und woher wissen wir, ob es mit der neuen Lebenssituation zurechtkommt? Welche Herausforderungen haben die Eltern nach der Trennung zu meistern? Wie kann man als Paar getrennt leben, aber dennoch als Eltern die Kinder gemeinsam erziehen?

Teil 3 widmet sich den Gefühlen und Emotionen aller Beteiligten. Hier versuchen wir zu klären, warum Streit für Kinder so schädlich ist, was Kinder in hochkonflikthaften Fällen durchleiden und wie Eltern trotz großer Schwierigkeiten zu einer konstruktiven gemeinsamen Haltung finden können.

In Teil 4 wenden wir uns der Vielfalt des Zusammenlebens zu. Ob Stief- oder Patchworkfamilie, Living-apart-together- oder Ein­elternfamilie: Die Familie muss sich wandeln, Stief- und Halb­geschwister müssen integriert und der anspruchsvolle Alltag gemeistert werden – eine große Herausforderung für alle.

Teil 5 beschäftigt sich mit der Frage, was aus Scheidungskindern wird, wenn sie erwachsen werden. Wie wirken sich die oftmals Jahre zurückliegende Trennung und Scheidung auf ihre Beziehungsfähigkeit aus? Welche Erwartungen und Befürchtungen haben sie bezüglich Partnerschaft und Elternschaft?

In Teil 6 werfen wir einen Blick auf den Wandel, den die Familie in den vergangenen Jahren durchgemacht hat, und fragen uns, welche Auswirkungen dieser Wandel auf Eltern und Kinder hat und in Zukunft haben wird. Gesetzgeber, Gerichte und Fürsorgestellen haben sich in den letzten Jahren sehr bemüht, Anpassungen – beispielsweise beim gemeinsamen Sorgerecht – an die veränderten Lebensweisen vorzunehmen. Die familienergänzende Kinderbetreuung hat weiter an Bedeutung gewonnen. Uns geht es bei den ganzen gesellschaftlichen Veränderungen darum, die Elternschaft als eine unkündbare Verpflichtung fest im Bewusstsein aller zu verankern.

In allen Teilen des Buches begegnen wir Kindern und ihren Eltern, Stiefeltern, Großeltern und Geschwistern. Anna zum Beispiel. Die Geschichte des Mädchens, ihrer Mutter Valerie und ihres Vaters bildet den roten Faden des Buches. Valerie ist bestimmt keine perfekte Mutter. Ihre Lebensumstände sind glücklich und ihre Beziehung zu Anna innig. Ihre größte Stärke liegt darin, dass sie Anna gut »lesen« kann. Die beiden schaffen es immer wieder, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Mit Anna und ihren Eltern wollen wir einen positiven Verlauf von Trennung und Scheidung nachvollziehbar machen. Dazwischen gibt es viele andere Lebensgeschichten von Kindern und den dazugehörigen Erwachsenen. Manche dramatisch, andere haben wir wegen ihrer aufschlussreichen Details ausgewählt. Wir haben uns bemüht, die ganze Breite der Lebenswirklichkeiten von Scheidungskindern abzubilden. Alle Geschichten basieren auf Interviews, den Ergebnissen diverser empirischer Studien, Forschungsarbeiten und unseren eigenen Erfahrungen. All jenen, die uns Einblick in ihr Leben gewährt haben, danken wir an dieser Stelle.

In der Überzeugung, dass jedes Kind einmalig ist und jede Lebenssituation nur aus sich heraus beurteilt werden kann, versuchen wir verallgemeinernde Ratschläge zu vermeiden. Stattdessen haben wir uns einer dialogischen Wahrheitssuche verschrieben, die unsere persönlichen Auffassungen und Erfahrungen mit Kindern und Scheidungskindern am besten wiedergibt.

Durch unseren Ansatz entsteht – so hoffen wir – ein korrigiertes Bild der Lebenswirklichkeit von Scheidungskindern, ein besseres Verständnis der Kinder und neue Handlungs­möglichkeiten für Eltern, Großeltern, Kindergärtner, Lehrer, Fachleute und Anwälte. Wir beide, Remo Largo und Monika Czernin, sind überzeugt, dass Kinder auch als Trennungs- und Scheidungskinder glücklich aufwachsen können. Ihre Bedürfnisse nach Geborgenheit, sozialer Anerkennung und Entwicklung wahrzu­neh­men und zu erfüllen ist nicht eine Frage des Familienmodells, sondern der Beziehungsbereitschaft und Erziehungshaltung der für sie verantwortlichen Erwachsenen. Deshalb heißt der Schlüssel zu einem glücklichen Aufwachsen nicht: Scheidung ja oder nein?, sondern: Wie können wir als verheiratete oder geschiedene Eltern das Verhalten unserer Kinder richtig lesen und auf ihre Bedürfnisse angemessen ein­gehen.

Niemand kann über ein solch anspruchsvolles und vielschich­tiges Thema wie »Scheidungskinder« schreiben, ohne seine ganz persönlichen Erfahrungen und Werthaltungen in die Texte ein­fließen zu lassen. Bei Monika Czernin liegt die Scheidung zwölf, bei Remo Largo 28 Jahre zurück. Unsere Kinder sind als Scheidungskinder großgeworden. In einem Nachwort geben wir den Lesern und Leserinnen Einblick in unser eigenes bisheriges Fami­lien­leben.

Unser Anliegen

Die Grundaussage der Erstausgabe haben wir vollumfänglich über­nommen: Nur die Eltern können es richten. Darauf werden wir in diesem Buch immer wieder zurückkommen. Wir möchten die Eltern im Umgang mit ihren Kindern möglichst kompetent machen. Unser erstes Anliegen, das auf dem Fit-Konzept (Largo 1999) beruht, geht von folgender Annahme aus: Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, müssen seine drei Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt werden:

Geborgenheit: Jedes Kind will sich geborgen fühlen. Dazu braucht es vertraute und verfügbare Bezugspersonen. Die bedingungslose Bindung des Kindes an seine Eltern und andere Bezugs­personen sorgt für jene emotionale Sicherheit, die für sein Wohlbefinden und seine Entwicklung notwendig ist. Eltern und Be­­zugspersonen sollen dem Kind auch nach Trennung und Scheidung möglichst erhalten bleiben, dann wird es sich auch weiterhin geborgen fühlen. Soziale Anerkennung: Mit seinen sozialen Kompetenzen, seinem Wesen und seinen Begabungen erobert sich das Kind einen Platz in der Gemeinschaft der anderen Kinder. Von diesen an­genommen, wegen seiner Fähigkeiten und seinem sozialen Wesen geschätzt zu werden, wird für jedes Kind ab dem dritten Lebensjahr immer wichtiger. Gleichaltrige und Freunde sind von ele­men­tarer Bedeutung. Bei Trennung und Scheidung sollten seine Beziehungen zu den Gleichaltrigen möglichst erhalten bleiben.Entwicklung: Jedes Kind hat einen genuinen Drang, seine Fähigkeiten möglichst gut auszubilden. Ihm die einzelnen Entwicklungsschritte zu ermöglichen ist die Aufgabe der Eltern, der Schule und der Gesellschaft. Trennung und Scheidung sollten sich als emotionale Krisen auf die Entwicklung und Leistungsbereitschaft des Kindes möglichst wenig auswirken.

Die wohl größte Herausforderung in Betreuung und Erziehung besteht darin, dass jeder dieser drei Lebensbereiche von Kind zu Kind und je nach Alter unterschiedlich bedeutungsvoll ist. Es gibt richtige Mama-Kinder. Sie hängen noch beim Schuleintritt am Rockzipfel der Mutter. Andere Kinder hingegen gleiten schon mit drei Jahren ihrer Mutter immer wieder von der Hand, weil sie emotional bereits etwas unabhängiger sind. Manche Kinder brauchen ausgedehnte Kontakte zu anderen Kindern, andere wiederum können gut allein spielen. Im Schulalter ziehen einige Kinder ihre Befriedigung vor allem aus ihren schulischen und sportlichen Leistungen, andere lesen gern Bücher, können stundenlang für sich die Welt erforschen und sind wenig auf die Bestätigung durch ihre soziale Umwelt angewiesen. Wieder andere suchen vor allem Erfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich und tauschen sich rege mit Freunden und Gleichaltrigen aus.

Erwachsene, Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Fachleute im Sozialwesen sollten sich um eine möglichst gute Überein­stimmung zwischen den individuellen Bedürfnissen und Entwicklungseigenheiten des Kindes und seinem Umfeld bemühen. Wenn es dem Kind in diesen drei Grundbereichen gut geht, fühlt es sich wohl, ist aktiv und kann ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. In Krisensituationen wie Trennung und Scheidung kann dieses Gefüge ins Wanken geraten, was zu Verhaltensauffälligkeiten sowie körperlichen und psychosomatischen Störungen führen kann. Gelingt es den Erwachsenen auch in für sie schweren Zeiten, aus­reichend auf die Grundbedürfnisse des Kindes einzugehen, wird es die Trennung und die Zeit danach ohne größere Verunsicherung und Beeinträchtigung seiner Entwicklung überstehen.

Unser zweites Anliegen ist es, Eltern deutlich zu machen, dass sie schon im Vorfeld der Trennung ihr Kind in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen sollen. In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass je früher sich Eltern, die auf eine Trennung zusteuern, mit den möglichen Auswirkungen auf ihre Kinder beschäftigen, desto besser gelingt es ihnen, die Kinder während der Krise im Blick zu behalten. Doch dazu brauchen wir ein neues gesellschaftliches Bewusstsein. Ohne Einigung keine Trennung, könnte es, knapp gesagt, lauten. Damit sind nicht nur die organisatorischen Belange gemeint, sondern vor allem das emotionale und zeitliche Engagement der Eltern. Und es gibt Länder, die das so handhaben. In Norwegen können Paare erst vor den Scheidungsrichter treten, wenn sie eine gemeinsame Vereinbarung zur weiteren Erziehung und Betreuung ihrer Kinder vorzuweisen haben.

Die rechtlichen und erzieherischen Vorstellungen hierzulande gehen immer noch zu sehr vom Recht der Eltern an ihren Kindern aus und zu wenig von ihrer Verpflichtung den Kindern gegenüber – oder anders gesagt vom Recht der Kinder auf Eltern, die auf ihre Bedürfnisse eingehen und für ihr Wohl Sorge tragen. Deshalb unterscheiden wir nach wie vor nicht trennscharf zwischen Besitzrechten und Verantwortungsverpflichtungen den Kindern gegenüber. »Ist es nicht schön, ein eigenes Kind zu haben«, sagte eine Bekannte zu mir, als meine Tochter zur Welt kam. »Am Wochenende hat der Vater die Kinder«, ist die allgemein übliche Sprachweise für den Umstand, dass die Kinder am Wochenende bei ihrem Vater sind, leben, von ihm betreut werden und sich dort hoffentlich wohl fühlen. »Die Ferien teilen wir auf, sodass wir die Kinder gleich viel haben.« »Hast du in den Ferien das Kind oder der Vater?« und so weiter. Diese uns oftmals gar nicht bewusste, aus einer tausendjährigen Geschichte stammende Grundhaltung, dass Kinder ihren Eltern gehören, ihr Eigentum sind, spukt in zahl­reiche Regelungen und Verhaltensweisen hinein und wird oft erst bei der Trennung und Scheidung offensichtlich. Viele Vereinbarungen sehen dann zwar so aus, als wären sie kindgerecht, entpuppen sich bei näherem Hinsehen jedoch vor allem als elterngemäß.

Um diesen notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer umfassenden Wahr­neh­mung der Kinder geht es in dem Buch. Außerdem geben wir den Eltern im Anhang Fragebögen zur Hand, die es ihnen erleichtern sollen, einen kindgerechten Blick auf ihre Familiensituation zu werfen und das eigene Verhalten danach abzuklopfen, ob die Bedürfnisse der Kinder ausreichend wahr­genommen werden.

Im Mittelpunkt unseres Buches steht der Leitgedanke der »unkündbaren Elternschaft«. Stellen Sie sich einmal vor, es wäre verpflichtend, sich schon bei der Eheschließung darauf zu einigen, dass auch im Falle einer Trennung das Paar in gemeinsamer Verantwortung die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen und erfüllen wird. Also zu einem Zeitpunkt, an dem man dies gern und leicht unterschreibt. Die Kirche könnte, wie auch die Standesbeamten, diesen Paragrafen in ihre jeweiligen Zeremonien aufnehmen. Wie eine solch unkündbare Elternschaft – in ihrer ganzen Vielfalt möglichen Zusammenlebens – gelebt werden kann, wollen wir in unserem Buch aufzeigen.

Remo Largo • Monika Czernin

November 2013

Teil 1

Die Trennung:Das Kind ins Zentrum stellen

Inhalt

Wie sagen wir es unserem Kind?

Das Wichtigste in Kürze

Was verstehen Kinder unter Liebe, Ehe, Trennung und Scheidung?

Das Wichtigste in Kürze

Warum reagieren ältere Kinder anders auf eine Trennung als jüngere?

Das Wichtigste in Kürze

Wieso leiden Kinder in den ersten Lebensjahren seltener unter der Scheidung?

Das Wichtigste in Kürze

Warum die Trennung besonders für Kinder im Schulalter belastend ist

Das Wichtigste in Kürze

Wie Jugendliche die Trennung der Eltern aufnehmen

Das Wichtigste in Kürze

Wie sehr vermissen Eltern und Kinder einander?

Das Wichtigste in Kürze

Die Trennung

Wie sagen wir es unserem Kind?

»Weißt du«, versuchte Verena Alexandra beim Frühstück in ein Gespräch zu verwickeln. Sie dehnte die Worte, wusste nicht recht, wie sie ihrer vierjährigen Tochter erklären sollte, dass sie und Tilmann am Vortag bei Gericht gewesen waren, um die Scheidung einzureichen. Sie meinte, ihrer Tochter diese folgenschwere Entscheidung irgendwie mit­teilen zu müssen. Möglichst schonend versteht sich, aber offen und ehrlich. Deshalb wählte sie die Worte behutsam und kontrollierte den Tonfall ihrer Stimme. »Dein Vater und ich waren verheiratet. Dann haben wir uns aber nicht mehr so gut verstanden, und deshalb haben der Papa und ich uns jetzt scheiden lassen.« Prüfend blickte sie in Alexandras Gesicht. War sie schockiert? Sie versuchte Alexandras blaue Augen zu ergründen. Sie hatten einen warmen Glanz. Ihr Mädchen wirkte weder irritiert noch traurig. Dennoch fügte Verena schnell noch einen Satz aus dem Scheidungsratgeber hinzu, den sie gerade gelesen hatte. »Aber weißt du, Papa und Mama haben dich immer lieb und werden auch weiterhin für dich da sein.« Geschafft, dachte Verena. Damit hätten wir die Dinge erst einmal geklärt. Ganz ruhig, zuversichtlich und mit einer positiven Botschaft am Ende. Doch Alexandra schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. »Warum kleben die so zusammen?«, wollte sie von ihrer Mutter wissen und zeigte auf die Cornflakesschachtel. Dann verstreute sie den halben Packungsinhalt, weil sie auf der Suche nach den Pokemonstickern war. Alexandras Verhalten machte Verena ratlos. Sollte sie ihr alles noch einmal erklären oder die Vierjährige nun in den Kindergarten bringen? Sie entschied sich für Letzteres und packte Ale­xandras Rucksack. Brotbox. Einen Regenschutz. Es sah ganz nach Regen aus, dachte Verena, während Alexandra ihr wie jeden Morgen alle möglichen Geschichten aus dem Kindergarten erzählte. Wer mit wem und warum der Leo gestern schon wieder so gemein war und so weiter.

Monika Czernin: Warum interessiert sich die vierjährige Alexandra nicht für die Scheidung ihrer Eltern? Unterdrückt sie den ihr zugefügten Schmerz einfach? Die Psychologie spricht da häufig von Verdrängung. Der Trennungsschmerz sei zu groß, als dass ein kleines Kind sich damit konfrontieren könne. Deshalb verdränge es ihn einfach.

Remo Largo: Es ist sicher richtig, dass nicht nur Erwachsene, sondern auch schon Kinder schmerzhafte Ereignisse verdrängen. Doch in diesem Fall erkläre ich mir Alexandras Verhalten anders. Die Mutter hätte genauso gut erzählen können, dass der Bäcker in ihrer Straße in andere Geschäftsräume gezogen ist. Das hätte die kleine Alexandra womöglich mehr irritiert, weil ihr die Brötchen dort so gut schmecken.

Ihr Interesse für die Pokemonsticker diente also nicht dazu, von einem ihr unangenehmen Thema abzulenken?

Ich denke nicht. Trennung und Scheidung sind in diesem Alter zuerst einmal kein unangenehmes, sondern überhaupt kein Thema für ein Kind. Diese Begriffe sind für Erwachsene von schicksalsschwerer Bedeutung, aber die vierjährige Alexandra kann sich darunter gar nichts vorstellen. Deshalb hat sie auch nichts zu verdrän­gen und reagiert nicht auf die Erklärungen ihrer Mutter.

Ich erlebe immer wieder, dass Eltern Panik vor diesem Schritt haben: Wie sagen wir es dem Kind? Das ist auch die erste Frage, mit der die meisten von ihnen in die Beratung kommen, ganz gleich in welchem Alter ihre Kinder sind. Erwachsene haben große Mühe, sich in dieser Situation in die Kinder hineinzuver­setzen und zu begreifen, wie sie die Probleme der Erwachsenen wahr­nehmen.

Alexandra und ihre Mama lebten nun schon seit zwei Jahren allein. Wegen der Trennung waren sie in eine »schöne neue Wohnung mit kleinem Garten« umgezogen. So hatte Verena Alexandra den Sachverhalt der Trennung damals erklärt. Alexandras Papa, ein viel beschäftigter Arzt am städtischen Krankenhaus, kam und ging. So war es früher gewesen und so war es auch jetzt. An den kleinen Unterschied, dass er früher im großen Mamabett aufwachte, konnte sich Alexandra nicht erinnern. Außerdem fand sie es gut, wie es war. Sie durfte nämlich morgens oder bei Albträumen auch mitten in der Nacht unter die kuschelig weiche Decke von Mama schlüpfen. Verena und Tilmann hatten keine Dramen veranstaltet, als es zur Trennung kam. Im Grunde hatten sie schon vorher geahnt, vor der Geburt von Alexandra und vor ihrer Hochzeit, dass ihre zehnjährige Beziehung nicht ausreichend stabil für eine Ehe sein würde. Also zog Verena nach zwei gemeinsam verbrachten Ehejahren einfach wieder aus. Klar kannte Alexandra Papas Wohnung. »Schwindstraße 8«. Das wusste sie sogar auswendig. Die war auch schön, aber da, wo sie mit Mama wohnt, war es schöner. Da war eine Schaukel im Garten und ein Sandkasten und der Baum mit dem Vogelnest von den Amseln. Einmal erzählte der Papa, dass die Mama und sie früher auch in der Schwindstraße gewohnt hätten. Alexandra war ganz erstaunt. »Stimmt das, Mama, was der Papa erzählt hat?« »Ja, Liebes, das ist richtig«, sagte Verena ohne Kummer in der Stimme, aber auch voller Bereitschaft, ihr von damals zu erzählen. »Ja, das stimmt. Früher haben wir alle dort zusammengelebt, aber jetzt nicht mehr. Jetzt haben wir unsere eigene Wohnung.« So war das also. Mehr wollte Alexandra nicht wissen. Sie war gerade vom Kindergarten zurückgekehrt und wollte schnell noch ein Bild malen, bevor ihre Freundin Alberta kommen würde. Mit Alberta konnte man nicht malen, die wollte immer nur mit Puppen spielen.

Mit zwei Jahren war Alexandra damals viel zu klein, um aus dem Um­zug mit ihrer Mutter auf den Zustand der Ehe der Eltern schlie­ßen zu können, und seitdem war Familie für sie eben das, was sie zu Hause erlebte. Alles scheint in Ordnung zu sein, oder gibt es, denkst du, doch irgendwelche Verletzungen bei Alexandra?

Dafür spricht nichts. Emotionale Sicherheit ist für eine Vierjährige das Wichtigste auf der Welt, und die bekommt Alexandra. Nach der Trennung hat sich für sie weder die gute Betreuungssituation geändert, noch wurde sie durch eine emotionale Krise der Eltern verunsichert. Fragt sich nur, wie sich die Beziehung zum Vater entwickelt hat.

Die Beziehung zum Vater ist erst einmal gleich geblieben. Der Umzug hat daran kaum etwas verändert. Vor der Trennung hat sie ihn nur wenig gesehen, danach ebenfalls.

Hätte der Vater vor der Trennung an den Wochenenden immer einige Stunden mit seiner Tochter gespielt und wäre nach der Trennung nicht mehr regelmäßig vorbeigekommen, würde ihn seine Tochter sicherlich vermissen. Doch Alexandra geht es gut, ihr fehlt nichts. Das Leben ist für sie in Ordnung – so wie es ist. Eltern haben oft das Gefühl, dass die Scheidung an sich ihren Kindern schadet und dass eine gute Erklärung diesen Schaden mindern könnte. Die Geschichte von Alexandra aber zeigt: Das Kind kann sich vor und nach der Trennung geborgen fühlen. Wenn die Betreuungssituation für das Kind davor und danach gut bleibt, dann wirken sich Trennung oder Scheidung nicht negativ auf sein Wohlbefinden aus. Ist das Kind älter, ist es – wie wir noch sehen werden – für das Kind und die Eltern nicht mehr so einfach.

Peters Eltern trennten sich, als der Junge vier Jahre alt war. Obwohl Peters Mutter und sein Vater bis dahin schon zehn Jahren zusammengelebt hatten, hatten die Streitereien seit der Geburt ihres Sohnes stetig zugenommen. Schließlich entschloss sich Thomas, aus der gemein­samen Wohnung auszuziehen. Er hatte die ständigen Nörgeleien einfach satt. Barbara war verzweifelt. Immer wieder ließ sie ihren Aggressionen auf Thomas freien Lauf. Sie wurde laut. Einmal schleuderte sie ihm sogar seine »heiligen Bücher« hinterher, als er wieder einmal mit seinem kleinen Köfferchen mit dem Nötigsten die Wohnung verließ. Ganz offensichtlich war er auf dem Weg zu einer anderen Frau, stellte Barbara verzweifelt fest. In ihrem Groll vernachlässigte sie den kleinen Peter. Einmal vergaß sie etwas für ihn zu kochen. Sein Quengeln tat sie als lästig ab, erst als er plötzlich sehr bestimmt »Peter hat Hunger« sagte, wachte sie erschreckt aus ihrem Selbstmitleid auf und besann sich auf ihre Mutterpflichten. Dann, nach ein paar angespannten Wochen, hatte Thomas eine Wohnung gefunden. Nun galt es, die Scherben zusammenzukehren und noch größeren Schaden von Peter abzuwenden. Also erkundigte sie sich gemeinsam mit Thomas bei einer Scheidungsberatungsstelle nach einer möglichst schonenden Art, Peter die Trennung der Eltern nahezubringen. Für die Aussprache hatte Barbara das Kinderbuch »Papa wohnt jetzt in der Heinrichstraße« gekauft und ihrem Sohn am Abend daraus vorgelesen. Bei der kritischen Stelle, an welcher der Papa aus- und umzieht, stoppte der Vierjährige seine Mutter und forderte sie auf, die Stelle zu wiederholen. Dann sagte er: »Das will ich aber nicht. Aber Mama lies weiter.« Am darauffolgenden Abend sprachen beide, Barbara und Thomas, mit Peter und versuchten ihm zu erklären, dass sie einander nicht mehr liebten und es deswegen besser sei, wenn sie nicht mehr zusammenwohnen würden, weshalb der Papa jetzt eine eigene Wohnung genommen hätte. Der Junge blickte sie daraufhin bloß verständnislos an und sagte heulend zu seinem Papa: »Ich will aber nicht, dass du woanders wohnst.«

Meist laufen Trennungen eher so wie in der Geschichte von Peter als wie bei Alexandra ab. Das Ende der Partnerschaft oder Ehe ist schmerzhaft und eine Zeit sich wiederholender Krisen. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen, und oft gelingt es nicht, sie von den Kindern fernzuhalten. Immerhin haben die Eltern von Peter die Situation gemeinsam in die Hand genommen und zusammen mit Peter geredet.

Dennoch haben sie mit ihrer gut gemeinten Aufklärung bei Peter Ängste und Verunsicherung ausgelöst. So wie Worte gegebenenfalls Sicherheit vermitteln, können sie auch verunsichern. Peter hörte aus Mutters Worten heraus, dass der Vater weggeht und ihn verlässt. Dies ist das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Verlassen zu werden, und das von einem der beiden für ihn wichtigsten Menschen. Dass der Vater weggeht, emotional aber doch irgendwie für ihn dableibt, ihn immer noch genauso gern hat, kann Peter in der Situation nicht verstehen. Liebe bedeutet für ein Kind: Die Person, die mich liebt, ist für mich da. Erst die Erfahrung, dass der Vater immer noch für ihn da ist, wird Peter beruhigen. Er muss konkret erleben, dass sich sein Vater genauso wie bisher um ihn kümmert, auch wenn er nicht mehr bei ihm und seiner Mutter wohnt.

Und doch: Alexandra aus der ersten Geschichte und Peter sind gleich alt. In beiden Fällen starten die Eltern Erklärungsversuche. Alexandra versteht nichts davon, und es scheint ihr auch egal zu sein. Peter hingegen gerät in tiefe Verlustängste.

Peter hat vor allem die Art und Weise verunsichert, wie die Eltern miteinan­der in der Trennungsphase umgegangen sind. Die Mutter war völlig aufgelöst, die Eltern haben viel gestritten und sich in der angespannten Zeit nicht genug um Peter gekümmert. Peter hatte also allen Grund, sich verlassen zu fühlen und unter der Situation zu leiden. Erklärungen, zumal solche, die das Kind nicht verstehen kann, können die schlechten Gefühle und die emotionale Vernachlässigung nicht wettmachen, sondern verstärken sie unter Umständen sogar noch.

Eines Morgens fragte Peter seine Mutter: »Mama, hast du mich noch lieb?« Barbara war bestürzt. »Natürlich, Peter, hab ich dich noch lieb. Du bist mir das Liebste auf der ganzen Welt. Das weißt du doch, oder?« Wie liebebedürftig Kinder doch sind, dachte Barbara und erinnerte sich an das Hasen-Kinderbuch, in dem Mutter- und Babyhase einander mit Liebesbeweisen zu übertrumpfen versuchen. Barbara nahm Peter in den Arm, liebkoste ihn und versprach ihm, am Abend eine ganz besonders lange Geschichte vorzulesen. Anschließend würde sie an seinem Bett wachen, bis er eingeschlafen war. Sie reagierte instinktiv fürsorglich auf die Not ihres Kindes.

Jedes Kind geht davon aus, dass seine Eltern immer bei ihm sein werden. Von sich aus käme es ihm nie in den Sinn, die Beziehung zu Vater und Mutter infrage zu stellen. Die Beständigkeit dieser Beziehungen ist für das Kind genauso selbstverständlich wie die Sonne, die am Morgen auf- und am Abend untergeht. Wenn ein Kind nun die Erfahrung macht, dass sein Vater es »verlässt«, hat es begreiflicherweise Angst, dass auch die Mutter weggehen könnte. Barbara spürt die Verunsicherung bei ihrem Kind, versucht es zu beruhigen und ihm Sicherheit zu geben.

In den meisten Familien gibt es zwischen Eltern, wenn sie sich trennen, eine Menge Wut, Enttäuschung und Hass. Es ist für sie in dieser Situation sehr schwer, die Bedürfnisse und Ängste der Kinder im Blick zu behalten.

Kinder sind wahre Seismografen. Die Trauer in den Worten der Eltern, ihre Verzweiflung und die seelische Not bleiben ihnen nicht verborgen. Die Kinder können sich von den negativen Gefühlen ihrer Eltern nicht abgrenzen. Ein Vierjähriger kann sich nicht innerlich von den Eltern distanzieren und sich sagen: »Ich weiß, ihr habt Probleme miteinander. Aber mich gehen eure Streitereien nichts an. Ich weiß ja, dass ihr mich liebt.«

Selbst Erwachsenen fällt es schwer, so zu denken und sich emotional abzugrenzen. Oft vermitteln die Erwachsenen durch den Versuch, ihre Emotionen zu kontrollieren, Doppelbotschaften. Im Gespräch bemühen sie sich um eine friedliche Stimmung. Spätestens im alltäglichen Umgang miteinander regieren aber wieder die negativen Gefühle. Die Worte, welche die Eltern wählen, sprechen von Einvernehmen und Frieden, darunter spüren die Kinder gleichwohl die Spannungen. Wem sollen sie nun glauben, den Worten oder dem Verhalten?

Die Körpersprache wirkt viel stärker auf Kinder als die gesprochene Sprache. Sie nehmen die negativen Emotionen der Eltern genauestens wahr, in der Art, wie sie miteinander umgehen, den anderen körperlich abwehren, das Gesicht verziehen. Ein Kind fühlt sich von den Eltern abgelehnt, wenn es den Eltern nicht gut geht, wenn sie verzweifelt sind oder sich gar streiten. Die nega­tiven Emotionen der Eltern empfindet es als Ablehnung: »Sie lieben mich nicht mehr.« Wie also soll Peter den beschwichtigenden Worten von Vater und Mutter Glauben schenken, wenn ihm gefühlsmäßig etwas ganz anderes mitgeteilt wird (siehe auch hier)?

Viele Ratgeber empfehlen, den Kindern die Trennung oder Scheidung »zu erklären«. Sie gehen davon aus, dass eine offene und aufrichtige Aussprache – natürlich emotional möglichst kon­trol­liert – der Schlüssel zu einer »sanften Trennung« sei. Wäre es oft nicht besser, mit Erklärungen sparsamer umzugehen?

In einem solchen Moment ist es tatsächlich schwierig, nicht zu viel zu sagen. Was nützt eine falsch verstandene Aufrichtigkeit, wenn sie das Kind nur verwirrt und verängstigt? Auch sollten die Eltern Worte wählen, die das Kind versteht. Kein einfaches Unterfangen, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Oft ist es hilfreicher, wenn die Eltern warten, bis das Kind mit eigenen Fragen zu ihnen kommt. Dann hat es sich schon selbst seine Gedanken gemacht und wird Fragen stellen, die seinem Denken entsprechen und seine Sorgen ausdrücken. Wenn die Eltern darauf möglichst kindgerecht und ehrlich antworten, ist dem Kind mehr geholfen als mit Erklärungen, die sich die Eltern zurechtgelegt haben. Die Eltern können dem Kind auch Fragen stellen wie zum Beispiel »Was glaubst du, wird der Papa in seiner neuen Wohnung für dich zum Spielen bereit haben?«

Das sollte das gemeinsame Ziel sein. Eltern sollten ihre Erklä­rungen darauf ausrichten, wie es mit dem Kind nach der Trennung weitergeht. Sie sollten sagen: »Wir haben uns das so und so überlegt«, ihrem Kind Mut und Hoffnung machen und es fragen, was es dazu meint.

Erklärungen zum Warum der Trennung gehen meist an der Lebenswelt des Kindes und dem, was es verstehen kann, weit vorbei. Für ein Kleinkind ist es nicht von Bedeutung, dass die Ehe der Eltern gescheitert ist. Es kann sich unter Ehe und Scheidung nichts vorstellen. Und Begründungen wie »Wir haben uns nicht mehr lieb« und »Wir streiten uns nur noch« leuchten dem Kind ganz einfach nicht ein.

Immer wieder heißt es, man soll den Kindern den elterlichen Konflikt mit Streitereien aus ihrem Freundeskreis verdeutlichen. Die Erklärung der Eltern, sie trennen sich, weil sie sich ständig streiten, ist für das Kind jedoch nicht stichhaltig. Streit erlebt das Kind mit seinen Geschwistern und seinen Spielkameraden tagtäglich, und dennoch kann es sich nicht vorstellen, dass sie sich deswegen plötzlich nicht mehr sehen werden.

Bedeutungsvoll für das Wohlbefinden des Kindes ist, was sich in seinem Leben verändern, aber auch nicht verändern wird; das Bestehende und Vertraute vermittelt Sicherheit. Bis jetzt war das Leben für das Kind so. Wie nun wird es in der Zukunft aussehen? Die Eltern sollten ihr Kind auf diese Veränderungen vorbereiten und sich dabei so ausdrücken, dass das Kind sie auch versteht. Ein Vierjähriger kann nicht begreifen, was es bedeutet, wenn der Vater jedes zweite Wochenende zu Besuch kommt. Bestenfalls versteht er, wie lange er von heute bis morgen oder übermorgen warten muss. Und selbst ältere Kinder haben mit vielen Aspekten des erwachsenen Weltbildes ihre Verständnisschwierigkeiten (siehe auch hier).

Dann müsste aber der Umkehrschluss richtig sein: Wenn dem Kind der Kontakt mit seinen Bezugspersonen erhalten bleibt, ist es für das Kind in Ordnung.

Das trifft zu, wenn sich in den Beziehungen nichts verändert. Wenn der nicht beim Kind lebende Elternteil weiterhin verfügbar und als Bezugsperson vorhanden ist, wird sich das Kind nicht verlassen vorkommen. Dann verläuft die Trennung der Eltern für das Kind diesbezüglich ohne gravierende Folgen. Für das Wohlbefinden des Kindes hängt alles an dem Wort »verfügbar«, an der Zeit, die die Eltern für das Kind aufbringen, und der inneren Bereitschaft, für das Kind wirklich da zu sein.

Die meisten Kinder erinnern sich nicht daran, wann und wie sie von der Trennung erfahren haben, jedoch an den Zeitpunkt, als ein Elternteil aus­gezogen ist. Eltern messen dem Gespräch mit den Kindern über die Trennung eine geradezu mystische Bedeutung bei. Die Eltern erhoffen sich durch das Gespräch Ent­lastung und Verstehen. Dabei ist viel, viel wichtiger, welche Erfahrungen das Kind in Zukunft machen wird.

Von den Worten zu den Erfahrungen

Welche Erfahrungen entsprechen dem Satz: »Wir haben dich weiterhin lieb und werden weiterhin für dich da sein«?

Liebevolles Zu-Bett-Bringen und VorlesenZeit für gemeinsame Spiele habenMiteinander an einen Bach gehen, schöne Steine suchen und das Wasser stauen

Jeder Elternteil achtet darauf, gemeinsame Akti­vitäten, die er vor der Trennung mit dem Kind gemacht hat, möglichst beizubehalten. Sie verbinden ihn mit dem Kind.

Er bemüht sich bei seinen Besuchen, beim Abholen und bei der Betreuung des Kindes verlässlich und einfühlsam zu sein.

Er achtet darauf, wenn das Kind bei ihm ist, mit seinen Gedanken und Gefühlen für das Kind präsent und für seine Bedürfnisse aufmerksam zu sein.

Gemeinsame alltägliche und besondere Erfahrungen [3, 4]

Den Schock der Trennung können die meisten Eltern ihren Kindern nie ganz ersparen. Entscheidend wird sein, ob das Kind die Erfahrung machen darf, dass die Eltern weiterhin für es da sind. Das gemeinsame Interesse der Eltern muss darauf ausgerichtet sein, die Beziehung zum Kind zu erhalten und – was dazugehört – immer wieder aufzufrischen und neu zu gestalten. Will man das Kind vor Verletzungen schützen, dann muss man eigene, durch die Trennung entstandene Verletzungen hintenanstellen. Bezie­hungs­abbruch oder auch die Unterbindung der Beziehung zu einem Elternteil gehen immer zulasten des Kindes. Beziehungs­erhaltung darf aber nicht nur versprochen, sondern muss gelebt werden. Wenn beispielsweise ein Vater zwar sagt, dass er sein Kind weiter liebt und für es da sein will, aber nach dem Auszug nicht wie gewohnt mit seinem Sohn zum Fußball geht, macht das Kind die Erfahrung, der Vater ist nicht mehr für mich da, was er auch sagt. Und wenn die Mutter aus Verzweiflung und Über­lastung keine Zeit für das Kind hat, wird es sich verlassen vor­kommen, selbst wenn sie dem Kind erklärt, dass sie es ganz fest lieb hat und für es da sein will. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass die Eltern ausreichend Zeit mit dem Kind verbringen, sondern auch darauf, wie sie diese Zeit gestalten (siehe Anhang: Fragebogen 8).

Noch heute huscht ein leichter Schauder über das Gesicht von Susanne, wenn sie sich erinnert, wie sie und Heiner es damals den Kindern gesagt haben. Sie haben gemeinsam mit ihnen gesprochen. Der dreijährige Jakob verstand nicht, was nun schon wieder los war, aber seine beiden großen Geschwister, acht und zwölf Jahre alt, begannen bitterlich zu weinen. Susanne und Heiner waren genauso verzweifelt wie ihre Kinder. Sie liebten die drei mehr als alles andere auf der Welt. Was waren sie doch nur für Himmelsgeschenke. Jedes Einzelne von ihnen. Auch der kleine Jakob, der sich völlig ungeplant und unerwartet als Nachzügler eingestellt und allen so viel Freude gebracht hatte. Was war die Einsicht, dass die Beziehung der Eltern nicht mehr klappte, dass sie einander nur noch auf die Nerven gingen, gegen die Tatsache, dass sie gemeinsam drei Kinder in die Welt gesetzt und bisher auch verantwortlich großgezogen hatten? Natürlich hatten die Kinder immer wieder einmal den Streit der Eltern mitbekommen, hin und wieder auch zu schlichten versucht, dann sich wieder über die Augenblicke des Glücks und der Versöhnung gefreut. Doch die Phasen der Harmonie währten nicht lange, und so fällten die Eltern schließlich die Entscheidung, sich zu trennen. Sie mussten der destruktiven Spirale entgehen, in die ihre Beziehung ge­raten war. Dabei war ihnen klar, dass sie die Kinder in den Mittelpunkt aller kommenden Überlegungen stellen würden. Bei der Geburt ihres ersten Kindes hatten sie einen Pakt geschlossen: Wie auch immer sich ihre Partnerschaft entwickeln würde, sie würden stets gute Eltern bleiben – gemeinsam. Wenn Susanne aus der Distanz einiger Jahre auf die vielleicht schwierigste Zeit ihres Lebens zurückblickt, ist sie stolz, dass es ihr und Heiner gelungen ist, trotz aller Probleme friedlich auseinanderzu­gehen und dabei auf die Bedürfnisse der Kinder Rücksicht zu nehmen.

Mir scheint, die beiden haben etwas sehr Wichtiges begriffen: Um eine Trennung und Scheidung möglichst gut zu überstehen, muss man die Kinder von Anfang an in den Mittelpunkt stellen. Was auch immer in der Partnerschaft passiert, die Elternschaft muss oberste Pflicht sein. Die gemeinsame Verantwortung für die Kinder ist unkündbar.

Ein sehr wichtiger Punkt dabei ist folgender: Die meisten Eltern möchten es gut machen, doch dann schlittern sie in die Trennung hinein. Ist die Krise aber erst einmal da, ist sie kaum mehr zu kontrollieren, und die Kinder geraten aus dem Blickfeld der Eltern. Einer­seits wegen der Streitereien und Konflikte und andererseits weil die Eltern die Herausforderung einer Trennung völlig unterschätzt haben. Die Lebenssituation erweist sich als viel schwie­riger, die eigenen Sorgen und Nöte wachsen gefühlsmäßig ins Unermessliche.

Erst wenn die Eltern eine klare Vorstellung davon haben, wie es weitergehen wird, sollten sie mit den Kindern reden. Dabei sollten sie sich genauestens überlegen, wie die Situation der Kinder bisher war, was sich bei einer Trennung für sie ändern und wer was zur gemeinsamen Kindererziehung beitragen wird (siehe Anhang: Fragebogen 1).

Eltern, die sich trennen wollen, sollten sich nicht scheuen, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mediatoren sowie Kin­der- und Jugendtherapeuten können sie beraten, wie sie die schwierige Zeit im Interesse der Kinder am besten meistern. Sie können sie auch im Gespräch mit den Kindern unterstützen und sie durch die schwierige Phase der Trennung begleiten. Dabei geht es auch darum, den Kindern eine wichtige Stimme im Trennungs- und Scheidungsprozess zu geben. Die Familiengerichte haben dafür kindgerechte Formen der Anhörung ent­wickelt. Fachleute, die über ausreichende Erfahrungen mit Kindern und gründliche Kennt­nisse der kindlichen Entwicklung verfügen, können Eltern auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder hinweisen und dafür sorgen, dass deren Anliegen im Gespräch und im Trennungsprozess ausreichend berücksichtigt werden.

Es ist sinnvoll, bereits kleinere Kinder ihrem Alter entsprechend in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Vor allem um den Kindern das Gefühl zu geben, dass sie gehört und ernstgenommen werden. Ab dem Schulalter sollten die Kinder immer mehr mitbestimmen können. Auch wenn die Eltern letztlich die Ver­ant­wortung für die Entscheidungen tragen, sollten die Kinder nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass über ihren Kopf hinweg über ihr Leben bestimmt wird.

Es war an einem hektischen Montagmorgen. Wie so oft fuhren Valerie und Anna zu spät zum Kindergarten. Kaum saßen sie im Auto, fragte Anna, warum »der Papa nicht wieder bei uns wohnt«, schließlich gäbe es genug Betten und Platz in der Wohnung. Annas Vater war nach einem Jahr in Stuttgart wieder zurück nach Hamburg übersiedelt. »Das geht nicht«, begann Valerie und dachte daran, dass der Kindergarten in vier Minuten geschlossen Richtung Schwimmbad aufbrechen würde, gleichzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie sich geschworen hatte, auf Annas Fragen keine ihrer schnellen, beruhigenden Antworten mehr zu geben, sondern die Gelegenheit zu nutzen, ihr so manches zu erklären, was bisher nicht ausgesprochen worden war. Sie fuhr also zum Schwimmbad. Dort würden sie eine halbe Stunde auf die anderen Kinder­gartenkinder warten müssen und reden können. Valerie versuchte Anna zu erklären, dass es Eltern gibt, die zusammenleben, und solche, die das nicht tun, dass sich diese Mamas und Papas aber ebenso gut um ihre Kinder kümmern. Dass sie, Anna, für ihre Mama und ihren Papa das Wichtigste auf der Welt sei. Doch die Eltern würden sich nicht gut genug verstehen, um zusammenleben zu können. »Ach Quatsch, das stimmt ja gar nicht. Ich werde den Papa überreden und dich auch«, sagte die Fünfjährige. »Ich verstehe, dass dich das böse macht, aber das wird dir nicht gelingen«, antwortete Valerie und ergänzte, dass Papas neue Freundin weit besser zu ihm passen würde. »Nein du, weil du hast auch kurze Haare und sie hat diese ekeligen langen Locken.« Wäre Valerie das Gespräch mit Anna nicht derart unter die Haut gegangen, hätte sie unwillkürlich lachen müssen. Wie oft hatte sie sich lange Haare gewünscht und wie oft hatte sie ihren Mann eher an der Seite so einer Frau gesehen als an der ihren.

Das Gespräch ging noch eine Weile weiter, dann sagte Anna plötzlich: »So, jetzt will ich nicht mehr darüber sprechen.« Valerie zwang ihr noch ein »Ich-finde-es-gut,-wenn-du-mich-fragst« auf, und dann gingen die beiden ins Schwimmbadbistro, um Brausepulver zu kaufen. Anna schien irgendwie erleichtert zu sein. »Ist es nicht schön hier, so gemütlich, Mama«, sagte sie. Und: »Danke für das Brausepulver.« Und schon begann sie von den wöchentlichen Schwimmstunden zu erzählen, dass sie leider bei der »Seepferdchen«-Prüfung die leichteste Übung nicht geschafft habe, aber diese demnächst, wenn sie sich für groß genug dafür halte, wiederholen werde. Dann kamen schon die anderen Kinder und die Kindergärtnerinnen, und Anna verschwand mit ihren Freunden in der Umkleidekabine. Auch am Abend war sie zufrieden und am nächsten Morgen noch seliger. Manchmal gab es diese Morgen, an denen Anna einer Fee gleich in den Tag hüpfte, versonnen vor sich hin spielte, sich ohne Protest anzog und dann in ihr Leben hinausschwebte.

Warum ihre Eltern nicht mehr zusammenleben können, hat Anna nicht begriffen, aber dennoch scheint eine Last von ihr abgefallen zu sein. Wie ist das zu erklären?

Die Mutter hat sich Zeit für Anna genommen, sie hat sich um sie bemüht und ihr damit gezeigt, wie lieb sie sie hat und wie wichtig sie ihr und ihrem Vater ist. Die kleine Anna fühlte sich angenommen. Wie viel sie dabei von Valeries Erklärungen begriffen hat, ist nebensächlich.

Das Wichtigste in Kürze

Eltern sollten sich immer bewusst sein, dass sie mit der Elternschaft eine gemeinsame und unkündbare Verpflichtung für ihre Kinder ein­gegangen sind.Wenn sie sich für eine Trennung entschieden haben, sollten sie sich frühzeitig und detailliert mit der Situation der Kinder auseinander­setzen. Wie haben sie bisher gelebt? Was wird sich durch die Trennung ändern? Wer wird was zukünftig zur gemeinsamen Kindererziehung beitragen (siehe Anhang: Fragebogen 1)?Unterstützung durch eine Mediatorin oder einen Familienberater ist zu empfehlen, da die Eltern die Anzahl und das Ausmaß der zu lösenden Probleme, die mit der Trennung auf sie zukommen, immer unter­schätzen.Erst wenn sich Eltern im Klaren darüber sind, wie es mit den Kindern weitergehen wird, sollten sie gemeinsam mit ihnen sprechen. Dabei sollten Eltern die Themen, die sie ansprechen wollen, vorher festlegen und dabei auch abmachen, worüber sie nicht sprechen wollen.Eltern sollten vor allem auf die Fragen der Kinder eingehen. Sie sollten sich im Gespräch auf die Veränderungen konzentrieren, die durch die Trennung auf ihre Kinder zukommen. Sie sollten ihnen möglichst konkret sagen, wie es mit ihnen weitergehen wird. Eltern sollten in einer möglichst guten emotionalen Verfassung sein, wenn sie mit den Kindern reden. Sie sollten niemals aus Verärgerung und Frustration heraus ein Gespräch über Trennung oder Scheidung mit ihnen führen.Was und wie viel man Kindern bezüglich der partnerschaftlichen Trennung erklären sollte, ist sehr vom Alter der Kinder abhängig. Eltern müssen sich sorgfältig überlegen, welche Informationen das Kind überhaupt verstehen kann und welche Aussagen eher Verwirrung stiften als zur Klärung der neuen Situation beizutragen.Nicht das Trennende, sondern das Verbindende sollten Eltern betonen. Es kommt nicht nur darauf an, was sie dem Kind sagen, sondern auch, wie sie es formulieren.Eltern sollten, wenn sie mit ihren Kindern über die Trennung sprechen, immer daran denken, dass ihr Handeln für die Kinder wichtiger ist als alles Reden. Es kommt nicht so sehr auf die Erklärungen an als vielmehr auf ihr zukünftiges Verhalten als Eltern. Es reicht nicht, den Kindern zu sagen, dass die Eltern sie weiter lieben und für sie sorgen werden. Die Kinder müssen ganz konkret die Er­fahrung machen, dass sie nicht verlassen werden.
Die Trennung

Was verstehen Kinder unter Liebe, Ehe, Trennung und Scheidung?

Die Gelegenheit konnte nicht günstiger sein. Claudia war mit ihrer Mutter eine Woche zum Skilaufen in die Schweizer Alpen gefahren. Endlich Ferien. Ferien von der Arbeit, der täglichen Routine, dem Stress mit Claudias Schule, vor allem aber vom monatelangen Ehedrama, das Edith gerade durchlitten hatte. Endlich würde sie genug Zeit und Ruhe finden, ihrer siebenjährigen Tochter alles zu erklären. Sie war besorgt. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Mann, dann vor zwei Monaten ihr Entschluss, Claudias Vater zu verlassen und zu den Eltern nach Winterthur zu ziehen, all das war für Claudia schwer zu verkraften. Die Kleine war in letzter Zeit unge­wöhnlich still, zog sich oft zurück, doch Fragen stellte sie keine. Nichts. »Was geht bloß im Kopf meines Mädchens vor?«, fragte sich die Mutter und ergriff deshalb im Skiurlaub die Initiative. Sie erklärte Claudia, dass der Papa und sie sich nicht mehr liebten, dass es nicht mehr so sei wie früher, als sie alle noch schöne Reisen unternommen hatten. Die Mutter wollte, dass Claudia begriff, was ihre Eltern aus­einandergebracht hatte.

Ich kann Edith gut verstehen. Auch ich hatte damals, als mein Mann und ich uns trennten, den Wunsch, unserer Tochter zu erklären, was mit ihren Eltern geschehen war. Man hat das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, vor allem wenn die Kinder nicht mehr so klein sind. Und doch habe ich es ihr nicht erklärt, sondern in erster Linie auf ihre Fragen geantwortet. Im Laufe der Jahre kamen neue Fragen hinzu und alte wurden anders gestellt. Ihre Sicht der Dinge war immer spannend für mich. Als sie noch klein war, verstand ich dadurch besser, wo sie in ihrer Entwicklung stand und was sie von der Erwachsenenwelt begriff. Ich profitierte immer sehr von diesen Gesprächen.

Aus meiner Zeit am Kinderspital Zürich erinnere ich mich an viele Eltern, die versucht haben, mit ihren Kindern über ihre Ehekonflikte zu sprechen. Das läuft etwa so ab: Die Eltern geben sich große Mühe, ihrem Kind zu erklären, wie sie sich verliebt haben, wie die Liebe gewachsen ist und sie so glücklich miteinander waren, dass sie den Entschluss fassten, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Nun aber hätten sie sich auseinandergelebt, würden einander nicht mehr verstehen und sich oft streiten. Deshalb sei es besser, wenn sie sich trennten. Sie, die Eltern, würden ihre Kinder aber auch in Zukunft genauso lieb haben wie bisher. Das Problem dabei ist nur, dass ein Kind bis ins frühe Schulalter solche Erklärungen einfach nicht verstehen kann.

Das Weltbild von Kindern unterscheidet sich bis zur Pubertät stark von dem der Erwachsenen. Das Verständnis eines Kindes von Geografie, Zeit und Liebe sieht grundlegend anders aus.

Es braucht etwa 15 Jahre, bis sich aus dem Denken der Kinder die Gedankenwelt der Erwachsenen entwickelt hat. Wer einmal beginnt, die Welt durch Kinderaugen zu sehen, realisiert plötzlich, wie unmöglich das Unterfangen ist, einem Kind das Weltbild der Erwachsenen überstülpen zu wollen. Welche Eltern denken schon daran, dass ein Kind eine Vorstellung von der Liebe zwischen Erwachsenen und der Ehe haben müsste, um zu verstehen, dass Mama und Papa sich früher geliebt haben, heute aber nicht mehr, und dass es zudem eine entsprechende Zeitvorstellung bräuchte, um ihre Worte überhaupt zu verstehen. Doch ein Wissen darüber, dass Menschen geboren werden, sich entwickeln, erwachsen werden, einen Partner finden und Kinder bekommen, stellt sich frühestens im Laufe des Schulalters ein.

Mit der Liebe ist es ähnlich. Kinder können doch gar nicht anders, als ihre Eltern zu lieben, und sie gehen davon aus, dass die Liebe zwischen den Eltern genauso ist. Das scheint mir ein sehr großer Unterschied zwischen der Liebe von Kindern und der von Erwachsenen zu sein.

Ein Kind liebt seine Eltern aus einer inneren Notwendigkeit heraus, weil es von ihnen psychisch und körperlich abhängig ist. Außerdem ist seine Liebe bedingungslos. Das heißt, die Qualität der elterlichen Betreuung spielt kaum eine Rolle. Auch der größte Streit stellt die Eltern als wichtigste Personen im Leben des Kindes nicht infrage. Selbst Kinder, die von ihren Eltern misshandelt werden, verlassen ihre Eltern nicht. Dafür gibt es viele – traurige – Beispiele. Ein Kind kann die Liebe seiner Eltern nicht infrage stellen. Ohne ihre Liebe auszukommen ist für es schlicht unvorstellbar. Bis ins mittlere Schulalter haben Kinder keine Wahl.

Macht es dann vielleicht doch keinen Sinn, die Kinder in den Trennungs- und Scheidungsprozess mit einzubeziehen, wie wir es im vorigen Kapitel diskutiert haben?

Es ist zwar wichtig, ihnen das Gefühl zu geben, dass nicht über ihren Kopf hinweg über ihr Leben entschieden wird, aber Kinder können sich nicht in die Eltern hineinfühlen. So ist die Liebe, wie Kinder sie empfinden, zeitlich unbegrenzt. Wie sollen sie da verstehen, dass sich die Eltern einmal sehr geliebt haben, jetzt aber nicht mehr? Die Eltern sagen, sie lieben das Kind, wieso lieben sie dann einander nicht mehr? Und noch viel schwerwiegender: Wenn sich Papi und Mami plötzlich nicht mehr lieben, können sie sich dann auch von dem Kind »entlieben«?

Das heißt, die Eltern tun in den Augen der Kinder etwas völlig Unverständliches. Einem Kleinkind können die Eltern die Trennung gar nicht erklären. Trotzdem sagen Experten immer wieder, dass das offene Gespräch mit den Kindern so wichtig dafür ist, dass die Kinder die Trennung gut verkraften.

Dieses Offenheitsangebot gilt sicher nicht im Vorschulalter. Im Schulalter wächst – auch durch Erlebnisse außerhalb der Familie – langsam eine Vorstellung davon – wenn auch noch kein Verständnis dafür – dass es Eltern gibt, die getrennt leben. Erst in der Adoleszenz wird ein echtes Verstehen möglich. Jetzt verändert sich auch die Beziehung zu den Eltern. Die bedingungslose Liebe des Kindes weicht einer abgeschwächten emotionalen Abhängigkeit des Jugendlichen. Der Jugendliche erlebt in seinen ersten Bekannt­schaften nun selbst die Zerbrechlichkeit und Ambivalenz partnerschaftlicher Beziehungen und kann daraus ein Verständnis für die ehelichen Schwierigkeiten seiner Eltern herleiten.

Entwicklung des Verständnisses für soziale Beziehungen

0 – 3 Jahre

Körperempfindung von Nähe und Alleinsein sowie von vertraut und unvertraut: Die Welt besteht aus vertrauten Personen, die Wohlbefinden und Zuwendung vermitteln, und fremden Personen, die Ablehnung hervorrufen.

Selbstwahrnehmung mit 18 bis 24 Monaten: Das Kind nimmt sich erstmals bewusst als Person wahr und grenzt sich von anderen Personen ab.

3 – 5 Jahre

Erste bewusste Vorstellungen: Die Welt besteht aus Erwachsenen und Kindern, die vertraut oder un­vertraut sind.

Ein Verständnis für unterschiedliche Rollen ent­wickelt sich im Spiel (zum Beispiel durch Nach­ahmen von Vater und Mutter).

»Theory of Mind«: Mit etwa vier Jahren können Kinder sich vorstellen, dass andere Menschen ihr eigenes Denken und ihre eigenen Gefühle haben.

5 – 7 Jahre

Erste bewusste Vorstellungen, wie ein Menschen­leben verläuft: Menschen werden geboren, wachsen, werden erwachsen und sterben.

Das Kind beginnt sich vorzustellen, was es einmal werden möchte.

7 – 12 Jahre

Das Verständnis vom Lebensbogen wird differenzierter: Eltern haben Kinder, die entwickeln sich, werden erwachsen, verlieben sich, heiraten, haben eigene Kinder, werden alt und sterben schließlich.

12 – 16 Jahre

Abstraktes Denken: Eigene Vorstellungen von Partnerschaft, Familie und Beziehungen.

Eigenständiges Denken über gesellschaftliche Zusammen­hänge.

Die Angaben beschreiben eine durchschnittliche Entwicklung. Das einzelne Kind kann sich erheblich rascher oder langsamer entwickeln.

Ende der Leseprobe