Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur - Remo H. Largo - E-Book

Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur E-Book

Remo H. Largo

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Beschreibung

Ein eindringliches Plädoyer für ein neues Menschenbild: Remo H. Largo, der große Humanist und Arzt, entwickelt eine Vision für ein besseres Leben, eine Gesellschaft, in der sich alle Menschen frei entfalten und glücklich sein können. Er zeigt, dass dafür ein neues Denken und Handeln nötig, aber auch möglich ist. In seinem Bestseller »Das passende Leben« hat Remo H. Largo das Fit-Prinzip erklärt: Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Grundbedürfnissen, Begabungen und Vorstellungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. In seinem neuen Buch fragt er nun, wie Gesellschaft und Wirtschaft aussehen müssen, damit möglichst alle Menschen auch so leben können. Das Fit-Prinzip gilt dabei nicht nur für uns Menschen, sondern für alle Lebewesen auf diesem Planeten. Alle wollen mit der Umwelt, für die sie geschaffen sind, in Übereinstimmung leben. Dafür stehen wir in der Verantwortung. Das Fit-Prinzip ist ein Grundprinzip allen Lebens. Remo H. Largo ist überzeugt, dass Hass, Unzufriedenheit, Ausgrenzung und Leid ein Ende finden, wenn wir eine Gesellschaft schaffen, in der die Grundbedürfnisse jedes Einzelnen erfüllt werden, in der jeder das für ihn passende Leben finden und führen kann. Nur eine schöne Utopie? Nein, denn Remo H. Largo präsentiert konkrete Vorschläge, von neuen Formen des Zusammenlebens über das Grundeinkommen bis zu einer reformierten Demokratie und einem achtsamen Umgang mit der Natur. Es ist an der Zeit, unsere Welt neu zu gestalten.

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Remo H. Largo

Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]EinleitungTeil I Wer wir sind und wie wir leben wollenDas Fit-PrinzipAlle Lebewesen wollen in Übereinstimmung mit der Umwelt lebenGrundprinzipien der EvolutionsbiologieDie Grundelemente des Fit-PrinzipsFür ein neues MenschenbildGrundbedürfnisse, die unser Leben bestimmenKörperliche IntegritätGeborgenheit und ZuwendungSoziale Anerkennung und soziale StellungSelbstentfaltungStreben nach LeistungExistenzielle SicherheitJeder Mensch will nach seinen Grundbedürfnissen lebenKompetenzen, die uns mächtig machenSoziale KompetenzenSprachliche KompetenzenMusikalische KompetenzenFigural-räumliche KompetenzenLogisch-mathematische KompetenzenZeitlich-planerische KompetenzenMotorische KompetenzenKörperliche KompetenzenJeder Mensch besitzt ein einzigartiges KompetenzprofilVorstellungen, mit denen wir uns die Welt erklärenWie wir zu unseren Vorstellungen kommenKollektive VorstellungenIndividualität in der Gemeinschaft lebenTeil II Was wir aus der Umwelt gemacht haben und was die Umwelt mit uns machtWie die soziokulturelle Evolution zum Erfolg, Selbst- und Irrläufer wurdeSoziokulturelle EvolutionDie Grundbedürfnisse als Treiber der soziokulturellen EvolutionWie wir heute lebenKörperliche IntegritätGeborgenheit und ZuwendungSoziale Anerkennung und soziale StellungSelbstentfaltungLeistungen erbringenExistenzielle SicherheitVertrauenskriseTeil III Das Zusammenleben neu gestaltenWie wir unsere Gesellschaft reformieren könnenLeben in der GemeinschaftWarum es sich in einer Gemeinschaft besser lebtGemeinschaften gründen – Worauf es ankommtGesellschaft und Staat unterstützen und profitierenEin kompetenter Staat und eine demokratische GesellschaftEine sachkundige Regierung formenDie Legislative zur stärksten politischen Macht machenBasisdemokratie stärken und kulturelle Identität schaffenDie vierte Gewalt glaubwürdig und unabhängig machenDie Wirtschaft neu denkenOhne eine intakte Natur haben wir keine ZukunftEpilog Nur wenn wir weltweit solidarisch sind, können wir den Planeten rettenLiteratur

»Ich habe mich sorgfältig gehütet, die Handlungen der Menschen zu belachen oder zu beklagen und zu verwünschen, sondern strebte nur, sie zu verstehen. Ich habe deshalb die menschlichen Gemütszustände … nicht als Fehler der menschlichen Natur, sondern als Eigenschaften betrachtet, welche ihr ebenso zukommen wie der Natur der Luft die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und ähnliches, was, wenn auch lästig, doch notwendig ist und seine feste Ursache hat.« Baruch de Spinoza

Einleitung

Ende Januar 2020. Das Manuskript liegt druckbereit auf dem Schreibtisch. Es handelt von unserer Gegenwart, einer Zeit, in der wir nicht nur am Abgrund einer ökologischen Katastrophe stehen, sondern in der es auch weltweit zu gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Umbrüchen kommt. Die Menschen sind zutiefst verunsichert, sehnen sich nach existenzieller Sicherheit, Fürsorge und Solidarität. Damit wir diese riesigen Herausforderungen meistern können, brauchen wir nicht nur eine umfassende soziale, ökonomische und ökologische Vision, sondern auch ein vertieftes Verständnis von uns selbst. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten. Ihm liegt ein Menschenbild zugrunde, das ich in »Das passende Leben« ausführlich beschrieben habe.

Das Manuskript liegt also bereit für den Versand an den Verlag. Dann bricht die Covid-19-Pandemie aus, und einem Kontrastmittel gleich zeigt sie drastisch das Ausmaß der Herausforderungen auf, vor denen wir heute stehen.

Zunächst war es nicht mehr als eine Kurzmeldung aus Wuhan, einer Millionenstadt in der chinesischen Provinz Hubei. Tausende von Menschen waren im Dezember 2019 an einer Coronavirusinfektion erkrankt und viele daran auch gestorben. Innerhalb weniger Wochen breitete sich die Viruskrankheit in ganz Asien aus, sprang auf Norditalien und den US-Bundesstaat Washington über und wuchs schließlich zu einer weltweiten Bedrohung. Die Sterblichkeit war 10- bis 30-mal höher als bei einer üblichen Influenzaepidemie. Anfang März 2020 waren mehr als 120 Länder betroffen, die WHO rief den Notstand einer Pandemie aus.

Das gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben kam in vielen Ländern in kurzer Zeit weitgehend zum Erliegen. Die Krankenhäuser waren vom Ansturm schwerkranker Menschen völlig überfordert. Weite Teile der Wirtschaft wurden bis auf wenige lebensnotwendige Bereiche wie Lebensmittelgeschäfte und Apotheken stillgelegt. Die Entlassungen nahmen weltweit massiv zu. In den USA waren innerhalb weniger Wochen über 30 Millionen Menschen arbeitslos, mehr als in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Existenzielle Ängste breiteten sich aus; überall auf der Welt kam es zu Hamsterkäufen. Die Regierungen waren gezwungen, Finanzpakete in unvorstellbarer Größe zu schnüren, um den Schaden in der Wirtschaft möglichst gering zu halten und für Millionen von arbeitslosen Menschen den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Kulturelle Anlässe und sportliche Aktivitäten wurden eingestellt. Klubs, Theater und Opernhäuser wurden geschlossen, die Olympischen Spiele und die Fußball-Europameisterschaft auf das nächste Jahr verschoben. Im Verlauf der Wochen und Monate nach Ausbruch der Krise breiteten sich eine lähmende Leere, Hilflosigkeit und unbestimmte Furcht aus, die wir so noch nie erlebt hatten.

Die Lehren, die uns die Pandemie schon jetzt erteilt hat und die wir im Nachgang noch machen werden, sind überaus schmerzhaft. Im Rückblick werden wir jedoch, wenn wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen, sie als hilfreich erachten. Denn die Herausforderungen, denen wir uns in den kommenden Jahren stellen müssen, werden noch weitaus größer sein.

Die Pandemie führte zu einem ausgeprägten Dominoeffekt: Einbruch von Börse und Wirtschaft, Arbeitslosigkeit und existenzielle Ängste, Überforderung des Gesundheits- und Bildungswesens, soziale Isolation und kultureller Stillstand. Den Menschen wurde schlagartig bewusst, wie hochgradig all diese Bereiche miteinander vernetzt sind. Und wie sehr sie auf Gedeih und Verderb von einer funktionstüchtigen Gesellschaft und Wirtschaft abhängig sind.

Anfang 2020 boomte die Börse wie nie zuvor. Sie war auf einem Allzeithoch. Großkonzerne wie Amazon und Google machten Milliardengewinne. Die Einkommen und Vermögen der Superreichen stiegen erneut an. 0,1 Prozent der Weltbevölkerung (8 Millionen Menschen) besitzen derzeit 81 Prozent des Weltvermögens; 99,9 Prozent der fast acht Milliarden Menschen teilen sich die restlichen 19 Prozent (Taxjustice; Piketty 2014, 2020). Der breiten Bevölkerung ging es bereits seit vielen Jahren nicht mehr gut. Die Reallöhne stagnierten in weiten Teilen Europas und den USA in der Unterschicht und seit mehr als zwei Jahrzehnten zunehmend auch in der Mittelschicht oder hatten sogar abgenommen. Viele Familien der Mittelschicht können mit ihrem Einkommen heute gerade noch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Um die Mieten, Krankenkassenbeiträge und die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen, müssen sie sich verschulden. Erspartes auf die Seite zu legen ist ihnen seit vielen Jahren nicht mehr möglich.

Seit die Gelbwesten 2018 in Frankreich auf die Straße gegangen sind, bricht sich die Unzufriedenheit weltweit Bahn. In Bolivien, Chile, Ecuador, Algerien, Italien, Malta, Albanien, Iran, Libanon, Ägypten und Äthiopien protestierten die Menschen gegen steigende Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Rentenreformen, Misswirtschaft und Korruption, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Es braut sich global ein brisantes Gemisch aus existenziellen Ängsten, emotionaler Verarmung und sozialer Entsolidarisierung zusammen, das sich noch verheerender als die Pandemie auf die – wie wir inzwischen wissen – sehr anfälligen Strukturen von Staat und Wirtschaft auswirken könnte.

Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, wurden Schulen und Universitäten geschlossen, dann auch die Landesgrenzen; Flüge und Bahnverbindungen wurden eingestellt. Ausgangssperre und Social Distancing zwangen die Menschen in eine völlig ungewohnte soziale Situation. Sie sollten, wo sie sich doch in ihrer seelischen Not nach Nähe sehnten, Abstand nicht nur zu fremden Menschen, sondern selbst zu ihren Liebsten halten. Homeoffice, Homeschooling und das Zusammenleben auf kleinstem Raum überforderten Eltern und Kinder und setzten sie unter großen Stress. Der zwischenmenschliche Austausch in den Sozialen Medien stieg sprunghaft an. Die Gespräche nahmen nicht nur an Häufigkeit und Dauer zu, sie bekamen auch eine neue Qualität, wurden persönlicher und einfühlsamer. In Italien bedankten sich die Menschen mit Gesang und Musik und in Spanien mit Klatschen auf den Balkonen bei den Ärzten und Ärztinnen, Pflegern und Pflegerinnen dafür, dass sie sich für ihre Patienten bis zur Erschöpfung einsetzten. Die Pandemie machte den Menschen nicht nur bewusst, wie sehr sie auf Nähe und Geborgenheit, Zuwendung und soziale Anerkennung angewiesen sind, sondern auch wie groß der Mangel genau daran in der Gesellschaft mittlerweile geworden ist.

Die emotionale und soziale Vereinsamung vieler Menschen ist eine Folge tiefgreifender sozialer Verwerfungen. Sie haben innerhalb von wenigen Generationen dazu geführt, dass aus Großfamilien mit vielen Kindern Kleinfamilien mit ein bis zwei Kindern geworden sind. Die Scheidungsrate ist je nach Land um das Fünf- bis Zehnfache angestiegen, immer mehr Kinder werden von alleinerziehenden Eltern großgezogen. Lebensgemeinschaften, die über 300000 Jahre hinweg die bestimmende Form des Zusammenlebens waren, sind in anonymen Massengesellschaften aufgegangen, für die wir eigentlich nicht geschaffen sind. Wir stehen untereinander in einem ständigen Wettbewerb. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue als Partner, in der Familie und als Arbeitskraft bewähren und laufen ständig Gefahr, aus allen Beziehungsnetzen herauszufallen und sozial immer weiter zu vereinsamen. Emotionale und soziale Sicherheit gibt es für die meisten Menschen nur noch auf Zeit. Wir leben so, als ob wir auf beständige und tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen und echte Wertschätzung durch unsere Mitmenschen verzichten könnten und für unser psychisches Wohlbefinden nicht darauf angewiesen wären.

Die wohl größte Herausforderung, die sich uns stellt, ist, die drohende Klimakatastrophe abzuwenden. Der einst hochgelobte Fortschritt hat albtraumartige Ausmaße erreicht. Die globale Erwärmung nimmt durch den ständigen Anstieg der Treibhausgasemissionen, insbesondere des Kohlenstoffdioxids, immer rascher zu, und damit werden auch die Perioden von extremer Trockenheit, Waldbrände, Wirbelstürme und Überschwemmungen häufiger. Hinzu kommen die Übernutzung von Ressourcen wie Erz, Kohle und seltenen Erden und eine überbordende Agrarindustrie mit Sojaanbau und Viehzucht, die sich – einem riesigen Kraken gleich – immer mehr der Natur bemächtigen. Die Urwälder werden abgeholzt, die Meere mit Chemikalien und Plastikmüll verschmutzt und damit die Biosphäre zerstört. Eine Million Arten, ein Fünftel aller Tier- und Pflanzenarten, sind unmittelbar vom Aussterben bedroht. Ein ökologischer Super-GAU wird – wenn wir nicht unverzüglich umdenken und handeln – in wenigen Jahrzehnten zu einer unerbittlichen Gewissheit.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, vielleicht sogar des Planeten. Eine epochale Umwälzung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft haben die Menschen in Europa bereits einmal vor etwas mehr als 200 Jahren gemeistert. Mit der Französischen Revolution wurde ein 1000 Jahre altes Feudalsystem hinweggefegt, und das Industriezeitalter begann seinen Aufstieg. Als geistiges Fundament für die Neuordnung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft dienten die Grundsätze der Aufklärung wie Freiheit und gleiche Rechte für alle. Leibeigenschaft und Sklaverei wurden nach und nach abgeschafft. Grundsätze der Demokratie wie Wahlrecht, Parlament und Gewaltenteilung wurden zum geistigen Fundament der Nationalstaaten. Uns fehlt heute ein weitblickendes Gedankengut wie die Aufklärung und damit auch der Wille und die Kraft, um die riesigen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Wir haben keine Vision, sondern fürchten uns vor dystopischen Zuständen, einer Entwicklung hin zum Negativen, schlimmstenfalls zur Apokalypse.

Im Fokus dieses Buches steht ein Menschenbild. Damit wir die großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft erfolgreich bestehen können, brauchen wir ein vertieftes Verständnis von uns selbst. Ich habe mich mehr als vierzig Jahre lang mit der kindlichen Entwicklung und dem Wesen des Menschen beschäftigt. Aus meiner wissenschaftlichen und klinischen Tätigkeit ist ein Menschenbild entstanden, das ich als Fit-Prinzip bezeichnet habe (Largo 2017a, 2017b, 2019). Es besagt in Kürze: Jeder Mensch ist einzigartig. Wir alle wollen in Übereinstimmung mit einer Umwelt leben, in der wir die Grundbedürfnisse befriedigen und unsere Individualität leben können. In Teil I des Buches beschreibe ich in Kürze die wesentlichen Elemente des Fit-Prinzips. In Teil II geht es darum, zu verstehen, wie wir zu Treibern der soziokulturellen Evolution geworden sind, dabei großartige Leistungen erbracht, aber auch eine Umwelt geschaffen haben, die unseren Bedürfnissen immer weniger entspricht, und die Natur schwer beschädigt haben. Was treibt uns beispielsweise an, die Welt immer besser verstehen und beherrschen zu wollen, sie auszubeuten, selbst auf die Gefahr hin, sie zu zerstören? In Teil III schließlich werden mögliche Formen eines solidarischen Zusammenlebens in Lebensgemeinschaft, Gesellschaft und Natur aufgezeigt. Wir sind unter allen Lebewesen diejenigen mit der größten Anpassungsfähigkeit, aber auch wir sind nicht beliebig anpassungsfähig. So sind wir nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht. Wir können unsere emotionalen und sozialen Grundbedürfnisse nur in einer Gemeinschaft von vertrauten Menschen befriedigen. Dafür müssen wir das Zusammenleben in Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft neu gestalten.

Nicht nur wir Menschen, alle Lebewesen dieser Erde von den Bakterien bis zu den Pflanzen und Tieren wollen im Sinne des Fit-Prinzips in Übereinstimmung mit einer Umwelt leben, die ihnen entspricht. Mit allen Lebewesen in Solidarität zu leben ist nicht nur ein ethisches Gebot, sondern eine Überlebensfrage, denn ohne eine intakte Natur werden wir keine Zukunft haben.

Teil IWer wir sind und wie wir leben wollen

Das Fit-Prinzip

»Eine Eigentümlichkeit des Chamäleons ist sein Vermögen, zur gleichen Zeit nach verschiedenen Richtungen sehen zu können, mit dem einen Auge gen Himmel, mit dem anderen zur Erde. Es gleicht darin manchem Kirchendiener, der dasselbe ebenso gut kann.«

Alexander von Humboldt

Am 23. Juni 1802 machten sich Alexander von Humboldt, sein Begleiter Aimé Bonpland und einheimische Führer an den Aufstieg zum 6310 Meter hohen Chimborazo in Ecuador. Sie schafften es nicht ganz auf den Gipfel des Vulkans. Dafür waren ihre Ausrüstung, Bekleidung und ihr Schuhwerk zu wenig geeignet. Zusätzlich machte ihnen die Höhenkrankheit schwer zu schaffen; sie litten an Atemnot, Brechreiz und Schwindel. Eine riesige Felsspalte zwang sie einige hundert Meter unterhalb des Kraters zur Aufgabe. Dennoch stellten sie für die damalige Zeit einen Höhenweltrekord auf. Auch wenn das nicht das Ziel der Unternehmung gewesen war.

Alexander von Humboldt faszinierte die Pflanzenwelt, die sie beim Aufstieg durchwanderten. Die Expeditionsmitglieder schleppten zahlreiche wissenschaftliche Instrumente wie Sextanten, Teleskope, Hygrometer, Barometer und Thermometer den Berg hinauf. Damit vermaßen sie den Vulkan, erfassten die gesammelten Pflanzen und ordneten sie den geographischen Zonen und den klimatischen Bedingungen zu.

Alexander von Humboldt war wohl einer der letzten in einer langen Reihe von Universalgelehrten, wie es sie seit der Frührenaissance immer wieder gegeben hat. Er betrieb Studien in 15 wissenschaftlichen Bereichen wie Botanik, Chemie, Physik und Geologie. Er saß nicht in seiner Gelehrtenstube und sann über den Sinn des Lebens und der Welt nach, sondern machte sich auf, das Leben in verschiedenen Gegenden der Erde zu erkunden. Auf seinen Reisen vom Amazonas bis zu den höchsten Gipfeln der Anden galt sein Hauptinteresse den Wechselbeziehungen zwischen den Pflanzen und Tieren und deren Umwelt. Er vermerkte in seinem Tagebuch: Alles ist Wechselwirkung. Alexander von Humboldt verfügte bereits vor mehr als 200 Jahren über ein ökologisches Verständnis der Natur – und einen humorvollen Blick auf Mensch und Tier.

Alle Lebewesen wollen in Übereinstimmung mit der Umwelt leben

Charles Darwin war vierzig Jahre jünger als Alexander von Humboldt. Er kannte die Schriften des wohl berühmtesten Gelehrten seiner Zeit und war fasziniert von dessen Reisebeschreibungen. Es erstaunt daher nicht, dass Darwin sich, als sich die Gelegenheit bot, im Dezember 1831 an Bord der HMS Beagle nach Südamerika aufmachte. Die Expedition hatte den Auftrag, die Atlantikküste von Brasilien bis zu den Feuerland-Inseln und die Pazifikküste von der Magellanstraße bis nach Peru sowie einige Südseeinseln kartographisch zu vermessen. Im Verlauf von mehr als fünf Jahren umsegelte die HMS Beagle den ganzen Kontinent. Darwin ging immer wieder für Wochen und Monate an Land und sammelte Pflanzen, Tiere und Fossilien. Er erkundete den Urwald des Amazonas, die Anden, die Grassteppen Patagoniens und erlebte ein schweres Erdbeben an der chilenischen Küste. Am 18. September 1835 erreichte die HMS Beagle San Cristóbal, die Hauptinsel des Galapagos-Archipels. Darwin begann erneut Pflanzen und Tiere auf den mehr als hundert Inseln zu sammeln. Der Direktor eines Strafgefangenenlagers machte ihn darauf aufmerksam, dass die Schildkröten, je nach Insel, auf der sie lebten, ein unterschiedliches Muster auf ihren Panzern aufwiesen. Dieser Hinweis sensibilisierte Darwin wahrscheinlich dafür, auf mögliche Unterschiede zwischen den Pflanzen und Tieren einer Gruppe auf den zahlreichen Inseln zu achten. Tatsächlich wurde er fündig; Finken und Spottdrosseln besaßen je nach der Insel, auf der sie lebten, unterschiedlich gestaltete Schnäbel und Gefieder (Weiner 1994). Der ursächliche Zusammenhang zwischen den verschieden gestalteten Merkmalen und den voneinander getrennten Lebensräumen ging Darwin jedoch erst auf der Heimreise und Jahre später auf. Im Oktober 1836 kehrte er, nachdem die HMS Beagle die Erde umrundet hatte, reich befrachtet nach England zurück. Seine Reisebeschreibungen und Notizen über Fossilien, Pflanzen und Tiere umfassten mehr als 2500 Seiten; zahlreiche Kisten waren vollgepackt mit 1529 in Spiritus konservierten Arten sowie 3907 Häuten, Fellen, Knochen und Pflanzen.

In den folgenden dreißig Jahren wertete Charles Darwin im regen Austausch mit anderen Gelehrten wie Biologen und Geologen seine Schätze aus und führte zahlreiche Studien mit unterschiedlichsten Fragestellungen durch. So beschäftigte er sich mit der Züchtung von Tauben und war erstaunt, welche tiefgreifenden Veränderungen etwa der Körpergröße oder der Ausprägung des Gefieders innerhalb von wenigen Generationen erzielt werden konnten. Charles Darwin war ein Leben lang überaus neugierig und verfügte über die außerordentliche Begabung, die Bedeutung der vielfältigen Erscheinungsformen und Verhaltensweisen bei Lebewesen richtig zu deuten, beispielsweise die Beziehung zwischen Mimik und Emotionen bei Mensch und Tier. Schließlich verfügte er über ein ausgeprägtes analytisches Denken, um Gemeinsamkeiten und Prozesse in der Natur aufzufinden. Seine grundlegenden Erkenntnisse veröffentlichte Charles Darwin in den beiden Büchern »Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich« (1859) und »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« (1871). Darwins Evolutionstheorie sollte unser Verständnis vom Leben auf der Erde fundamental und bleibend verändern. Wie herausragend seine Einsichten waren, wird einem bewusst, wenn man bedenkt, dass zu jener Zeit die Strukturen und Funktionen der Körperzellen noch weitgehend unbekannt waren, der Zellkern mit seinen Chromosomen Jahrzehnte später entdeckt und das Genom, die Erbanlage, erst mehr als hundert Jahre später entschlüsselt wurde.

Grundprinzipien der Evolutionsbiologie

Die folgenden Grundprinzipien der Evolutionsbiologie liegen dem Fit-Prinzip zugrunde:

Alle Lebewesen sind aus einer ständigen Anpassung an die herrschenden Lebensbedingungen entstanden. So haben die Finken und Spottdrosseln auf den Galapagosinseln ihre Schnäbel im Verlauf von Generationen an die unterschiedlichen Früchte, Kerne und Samen auf den jeweiligen Inseln angepasst. Jedes Lebewesen, von den Bakterien bis zu den Pflanzen, Tieren und dem Menschen, ist einzigartig in seiner Art und auch darin, wie es an seine Umwelt angepasst ist.

Unsere körperlichen Merkmale, geistigen und sozialen Fähigkeiten sind im Verlauf von Hunderttausenden von Jahren aus einer ständigen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt hervorgegangen. Wenn wir verstehen wollen, weshalb wir so geworden sind, wie wir sind, müssen wir die Lebensbedingungen kennen, unter denen unsere Vorfahren gelebt haben.

Jedes Lebewesen kann nur in einer Umwelt leben, in der es seine Bedürfnisse zu befriedigen vermag. Sowohl Alexander von Humboldt als auch Charles Darwin haben erkannt, dass Pflanzen- und Tierarten nur unter bestimmten Umweltbedingungen gedeihen können.

So wie der Mensch im Verlauf der Evolution aus einem unablässigen Zusammenwirken von Anlage und Umwelt hervorgegangen ist, bemüht sich jeder Mensch von der Kindheit bis ins hohe Alter, seine Individualität in Übereinstimmung mit einer ihm gemäßen Umwelt zu leben. Er vollzieht gewissermaßen im Kleinen ein Grundprinzip der Evolution nach.

Die wichtigste Frage, die wir in diesem Buch beantwortet haben wollen, ist folgende: Wie müssen wir die Umwelt gestalten, damit möglichst alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können?

Jede Art von Lebewesen ist einzigartig, und jedes Lebewesen innerhalb einer Art ist einzigartig. Charles Darwins Erkenntnis wurde durch die Ergebnisse von zahlreichen Entwicklungsstudien und von der modernen Molekulargenetik bestätigt. Jeder der fast acht Milliarden Menschen, die heute die Erde bevölkern, ist einzigartig; es hat ihn zuvor nie gegeben, und es wird ihn in der Zukunft nie mehr geben (ausgenommen sind vereinzelte eineiige Zwillingspaare). Jeder Mensch ist ein Unikat und ist sich dessen auch bewusst. Er kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes. Und so ist auch sein Lebensweg einzigartig.

Sämtliche Lebewesen, und so auch der Mensch, gehen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. Diese Einsicht Darwins hat die Molekulargenetik der letzten Jahrzehnte ebenfalls vollumfänglich bestätigt. So unglaublich es klingen mag: Bestimmte Anteile unserer Gene, die Desoxyribonukleinsäuren (DNS) gehen auf Lebewesen zurück, die die Erde vor mehr als 400 Millionen Jahre bevölkert haben. Wir sind nicht nur mit dem Schimpansen zu 95 bis 98 Prozent genetisch verwandt, sondern – wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß – mit allen anderen Lebewesen wie den Finken und Schildköten auf Galapagos oder dem Schnabeltier in Australien. Wir teilen ein gemeinsames Erbgut mit Bienen, Würmern und selbst mit der Weinrebe und dem Schimmelpilz (Largo 2017b).

In einer Zeit der globalen Bedrohung von Natur und Umwelt sollte uns die wunderbare Erkenntnis, dass wir Menschen ein integraler Teil der Schöpfung sind, mit Demut erfüllen und uns solidarisch mit allen Lebewesen dieser Erde machen. Und sie sollte uns die überwältigende Verantwortung bewusst machen, die wir der Natur gegenüber haben.

Doch wie muss die Umwelt gestaltet sein, damit wir ein selbstbestimmtes Leben führen können, das unserer Individualität entspricht? Um diese Frage beantworten zu können, brauchen wir einerseits ein Menschenbild, das der Vielfalt unter den Menschen möglichst gerecht wird. Und andererseits müssen wir begreifen, wie sehr wir im Verlauf der soziokulturellen Evolution unsere Lebenswelt nicht nur zu unserem Vorteil, sondern immer mehr auch zu unserem Nachteil verändert und dabei Natur und Umwelt massiv beschädigt haben. Erst wenn wir erkennen, welche entscheidende Rolle wir selbst und insbesondere unsere Grundbedürfnisse dabei spielen, schaffen wir es, die Umwelt so zu gestalten, dass wir ein passendes Leben führen können und der Natur keinen Schaden mehr zufügen.

Die Grundelemente des Fit-Prinzips

Jeder Mensch ist einzigartig.

Jeder Mensch will seine Grundbedürfnisse befriedigen.

Jeder Mensch will seine Kompetenzen entfalten und nutzen.

Jeder Mensch macht sich seine eigenen Vorstellungen und Überzeugungen.

Jeder Mensch strebt danach, selbstbestimmt seine Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben.

Das sind die Grundelemente des Fit-Prinzips. Doch worauf gründen sie? Wesentliche Elemente, die im Fit-Prinzip enthalten sind, haben Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen in den vergangenen Jahrzehnten bereits vorgedacht. So verwendeten die Kinderpsychologen Stella Chess und Alexander Thomas (1984) in ihrer Publikation den Begriff »Goodness of fit«. Er besagt, dass ein Kind sich dann wohlfühlt und gut entwickelt, wenn sich die Eltern in der Art und Weise, wie sie das Kind umsorgen, auf sein Temperament und seine Motivation einstellen. Das Fit-Prinzip will der Einzigartigkeit jedes Menschen und seinem individuellen Umgang mit der Umwelt auf eine umfassende Weise möglichst gerecht werden.

Es ist überaus schwierig, sich bei Erwachsenen ein kohärentes Bild von der menschlichen Psyche zu machen. Wenn man aber Hunderte von Kindern von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleiten darf, wird man Zeuge, wie sie ihre Grundbedürfnisse im Verlauf der Jahre entwickeln, welche Emotionen damit einhergehen und wie die Kinder ihre Bedürfnisse befriedigt haben wollen. Man kann beobachten, wie sie sich Fähigkeiten etwa Motorik und Sprache aneignen und Fähigkeiten zu Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben verbinden. Und man erlebt, wie die Kinder zu Vorstellungen kommen, beispielsweise über Moral, Raum und Zeit.

Genau diese Erfahrungen durfte ich während mehr als dreißig Jahren in meiner wissenschaftlichen und klinischen Tätigkeit machen. In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir in zwei aufeinanderfolgenden Generationen mehr als 700 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleitet (Largo 2017b). Wir haben dabei zahlreiche Aspekte der körperlichen und psychischen Entwicklung bei jedem einzelnen Kind festgehalten, so die Entwicklung von Sprache und Motorik oder des Ess- und Schlafverhaltens. Die erhobenen Daten verhalfen uns zu einem vertieften Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung, der Vielfalt unter den Kindern und der Einzigartigkeit jedes Kindes. Daraus entstand im Verlauf von Jahrzehnten ein umfassendes Menschenbild, dem drei Komponenten zugrunde liegen: Grundbedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen (Largo 2017b, 2019).

Kinder wollen ihre Grundbedürfnisse befriedigt haben, etwa dasjenige nach Geborgenheit. Sie wollen ihre Kompetenzen wie das logisch-mathematische Denken entfalten und nutzen. Und sie entwickeln ihre individuellen Vorstellungen und Überzeugungen. Ermöglichen wir ihnen dies, fühlen sie sich körperlich und psychisch wohl und verfügen über ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit. Ein passendes Leben führen, in Übereinstimmung mit der Umwelt leben wollen nicht nur die Kinder, sondern die Menschen jeden Alters.

Fit-Konstellation: Übereinstimmung zwischen Individuum und Umwelt. Weiß: Individuum mit seinen unterschiedlich ausgeprägten Grundbedürfnissen; dunkel: Umwelt.

Das Konzept der Grundbedürfnisse geht auf den Psychologen Abraham Harold Maslow (1981) zurück. Er ist in seinem Bemühen, die Individualität eines Menschen zu erfassen, von fünf Grundbedürfnissen ausgegangen: physiologische, soziale und Individualbedürfnisse sowie ein Bedürfnis nach Sicherheit und eines nach Selbstverwirklichung. Das Fit-Prinzip baut, wie aus der Graphik ersichtlich, auf sechs Grundbedürfnissen auf. Die körperliche Integrität umfasst alle Bedürfnisse wie Ernährung, Schlaf und Gesundheit, die zum körperlichen Wohlbefinden beitragen. So will ein Säugling mit Nahrung versorgt und gepflegt werden. Die beiden Grundbedürfnisse Geborgenheit und Zuwendung sowie soziale Anerkennung und sozialer Status bestimmen das psychische Wohlbefinden. Ein Kind im Kindergarten will sich bei der Erzieherin geborgen fühlen und ausreichend Zuwendung bekommen. Ein Angestellter will von seinen Mitarbeitern akzeptiert werden und eine Stellung unter ihnen einnehmen, die ihm entspricht. Die Grundbedürfnisse Selbstentfaltung und Leistungsbereitschaft beinhalten die Entfaltung der Kompetenzen sowie deren Anwendung beim Erbringen von Leistungen. So will sich ein Kind Sprache aneignen und ein Schüler seine Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben einsetzen. Das Grundbedürfnis nach existenzieller Sicherheit schließlich besteht darin, in einem umfassenden Sinn für den Lebensunterhalt und das materielle Wohl zu sorgen. Die sechs Grundbedürfnisse sind unter den Menschen, aber auch bei jedem einzelnen Menschen unterschiedlich angelegt.

Eine weitverbreitete Methode, um die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen zu erfassen, sind Intelligenztests. Eine einzelne Zahl wie der Intelligenzquotient vermag jedoch die Vielgestaltigkeit unserer Fähigkeiten nur ungenügend wiederzugeben. Howard Gardner führte daher 1983