Go West - Dania Mari Hugo - E-Book

Go West E-Book

Dania Mari Hugo

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Beschreibung

JJ saß jahrelang unschuldig im Gefängnis. Als er entlassen wird, will er nur noch ein ruhiges Leben führen. Doch es gibt noch offene Rechnungen zu begleichen. Maisie kann mit dem Computer zaubern und möchte das zu ihrem Beruf machen. Leider interessiert sich niemand für ihr Talent. Um ihren Traum dennoch zu verwirklichen, begeht sie einen dummen Fehler. Als die zwei aufeinandertreffen, öffnen sich für beide die Tore zum Himmel. Doch ihr Umfeld nimmt diese Verbindung gar nicht gut auf. Ihnen bleibt nur ein Weg: mit allen Mitteln um ihr Recht und ihre Liebe zu kämpfen.

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Buchbeschreibung:

JJ saß jahrelang unschuldig im Gefängnis. Als er entlassen wird, will er nur noch ein ruhiges Leben führen. Doch es gibt noch offene Rechnungen zu begleichen.

Maisie kann mit dem Computer zaubern und möchte das zu ihrem Beruf machen. Leider interessiert sich niemand für ihr Talent. Um ihren Traum dennoch zu verwirklichen, begeht sie einen dummen Fehler.

Als die zwei aufeinandertreffen, öffnen sich für beide die Tore zum Himmel. Doch ihr Umfeld nimmt diese Verbindung gar nicht gut auf. Ihnen bleibt nur ein Weg: mit allen Mitteln um ihr Recht und ihre Liebe zu kämpfen.

Über den Autor:

Dania Mari Hugo ist mit Stift und Papier zur Welt gekommen. Schon früh hat die Begeisterung fürs Schreiben sie eingenommen. Sie lebt allein mit ihren Figuren in einem Penthouse in Salina.

Außerdem von ihr erhältlich: Die Snappy-Kisses-Reihe (Bissige Küsse, Das gebrochene Pentagramm, Ein Privileg für Chenna) und Emerald Beach.

Triggerwarnung:

Folgende Themen kommen in diesem Buch in unterschiedlicher Intensität vor: Kriminalität, Gewalt, Mord, Verführung, Blut, Alkoholkonsum, sexuelle Handlungen, sexuelle Übergriffe, Liebeskummer, Trauma, Tod.

Ich hab mir dich nicht ausgesucht.

Du wähltest mich.

Du kamst zu mir, als ich es nicht erwartete.

Und ich wusste von Anfang an,

dass du der Richtige bist.

You're my husband.

For Y.K.

Playlist zum Roman

Die folgenden Songs haben mich beim Schreiben begleitet und besonders inspiriert:

Youth – Kihyun

Voyager – Kihyun

Is this love – Kihyun

Believer – Imagine Dragons

Natural – Imagine Dragons

Little Bit of Love – Tom Grennan

Missbehave – Monsta X

Wildfire – Monsta X

Shine Forever – Monsta X

Mercy – Monsta X

From Zero – Monsta X

, (COMMA) – Kihyun

Rain – Kihyun

Can't breathe – Kihyun & Joohoney

Where is this love – Kihyun

Love Virus – Kihyun & Seola

Bad Liar – Kihyun

Stardust – Kihyun

Bad – Christopher

The Moon of Seoul – Kim Gun Mo

Attracted Woman – Monsta X

Du findest die komplette Playlist auf Spotify unter Dania Mari Hugo ('Go West – Dania Mari Hugo')

Inhaltsverzeichnis

1. Entlassung

2. Camille

3. Maisie

4. Der Super-Plan

5. Cupwoods

6. Zachary

7. Im Club

8. Zwischenfall

9. Erste Hilfe

10. Ein Koffer voller Geld

11. Strandausflug

12. Spaghetti mit Paprikasoße

13. Böses Erwachen

14. Versöhnung

15. Wiedersehen

16. Deutliche Warnung

17. Finger weg von meiner Tochter

18. Verhaftet

19. Telefonat

20. Die Wahrheit

21. Moya

22. Motel

23. Unterwegs

24. Evanesce

25. Verfolgt

26. Moonlightsuite

27. Vincent Stone

28. Unterschlupf

29. Auf der Farm

30. Tortillas

31. Geständnis

32. Taola

33. Entführt

34. Rettung

35. Wiedersehen

36. Pläne

37. Heimfahrt

38. Deal

39. Liebeserklärung

40. Gartenarbeit

41. Presse

42. Entschuldigung

43. Schlagzeile

44. Neuanfang

1. Entlassung

Salina – Stadtteil Osmont Osmont-Gefängnis

»Du willst mich wirklich verlassen?« Kelly Link stand mit den Händen an den Hüften in der Tür. Ihre großen Augen blickten ihn betroffen an.

»Fängst du schon wieder damit an?« Jason Jakes, der meist nur JJ genannt wurde, blickte nicht auf. Er packte den säuberlich zusammengelegten Stapel T-Shirts neben seine Tasche auf das Bett. Dann wandte er sich zum Schrank und nahm die Hosen heraus.

»Das lasse ich aber nicht zu.«

Er drehte sich zu ihr und musterte sie kurz, wie sie dastand, in ihrer Wärterinnen-Uniform. »Und was willst du dagegen tun?«

Sie räusperte sich unsicher. Ihre vollen, braunen Locken fielen ihr ins Gesicht. »Ich will nicht, dass du gehst.« Jetzt war ihre Stimme ganz leise. Sie trat einen Schritt zurück und sah sich im Gang nach rechts und links um, bevor sie flüsterte. »JJ, bitte verlass mich nicht.«

Er seufzte und kam auf sie zu. Dicht vor ihr blieb er stehen. »Kelly«, murmelte er und strich ihr sanft eine Strähne aus der Stirn. »Du weißt genau, dass ich nicht bleiben kann.«

»Wieso nicht?«, hauchte sie so dicht vor seinem Gesicht, dass er ihren Atem spüren konnte. »Mein Apartment ist groß genug für uns zwei.«

Er blickte über ihre Schulter auch den Gang hinauf und hinab. Sie waren allein. Seine Hände legten sich auf ihre Oberarme und drückten sie sanft. »Sei vernünftig!«

»Hatten wir denn keine schöne Zeit?«

»Es hat nie ein 'wir' gegeben. Und jetzt ist es Zeit für mich, weiterzuziehen, verstehst du?«

»Nein«, knurrte sie. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, du liebst mich.«

Er keuchte leise. Dann schüttelte er mit einem mitleidigen Blick den Kopf. »Ich habe dir immer gesagt, dass ich dich nicht liebe, Kelly. Jetzt tu nicht so, als würde ich dir unrecht tun. Du weißt genau, was du damit bewirkst.«

Sie senkte den Blick. »Ja, tut mir leid. Ich dachte nur, du hättest vielleicht deine Meinung geändert.«

Er schenkte ihr ein Lächeln. »Du solltest dich lieber nach einem anständigen Kerl umsehen.«

»Du bist doch ein Anständiger. Sagtest du nicht, du hast es nicht getan? Hast du gelogen?«

Er lachte auf. Dann beugte er sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du weißt genau, was ich meine.«

Sie versuchte, ihn festzuhalten, und streckte sich nach oben, um ihn auf den Mund zu küssen, doch er wich geschickt aus.

»Das lassen wir lieber, hm?«

»Noch ein letztes Mal?«, fragte sie bettelnd.

Er schüttelte den Kopf. »Besser nicht.« Dann drehte er sich zurück zum Bett und begann, die Kleidung in die Tasche zu legen. Als er damit fertig war, stopfte er noch seinen Kulturbeutel und eine alte, sehr zerlesene Ausgabe von 'Von Mäusen und Menschen' dazu. Dann schloss er die Tasche und schulterte sie locker. »Okay. Ich wär dann so weit.«

Sie schnaufte genervt. »Ich wette mit dir, dass wir uns schneller wiedersehen, als du 'Amnestie' sagen kannst.«

»Ich habe meine Zeit abgesessen, Kelly. Ich bin ein freier Mann. Und als solcher werde ich in Zukunft um alle Probleme einen großen Bogen machen, glaube mir.«

Sie musterte JJ, der einen halben Kopf größer war als sie. Voller Bedauern betrachtete sie ein letztes Mal seine schwarzen Haare und die dunkelbraunen Augen, bewunderte seine geschwungenen Lippen, die sich jetzt zu einem zufriedenen Lächeln verzogen. Er ließ sie seine perfekten Zähne sehen und das versetzte ihr einen kleinen Stich. So viele seiner Mitinsassen waren genau das Gegenteil von ihm: alt, hässlich, mit schmierigen Bärten und hängenden Bäuchen. Die wenigsten gaben sich hier drin die Mühe, auf sich zu achten. Gut, ein paar wenige trainierten auch regelmäßig und hatten ähnlich pralle Sixpacks und breite Schultern. Aber kein einziger war dazu auch noch so unwiderstehlich attraktiv und charismatisch.

Es war tatsächlich eine Schande, dass sie ihn gehen lassen musste. Sie würde noch eine Weile daran zu knabbern haben, denn sie hatte ihr Herz an Jason Jakes verloren.

Kelly trat beiseite, um ihn aus der Zelle treten zu lassen, und dann ging sie dicht hinter ihm den Gang entlang. Sie atmete den verführerischen Duft seines Aftershaves ein. Noch etwas, was sie schmerzlich vermissen würde.

Natürlich war es keinesfalls angebracht, dass eine Wärterin sich in einen Häftling verliebte, aber es wusste ja niemand davon und JJ war all die Jahre sehr verschwiegen gewesen. Sie hatte das wirklich zu schätzen gewusst und sie hatte ihm vertraut. Jetzt kam ihr alles so unwirklich vor. Wie sollte sie ihren Alltag ohne das Strahlen seiner Augen, das er ihr jeden Morgen schenkte, überstehen?

JJ stieg die Stufen der Treppe ins Erdgeschoss in aller Seelenruhe hinab und sie folgte ihm stumm. An der ersten Tür kündigte sie sich an und das Gitter wurde von einem Kollegen auf der anderen Seite geöffnet. Um zum Empfang zu gelangen, mussten sie das insgesamt viermal machen. Schließlich ließ er sich seine Entlassungspapiere und seine Wertsachen aushändigen.

»Holt dich jemand ab?«, fragte Kelly wie beiläufig.

Er warf ihr einen Seitenblick zu, als er die paar Geldscheine zusammenfaltete und in die Hosentasche steckte. »Ich komm schon klar.« Er hielt einen Schlüsselbund hoch. »Ich habe ein eigenes Auto. Ich brauche niemanden.«

Dann griff seine Linke zu dem Kugelschreiber, der ihm entgegengestreckt wurde und er unterschrieb auf der Linie ganz unten auf dem Formular. Er schob es zurück zur Entlassungsbeamtin. Sie nahm es entgegen und wandte sich ab. Ihr Job war erledigt.

Kelly blieb noch einen Moment stehen und sah ihn an. Es fiel ihr sichtlich schwer, Abschied zu nehmen. JJ griff sich den Schlüssel, das Päckchen Kaugummi, zwei Ringe und eine einfache Halskette, die noch auf dem Tresen lagen. Er steckte sich einen Ring an den kleinen Finger der rechten Hand, den anderen an den Mittelfinger der anderen Hand. Die Halskette hatte er mit einer schnellen, geschickten Bewegung angelegt, das Kaugummi warf er im hohen Bogen durch den Raum und es landete zielsicher im Mülleimer.

Kelly beugte sich vor und griff sich das zerfledderte Buch, das aus der halb offenen Tasche herauslugte. Sie blätterte durch die vergilbten Seiten und dann drückte sie es sich an ihre Brust. »Kann ich das behalten?«

JJ blickte ein wenig wehmütig darauf. Dann zuckte er mit den Schultern. »Wenn du unbedingt willst. Aber lies es auch!«

Sie seufzte. »Werde ich.«

Dann warf er den Schlüssel in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf. »Ich wünsche dir ein schönes Leben, Kelly.«

Damit drehte er sich um und trat hinaus in die warme Nachmittagsluft. Die Wärter ließen ihn hinaus und wünschten ihm noch alles Gute. JJ drehte sich nicht um. Er wusste, dass Kelly ihm hinterherblickte, doch er wollte das nicht sehen. Er wollte einfach gar nicht mehr zurückblicken auf dieses Gebäude, auf dieses Leben, diese Zeit.

Als er auf die Straße trat, atmete er einmal tief durch. Die Luft hier draußen war klarer und reiner als da drinnen im Hof. Er musste jetzt nie mehr mit Menschen über den Platz laufen, die kein ehrliches Interesse an ihm hatten oder vielleicht sogar darüber nachdachten, ihm Schaden zuzufügen. Er musste nie mehr essen, was man ihm vorsetzte, nie mehr mit zwanzig Männern in einem Raum duschen und nie mehr in der Nacht gegen das Gefühl ankämpfen, dass die Wände sich zusammenschoben und ihn zerdrückten.

Mit schnellen Schritten überquerte er die Straße. Auf einem sandigen Parkplatz stand bereits sein Chevrolet Camaro, den eine private Mietgarage bis heute in Verwahrung genommen hatte. Sein Herz schlug ein klein wenig schneller, als er sein Auto wiedererkannte. Er war tatsächlich frei. Und jetzt würde er losfahren und einen Ort suchen, an dem es sich leben ließ. Ruhig und friedlich.

2. Camille

Salina – Stadtteil Osmont Das Haus der Wagners

»Ich habe seit Stunden versucht, dich anzurufen. Wo bist du gewesen?« Camille stand in der Küche und schenkte sich mit einer aggressiven Geste Rotwein in ein Glas, während ihr Ehemann sich die Jacke auszog und über die Stuhllehne warf. Howard war schon beinahe fünfzig, aber sein Haar war noch voll und dunkel, bis auf ein paar schmale graue Streifen an den Seiten. Er war groß und breitschultrig.

Müde sah er seine Frau an, blieb aber dennoch gelassen: »Ich war in einer Besprechung. Wie oft habe ich dir schon gesagt, ich rufe dich zurück, wenn ich fertig bin?«

Sie stellte die Flasche mit einem kräftigen Knall auf den Tresen ab. Ihr fiel eine Haarsträhne in die Stirn und sie strich sie sich mit der Hand wieder aus dem Gesicht. »Hast du aber nicht. Es ist Freitag Abend und jetzt ist es«, mit einem Blick auf die Uhr unterstrich sie ihre Anklage, »schon nach zehn.« Die Mittvierzigerin nahm einen Schluck aus dem Glas. Ihre grünen Augen funkelten ihn dabei böse an und ihre sonst so vollen Lippen verdünnten sich zu einem Strich.

Er seufzte, stieg aus den Schuhen und ließ sich auf den Barhocker am Küchentresen fallen. »Ich wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Was gibt es zu essen?«

»Das wollte ich von dir wissen.«

»Du hast noch nichts vorbereitet?«

Sie machte eine einladende Handbewegung über die Arbeitsfläche. »Siehst du hier irgendwo etwas Essbares?«

Er zückte sein Handy. »Ich bestelle etwas.«

»Das ist ja ganz toll. Ist das alles?«

»Was willst du noch?« Er blickte sie geduldig an. »Ich kümmere mich um das Problem. Willst du lieber Pizza oder Asiatisch?«

Sie stellte das Weinglas unsanft auf dem Esstisch ab. »Es geht hier nicht um das Essen.«

»Und worum geht es dann?«

»Howard! – Erzähl mir doch keinen Mist. Du hast doch eine Affäre.«

»Fang nicht schon wieder damit an.«

»Ich will keine Ausreden mehr hören. Wer ist sie? Deine Assistentin?«

Er lachte auf. »Mach dich nicht lächerlich.«

»Liebst du mich noch?«

Er schloss die Augen und seufzte. »Ich finde wirklich, wir sollten–«

»Antworte mir!«, sie schrie es förmlich heraus.

»Jetzt beruhige dich bitte, Camille. Ich kann nicht mit dir reden, wenn du so bist.« Er stand auf und kam um den Tresen herum auf sie zu.

»Wie bin ich denn?« Sie wich ihm aus, als er sich ihr näherte.

»Ein wenig hysterisch?«, fragte er beinahe ein bisschen amüsiert.

Sie hob die Arme, als er noch näher zu kommen versuchte. »Fass mich nicht an!«

Abwehrend hob er die Hände. »Du hast gewonnen. Wie immer. Ich gebe auf. Ich weiß wirklich nicht, was du von mir erwartest.« Dann wandte er sich kopfschüttelnd ab. »Also, ich muss auch nichts essen. Wir hatten schon eine Kleinigkeit in der Sitzung. Ich geh einfach ins Bett. Ich muss morgen früh raus. Gehst du noch mit dem Hund?« Er drehte sich um und verließ die Küche, ohne auf eine Antwort zu warten.

Camille sah ihm wie paralysiert nach. Und dann packte die Wut sie mit einer solchen Wucht, dass sie nach dem Erstbesten griff, was ihr in die Finger kam. Das Weinglas. Und sie schleuderte es gegen den Küchenschrank, wo es klirrend zerbrach. Der Wein lief am Schrank hinab und tropfte auf den Boden, wo er eine breite mit Scherben übersäte Lache bildete. Sie schloss die Augen. Diese Unbeherrschtheit machte sie zusätzlich so wütend, dass sie laut aufschrie.

Penny, ihre braun-schimmelfarbene Jagdhündin, zuckte erschrocken zusammen und sah zu, dass sie das Weite suchte. Camille keuchte noch immer mit unbändiger Wut im Bauch und griff nach dem Autoschlüssel. Ohne weiter darüber nachzudenken, verließ sie das Haus und sprang in ihren Wagen. Sie startete den Motor und raste ohne Rücksicht rückwärts von der Auffahrt. Hier konnte sie nicht länger bleiben. Auf keinen Fall. Sie musste raus und ihren Kopf abkühlen. Und sie brauchte dringend etwas zu trinken. Sie wusste auch schon, wohin sie fahren würde. Es war ein abgelegener Ort, aber keine heruntergekommene Gegend. In diesem Teil von Osmont musste man nicht an jeder Ecke um sein Leben bangen.

Der 'No Exit' Club war um diese Zeit gut besucht und sie fiel als Frau alleine nicht wirklich auf. Dieses war der Ort ihrer Wahl, wenn sie einmal alles vergessen wollte. Das war schon öfter vorgekommen. Meist war der Stress im Job daran schuld. Aber sie war auch schon wegen Problemen mit ihrer Familie hier gewesen. Als zweifache Mutter mit einem Mann in zweiter Ehe war es nicht immer leicht.

Sie stellte das Auto vor dem Club auf dem Parkplatz ab und ging auf das Gebäude zu. Über dem Eingang war eine Leuchtreklame mit einer Windmühle angebracht, von der das Licht einer der Mühlenflügel ausgefallen war, ein weiterer flackerte unregelmäßig. Doch Camille achtete nicht darauf. Sie öffnete die Tür und trat ein. Ein Platz direkt an der Bar war ihr gerade recht. Sie wollte nicht, dass sich noch jemand zu ihr an den Tisch setzte.

Es war verqualmt und die Musik war laut. Und wie sie erwartet hatte, war es voll. Die Kellnerinnen hatten alle Hände voll zu tun und es dauerte eine Weile, bis der Barkeeper sich zu ihr beugte. »Hey, schöne Frau. Was darf's sein?«

»Tequila, bitte.«

»Mit Salz und Zitrone?«

»Selbstverständlich. Und lassen Sie die Flasche gleich hier stehen.« Camille fuhr sich durch ihre dicken Locken und versuchte, sie mit einem Haargummi zu bändigen.

Der Barkeeper nickte und bedachte sie mit einem leicht mitleidigen Blick. Er versorgte sie umgehend und Camille griff sich eine Zitronenscheibe. Sie rieb sie sich auf den Handrücken und streute Salz darüber. Den ersten Shot hatte der Mann hinterm Tresen bereits ins Glas gefüllt, so dass sie nur noch zugreifen musste. Sie leckte das Salz ab, leerte das Glas und biss dann in die Zitrone. Sofort griff sie nach der Flasche und füllte sich erneut ein.

Nach dem vierten Glas ließ sich jemand neben ihr auf dem Barhocker nieder. Er stellte sein halbvolles Bierglas vor sich auf den Tresen, dann blickte er sie von der Seite an.

Sie erwiderte seinen Blick nur kurz. Ihr war klar, dass er sie beobachtet haben und von seinem Tisch extra zu ihr gekommen sein musste. Sie machte sich auf einen blöden Spruch gefasst. Und dann kam der auch schon: »Kennen wir uns nicht von irgendwoher?«

Sie schloss genervt die Augen und atmete tief durch. Dann setzte sie ein weiteres Glas an und kippte es weg. »Nein«, gab sie knapp zurück, ohne ihn anzusehen.

»Doch, bestimmt. So ein hübsches Gesicht vergisst man doch nicht.« Er lallte schon ein wenig und Camille wandte sich von ihm ab. Während sie ein weiteres Mal ihr Glas füllte, nahm der Mann sein eigenes Glas wieder in die Hand und trank einen Schluck. Er hob es an und hielt es ihr entgegen. Dann fragte er dümmlich: »Komm schon, Baby, wollen wir nicht zusammen trinken?«

Sie blickte sich nach dem Barkeeper um, doch der war gerade nach hinten gegangen, um Nachschub zu besorgen. Es gab noch einen zweiten Barkeeper, doch der war am anderen Ende der Bar beschäftigt. Also musste sie alleine mit dem aufdringlichen Gast fertig werden.

»Ich will einfach nur hier sitzen und in Ruhe etwas trinken, bitte.«

»Ja, das will ich auch. Ich verstehe dich so gut.«

Sie atmete impulsiv aus. Das war zu viel.

»Lass mich in Ruhe!«, fauchte sie ihn an und blickte ihm dabei fest in die Augen.

»Wer wird denn gleich so aus der Haut fahren?«, gab der Mann perplex zurück. Doch seine Verwunderung hielt nicht lange an. Er rückte noch ein Stück näher.

»Hey, Freundchen!« Der zweite Barkeeper war herangekommen und beugte sich über den Tresen. »Mach'n Abgang! Die Lady will nichts von dir, klar?«

Der Aufdringliche blickte beleidigt von Camille zum Barkeeper und schnaufte dann leise, bevor er sein Glas nahm und von dannen zog.

»Danke.« Camille schenkte dem Barkeeper ein Lächeln. Er musste neu sein. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Er war sehr attraktiv und sie spürte das dringende Bedürfnis, sich erkenntlich zu zeigen. »Darf ich dir einen ausgeben?« Sie füllte ein weiteres Shotglas und schob es ihm rüber. »Darfst du im Dienst trinken?«

Er wandte sich zu ihr um und schenkte ihr ein unvergleichliches Lächeln. »Sicher. Wieso nicht?«

Sie vollführten gleichzeitig das Ritual mit Salz und Zitrone und schlugen die Gläser aneinander, bevor sie sie ansetzten.

»Noch einen?«, fragte sie.

Er schob sein leeres Glas zu ihr zurück. »Auf einem Bein kann man bekanntlich nicht stehen.«

Sie nickte. Und sie stießen erneut an.

Eine gute Stunde später waren die beiden schon so in ein Gespräch vertieft, dass Camille gar nicht mehr bemerkte, dass sie aufgehört hatte, zu trinken. Zwar ließ er sie immer wieder für ein paar Minuten alleine sitzen, wenn er einen anderen Gast bedienen musste, aber er kam anschließend immer wieder zu ihr zurück. Er hatte eine sehr amüsante Art, Geschichten zu erzählen und sie lachte ununterbrochen über seine Anekdoten. Ihre Hand legte sich dabei wie zufällig auf seinen Arm. »Du bist lustig, ... Wie heißt du eigentlich?«

»Nenn mich JJ.«

»Okay, JJ. Ich bin Camille.«

»Freut mich, Camille.«

»Bist du neu hier?«, fragte sie und sah ihm tief in seine dunklen Augen.

Er dachte einen Moment über die Antwort nach. Dann begann er, wieder den Tresen zu putzen. »Ja, sozusagen, aber man könnte es vielleicht am ehesten als 'auf der Durchreise' bezeichnen«, erklärte er dann, denn das schien ihm der Wahrheit am nächsten zu kommen.

»Okay, und wohin soll die Reise noch gehen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich noch nicht entschieden. Was ist mit dir?«

Sie winkte ab und griff mit der Hand in die Schale Erdnüsse, die er vor sie hingestellt hatte. »Ich hatte nur einen schlechten Tag. Nichts Besonderes.«

»Ärger im Job oder zuhause?«

Sie blickte ihn zögerlich an. Dann antwortete sie ausweichend: »Ja, das könnte man so sagen.«

Er nickte verstehend und fragte nicht weiter nach. Es war ihm auch eigentlich egal. Er genoss nur den Abend so sehr, dass er sich vorsehen musste, nicht zu persönlich zu werden. Sie hatte offensichtlich etwas zu verbergen. Da stand er ihr in nichts nach. Er war nicht besonders erpicht darauf, dass sie mehr über ihn erfuhr, als nötig, aber es machte ihm Spaß, mit ihr zu flirten. Jeder Moment seines neuen Lebens in Freiheit kam ihm wie ein Geschenk vor und er genoss einfach jede Sekunde in vollen Zügen. Was für andere langweilige Selbstverständlichkeit war, konnte er noch immer nicht richtig glauben. Mit diesen Menschen hier zu sein und schlicht nur mit ihnen zu reden war einfach herrlich.

»Ich verstehe schon«, grinste er.

»Tust du das?« Sie pickte die Erdnüsse einzeln auf und steckte sie sich nach und nach in den Mund. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen. Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund. Sie betrachtete ihn noch einmal von oben bis unten. Er war ein Sahneschnittchen. Und sie war betrunken. Das war eine gefährliche Mischung. Es gab also für sie nur zwei Optionen: entweder sie verließ auf der Stelle die Bar und fuhr wieder nach Hause, wo sie als Erstes ihre besudelte Küche putzen musste oder sie vergaß die Realität und gab sich einer Illusion hin, die ihr so schnell nicht mehr begegnen würde.

Morgen früh würde sie das sicher bereuen, doch ihr Kopf wollte davon jetzt und hier nichts wissen. Sie konnte morgen noch immer alles auf den Alkohol schieben. Und wer sollte ihr schon Vorhaltungen machen, außer sie selbst? Es musste ja niemand erfahren. Und JJ war auf der Durchreise, wie er sagte. Was sollte schon passieren?

»Worüber denkst du gerade nach?«, fragte er, als hätte er ihre Gedanken lesen können.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die salzigen Lippen. »Ich dachte gerade, ich würde gerne diesen Mund küssen.«

Er zuckte zusammen. »Was denn? Diesen Mund?« Er zeigte auf sich selbst.

Sie blieb cool. »Ja, genau diesen.«

»Es tut mir leid, aber der steht nicht zur Verfügung, liebste Camille«, erklärte er mit einem frechen Zwinkern.

Sie musterte ihn ruhig von oben bis unten. Dann hob sie eine Augenbraue. »Das ist aber sehr bedauerlich. Wieso nicht?«

JJ dachte sich schnell eine plausible Erklärung aus: »Ganz einfach: Techtelmechtel mit den Gästen werden hier nicht gerne gesehen.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Blöde Ausrede.«

Er musste lachen. »Das ist doch keine Überraschung, oder?«

»Liegt es nicht vielmehr daran, dass du mich zu alt findest?«

Er blickte sie einen Augenblick gelassen an. »Dein Alter spielt hier keine Rolle.«

Sie nahm sich noch ein paar Nüsse. »Also ist es dein Alter?«

Er schüttelte schnaufend den Kopf. »Wie darf ich das denn verstehen?«

»Nun, wenn wir hier nicht in einer Kneipe wären, würde ich daran zweifeln, ob du überhaupt schon volljährig bist.«

Er lachte laut auf. »Ist das deine Art, Komplimente zu machen?«

»Du findest, es ist ein Kompliment?«

»Es hat mich schon lange keiner mehr für unter zwanzig gehalten.«

»Okay, vielleicht war das etwas übertrieben.« Sie griff sich wieder ihr Glas.

»Nein, nein. Es ist erfrischend. Red ruhig weiter.«

»Du willst noch mehr Komplimente hören?«

»Ich bin geradezu ausgehungert danach.«

Sie lächelte. Sein Blick bescherte ihr eine Gänsehaut. Es machte ihr Spaß, so dick aufzutragen. Es fühlte sich so gut an, einmal nicht darüber nachdenken zu müssen, was die Konsequenzen waren. Und es fühlte sich so perfekt an, die volle Aufmerksamkeit von JJ zu ernten. Etwas, das Howard ihr in letzter Zeit gar nicht mehr schenkte. Howard. Sie hatte gar nicht vor, ihn zu betrügen. Sie sollte wirklich nach Hause fahren. Es war spät.

»Du hast schöne Augen.« Ihr Mund sagte es von ganz allein.

Sein Lächeln haute sie beinahe um. Konnte sie wirklich noch aufhören, bevor es zu spät war? Dann legte sich seine Hand auf ihre und hinderte sie daran, das Glas an ihre Lippen zu führen. »Ich finde, es reicht für heute. Meinst du nicht auch?« Er sagte es so leise, dass sie es beinahe nicht verstand, da die Musik so laut war. Sie wollte nein sagen, doch ihr Blick wanderte zwischen seinen dunkelbraunen Augen hin und her.

Sie ließ das Glas los und zog die Hand zurück. Er hatte ja recht. Sie hatte genug. Aber sie fühlte sich durch seine Zurückweisung enttäuscht. Dennoch nickte sie langsam. Sie zog einen Schein aus der Hosentasche, den sie dann auf den Tresen warf, während sie vom Barhocker rutschte.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragte JJ, noch immer auf den Tresen gelehnt.

»Das wird nicht nötig sein.«

»Ich kann dich aber so nicht Autofahren lassen, das weißt du hoffentlich?«

Sie blickte ihn herausfordernd an. »Was? Willst du mich etwa persönlich davon abhalten?«

»Oh ja. Und ob.« Er stieß sich vom Tresen ab und kam um die Bar herum.

Camille war schon auf dem halben Weg zur Tür, als JJ sie aufhielt. »Moment!«

Sie sah ihn an.

»Gib mir deinen Autoschlüssel!«

»Nein«, weigerte sie sich und senkte den Blick auf ihre Jacke, die sie gleichzeitig zwischen den Händen knetete.

JJs Hand griff nach der Jacke. »Wir haben eine Null-Toleranz-Regel. Das solltest du eigentlich wissen, wenn du öfter hier bist.«

Natürlich wusste sie das. Es hatte bisher aber noch keine Konsequenzen für sie gehabt. Sie hatte allerdings auch noch nie so offensichtlich so viel getrunken. »Gib mir meine Jacke zurück«, verlangte sie, doch JJ hielt sie außerhalb ihrer Reichweite.

»Ich darf den Schlüssel nicht selbst herausnehmen. Also, gibst du ihn mir?«

Sie presste die Lippen zusammen. Dann erschien der Besitzer des Clubs, Nick Canelly, und blieb neben ihnen stehen.

»Gibt es ein Problem?«

»Nein«, antwortete Camille.

»Sie ist sturzbetrunken und will nach Hause fahren«, erklärte JJ.

»Bin ich nicht«, widersprach sie, doch sie bemerkte selbst, dass ihre Stimme dabei schlingerte.

Nick stemmte die Hände in die Hüften. »Ich rufe dir ein Taxi. JJ wird draußen mit dir warten, okay?«

Sie starrte die beiden einen Augenblick an. Offensichtlich hatte sie keine Wahl. Dann murrte sie stöhnend. »Na, schön. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«

Nick klopfte ihr zufrieden auf die Schulter und wandte sich ab. JJ gab ihr ihre Jacke zurück und schob sie dann zur Tür.

Die kühle Nachtluft schlug ihnen entgegen. Sie legte sich ihre Jacke über die Schultern und folgte ihm über den Parkplatz zur Straße. An der Einfahrt blieben sie stehen. Sie sah sich um.

»Gehst du mit mir einen Burger essen?«

Er zeigte auf das Schnellrestaurant neben dem Club. »Die haben schon zu.«

»Eine Schande. Ich hätte echt Lust auf Pommes.«

Er musste schmunzeln und beobachtete sie, wie sie unruhig von einem Bein aufs andere schaukelte. »Ist dir kalt?«

»Ja, klar. Dir nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist doch eine laue Nacht.«

Sie schnalzte mit der Zunge. Dann trat sie auf ihn zu. »Ist Aufwärmen im Service mit drin?«

JJ sah, wie sehr sie zitterte, und nahm sie in den Arm. Er rubbelte ihr über den Rücken und drückte seine Wange gegen ihren Kopf. Der Duft ihrer Haare stieg ihm in die Nase und ließ ihn leicht erschauern. Er hatte vergessen, dass Frauen so gut riechen konnten. Und was das bewirkte.

Ihre Arme schlangen sich um seinen Körper und sie hielt sich an ihm fest. Ihre Nähe umhüllte ihn sanft. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann begannen seine Sinne, sich selbstständig zu machen. Er spürte ihren Atem an seinem Hals, fühlte, wie sich ihre Handflächen gegen seinen Rücken pressten und ihre Brüste sich ihm entgegendrängten.

Sie war betrunken, doch ihm war klar, worauf sie es anlegte. Er musste stark bleiben. Er kannte diese Frau doch gar nicht. Er hatte nie auf diese Art mit jemandem angebändelt. Er mochte das im Grunde gar nicht. Dennoch machte sein Körper, was er wollte. Und es war wirklich schwer, sich dagegen zu wehren.

Er hatte mit Kelly geflirtet. Und sie hatten hin und wieder herumgemacht, ja. Aber sie hatten keine Beziehung geführt. Es hatte keinen Sex gegeben. Das war im Knast natürlich nicht unmöglich gewesen. Sie hatte ihn deswegen auch immer wieder bedrängt, doch er hatte ihr niemals nachgegeben. So war er wirklich ausgehungert. Seine Knie wurden weich und so sehr er sich auch bemühte, den Gedanken an einen One-Night-Stand von sich zu schieben, es war einfach nicht drin.

Mit letzter Kraft löste er sich aus ihrer Umarmung. Das Taxi kam sicher gleich. Wenn sie erst fort war, konnte er sich vielleicht eine volle Ladung kaltes Wasser ins Gesicht kippen. Besser noch: Er würde seinen Kopf in die Schale mit den Eiswürfeln tauchen. An diesem Gedanken geklammert, nahm er ihre Oberarme und schob sie leicht von sich. Er blickte ihr in die Augen. Doch das war ein Fehler. Sie beugte sich augenblicklich vor und küsste ihn.

JJ durchfuhr es wie ein Blitz. Der hart erkämpfte Widerstand erlosch augenblicklich wieder. »Camille«, murmelte er zwischen zwei Küssen, hatte aber eigentlich schon keine Kraft mehr, noch dagegen anzugehen.

»Sag nichts«, erwiderte sie atemlos. Ihre Hand wanderte in seinen Schritt.

Er griff danach und stoppte sie. Sie sahen sich an. Dann murmelte er nur noch: »Kommmit!«

Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Motel. Hier hatte er sich ein Zimmer genommen, bis er eine adäquate Wohnung gefunden hatte. Ohne weitere Erklärung führte er sie dorthin und brachte sie in seinen Raum. Sie stellte keine Fragen. Kaum fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss, rutschte Camille auch schon die Jacke von den Schultern und sie warf sich ihm entgegen. Sie küssten sich wild und gierig. Er riss ihr das Shirt über den Kopf und warf sie dann aufs Bett.

Ihre intensive Begegnung dauerte keine fünf Minuten. Er ließ sich neben sie fallen. Sie atmeten beide schwer.

»Ich hoffe, du bist zufrieden.« In seiner Stimme klang ein Hauch Ironie mit.

Sie kam langsam hoch. »Ich habe bekommen, was ich wollte. Danke vielmals.«

Er sah zu, wie sie ihre Sachen vom Boden aufhob.

Dann zog er sich seine Hose wieder hoch und griff nach seinem Shirt. »Ich bringe dich raus.«

»Nein.« Sie begann, sich wieder anzuziehen, und schüttelte ihre lockige Mähne aus. Dann blickte sie aus dem Fenster. »Mein Taxi ist gerade gekommen. Ich komme klar.«

Sie verließ das Motelzimmer und JJ sah ihr vom Fenster aus nach, wie sie den Parkplatz vor dem Club überquerte und in das Taxi stieg. Er blieb noch stehen, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen waren. Dann seufzte er und ließ die Vorhänge zurückgleiten.

Ein bitterer Nachgeschmack machte sich auf seiner Zunge breit. Das war eine einmalige Sache, versprach er sich. Nach sieben Jahren war das doch verständlich, oder? Als er jetzt das Zimmer verließ, um in den Club an seinen Platz hinter der Bar zurückzukehren, spürte er bereits dumpfe Reue in sich aufsteigen. Das hatte hoffentlich keine weiteren Konsequenzen. Nur ein Ausrutscher. Die nächste Frau, die er küssen würde, war die Frau seiner Träume. Mit weniger würde er sich nicht zufriedengeben. Fest versprochen.

3. Maisie

Salina – Stadtteil Osmont Pizzeria

Maisie Wagner balancierte drei XXL-Pizzakartons in der einen Hand und drei Flaschen Fassbrause in der anderen quer durch den vollbesetzten Pizzaladen. Am Tisch angekommen, wurden ihr die Sachen sofort von ihren Freunden Arnie und Ruby aus den Händen gerissen.

Maisie war klein mit wachen, grünen Augen, einer geraden Nase und unzähligen Sommersprossen. Ein eng anliegendes Baseballshirt und die Röhrenjeans betonten ihre mädchenhaften Rundungen. Ansonsten war sie eher der burschikose Typ. Ihre kinnlangen Haare waren mittelblond und glatt.

Ruby und Arnie kannte sie seit der späten Schulzeit. Ruby Filmore war deutlich weiblicher als Maisie. Sie hatte sehr feine Züge und sie gehörte zu den Mädchen, die sich hauptsächlich mit Make-up und Mode beschäftigten. Ein Außenstehender hätte sicher nicht angenommen, dass diese beiden Mädchen Freundinnen waren, doch seit die zwei im EDV-Kurs in der zehnten Klasse nebeneinandersaßen, waren sie unzertrennlich gewesen. Ruby war der dominante Part. Sie bestimmte praktisch immer, wo es langging. Maisie hatte oft versucht, sich dagegen aufzulehnen und ihre eigenen Bedürfnisse durchzusetzen, doch gab sie am Ende immer auf, da es ihr schwerfiel, mit jemandem in Unfrieden zu leben. Auch nach dem Abschluss hatten die zwei den Kontakt aufrecht gehalten. Schon immer trug Ruby eisgrüne Strähnen in ihren langen, dunkelbraunen Haaren und war dadurch ein sehr auffälliger Typ.

Arnie Curver war ein kleiner Aufschneider und ein Weichei. Er stammte, ebenso wie Ruby auch, aus reichem Hause und stand schon immer unter Rubys Fuchtel. Er hatte eine große Klappe, zog sich aber auch schnell wieder zurück, wenn es brenzlig wurde. Er war ein Musterschüler gewesen und von jeher Klassenbester. Natürlich war er danach zur Universität gegangen, wo er nun Psychologie studierte. Auch Ruby ging zur Uni, doch hatte sie innerhalb der ersten Semester schon dreimal das Hauptfach gewechselt, weil sie immer wieder feststellte, dass es doch nicht das Richtige war. Maisie war jedoch überzeugt, dass es eher daran lag, dass sie gar keine Lust aufs Lernen hatte, aber das sprach sie lieber nicht laut aus.

Arnie klappte die Pizzakartons so auf, dass die Pizzen für alle offen dalagen und jeder sich von allem nehmen konnte.

»Ich weiß wirklich nicht, wieso ich das machen musste, während ihr hier nur chillt«, keuchte Maisie erschöpft. »Wir hätten uns genauso gut bedienen lassen können, wie alle anderen auch.«

»Du hast die Wette verloren, schon vergessen?«, grinste Ruby sie schadenfroh an.

»Das behauptest du«, erwiderte Maisie. »Ich bin nie wirklich auf diese blöde Wette eingegangen.«

»Ach, stell dich nicht so an«, winkte Ruby ab und griff sich ein Stück Käsepizza, »wieso ist da so wenig Peperoni drauf?«

Maisie ließ sich in den Sitz neben Ruby fallen. »Da gehst du aber selbst hin und beschwerst dich. Ich bin geschafft. Gott sei Dank arbeite ich bei Cupwoods und nicht in so einem Irrenhaus wie hier.« Sie öffnete ihre Flasche und nahm einen Schluck. Dann blickte sie über die vollen Tische um sie herum. Für einen Sonntagabend war es wirklich ungewöhnlich voll.

»Ich werde mir ein neues Auto kaufen«, verkündete Arnie stolz und zeigte ihnen ein Bild auf seinem Handy.

»Was soll das sein?« Ruby verzog skeptisch das Gesicht.

»Das ist ein 5er BMW. Mit Sonnendach.«

»Was kostet so ein Wagen?«, fragte Maisie, die auch nicht wirklich begeistert war.

Arnie betrachte das Schmuckstück noch einmal selbst und zuckte mit den Achseln. »Fünfzig Mille?«

Ruby winkte ab. »Du hast doch gar nicht so viel Kohle.«

»Klar hab ich. Ich kann immer an das Konto meiner Mutter.«

»Wer's glaubt.« Sie warf ihm einen abschätzigen Blick zu, dann drehte sie ihren Kopf zu Maisie: »Wann gehen wir shoppen?«

Maisie beugte sich vor und zog ein Stück Gemüsepizza zu sich heran. »Schon wieder?«

Rubys Blick ging kritisch an Maisie rauf und runter. »So kannst du nicht rumlaufen, wenn wir am Freitag in den Club gehen. Ich kauf dir ein Kleid.«

Maisie biss in ihre Pizza und rümpfte die Nase. »Ein Kleid?«

»Ja, natürlich. Du bist ein Mädchen. Kleide dich entsprechend.«

Maisie blickte hilfesuchend zu Arnie.

Der zuckte nur mit den Schultern. »Geht mich nichts an.« Er starrte noch immer auf sein Handydisplay und bewunderte weiter sein Traumauto. Natürlich musste er das sagen. Ruby widersprach man nicht. Arnie tat das schon gar nicht.

»Ich muss die ganze Woche arbeiten.«

»Blöde Ausrede.«

»Ich hab Bock auf Musik«, murmelte Maisie und erhob sich schnell, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen.

»Aber nicht wieder Elvis, klar?«, warnte Ruby.

»Wieso nicht?«, rief Maisie mit einem Lachen über die Schulter zurück. Als sie wieder nach vorne blickte, konnte sie gerade noch den Leuten ausweichen, die eben zur Tür hereinkamen.

Sie stoppte vor der Wurlitzer-Musikbox und kramte ein paar Münzen aus ihrer Hosentasche. Dabei sah sie noch einmal zu der Gruppe und ihr Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der ganz offensichtlich nicht dazu gehörte. Die Gruppe setzte sich um den letzten freien Tisch, während der Mann am Tresen stehenblieb und mit der Bedienung sprach. Diese nickte und ging nach hinten.

Maisie betrachtete aus der Entfernung sein Profil und irgendetwas ließ sie innehalten. Er hatte etwas an sich. Sie hätte nicht sagen können, was es war, doch es löste eine ungewöhnliche Faszination aus. Sie konnte sich einfach nicht abwenden. Er hatte kurzes, schwarzes Haar, war mittelgroß und schlank. Und sie ertappte sich dabei, wie ihr die Worte 'zum Anbeißen' durch den Kopf gingen. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Ob er neu zugezogen war? Vermutlich war er nur auf der Durchreise. Das Pizzarestaurant lag an einer Durchgangsstraße, da kamen viele Gäste von außerhalb vorbei. Sie schätzte ihn auf ihr Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Er war extrem gut gebaut und bewegte sich regelrecht geschmeidig.

Während er wartete, zog er die Tageszeitung heran, die auf dem Tresen lag und begann, darin zu lesen. Die Bedienung kam mit einem Zettel in der Hand noch einmal zu ihm zurück und sie schien noch eine Frage zu haben. Sie holte die Speisekarte heran und die beiden beugten sich gleichzeitig darüber. Ihr Finger ging dabei über die Zeilen und Maisie schloss daraus, dass das, was er bestellt hatte, nicht vorrätig war.

Die Bedienung lachte über etwas, das er gesagt hatte. Über den Geräuschpegel im Raum war aber von Maisies Position nichts von dem zu erlauschen, was gesprochen wurde. Neugierig verfolgte sie die Szene. Dann wandte die Bedienung sich wieder ab und verschwand erneut in der Küche.

Er zog sein Portmonee aus der Tasche und blickte sich im Restaurant um. Maisie wandte sich augenblicklich der Jukebox zu, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie ihn schon die ganze Zeit anstarrte. Was war denn mit ihr?

Sie versuchte, sich auf die Songauswahl zu konzentrieren, doch es fiel ihr schwer. Sie warf die Münzen ein und drückte die Tastenkombination, die sie ausgesucht hatte. Im Inneren wurde die Platte herausgeholt und auf den Teller geworfen. Dann setzte die Nadel auf. Ein Knistern war zu hören. Dann spielte 'Jailhouse Rock' von Elvis. Maisie riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Verdammt, nein. Das doch nicht. Sie musste sich vertippt haben.

Sie blickte zurück zum Tisch, wo Ruby die Augen verdrehte und Arnie zu Lachen begann. Vorsichtig schielte sie wieder zum Tresen. Der gutaussehende Typ nahm gerade das Wechselgeld und seine Pizza entgegen. Als er sich jetzt umdrehte, um wieder auf den Ausgang zuzusteuern, blickte er erst auf das Geld in seiner Hand, dann hob er seinen Kopf und sah Maisie direkt in die Augen. Sie spürte augenblicklich, wie ihr die Hitze zu Kopf stieg. Er schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln, und dann war er auch schon wieder hinaus.

Maisie schlurfte zum Tisch zurück und ließ sich in die Bank fallen.

»Was war das denn?«, fragte Arnie, der noch immer außer Atem vom angestrengten Lachen war.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, log Maisie und griff nach ihrer Fassbrause.

»Was hast du diesen Typen so begafft?«, fragte Ruby und stieß sie an. »Ich glaube, der dachte, du fandest ihn hot.«

»Was?«, zuckte Maisie zusammen und setzte sich steif auf. »Nein. Woher?«

»Es ist wohl kaum jemandem entgangen, wie du ihn angestarrt hast.« Arnie verzog den Mund spöttisch zu einem Grinsen. »Du hast ihn ja förmlich mit deinen Blicken ausgezogen.«

Sie seufzte beschämt. »Hab ich wirklich?«

Ruby nickte.

Maisie schlug die Hände vors Gesicht. »Kann ich bitte augenblicklich in ein tiefes Loch fallen?«

»Gute Idee. Da kommt er schon wieder.«

Maisie riss den Kopf hoch und blickte panisch um sich. »Ich muss weg!«

Sie lachten und Ruby hielt sie am Arm fest. »Entspann dich. Arnie hat nur einen Witz gemacht. Er ist ins Auto gestiegen und weggefahren.«

»Du blöder Penner!«, fuhr sie ihn an und warf eine Handvoll Bierdeckel nach ihm. Die Musikbox spielte inzwischen einen anderen Song und Maisie beruhigte sich wieder. »Leute, bin ich wirklich schon so verzweifelt, dass ich wildfremden Männern hinterherglotze?«

»Wir besorgen dir einen Freund.« Ruby nahm sich noch ein Stück Pizza. »Am Freitagabend suche ich dir einen aus. Versprochen. Und mir auch gleich einen«, ergänzte sie dann anzüglich.

Arnie zuckte mit den Achseln. »Ich nehm dich.«

Ruby zog die Stirn kraus. »Du?«

»Was? Bin ich unter deiner Würde?«

»Nein.« Ruby ließ die Pizza fallen. »Aber du bist Arnie.«

»Ja, und?«

»Wir zwei kennen uns seit der ersten Klasse. Ich kann nicht mit dir ausgehen.«

»Und wieso nicht?«

»Meinst du das ernst?« Ruby blickte hilfesuchend zu Maisie, doch die verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe nicht vor, mich da einzumischen.«

»Würdest du deinen obskuren Freund Zachary daten?«, fragte Ruby an Maisie gewandt.

»Zach?« Maisie lehnte sich zurück. »Was hat der denn damit zu tun?«

»Ich schätze, du kennst diesen Spinner so lange, wie ich Arnie kenne. Das ist ein guter Vergleich.«

»Ich weiß, du magst Zach nicht, aber hör bitte endlich auf, ihn zu beleidigen.«

Ruby schüttelte verächtlich den Kopf und blickte auf Arnie. »Wollen wir das jetzt ernsthaft diskutieren?«

Arnie nickte heftig, während er sich über den Tisch beugte. »Ja, mich interessiert brennend deine Meinung dazu.«

»Die werde ich dir ganz sicher nicht verraten. Vergiss es.«

Während die beiden weiter darüber stritten, schweifte Maisies Blick aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Sie sah noch einmal die Augen des Fremden vor sich. Das war eine sehr eigenartige Begegnung gewesen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Ruby hatte recht. Er war hot gewesen. Schade, dass er nicht von hier war. Sie hätte zu gerne noch mal einen Blick auf ihn geworfen.

4. Der Super-Plan

Maisie arbeitete in einem privaten Haushaltswarengeschäft namens Cupwoods. Einer der letzten, der noch gegen die Konkurrenz der großen Baumärkte standhalten konnte. Es war kein Traumjob, doch er war gut bezahlt und erträglich. Sie hatte schon schlimmere Arbeiten verrichten müssen. Die Kollegen und ihr Chef waren in Ordnung. Außerdem war es für sie nur eine Übergangslösung. Maisie hatte einen Plan. Noch hatte sie niemandem davon erzählt und das war auch gut so.

Wenn sie etwas richtig gut konnte, dann war es der Umgang mit jeder Art von Technik. Sie ging nicht gerne damit hausieren, doch ihre Fähigkeiten kamen denen eines Hackers gleich. Arnie wusste diese Stärke sehr zu schätzen, denn er verstand zumindest ansatzweise, was dahintersteckte, und er hatte auch schon oft davon profitiert. Ruby dagegen war eine komplette Niete auf dem Gebiet. Sie kam gerade mal mit ihrem Handy klar. Manchmal nicht einmal das. Sie verließ sich jedoch stets darauf, dass Maisie ihr in dieser Hinsicht stets zur Seite stand. Auch ihr hatte sie damit schon unzählige Male den Hintern gerettet. Ruby war zwar nicht gerade sonderlich dankbar, denn sie nahm das immer als selbstverständlich zwischen Freunden, aber dafür war sie gelegentlich recht großzügig, was Geschenke anging. Das war jedoch recht stimmungsabhängig und man konnte sich darauf auch nie verlassen.

Maisie vollführte wahre Wunder mit dem Computer und sie fühlte sich jedes Mal großartig, wenn sie die beiden mit diesen Fähigkeiten beeindrucken konnte. Dennoch ließ sie die Zwei nicht wissen, wie gut sie wirklich war. Es war besser, sie behielt das komplette Ausmaß ihres Talents für sich. Sie wollte nicht, dass die beiden sie womöglich zu irgendwelchen illegalen Aktionen anstifteten. Maisie war nicht sehr standhaft gegen Rubys Argumentationen, das wusste sie selbst.

Der Einzige, der davon wusste, war ihr Freund Zachary Douzer. Die beiden kannten sich schon von Kindesbeinen an und waren die besten Freunde. Er war groß und kräftig, ein ruhiger Typ mit viel Humor und gnadenloser Ehrlichkeit. Er war ein Frauenschwarm, verstand es aber immer, ihnen erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Wenn Maisie ihn fragte, wieso er so sehr an seinem Singledasein festhielt, lächelte er immer nur und zuckte lediglich mit den Schultern.

Aber auch Zach hatte sie nichts von ihrem Wahnsinnsplan erzählt. Es war ihr großes Geheimnis: Sie hatte sich bei mehreren Firmen als Sicherheitsexpertin beworben. Da sie nicht studiert hatte und keine Zertifikate vorweisen konnte, hatte man sie überall abgewiesen. Einige hatten sich äußerst herablassend ihr gegenüber verhalten und allmählich stieg in ihr die Wut auf diese Unternehmen. Besonders auf die selbstgefälligen Angestellten, die sich meist noch nicht einmal die Zeit nahmen, sie aussprechen zu lassen. Ein paar hatten sogar die Dreistigkeit besessen, sie direkt auszulachen. Das hatte den Frust irgendwann bis an die Grenze gesteigert.

Bis Maisie der Kragen geplatzt war. Doch anstatt dem Grünschnabel hinter dem protzigen Schreibtisch die Meinung zu sagen, hatte sie sich ruhig bedankt und war nach Hause gegangen. Dort hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und ihren Laptop geöffnet. Eine halbe Ewigkeit saß sie davor und starrte auf den Bildschirm, während in ihrem Kopf die Gedanken Karussell fuhren. Schließlich hatte sie ihre Finger auf die Tastatur gelegt und begonnen, zu tippen. Stundenlang.

Am Ende hatte sie ein neues Konto auf einen fremden Namen eröffnet und dort eine hohe fünfstellige Summe deponiert. In aller Seelenruhe war sie danach über einen schwer verfolgbaren Proxyserver shoppen gegangen: eine große rote und eine etwas kleinere dunkelblaue Sporttasche, eine brünette Perücke, eine modische Brille, eine Flasche Flüssiglatex und Theaterschminke.

Dann hatte sie sich wie eine alte Frau geschminkt, hatte gewartet, dass der Filialleiter in die Mittagspause ging, war in die Bank marschiert und hatte beinahe das ganze Geld von 'ihrem' Konto bei einem jungen und recht unsicheren Angestellten abgehoben. Mit der roten Sporttasche voller Scheine war sie aus der Bank marschiert und hatte dann als Erstes die blaue Tasche aus der roten geschält, die Perücke, die Brille und die Latexmaske in die nächste Mülltonne gestopft.

Als junges Mädchen mit einer blauen Sporttasche war sie dann noch einmal an der Bank vorbeigeschlendert und hatte zugesehen, wie der Filialleiter und die Mitarbeiter hinter dem Tresen aufgescheucht hin und hergelaufen waren. Der Anblick hatte sie mit einer gewissen Genugtuung, aber auch mit einem leicht schlechten Gewissen zurückgelassen.

Aber sie wollte das Geld ja nicht stehlen. Sie würde die Immobilienfirma, der sie es vom Konto abgezogen hatte, noch eine Weile zappeln lassen. Dann würde sie denen die Tasche auf den Tisch werfen und hoffentlich würde diese dann einsehen, dass sie ein Sicherheitsproblem hatten. Natürlich war ihr klar, dass das ein großes Risiko war. Sie konnte dafür verhaftet werden. Aber in dem Moment, als ihr diese Tatsache so richtig bewusst wurde, war es bereits zu spät. Nun hatte sie das Geld bei sich zu Hause im Kleiderschrank und hoffte, dass keiner ihrer Familienmitglieder darüber stolperte, bevor sie es zurückgeben konnte. Zunächst hatte sie nur ein wenig Zeit verstreichen lassen wollen, doch der richtige Moment wollte irgendwie nicht kommen. Immer, wenn sie entschied, es endlich hinter sich zu bringen, bekam sie Panik und schob es weiter auf. Inzwischen war bereits so viel Zeit vergangen, dass sie gar nicht mehr sicher war, ob sie nicht einen so furchtbaren Fehler begangen hatte, den sie gar nicht mehr gutmachen konnte. Und so zögerte sie die Entscheidung, was sie tun sollte, immer wieder hinaus.

Als am Montagmorgen der Wecker klingelte, griff Maisies Hand unter der Decke hervor, tastete blind nach dem Wecker und erwischte ihn nur an der Kante. Er fiel laut scheppernd auf den Boden und rasselte dort noch einen Moment weiter. Sie fluchte leise und drehte sich dann noch einmal auf die andere Seite.

Es dauerte keine zehn Sekunden, da ertönte aus dem untersten Stockwerk auch schon die Stimme ihrer Mutter. »Ich hab das gehört, Maisie. Beeil dich gefälligst, sonst kommst du wieder zu spät.«

»Ja, ja«, murmelte sie in ihr Kissen und verdrehte die noch geschlossenen Augen. »Fünf Minuten sind ja wohl noch drin.«

Aber sie wusste, dass ihre Mutter keine fünf Minuten Geduld hatte und sie so lange nerven würde, bis sie wirklich aufstand. Sie würde demnach ohnehin kein Auge mehr zubekommen. Also schlug sie die Decke weg und setzte sich auf. Sie schielte mit einem halben Auge zum Spiegel ihres Kleiderschranks. Ihr Haar war verstrubbelt und sie sah irgendwie zerknittert aus. Mit den Fußspitzen tastete sie nach ihren Hausschuhen und schlüpfte hinein. Dann schlurfte sie unmotiviert aus ihrem Zimmer ins Bad.

Hier sah es schon wieder aus, als wäre ein Hurrikane durchgefahren. Ihr jüngerer Halbbruder Tim war eine wahre Landplage. Jedes Mal musste sie erst einmal alles aufräumen, bevor sie auch nur ans Waschbecken treten konnte. Sie nahm die Handtücher vom Boden, den Zahnputzbecher und die Zahnbürste aus dem Waschbecken und den nassen Waschlappen vom Klodeckel und trug alles in das Zimmer des Dreizehnjährigen, wo sie es auf sein ungemachtes Bett warf. »Viel Spaß damit, du kleiner Mistkerl.«

Dann schloss sie sich im Bad ein und trat unter die Dusche. Sie stellte auf heiß und schloss die Augen, während das Wasser über ihren Körper lief.

Als sie in die Küche trat, saßen ihre Mutter, ihr Stiefvater Howard Dixx und Tim bereits am Frühstückstisch. Tim ließ den Rücken seines Löffels immer wieder auf seine Froot Loops klatschen, so dass die Milch über den ganzen Tisch spritzte. Howard war, wie immer, hinter seiner Tageszeitung verschwunden.

»Guten Morgen«, murmelte Maisie noch immer verschlafen und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

Camille Wagner hatte ihre Finger um ihren heißen Kaffeebecher gelegt. »Kannst du auch einmal aufstehen, ohne dass ich dich ununterbrochen erinnern muss?« Ohne hinzusehen, griff sie nach Tims Löffel und legte ihn außerhalb der Reichweite ihres Sohnes.

Der schrie sofort auf: »Hey, womit soll ich denn jetzt essen?«

»Du bist fertig!« Camille drückte ihm gegen die Schulter, um ihn vom Stuhl zu schieben. »Geh deine Schultasche packen!«

»Aber ich hab noch Hunger.«

Camille nickte. »Ja, das hab ich gesehen.«

Widerwillig verzog sich Tim aus der Küche.

Maisie ließ sich auf ihren Platz fallen. »Was heißt denn hier ununterbrochen? Du hast gerade mal einmal hochgerufen.«

»Jeden Morgen dieses Theater. Ich habe es allmählich satt.«

»Ja, das sagst du mir jeden Tag«, stöhnte Maisie und verdrehte die Augen. »Aber niemand hat dich gebeten, mich zu wecken.«

»Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen?«

»Was?«, fragte Maisie.

»Diese Spielerei im Supermarkt. Du solltest wie deine Freunde an der Uni sein und studieren.«

»Ich will aber nicht studieren, Mom. Das weißt du genau.« Maisie mopste sich ein Stück Waffel von Howards Teller. »Und außerdem ist Cupwoods kein Supermarkt.«

»Als ob das einen Unterschied macht. Es ist eine Schande. Meine Tochter verrichtet niedere Arbeiten.«

Maisie keuchte auf. »Das ist doch meine Sache.«

Die Zeitung senkte sich ruckartig und Howard blickte sie fragend an. »Wo ist denn meine Waffel hin?«