Schülerjahre - Remo H. Largo - E-Book

Schülerjahre E-Book

Remo H. Largo

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Beschreibung

Remo H. Largo, der Entwicklungsspezialist und »Anwalt der Kinder« (FAZ), stellt in der Bildungsdebatte endlich das Kind selbst in den Mittelpunkt und fragt, was für eine Schule unsere Kinder brauchen. Wie lernen sie lieber und deshalb besser? Wie kann die Schule der Vielfalt unter den Kindern gerecht werden? Was tun, damit die Jungen nicht ins Abseits geraten?

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Von Remo H. Largo liegen im Piper Verlag vor:

Babyjahre

Kinderjahre

Glückliche Scheidungskinder (mit Monika Czernin)

Schülerjahre (mit Martin Beglinger)

Jugendjahre (mit Monika Czernin)

Lernen geht anders

Für Birgitt und Gabi

ISBN 978-3-492-95781-6

Januar 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2009

Redaktion: Margret Plath

Covergestaltung: semper smile, München

Coverabbildung: John Giustina/Getty Images (Mädchen), Michael Prince/Corbis (Hintergrund)

Konvertierung: bureau23, Mainz

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Ein Missstand besteht darin, dass die Schulmeister mit ein und demselben Unterrichtsstoff und nach ein und demselben Maß eine Vielzahl junger Geister von unterschiedlichen Maßen und Bega­bungen unter ihre Fuchtel nehmen. (...) Daher kommt es, dass man, wenn man den Weg für die Kinder nicht richtig gewählt hat, häufig Jahre darauf verwendet und sich dennoch vergeblich abmüht, sie zu Dingen zu erziehen, in denen sie nicht Fuß fassen können. (...) Empfindungsweise und Seelenstärke der Menschen sind verschieden. Man muss sie daher ihrer Wesensart gemäß auch auf verschiedenen Wegen zu ihrem Besten führen.

Aus: Les Essais de Michel de Montaigne (1533–1592)

Der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Ziel­orten ankommen.

W.Müller-Limmroth, Weltwoche

Meine Traumschule

Schüler und Schülerinnen einer 5. Klasse sagen, was sie denken:

»Ich hätte gerne, wenn wir noch mehr Tiere aufzüchten & zuschauen, wie sie sich verwandeln und entwickeln. Wenn man auf ein Fach überhaubt keine Lust mehr hat, dann darf man aufhören. Ich hätte gern wenn die Pausen länger wären & es keine Schlägerein mehr gäbte.« Eva-Maria

»Meine Traumschule ist voller Technik. Man braucht keine Lehrer, denn der computer ist der Lehrer. Er hat einen Chip, mit dem er selber denken kann.« Öskan

»Der Lehrer gibt nur 1× in der Woche Schule. Die Andere Zeit muss man sebstständig Blätter lösen die aber der Lehrer anfangsWoche austeilt. Der eine Tag wo der Lehrer Schule gibt ist für Fragen. Und man muss Schul­uniformen tragen (japanische) mit ganz kurzen Röken« Gina

»Am besten wäre es, wenn man in der Schule während den Unterrichtszeiten nicht Fächer wie Mathematik, Deutsch oder irgendwelche Fremdsprachen hat, sondern man tut das, worauf man gerade Lust hat. Möchte man etwas bestimmtes lernen, so bekommt man die Möglichkeit.« Alessandra

»Meine Traumschule ist dass sich die Schule meinem Style anpasst. Soll eine Prüfung statt findet, wird in der Klasse darüber abstimmen.« Juan

»Ein Sofa im Schulzimmer wäre der Hammer.« Lydia

»Lehrer sollten eine gute Ausstrahlung haben, sonst verderben sie uns den Tag.« Ralph

»Mein Superschulhaus hat einen Fernseher, eine Disko, einen Schießstand, ein Wrestlingstadion, mit Süssigkeiten um sonst, ein Handarbeitszimmer, ein Mc donalds, ein Schlafzimmer und ein Kino.« Jannick

»Meine Traumschule besteht aus einem Pool. Der Pool ist zum­beispiel da, dass wenn bald Sommerferien sind, und dann kan man wenn es zu warm ist zum denken in den Pool gehen.« Viviana

»Die Lehrer sind voller Humor und sehr nett.« Sandro

»Andere Kinder wollen ein Swimmingpool und noch weitere Dinge. Ich will an erster stelle mal Freunde. Freunde sind mir wichtig sonst kann ich mich nicht wohl fühlen, aber auch will ich das es gute Lehrer gibt.« Feyza

»Wenn ich in die Schule komme, sollten mich Roboter begrüssen und mir die Tasche bis ins Schulzimmer hinauf tragen.« Ömer

»In meiner Traumschule hätte ich auch noch gerne einen Fussballplatz, eine Kletterwand, einen Unterstand und einen Ort wo man alles kaputt machen kann. Dort müsste man hin wenn man wütend ist. Am liebsten hätte ich wenn alle lieb zueinander sind und das nimand sachen klaut oder so.« Lorenz

»In meiner perfekten Schule ändert sich dies: alle sind lieb und stressfrei. Es gäbe keine Streite mehr und alle horen dem Lehrer zu. Dann währen sogar die Lehrer glucklich.« Sascha

Inhalt

Vorwort

Teil I

Wie sich Kinder entwickeln

Vielfalt und Individualität

Das Wichtigste für die Schule

Anlage und Umwelt

Das Wichtigste für die Schule

Lernverhalten

Das Wichtigste für die Schule

Lernmotivation

Das Wichtigste für die Schule

Teil II

Was Kinder kompetent macht

Sprache

Das Wichtigste für die Schule

Logisch-mathematisches Denken

Das Wichtigste für die Schule

Figural-räumliche Vorstellung

Das Wichtigste für die Schule

Sozialverhalten

Das Wichtigste für die Schule

Motorik

Das Wichtigste für die Schule

Musikalische Fähigkeiten

Das Wichtigste für die Schule

Kompetenzenübergreifendes Verständnis

Das Wichtigste für die Schule

Teil III

Wann die Schule kindgerecht ist

Schule

Das Wichtigste für die Schule

Lehrer

Das Wichtigste für die Schule

Eltern

Das Wichtigste für die Schule

Bildungsinstitutionen

Das Wichtigste für die Schule

Bildungspolitik

Das Wichtigste für die Schule

Anhang

Bildtafeln

Vielfalt und Individualität

Anlage und Umwelt

Lernverhalten

Sprache

Logisch-mathematisches Denken

Figural-räumliche Vorstellung

Sozialverhalten

Motorik

Kompetenzenübergreifendes Verständnis

Schule

Eltern

Bildungsinstitutionen

Bildungspolitik

Glossar

Bildungssysteme

Literatur

Abbildungsnachweis

Dank

Register

Vorwort

Wie das Buch entstanden ist

Der Ausgangspunkt dieses Buches lässt sich auf die Minute ge­nau datieren: Mittwoch, 7.November 2007, 11.51 Uhr. Von: Remo H.Largo. An: Martin Beglinger. Mitteilung: »Ein Thema, das mich schon längere Zeit beschäftigt und Sie vielleicht auch interessie­ren könnte: An den Schweizer Gymnasien haben wir derzeit etwa 60 Prozent Mädchen und 40 Prozent Jungen – meines Erachtens eine krasse Verletzung der Chancengleichheit, es sei denn, man geht davon aus, das männliche Geschlecht sei dümmer als das weibliche. Die Auswirkungen sind gravierend, doch erstaunlicherweise interessiert dies die Bildungspolitik in keiner Weise.«

So trafen wir uns in den folgenden Wochen mehrmals und diskutierten stundenlang am gemütlichen Küchentisch im Hause Largo hoch über dem Zürichsee – doch längst nicht nur über die ungleichen Chancen von Jungen und Mädchen. Es ging auch um Erziehungsfragen, um die Nöte der Eltern oder um die zunehmend schwierigere Rolle der Lehrerinnen und Lehrer. Aus diesen Begegnungen entstand ein längeres Interview mit dem Titel »Der gute Schüler von heute ist ein Mädchen«, das im Januar 2008 im »Magazin« des Zürcher Tages-Anzeigers erschienen ist. In den da­rauffolgenden Tagen und Wochen wurden wir derart von Briefen, Mails und Anfragen um weitere Auskünfte überschwemmt, dass wir beschlossen, unser Gespräch wiederaufzunehmen, zu vertiefen und auszuweiten. Das Ergebnis dieser rund 20 Treffen zwischen Frühjahr und Herbst 2008 ist das vorliegende Gesprächsbuch. Die Form von Frage und Antwort schien uns nicht nur attraktiv für die Leserschaft, sondern auch naheliegend aufgrund der besagten Entstehungs­geschichte.

Worum es geht

Seit einigen Jahren steht die Schule im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Schulsysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz mögen sich in mancher Hinsicht unterscheiden, doch die öffentliche Diskussion über Schule und Erziehung verläuft in den deutschsprachigen Ländern nahezu identisch. Aufgrund der immer heftiger geführten Debatte könnte man meinen, die heutigen Schulen seien so schlecht wie nie zuvor. Doch die Studien der Bildungsforscher belegen das Gegenteil: Die schulischen Leistungen sind insgesamt besser geworden. Unsere Volksschulen, die je nach Land bis zu 200 Jahre alt sind, können auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Und doch kämpft die Schule heute mit großen Schwierigkeiten, auch wenn diese ihren Ursprung oftmals nicht in der Schule selbst haben. Die fehlenden Berufschancen für deutsche Hauptschüler sind sehr real, ebenso die Nöte von Schülern und ihren Eltern an den »Turbogymnasien«. Dass Kinder aus Migrationsfamilien geringere schulische Chancen haben, ist vielfach belegt wie auch die Benachteiligung der Jungen im Vergleich zu den Mädchen. Disziplinarische Schwierigkeiten in Schule und Familien sind große Herausforderungen für alle, von Lehrern und Eltern über die Schulbehörden bis hin zu den Bildungsministerien. Manche gesellschaftlichen Probleme manifestieren sich auch in der Schule, vom Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich über Suchtprobleme und Gewalt bis zu den Beziehungsstörungen in den Familien. Schulen sind ein präziser Spiegel unserer Gesellschaft.

Es vergeht überdies kein Tag, an dem man nicht irgendwo den Satz hört oder liest: Die wichtigste Ressource in unseren rohstoffarmen Ländern ist die Bildung. Das Ringen um diese Ressource ist in vollem Gange. Insbesondere Eltern aus bildungsnahen Schichten sind sich der großen Bedeutung der Schule für das spätere Leben sehr bewusst – und entsprechend beunruhigt, wenn die Schulkarriere ihrer Kinder nicht wie erhofft verläuft. Vielen Eltern sitzt die Angst vor dem Abstieg im Nacken, zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Sie spüren, wie der Konkurrenzkampf um gute Arbeitsplätze immer härter und auch internationaler wird. Umso mehr versuchen sie alles zu unternehmen, damit ihr Kind eine gute Ausbildung erhält.

All diese Themen wurden in den letzten Jahren von Eltern, Lehrern sowie Vertretern der Politik und Wirtschaft in die Diskussion eingebracht. Das Kind wurde geradezu eingekesselt von Erwachsenen und Institutionen, die nur sein Bestes wollen und sich seinem Wohl verpflichtet fühlen. Dennoch kommen unseres Erachtens die Anliegen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in der epischen Schulreformdebatte notorisch zu kurz, weil im Schul­alltag ihre Bedürfnisse oft genug in Konkurrenz zu den Interessen der Erwachsenen stehen. In diesem Buch wollen wir zur Kernfrage der Debatte zurückkehren und sie ins Zentrum stellen: Was für eine Schule brauchen unsere Kinder? Wir verstehen uns gewissermaßen als Anwälte der Kinder, die einen Beitrag zur Bil­dungs­debatte leisten möchten, indem wir von den Bedürfnissen der Kinder und den Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung aus­gehen. Dieses Buch ist ein Versuch, die Schule vom Kind her zu denken.

Wie das Buch aufgebaut ist

Das Buch besteht aus 3 Teilen. Die Teile I und II beschäftigen sich mit dem Kind und seiner Entwicklung. Teil III versucht die Frage zu beantworten, was die zuvor gewonnenen Erkenntnisse für Schule, Eltern und Gesellschaft bedeuten. Teil I gibt zunächst einen Überblick über die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und das Lernverhalten des Kindes. Im Zentrum steht dabei die enorme Vielfalt in der kindlichen Entwicklung, die aus unserer Sicht eine der gro­ßen pädagogischen Herausforderungen darstellt. Eltern, Lehrer, Bildungswissenschaftler und Politiker treibt die gleiche grundlegende Frage um, die ihren Ursprung in einem der größten Gruppenexperimente der Menschheitsgeschichte hat: Mindestens 9 Jahre lang werden Kinder mit mehr oder weniger dem gleichen Lernstoff unterrichtet, doch am Ende ihrer Schulzeit sind sie verschiedener denn je. Dieser Vielfalt konnten die bisherigen Unterrichtsmethoden offenkundig nur ungenügend gerecht werden. Wir diskutieren die Ursachen, wie diese Vielfalt aus dem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt entsteht. Zwei weitere Kapitel widmen sich dem Lernverhalten sowie der Lernmotivation des Kindes. Dem Begriff des Selbstwertgefühls kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu.

Teil II befasst sich ausführlich mit den sogenannten Kompetenzen, den wichtigsten Bereichen der kindlichen Entwicklung: Sprache, logisch-mathematisches Denken, figural-räumliche Vorstellung, Sozialverhalten, Motorik, musikalische Fähigkeiten sowie ein kompetenzenübergreifendes Verständnis. Wie eignet sich das Kind diese Kompetenzen an? Welche Erfahrungen muss das Kind dazu machen können? Dabei argumentieren wir aus einer verhaltensbiologischen Perspektive und weisen auf Fakten hin, die weder pädagogisch noch ideologisch wegzudiskutieren sind. Man kann diese Fakten zur Kenntnis nehmen oder nicht, doch folgenlos ignorieren lassen sie sich nicht.

Im abschließenden Teil III besprechen wir die Konsequenzen für die Schule, die aus den Teilen I und II zu ziehen sind. Immer wieder rückt dabei die Frage in den Mittelpunkt, ob die heutige Schule den entwicklungsspezifischen Bedürfnissen der Kinder in ausreichendem Maß gerecht wird. Was muss sich ändern? Was können Schule, Lehrkräfte und Eltern dazu beitragen, dass jedes Kind sein Entwicklungspotenzial realisieren und damit beruflich und sozial integriert werden kann? Worauf sollte eine Schule achten, damit die Kinder ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, ihre Stärken entfalten können und mit ihren Schwächen umzugehen lernen? Wir reden über »Turboschulen« und Klassengrößen, über Frühförderung und Schulverweigerer, über die Qualität des Unterrichts und den Sinn von Schulnoten. Der wirtschaftliche und erzieherische Druck, der auf den Eltern lastet, kommt ebenso ausführlich zur Sprache wie die Frage, was eine gute Lehrerin oder einen guten Lehrer ausmacht. Werden überhaupt die richtigen Menschen Lehrer, und werden diese so ausgebildet, dass sie mit den Kindern entwicklungsgerecht umgehen können? Unser Augenmerk gilt bei all diesen Fragen den obligatorischen Schuljahren, aber auch der bisher vernachlässigten Vorschulzeit. Den Bereich der Berufs- und der Hochschulen hingegen behandeln wir nur am Rande.

Im Anhang ist eine Zusammenstellung der Grafiken zu finden, welche die Inhalte von Teil I bis III veranschaulichen und weiterführende Hinweise liefern. Zudem findet sich hier unter anderem ein Überblick über die verschiedenen Schulsysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In Teil I bis III werden immer wieder biostatische, entwicklungspsychologische und pädagogi­sche Begriffe verwendet, die zum Verständnis wichtig, aber vielen Lesern nicht geläufig sind. Sie werden im Glossar ebenfalls ausführlich erläutert.

Leserinnen und Leser, die sich für den Erfahrungshintergrund und die Herkunft der pädagogischen Grundhaltung von Remo H. Largo interessieren, verweisen wir auf das Nachwort.

Abschließend noch eine kurze Anmerkung zum Sprachgebrauch: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir im Text entweder die männliche oder die weibliche Form gewählt, doch wir betrachten beide Formen als gleichwertig.

Remo H. Largo und Martin Beglinger,

Januar 2009.

Teil I

Wie sich Kinder entwickeln

Vielfalt und Individualität

Was das einzelne Kind ausmacht

Warum die Begabungen bei einem Kind oft sehr unterschiedlich sind

Anlage und Umwelt

Wie Anlage und Umwelt auf das Kind einwirken

Wie sich das Kind entwickelt

Was das Kind von seinen Eltern erbt

Lernverhalten

Wie Kinder lernen

Warum individuelles Lernen notwendig ist

Unter welchen Bedingungen Üben und Fördern sinnvoll sind

Was die frühkindliche Förderung bewirkt

Warum die Orientierung an Defiziten falsch ist

Lernmotivation

Wie gute Lernmotivation entsteht

Warum selbstbestimmtes Lernen sinnvoll ist

Wie sich Kinder entwickeln

Vielfalt und Individualität

Was das einzelne Kind ausmacht

Sie haben während Ihrer 35-jährigen Tätigkeit als Kinderarzt Tausende von Kindern untersucht, insbesondere im Rahmen der Zürcher Longitudinalstudien. In diesen Studien wurden zwischen 1954 und 2005 das Wachstum und die Entwicklung bei etwa 800 gesunden Kindern von der Geburt bis ins Erwachsenenalter festgehalten und analysiert (Largo et al. 2005). Was ist für den Entwicklungsspezialisten Largo ein Kind?

Für mich zeichnet sich ein Kind durch sein einmaliges Wesen aus. Es hat mich immer wieder erstaunt, wie unverwechselbar Kinder sind. Bereits im ersten Lebensjahr ist das Kind eine Persönlichkeit und beginnt sich spätestens mit 2 Jahren seiner Individualität bewusst zu werden. Seine individuellen Fähigkeiten und Verhaltenseigenschaften setzen sich im Laufe der Kindheit immer mehr durch. Das Beste, was wir als Erwachsene tun können, ist: das Kind so annehmen wie es ist. Seine Individualität von klein auf zu respektieren, scheint mir mit das Wichtigste im Umgang mit Kindern zu sein.

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie bereits sehr verschieden.

In Ihren Arbeiten (Largo 1999, 2007) betonen Sie immer wieder die extremen Entwicklungsunterschiede bei Kindern, und zwar bereits in den ersten Lebensjahren. Kinder beginnen zum Beispiel in sehr unterschiedlichem Alter zu sprechen. Die einen tun dies bereits früh mit 10 bis 12 Monaten, andere erst mit 24 bis 30 Monaten. Wie offenbaren sich solche Unterschiede bei der Einschulung?

Die Individualität ist ein Ausdruck dieser großen Vielfalt unter den Kindern. Die Vielfalt nimmt im Verlauf der Kindheit immer mehr zu. Wenn eine Lehrerin eine Klasse mit 20 7-jährigen Kindern vor sich hat, dann unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre (Abbildung 1). Es gibt Kinder, die mit 7 Jahren ein Entwicklungsalter von 8 bis 9 Jahren haben und bereits lesen können. Andere mit einem Entwicklungsalter von 5 bis 6 Jahren sind noch weit davon entfernt. Bis zur Oberstufe nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern noch einmal deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln (Abbildung 2). Hinzu kommt, dass die Jungen als Gruppe im Mittel um eineinhalb Jahre in ihrer Entwicklung hinter den Mädchen zurückliegen. (Beispiele zur Vielfalt in den verschiedenen Entwicklungsbereichen siehe Teil II.) Der Umgang mit dieser sogenannten interindividuellen Variabilität ist für Eltern und Lehrkräfte sehr anspruchsvoll.

 

1) Variabilität des Entwicklungsalters bei 20 Kindern im chronologischen Alter von 7 Jahren. Ein Entwicklungsalter von 8 Jahren bedeutet beispielsweise, dass ein 7-jähriges Kind bereits über die durchschnittliche Lese­kompetenz eines 8-jährigen Kindes verfügt (schematische Darstellung).

 

2) Variabilität des Entwicklungsalters bei 20 Jungen und 20 Mädchen im chronologischen Alter von 13 Jahren. Ein Entwicklungsalter von 9 Jahren bedeutet­ beispielsweise, dass ein 13-jähriges Kind erst über die durchschnittliche Lesekompetenz eines 9-jährigen Kindes verfügt (schematische Darstellung).

Warum die Begabungen bei einem Kind oft sehr unterschiedlich sind

Eltern und auch Lehrer wundern sich immer wieder, wie unterschiedlich die Begabungen bei einem Kind ausgeprägt sein können. Das eine Kind ist gut in Sprache, aber schwach in Mathematik; bei einem anderem ist es genau umgekehrt. Wie lässt sich das erklären?

Das rührt von der Vielfalt im Kind selbst her, der sogenannten intraindividuellen Variabilität; auch sie kann von Kind zu Kind unterschiedlich stark ausfallen. Diese Vielfalt führt dazu, dass jedes Kind, aber auch jeder Erwachsene sein ihm eigenes Profil von Begabungen oder Kompetenzen aufweist. Vier solche Profile von 10-jährigen Kindern sind in den Abbildungen 3 bis 6 dargestellt. Bei Anna sind alle Fähigkeiten gleich stark ausgeprägt. Ein Kind wie Anna ist mir allerdings noch nie begegnet. Dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit nach muss es solche Kinder irgendwo auf der Welt geben, doch sie sind sehr selten. Bei der großen Mehrheit der Kinder sind die Fähigkeiten unterschiedlich ausgebildet. Die Kompetenzprofile von Melissa, Philipp und Joachim zeigen, wie verschieden die Zusammensetzung von Stärken und Schwächen bei einem Kind sein kann. Für die Eltern und vor allem für die Lehrer bedeutet dies, dass sie sich auf jedes einzelne Kind je nach Kompetenz und Lernsituation individuell einstellen müssen. Das ist – zusammen mit den zahlreichen Unterschieden zwischen den Kindern­ innerhalb einer Klasse – eine große pädagogische He­rausforderung für die Lehrkräfte (siehe Teil III).

Wollte man nun den Anspruch umsetzen, dass jedes Kind auf dem ihm entsprechenden Niveau unterrichtet wird, dann müsste man letztlich jedes Kind einzeln unterrichten, um ihm vollauf gerecht zu werden. Ist das nicht eine Illusion?

Wer die Vielfalt negiert, weil er glaubt, individualisierter Unterricht sei nicht realisierbar, der hat kapituliert, aber damit die reale Vielfalt unter den Kindern nicht aus der Welt geschafft. Wenn in einer 2. Klasse an der Grund- oder Primarschule das eine Kind nur bis 10 zählen kann und das andere bereits bis 1000; wenn das eine Kind Bücher liest und das andere noch nicht einmal das ganze Alphabet kennt, dann kann man nicht einfach so tun, als gäbe es diese Unterschiede nicht. Wie in Teil III gezeigt werden wird, ist eine Individualisierung des Unterrichts möglich und keine Utopie.

Wie entsteht die Vielfalt zwischen den Kindern und jene beim einzelnen Kind?

Die Entwicklung eines Kindes hin zu einem unverwechselbaren Individuum lässt sich im Wesentlichen durch 3 Prozesse charakterisieren:

Das Kind wächst. Jedes Entwicklungsmerkmal wie die Körpergröße nimmt von Kind zu Kind quantitativ unterschiedlich stark zu.Das Kind differenziert seine Fähigkeiten aus. Eine Fähigkeit wie die gesprochene Sprache entwickelt sich von Kind zu Kind qualitativ unterschiedlich bezüglich zeitlichem Auftreten und Ausprägung.Das Kind spezifiziert seine Fähigkeiten. Je nach Umwelt, in der das Kind aufwächst, werden Fähigkeiten wie Sprache oder Essverhalten von Kind zu Kind unterschiedlich festgelegt.

Im Verlauf der Pubertät werden diese 3 Prozesse abgeschlossen. Damit haben das körperliche Wachstum, die Motorik und die Entwicklung der sogenannten fluiden Intelligenz ihren Höhepunkt, aber auch ihren Abschluss erreicht. Die kristalline Intelligenz und die Persönlichkeit werden sich noch jahrzehntelang weiterentwickeln (fluide und kristalline Intelligenz siehe Anhang).

Die Vielfalt unter den Kindern wird ganz wesentlich durch die Umwelt mitbestimmt. Offensichtlich ist dies bei der Sprache oder dem Beziehungsverhalten. Diese sogenannte Heterogenität ist Ausdruck des sozialen, kulturellen und religiösen Umfeldes, in dem die Kinder leben. Die Heterogenität ist jedoch lediglich ein Teil der Vielfalt. Der entscheidende Anteil an Vielfalt liegt in den Kindern selbst. Selbst wenn die Kinder unter den gleichen sozialen, kulturellen und religiösen Bedingungen aufwachsen würden, wären sie immer noch sehr verschieden. Diese Vielfalt wahrzunehmen und ihr Rechnung zu tragen ist das Anliegen dieses Buches.

Das Wichtigste für die Schule

Es gibt kein Entwicklungsmerkmal, welches bei allen gleichaltrigen Kindern gleich ausgeprägt ist.Die Vielfalt unter gleichaltrigen Kindern entsteht, weil Eigenschaften und Fähigkeiten von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt sind (zum Beispiel die Körpergröße) und unterschiedlich rasch ausreifen (zum Beispiel die gesprochene Sprache) (interindividuelle Variabilität).Die einzelnen Eigenschaften und Fähigkeiten sind im Kind selbst unterschiedlich angelegt und reifen verschieden rasch aus (zum Beispiel kann es sein, dass sich seine sprachlichen Fähigkeiten rascher entwickeln als seine motorischen) (intraindividuelle Variabilität).Mädchen als Gruppe sind von Geburt an immer etwas weiter entwickelt als Jungen. Dies ist auf eine unterschiedliche Zeitskala der biologischen Reifung bei Mädchen und Jungen zurückzuführen.Die soziale, kulturelle und religiöse Umwelt, in der das Kind aufwächst, trägt wesentlich zur Vielfalt unter den Kindern bei (Heterogenität).Die im Kind angelegte Vielfalt in ihrem ganzen Ausmaß wahrzunehmen und als biologische Realität zu akzeptieren ist eine grundlegende Vo­raussetzung dafür, den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder in Familie und Schule gerecht zu werden.
Wie sich Kinder entwickeln

Anlage und Umwelt

Wie Anlage und Umwelt auf das Kind einwirken

Wir alle haben unsere eigenen Vorstellungen davon, was bei einem Kind vererbt wird und welchen Beitrag die Umwelt an seiner Entwicklung leistet. Welche Rolle spielen diese Vorstellungen bei unserem Umgang mit einem Kind?

Aus diesen Vorstellungen entstehen Erwartungen, die wir an das Kind stellen. Unsere Erziehungshaltung ist eine andere, wenn wir davon ausgehen, dass die Fähigkeit zu lesen je nach Kind verschieden angelegt ist und unterschiedlich rasch heranreift, oder wenn wir annehmen, dass wir das Kind durch möglichst frühe und intensive Erfahrungen mit dem Alphabet zum Lesen bringen können. Es ist daher wichtig, ein Verständnis dafür zu haben, wie Anlage und Umwelt die Entwicklung eines Kindes bestimmen.

Was verstehen Sie unter Anlage? Welche Bedeutung haben dabei die Gene?

Die Gene werden uns zwar als magischer Schlüssel für alle Geheimnisse des Lebens präsentiert. Doch unter Anlage verstehe ich weit mehr als nur die Gene. Die Gene allein erklären das Wunder »Mensch« nicht. Die Gesamtzahl der Gene, das sogenannte Genom, ist beim Menschen weit weniger groß, als man ursprünglich annahm. Selbst niedrige Tiere wie gewisse Reptilien haben fast vergleichbar viele Gene wie der Mensch. Mit dem Schimpansen haben wir mindestens 98,5 Prozent der Gene gemeinsam, fühlen uns aber doch recht verschieden. An den Genen allein kann es also nicht liegen. Es ist vielmehr das Zusammenspiel der Gene, das den großen Unterschied bewirkt. Gene sind wie Balletttänzer in einem Ensemble. Die Anzahl der Tänzer und Tänzerinnen macht nicht die Güte eines Balletts aus. Und man kann auch kaum allein aufgrund der Zusammensetzung der Balletttruppe erahnen, was sie aufführen wird. Mit dem gleichen Ensemble können ganz unterschiedliche Stücke inszeniert werden. Erst wenn sich die Tänzer und Tänzerinnen bewegen, miteinander interagieren, Szenen darstellen und eine Stimmung erzeugen, entsteht eine Ballettaufführung. Dazu muss es eine Choreografie geben, die jeden Einsatz der Tänzer und Tänzerinnen während der ganzen Aufführung minutiös vorgibt. Und so ist es auch mit den Genen. Sie erhalten erst dann ihre Bedeutung, wenn sie aktiv werden, miteinander interagieren, und dies alles nach einem hochkomplexen, zeitlich streng festgelegten Programm. Balletttänzer können straucheln, einander verpassen, eine Sequenz vergessen oder einen Moment lang innehalten, weil sie durch ein Niesen im Publikum irritiert wurden. Das kann ebenso in der pränatalen Entwicklung geschehen: Gene können defekt sein, zum falschen Zeitpunkt aktiv werden oder aus verschiedenen Gründen den Entwicklungsplan nicht genau befolgen. Entscheidend ist also, wie dieser Entwicklungsprozess, der viele Monate in Anspruch nimmt, vonstatten geht. Wir kennen zwar die Gene, verfügen aber nur über ein minimales Wissen darüber, wie die unzähligen Interaktionen zwischen den Genen ablaufen. Es wird noch viele Jahre dauern, falls es überhaupt je gelingen sollte, bis wir diese hochkomplexen Vorgänge verstehen werden. Die Anlage ist also weit mehr als nur der Ausdruck der Gene, sie ist das Produkt einer Entwicklung, die nicht nur 1 bis 2 Stunden dauert­ wie eine Ballettaufführung, sondern 9 lange Schwangerschaftsmonate, welche die Anlage braucht, um ein lebensfähiges Kind entstehen zu lassen. Bereits während der Schwangerschaft gibt es zudem äußere Faktoren wie virale Erkrankungen oder Drogen wie Nikotin oder Alkohol, welche die Entwicklung des ungeborenen Kindes zusätzlich beeinträchtigen können.

Um das Verständnis für das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zu erleichtern, wollen wir uns zuerst der Grafik zur Körpergröße (Abbildung 7) zuwenden. Wir sehen, dass Kinder in jedem Alter unterschiedlich groß sind und dass Jungen und Mädchen sich unterschiedlich rasch entwickeln. Was ist hier durch die Anlage und was durch die Umwelt bedingt? Und wie wirken Anlage und Umwelt zusammen?

Das Kind kann sein gesamtes Wachstumspotenzial nur realisieren, wenn die Lebensbedingungen optimal sind. Dies ist dann der Fall, wenn es ausreichend ernährt wird, unter guten hygienischen Bedingungen aufwächst und nie ernsthaft über längere Zeit krank ist. Diese Bedingungen sind für die meisten Kinder in Mitteleu­ropa gegeben. Das heißt, die Unterschiede in der Körpergröße, die wir in unserer Bevölkerung vorfinden, sind mehrheitlich durch die individuell andersgeartete Anlage bedingt. In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir festgestellt, dass die Körpergröße zu mindestens 95 Prozent durch die Anlage und zu weniger als 5 Prozent durch die Lebensbedingungen bestimmt wird. Das war früher in Mitteleuropa ganz anders. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts litt die Bevölkerung noch unter Hungersnöten, und ihre Gesundheit war durch schwere Infek­tionskrankheiten wie Tuberkulose beeinträchtigt. Unter diesen schlechten Lebensbedingungen waren die Menschen im Mittel 10 bis 15 Zentimeter kleiner als heute. Durch die stete Verbes­serung der Lebensbedingungen wurden sie von Generation zu Generation größer. Die Zunahme der Körpergröße hat sich dabei in den bessergestellten sozialen Schichten rascher vollzogen als in den benachteiligten Schichten. Sie hat aber in den letzten 30 Jahren alle sozialen Schichten erreicht. Diese Entwicklung, der sogenannte säkulare Trend (Van Wieringen 1986), ist in unserer Bevölkerung weitgehend zum Stillstand gekommen. In vielen Ent­wick­lungsländern sind die Lebensbedingungen leider immer noch so wie bei uns vor 100 Jahren. Die Menschen sind kleiner, weil sie unter Mangelernährung, schlechten hygienischen Verhältnissen und Krankheiten leiden (Schell et al. 1993).

7) Entwicklung der Körpergröße von 0 bis 20 Jahre bei Jungen und Mädchen. Der Geschlechtsunterschied stellt sich hauptsächlich in der Pubertät ein. 50%: Mittelwert; 97%: obere Grenze des Normalbereiches; 3%: untere Grenze des Normalbereiches; je 3% der Kinder liegen über 97% beziehungsweise unter 3% (Prader et al. 1989).

Eine sechste Schulklasse.

Beachte: Der Dritte von rechts ist nicht der Lehrer!

Man kann also auch unter idealen Umweltbedingungen nicht grenzenlos weiterwachsen. Wo liegt die Obergrenze?

Die Anlage schafft die Voraussetzungen für die Entwicklung und legt das Optimum fest, das ein Kind erreichen kann. Die Umweltbedingungen bestimmen, wie viel von dieser Anlage realisiert werden kann. Die individuelle Grenze ist also durch die Anlage festgelegt und lässt sich nicht überschreiten. Das Kind kann für seine Körpergröße nur so viel verwerten, wie sein Stoffwechsel zu leisten vermag. Man kann es auch so ausdrücken: Wenn wir ein Kind überfüttern, wird es nicht größer, sondern nur dick. Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass selbst unter optimalen Bedingungen starke Unterschiede in der Körpergröße bestehen bleiben. Die Größe eines Kindes wird durch 2 weitere, ebenfalls anlagebedingte Faktoren mitbestimmt: das Geschlecht und die Reifung. Erst im Verlauf der Pubertät stellt sich der doch recht deutliche mittlere Unterschied von 13 Zentimetern zwischen Frauen und Männern ein. Dazu tragen vor allem die Geschlechtshormone bei, die in der Pubertät aktiv werden. Eine rasche oder langsame Reifung kann die Körpergröße ebenfalls erheblich beeinflussen. Wie unterschiedlich die Reifung verlaufen kann, wird am Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale besonders gut ersichtlich (Abbildung 8). So kann die erste Menstruationsblutung (Menarche) bereits zwischen 9 und 10 Jahren oder aber erst mit 16 bis 17 Jahren auftreten (mittleres Auftreten mit 12,5 Jahren). Ebenso unterschiedlich kann die Entwicklung der Körpergröße verlaufen. Der pubertäre Wachstumsschub und der Abschluss des Längenwachstums stellen sich bei Spätzündern bis zu 6 Jahre später ein als bei Frühentwicklern.

8) Interindividuelle Variabilität im Auftreten von Pubertätsmerkmalen bei Mädchen. Die Balken geben den Altersbereich an, in welchem ein Puber­tätsmerkmal auftreten kann. Strich: mittleres Auftreten eines Pubertäts­merkmals (Largo et al. 1983a, b).

Die große Frage ist nun allerdings, ob dieses Modell auch in Bezug auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten eines Kindes Gültigkeit hat.

Grundsätzlich ja. Das Modell wird zwar immer wieder mit Skepsis bedacht, weil sich das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt in anderen Entwicklungsbereichen oft nicht so eindeutig wie bei der Körpergröße aufzeigen lässt. Und auch uns als Eltern oder Fachleuten befallen manchmal Zweifel, weil wir das Kind oft anders haben möchten und dazu neigen, seine Begabungen zu überschätzen. Doch für mich sind die Studienergebnisse ein­deutig: In Abbildung 9 ist die Lesekompetenz bei 15-jährigen Schülern in 5 Ländern dargestellt (PISA-Studie 2006; Testmethode siehe Anhang). Achtet man auf den Mittelwert (dicker Strich), so stellt man fest: Kinder in Finnland erbringen eine bessere mittlere Leistung als Kinder in der Schweiz, in Deutschland und Österreich sowie eine deutlich bessere als Kinder in Mexiko. Besonders beachtenswert ist jedoch die Ausdehnung der Balken. Finnland weist den kürzesten Balken aus, das heißt es verfügt über mehr Kinder, die sehr gut lesen, und über weniger­ Kinder mit einer sehr niedrigen Lesekompetenz. Die Balken für Deutschland, Österreich und die Schweiz sind deutlich länger. In allen 3 Ländern gibt es Kinder, die sehr gut lesen, aber auch mehr Kinder mit einer niedrigen Lesekompetenz als in Finnland.

9) Lesekompetenz von Jugendlichen im Alter von 15 Jahren in 5 Ländern gemessen­ im Rahmen der PISA-Studie 2006. Je höher der Skalenwert, desto größer die Lesekompetenz. Die Balken beschreiben die Streubreite zwischen 5% und 95%; 5% der Probanden liegen darüber bzw. darunter; der dicke Strich entspricht dem Mittelwert (50%).

Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Ähnlich wie bei der Körpergröße können wir daraus Folgendes ableiten:

Je besser das schulische Angebot, desto besser ist die mittlere Lesekompetenz und umso mehr gute Schüler gibt es (Finnland > Schweiz > Deutschland > Österreich > Mexiko).Je schlechter das schulische Angebot, desto niedriger ist die mittlere Lesekompetenz und desto mehr Kinder können kaum oder gar nicht lesen.Selbst Finnland gelingt es aber nicht, bei allen Kindern eine gute bis hohe Lesekompetenz zu erreichen. Auch dort verfügt eine Gruppe von Schülern nur über eine geringe oder gar fehlende Lesekompetenz. Die Streubreite variiert also auch in Finnland zwischen sehr hoher bis fehlender Lesekompetenz. Selbst in einem qualitativ sehr guten Bildungssystem wie dem finnischen, das das Entwicklungspotenzial der Bevölkerung wahrscheinlich weitgehend realisiert, bleibt eine große interindividuelle Variabilität der Kompetenz bestehen (siehe Teil III Chancengerechtigkeit). Vergleichbare Resultate wurden im Rahmen der PISA-Studien auch für andere Kompetenzen wie mathematisches Denken, Problemlösungsverhalten oder naturwissenschaftli­ches Denken erhoben (PISA 2000, 2003, 2006).

Wenn offensichtlich selbst im bestentwickelten Schulsystem große Unterschiede zwischen den einzelnen Schülern bestehen bleiben, ist das eine ziemlich desillusionierende Feststellung, die vielen auf Chancengerechtigkeit bedachten Bildungspolitikern gar nicht behagen dürfte.

Trotzdem sollten sie sich zu dieser Einsicht durchringen, wenn sie möglichst allen Kindern gute Lernbedingungen schaffen wollen. Der richtige Umgang mit der Vielfalt ist von großer Bedeutung für die Gestaltung der Schule und die berufliche Integration. Ein mögliches Erklärungsmodell für die PISA-Ergebnisse ist in Abbildung 10 abgebildet. Jede Bevölkerung verfügt, wie für die Körpergröße erläutert, über ein bestimmtes Entwicklungspotenzial. Je ungünstiger die sozioökonomischen Lebensbedingungen sind und je niedriger die Qualität des Bildungssystems in einer Gesellschaft ist, desto weniger Menschen können ihr individuelles Entwicklungspotenzial realisieren. Dabei gibt es in solchen Gesellschaften, wie beispielsweise in Mexiko, immer auch Menschen, die materiell und sozial bevorteilt sind und durchaus einen hohen Bildungsstand erreichen können (siehe Abbildung 9). Je günstiger die Lebensbedingungen und je höher die Qualität des Bildungssystems in einer Gesellschaft sind, desto besser kann das Bildungspotenzial realisiert werden. Doch selbst bei einer vollständigen Realisierung des Entwicklungspotenzials bleibt immer noch eine große Variabilität der Kompetenz bestehen.

10) IQ-Verteilung in Abhängigkeit von den sozio-ökonomischen Bedin­gun­gen (SÖB) und der Qualität des Bildungssystems (BS). Grün: IQ-Vertei­lung bei tiefen SÖB und wenig entwickeltem BS. Blau: bei mäßigen SÖB und mäßig entwickeltem BS. Rot: bei optimalen SÖB und optimal entwickeltem BS. Das Bildungspotenzial der Bevölkerung (schwarz) wird weitgehend realisiert. Unabhängig von SÖB und BS stellt sich immer eine große Streuung der intellektuellen Leistungsfähigkeit ein (Hypothetisches Modell).

Sind die Menschen in den westlichen Ländern im Durchschnitt nicht nur größer, sondern auch klüger geworden?

Der neuseeländische Politologe James R. Flynn hat tatsächlich einen solchen säkularen Trend auch für den Intelligenzquotienten in den Gesellschaften der hoch industrialisierten Länder nachgewiesen. Flynn beobachtete eine mittlere Zunahme von 3 IQ-Punkten pro Jahrzehnt bis in die 90-er Jahre (Flynn 1984). In den Niederlanden betrug die Zunahme zwischen 1952 und 1982 sogar 7 IQ-Punkte pro Dekade. Dieser sogenannte Flynn-Effekt wird auf verschiedene Ursachen zurückgeführt: verbesserte Ernährung und medizinische Versorgung, weniger Kinder in einer Familie und dadurch größere Aufmerksamkeit für das einzelne Kind und seine Bedürfnisse sowie Zunahme der visuellen Medienerfahrung. Für Letzteres spricht, dass der Anstieg des IQ vor allem den nicht sprachlichen, figural-räumlichen Fähigkeiten zuzuschreiben ist. Ein weiterer wichtiger Faktor war wohl auch die Verbesserung des Schulwesens, die bisher benachteiligten Kindern eine bessere Bildung ermöglichte. So war bei Kindern mit hohem IQ in den letzten 20 Jahren kein Flynn-Effekt mehr nachzuweisen, jedoch bei Kindern mit einem tieferen IQ, was wiederum den durchschnittlichen IQ der ganzen Bevölkerung angehoben hat (Kanaya et al. 2003).

Wie stark können wir uns noch verbessern? Wie lange wird der säkulare Trend noch anhalten?

Erste Trendmeldungen zeigen, dass die Zunahme des IQs im Verlauf der 1990-er Jahre zum Erliegen gekommen ist, zumindest in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz (Teasdale et al. 2005). Als Ursache wird unter anderem eine Bildungsverdrossenheit in der Bevölkerung vermutet. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass – wie bei der Körpergröße – das Bildungspotenzial der Bevölkerung weitgehend ausgeschöpft ist. Wenn dem so ist, müssen sich Gesellschaft und Wirtschaft darauf einstellen (siehe Teil III Chancengerechtigkeit).

Noch einmal zum Zusammenwirken von Anlage und Umwelt: Kann der eine Faktor durch den anderen kompensiert werden?

Nein, Anlage und Umwelt können sich nicht gegenseitig kompensieren, denn sie tragen Unterschiedliches zur Entwicklung bei. Ihre Bedeutung wird in den Studien über ein- und zweieiige Zwillinge sowie über Geschwister besonders gut verständlich (Abbildung 11, Wilson 1983). Eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwachsen, weisen von allen Kindern die größtmögliche Ähnlichkeit bezüglich Anlage und Umwelt auf. Sie haben – theoretisch – eine identische Anlage und leben im gleichen Milieu. Unterschiede können sich dennoch ergeben, wenn ihre vorgeburtliche Entwicklung nicht gleich verlaufen ist oder die Eltern mit den beiden Kindern unterschiedlich umgehen. Die Übereinstimmung der intellektuellen Leistungsfähigkeit beträgt im ersten Lebensjahr lediglich 50 Prozent, nimmt aber bis in die Adoleszenz auf beinahe 80 Prozent zu (Näheres siehe Glossar unter Korrelationen). Sie ist damit etwa gleich hoch, wie wenn die gleiche Person zwei Mal getestet wird. Das heißt, eineiige Zwillinge werden sich im Verlauf der Kindheit in ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit immer ähnli­cher. Inwieweit diese Übereinstimmung auf die gemeinsame Anlage beziehungsweise gemeinsame Umwelt zurückzuführen ist, lässt sich nicht entscheiden. Diese Frage kann beantwortet werden, wenn man eineiige Zwillinge untersucht, die getrennt voneinander aufwachsen. Es kommt immer wieder vor, dass eineiige Zwillinge von zwei Familien adoptiert werden. Obwohl sie in unterschiedlichen Familien leben und sich nie begegnet sind, verläuft ihre intellektuelle Entwicklung weitgehend so, wie wenn sie gemeinsam aufgewachsen wären. Was vor allem erstaunlich ist: Sie werden sich bis ins Erwachsenenalter immer ähnlicher, wenn auch nicht ganz so ähnlich, wie wenn sie in der gleichen Familie gelebt hätten. Die Übereinstimmung liegt bei fast 70 Prozent (Scarr 1992).

11) Übereinstimmung der intellektuellen Entwicklung bei ein- und zwei­eiigen Zwillingen sowie Geschwistern. Die Übereinstimmung der Entwick­lungs-/Intelligenzquotienten wird in Prozenten angegeben. Je höher ein Prozent­wert ausfällt, desto größer ist die Übereinstimmung zwischen den Kindern (Berechnung siehe Glossar »Korrelationen«). Für eineiige Zwillinge, die getrennt aufwachsen, liegt nur ein Wert vor (nach Wilson 1983, Scarr 1992).

Die Anlage scheint also dominierend zu sein. Wie setzt sich dann die Umwelt durch?

Die Umwelt hat – wie die Nahrung für das Wachstum – weniger eine gestaltende als vielmehr eine Art nährende Rolle. Sandra Scarr (1992) hat sie folgendermaßen beschrieben: Bei eineiigen Zwillingen bewirkt ihre weitgehend identische Anlage, dass sie die gleichen Interessen und Neigungen haben. Sie suchen daher auch in unterschiedlicher Umgebung nach ähnlichen Erfahrungen, soweit die Umwelt diese anbietet und zulässt. Zwillinge beeinflussen mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Verhalten die Umgebung auf eine ähnliche Weise, was wiederum den Umgang der Bezugspersonen mit ihnen beeinflusst. Die Umwelt wirkt also weit weniger als bisher angenommen aktiv auf das Kind ein, sondern das Kind selbst ist aktiv. Die Umwelt bestimmt jedoch das Angebot an Erfahrungen, die das Kind machen kann. Die Umwelt wirkt sich dann negativ auf die Entwicklung des Kindes aus, wenn sie ihm Erfahrungen vorenthält. Ein »Überangebot« an Anregungen verbessert seine Entwicklung hingegen nicht, genauso wenig wie ein Überfüttern die Körpergröße positiv beeinflussen kann. Diese These wird durch die Entwicklung von zweieiigen Zwillingen und Geschwistern gestützt. Zweieiige Zwillinge verfügen zu je 50 Prozent über gemeinsame Erbanlagen. Sie sind sich damit nicht ähnlicher als Geschwister. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie gleich alt sind und im gleichen Milieu aufwachsen. Dieser Umstand führt anfänglich zu einer deutlichen Übereinstimmung in der intellektuellen Entwicklung von etwa 50 Prozent, die damit gleich groß ist wie bei ein­eiigen Zwillingen. In den folgenden Jahren leben sich zweieiige Zwillinge jedoch zunehmend auseinander, weil sie doch recht verschieden sind und aktiv unterschiedliche Erfahrungen suchen. In der Adoleszenz beträgt die Übereinstimmung etwas mehr als 30 Prozent. Dieser Verlauf mag überraschen, wenn man bedenkt, dass die Kinder zur gleichen Zeit in der gleichen Familie auf­wachsen und zumeist auch die gleichen Schulen besuchen. Sie entwickeln sich mit den Jahren immer mehr auseinander, weil sie – genau wie Geschwister – unterschiedliche Interessen und Begabungen haben. Dies führt, obwohl sie im gleichen Milieu groß werden und gleich alt sind, zu unterschiedlichen Entwicklungen.

Zwillinge weisen mit ihren Geschwistern ebenfalls zu 50 Prozent die gleichen Anlagen auf und leben in der gleichen Familie. Der einzige Unterschied ist: Sie sind verschieden alt und müssen daher die Familie unterschiedlich erleben. Wie wirkt sich das aus?

Zwillinge machen mit ihren Geschwistern interessanterweise eine gegenteilige Entwicklung durch wie diejenige, die sie miteinander machen. In den ersten Lebensjahren liegt die Übereinstimmung in ihrer intellektuellen Entwicklung lediglich bei 10 Prozent und ist damit deutlich niedriger als bei zweieiigen Zwillingen. Da sie immerhin zu 50 Prozent eine gemeinsame Anlage haben, werden sich die Zwillinge und ihre Geschwister im Verlauf der Entwicklung jedoch immer ähnlicher. In der Adoleszenz ist ihre Übereinstimmung schließlich etwa gleich groß wie bei zweieiigen Zwillingen. Obwohl sie nicht alterssynchron aufwachsen, werden sie sich ähnlicher, weil sie aufgrund ihrer Anlage die gleichen Erfahrungen suchen und zumeist auch machen können.

Wie sich das Kind entwickelt

Offenbar setzen sich die individuellen Fähigkeiten und Verhaltenseigenschaften im Verlaufe der Entwicklung immer mehr durch. Lässt sich daraus schließen, dass das Kind ein selbstbestimmtes Wesen ist?

In einer gewissen Weise ja. Es ist aber auch ein von der Umwelt extrem abhängiges Wesen: Wenn ihm seine Umwelt die notwendigen Erfahrungen vorenthält, kann es sich nicht seiner Anlage entsprechend entwickeln. Sandra Scarr (1992) hat ein Erklärungsmodell vorgeschlagen, dessen Stärke darin besteht, dass es sich durch Studienresultate bestätigen lässt, im Erziehungs- und Schulalltag nachvollziehbar ist und sich unmittelbar auf die Art und Weise auswirkt, wie wir mit dem Kind umgehen.

Dieses Modell geht von folgender Annahme aus:

Das Kind ist aktiv: Es entwickelt sich aus sich heraus. Das Kind ist selektiv: Es sucht sich diejenigen Erfahrungen, die seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand entsprechen.Das Kind beeinflusst mit seiner Persönlichkeit und seinem Verhalten seine soziale Umgebung, was sich wiederum darauf auswirkt, wie die Umgebung mit ihm umgeht.

Das Kind ist also kein Gefäß, das sich mit beliebigem Inhalt beziehungsweise irgendwelchen Erfahrungen füllen lässt. Vielmehr sucht es sich aktiv jene Erfahrungen, die es braucht, um sich zu entwickeln.

Ein deutlicher Hinweis auf die aktiv bestimmte Entwicklung ist die Beobachtung, dass eine Begabung sich umso stärker durchzusetzen versucht, je ausgeprägter sie ist. Wolfgang Amadeus Mozart wuchs in einer Familie auf, die ihn auf das Höchste förderte. Dass sich seine Begabung voll entfalten konnte, ist daher nicht weiter erstaunlich. Der Pianist Arthur Rubinstein wurde in eine Familie hineingeboren, in der – nach seinen eigenen Worten – »niemand auch nur über die geringste musikalische Begabung verfügte« (Gardner 1985). Er sprach als Kleinkind nur wenig, sang dafür umso mehr und fühlte sich von Tönen und Klängen geradezu magisch angezogen. Bis zum vierten Lebensjahr hatte er sich das Klavierspiel mehr oder weniger selber beigebracht. Bei Rubinstein setzte sich die Begabung auch unter wenig vorteilhaften äußeren Umständen durch. Das Einzige, was er dazu brauchte, war ein Klavier. Wenn wir davon ausgehen, dass das Kind nicht beliebige Erfahrungen verinnerlicht, sondern überwiegend solche, die seinen Interessen und Neigungen entsprechen, sollte seine Individualität im Verlaufe der Entwicklung immer deutlicher in Erscheinung treten: Das Kind wird immer mehr es selbst. Das ist genau das, was wir in der Schule im großen Stil erleben. Verschiedene Studien zeigen überdies, dass sich diese Annäherung an sich selbst bis ins hohe Alter fortsetzt (Baltes et al. 2001).

Erste Erfahrungen mit der Welt der Bücher. [1]

Können sich Eltern und Lehrer also mehr oder weniger verabschieden und das Kind sich selbst überlassen? Haben sie überhaupt noch eine Aufgabe?

Eltern und Lehrer haben nur geringen Einfluss darauf, welche Erfahrungen ein Kind verinnerlicht. Die enorm wichtige Aufgabe von Eltern und Lehrern besteht vielmehr darin, dem Kind möglichst gute Rahmenbedingungen zu gewährleisten, damit es die Erfahrungen machen kann, die es für seine Entwicklung braucht, und es in seinen Lernbemühungen zu unterstützen. Sie geben beispielsweise dem Kind einen Text zum Lesen, der seiner Kompetenz möglichst gut entspricht und einen Leseerfolg verspricht. Ohne Erfahrungen kann sich das Kind nicht entwickeln und wird nie lesen lernen. Da nützt auch die beste Anlage nichts, so wie auch ein Kind ohne Nahrung nicht wachsen kann. Dem Kind diese Erfahrungen zu ermöglichen, das ist die Aufgabe von Eltern und Lehrkräften. Deshalb sind Bücher im Haushalt und lesende Eltern als Vorbilder auch so wichtig.

Dies kann aber nur gelingen, wenn Eltern und Lehrer den Entwicklungsstand des Kindes erfassen sowie aufgrund des kindlichen Lernverhaltens einschätzen können, welche Erfahrungen das Kind überhaupt machen möchte. Ist das so ohne Weiteres zu schaffen?

Das Wichtigste ist, dass Eltern und Lehrer darauf vertrauen, dass sich das Kind entwickeln will, und sie sich bewusst sind, dass sie für entwicklungsgerechte Erfahrungen sorgen müssen. Wenn es darum geht, den Erlebnisraum des Kindes zu gestalten, sind Kenntnisse über die kindliche Entwicklung hilfreich. Mein Eindruck ist, dass die angehenden Lehrer keine ausreichenden Kenntnisse über die kindliche Entwicklung vermittelt bekommen. Sie müssen sich autodidaktisch im pädagogischen Alltag ein Verständnis für das Verhalten und die Entwicklung des Kindes aneignen. Dabei gibt es nichts Spannenderes für einen Lehrer, als bei einem Kind mithilfe von Beobachtung herauszufinden, woran es wirklich interessiert ist. Wenn er dem Kind dann das richtige Erfahrungs­angebot machen kann und dieses vom Kind auch angenommen wird, ist dies für ihn eine sehr befriedigende Erfahrung. Dabei muss der Lehrer die Anforderungen, welche er an das Kind stellt, immer wieder neu an die Bedürfnisse des Kindes anpassen. Je älter das Kind wird, desto größer und komplexer wird der Erfahrungsraum, den es in Anspruch nehmen will (zu Fragen der Umsetzung in der Praxis siehe Teil III).

Wer hat einen stärkeren Einfluss auf das heranwachsende Kind? Die Eltern oder die Schule?

Die Einflussmöglichkeiten der Eltern werden mit zunehmendem Alter des Kindes immer kleiner und diejenigen der Schule immer größer.Sandra Scarr hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass sich die Bedeutung der Eltern und Lehrer im Verlaufe der Entwicklung ständig verändert. In den ersten Jahren werden die Erfahrungen, die ein Kind machen kann, in einem hohen Maß durch die Eltern bestimmt. Je älter das Kind wird, desto mehr Erfahrungen macht es außerhalb der Familie und orientiert sich immer mehr an anderen Bezugspersonen, insbesondere an anderen Kindern und deren Umgebung. Im Jugendalter schließlich bleiben den Eltern nur noch wenige Einflussmöglichkeiten auf ihre Kinder. Dann sind es die Schule und vor allem die Peergroups, also die gleichaltrigen Freunde, welche die Erfahrungen eines Jugendlichen bestimmen (Harris 2000). Dabei verhält sich der Jugend­liche nicht passiv. Er geht vielmehr selektiv vor und wählt seinen Stärken, Neigungen und Bedürfnissen entsprechend Peers aus und die Erfahrungen, die er machen will. Dabei kann es geschehen, dass er sich in seinen Interessen und Tätigkeiten kaum oder aber sehr weit von seinen Eltern entfernt.

Was das Kind von seinen Eltern erbt

Wie berechtigt ist denn die Hoffnung der Eltern, dass sie ihre eigenen­ Talente ihren Kindern vererben?

Um eine möglichst anschauliche Antwort zu geben, muss ich noch einmal auf die Körpergröße zurückkommen. Es ist eine Alltags­erfahrung, dass große Eltern eher große und kleine Eltern eher kleine Kinder haben (Formel zur Berechnung der Zielgröße siehe Glossar). Am ähnlichsten werden die Kinder ihren Eltern, wenn diese durchschnittlich groß sind (Frauen 165 Zentimeter; Männer: 178 Zentimeter). 50 Prozent der Söhne werden größer und 50 Prozent kleiner als ihr Vater (Abbildung 12, 13). Je stärker die Eltern klein- oder großwüchsig sind, desto mehr werden ihre Kinder von den elterlichen Vorgaben abweichen. Dieses Phänomen wird als »Regression to the Mean« bezeichnet (Rückentwicklung zur Mitte; siehe Glossar). Ist der Vater lediglich 165 Zentimeter groß, werden seine Söhne mit einer Wahrscheinlichkeit von 84 Prozent größer als er. Sie können bis zu 180 Zentimeter groß werden. Lediglich 16 Prozent werden gleich groß oder gar kleiner als der Vater. Ist der Vater 191 Zentimeter groß, gelten genau die umgekehrten Verhältnisse. 84 Prozent seiner Söhne werden als Erwachsene kleiner sein als er. Einige werden weniger als 180 Zentimeter groß. Lediglich 16 Prozent werden gleich groß wie der Vater oder noch etwas größer. Für eine möglichst genaue Wachstums­prognose muss selbstverständlich die Körpergröße von Mutter und Vater berücksichtigt werden. Die oben gemachte Aussage bleibt dabei erhalten.

12) Körpergröße der Söhne bei durchschnittlicher Körpergröße des Vaters. Schwarz: Verteilung der Körpergröße in der Bevölkerung. Grün: Verteilung der Körpergröße bei den Söhnen. Berechnung siehe Glossar »Regression to the mean«.

13) Körpergröße der Söhne in Abhängigkeit von der Körpergröße des Vaters. Schwarz: Verteilung der Körpergröße in der Bevölkerung. Blau: Körper­größe der Söhne, wenn der Vater 165 cm groß ist; nur 16% der Söhne sind gleich groß oder kleiner als der Vater. Rot: Körpergröße der Söhne, wenn der Vater 191 cm groß ist; nur 16% der Söhne sind gleich groß oder größer als der Vater.

Gilt das Gesetz der »Regression to the Mean« auch für andere Ent­wicklungsbereiche, insbesondere für die geistigen Fähigkei­ten?

Grundsätzlich ja. Je stärker eine Begabung bei den Eltern ausgebildet ist, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass sie sich im gleichen Maß auf ein Kind überträgt. In der Familie von Albert Einstein war es zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch extrem unwahrscheinlich, dass einer seiner beiden Söhne gleich bedeutende oder gar noch bedeutendere Erkenntnisse gehabt hätte als der Vater. Abbildung 14 zeigt, dass die Töchter sich um den Mittelwert herum verteilen, wenn die Mutter über einen durchschnittlichen IQ verfügt. Wenn ihre Mütter extreme Positionen in der Normalverteilung einnehmen, tendieren die Töchter wie bei der Körpergröße zur Mitte hin (Abbildung 15). So werden die Töchter, deren Mütter über einen IQ von 130 verfügen, in 16 Prozent intellektuell gleich oder noch begabter sein als die Mutter. In 84 Prozent werden sie aber intellektuell weniger leistungsfähig, einige sogar nur durchschnittlich sein. Das Gleiche gilt im umgekehrten Sinn, wenn die Mutter einen IQ von 70 aufweist. 84 Prozent der Töchter werden über einen höheren IQ als die Mütter verfügen. Lediglich 16 Prozent über einen gleich großen oder niedrigeren. Für eine genaue Annäherung muss selbstverständlich die intel­lektuelle Leistungsfähigkeit von Mutter und Vater berücksichtigt werden. Entsprechende Annahmen gelten jedoch auch, wenn der IQ von Mutter und Vater in die Überlegungen miteinbezogen wird. Eine weitere Grundvoraussetzung ist, dass nicht nur ein, sondern mehrere Gene zur Ausbildung eines Entwicklungsmerkmals beitragen, also eine sogenannte multifaktorielle Vererbung vorliegt.

14) IQ der Töchter bei durchschnittlichem IQ der Mutter. Schwarz: IQ-Vertei­lung in der Bevölkerung. Grün: IQ-Verteilung bei den Töchtern. Berechnung siehe Glossar »Regression to the mean«.

15) IQ der Töchter in Abhängigkeit vom IQ der Mutter. Schwarz: IQ-Ver­teilung in der Bevölkerung. Blau: IQ-Verteilung der Töchter, wenn der IQ der Mutter 70 beträgt; nur 16% der Töchter haben gleichen oder niedrigeren IQ als Mutter. Rot: IQ-Verteilung der Töchter, wenn der IQ der Mutter 130 beträgt; nur 16% der Töchter haben gleichen oder höheren IQ als Mutter.

Das Wichtigste für die Schule

Die Anlage schafft die Grundvoraussetzungen dafür, dass sich Fähigkeiten und Verhalten ausbilden können. Sie allein bringt aber weder Fähigkeiten noch Verhalten hervor. Das gelingt nur gemeinsam mit der Umwelt.Die organischen und funktionellen Strukturen sind bei jedem Kind anders angelegt und reifen unterschiedlich rasch heran. Fähigkeiten und Verhalten treten daher von Kind zu Kind in verschiedener Ausprägung und in einem anderen Alter auf.Die Anlage schafft die Voraussetzungen für die Entwicklung und legt das Entwicklungspotenzial eines Kindes fest. Die Umweltbedingungen bestimmen, wie viel von diesem Potenzial realisiert werden kann. Selbst unter idealen Umweltbedingungen kann ein Kind nur entwickeln, was in ihm angelegt ist. Die Umwelt trägt in zweierlei Hinsicht zur Entwicklung eines Kindes bei: Sie befriedigt seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse. Und sie ermöglicht dem Kind jene Erfahrungen, die es braucht, um sich Fähigkeiten und Wissen anzueignen. Wenn ihm die Umwelt die notwendigen Erfahrungen vorenthält, kann es sich nicht seiner Anlage entsprechend entwickeln.Das Kind entwickelt sich aus sich heraus: Das Kind ist aktiv: Seine Interessen und Neigungen richten sich nach seinem Entwicklungsstand. Das Kind ist selektiv: Es sucht bestimmte Erfahrungen. Es orientiert sich an seinen Interessen und Neigungen. Es beeinflusst mit seiner Persönlichkeit und seinem Verhalten seine soziale Umgebung, was sich wiederum darauf auswirkt, wie die Umgebung mit ihm umgeht.

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